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Ein Jugendreich. Die Neuland-Schulsiedlung in Grinzing-Wien (1937)

Die Broschüre über die Neulandschule in Grinzing840 erschien 1937. Sie enthält viele Informationen, die sich auf Paula von Preradović’ Auffassung des Christentums und ihre Vorstellungen von Gott, dem Menschen und der Natur beziehen. Für die Analyse des Weltbildes der Dichterin spielt dieser Text deshalb eine bedeutende Rolle.

Bei Preradović’ Beitrag handelt es sich um eine journalistische Darstellungsform, genau gesagt um eine Mischung zweier Texttypen – dem Essay und dem Porträt.841

839 Ernst MOLDEN: Skizzen, a.a.O., S. 68f.

840 Die Neulandschule (Alfred-Wegener-Gasse 10–12) ist eine von drei Schulen des »Bundes Neuland«

in Wien. Sie befi ndet sich in Grinzing, einem Stadtteil im 19. Gemeindebezirk Döbling. Die katholische Pri-vatschule (Volksschule) wurde 1927 von Mitgliedern des »Bundes Neuland« unter der Leitung Anna Ehms, mit Unterstützung Dr. Karl Rudolfs in einer ehemaligen Militärbaracke aus dem Ersten Weltkrieg gegründet.

Bereits 1926 wurde ein Kindergarten eröffnet. In den Jahren 1930–1931 entstand ein neues, modernes Schul-gebäude nach Plänen des Architekten Clemens Holzmeister. 1932 wurde klassenweise ein Realgymnasium aufgebaut. 1938 kam es zur Aufl ösung und Enteignung des Schulwerkes durch die Nationalsozialisten. Erst im Herbst 1945 wurde die Volksschule erneut eröffnet. Heute besteht der Schulkomplex aus einer Volks-schule, einer MittelVolks-schule, einem Gymnasium, einem Tagesheim und einem Kindergarten (vgl. Geschichte Neulandschulen – Grinzing – Chronologischer Überblick, in: http://www.nls.at/grinz/allgemeines/geschichte/, Zugriff: 08.11.2014).

841 Das »Porträt« ist eine literarische oder journalistische Darstellungsform und eine Kleingattung, in der eine Person, eine Gruppe, ein Gegenstand oder eine Institution charakterisiert wird. Die Bezeichnung wurde von den bildenden Künsten (Bildhauerei, Malerei) übernommen, in denen Porträtisten Menschen nicht nur abbilden, sondern mithilfe künstlerischer Mittel auch deren Persönlichkeit wiederzugeben versuchen.

Die Person der Autorin tritt mit subjektiven Einschätzungen, Interpretationen und Beobachtungen vielerorts deutlich in Erscheinung. Sie gibt tiefen Einblick in die Thematik, mit der sie sich befasst, und liefert eine anschauliche, umfassende und differenzierte Darstellung. Der Text ist eine relativ kurze, geistvolle Abhandlung, in der die Autorin ihre subjektiven Betrachtungen zu dem Phänomen der Neulandschule vorbringt. Preradović’ persönliche Auseinandersetzung mit diesem kulturellen und gesellschaftlichen Thema steht im Mittelpunkt ihres Beitrags. Den essayistischen Charakter der Broschüre unterstreicht die Tatsache, dass darin die wissenschaftliche Methodik nur stellenweise zur Anwendung kommt. Die Abhandlung enthält relativ wenige Zitate, diese wurden jedoch deutlich gekennzeichnet und mancherorts mit Quellenangaben versehen. Fuß- und Endnoten sind nicht vorhanden. Die essayistische Methode kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Gegenstand der Überlegungen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Schritt für Schritt entwickelt die Autorin ihre Gedanken vor den Augen des Rezipienten. Stilistisch unterscheidet sich die Abhandlung von Preradović’ fi ktiver Prosa. Ihre Sprache mutet weniger archaisch bzw. archaisierend an, sie zeichnet sich durch größere Geschmeidigkeit und Leichtigkeit aus. Da es sich nicht um eine wissenschaftliche Analyse handelt, wird das Thema auch nicht systematisch dargestellt. Es ist jedoch deutlich eine gewisse Strenge in der Methodik zu erkennen, die sich bereits in der Wahl der Interessenschwerpunkte bemerkbar macht. Die Autorin setzt diese beliebig, sie wählt aber vor allem jene Aspekte, die mit ihrem Weltbild kongruieren. Einige Bereiche, die in einer wissenschaftlichen Analyse berücksichtigt werden müssten, werden dagegen weggelassen. Somit entsteht der Eindruck einer gewissen Zufälligkeit, was jedoch in essayistischen Texten häufi g der Fall ist. Diese Beliebigkeit wird aber durch die Klarheit von Konstruktion und Form kompensiert.

Die Neulandschule wurde von Mitgliedern des »Bundes Neuland«842 gegründet. Diese jungen Idealisten waren sich dessen bewusst, dass „es in den alten ausgefahrenen

Deshalb können literarische oder journalistische Porträts nicht nur objektive Beschreibungen, sondern auch Kommentare enthalten.

842 Der »Bund Neuland« war ein katholischer Verband in Österreich. Er wurde 1919 von Karl Rudolf und Michael Pfl iegler als eine Organisation für Jugendliche gegründet. Sein Ziel war der Schutz der katholi-schen Jugend vor der Säkularisierung und das Propagieren eines modernen, selbstbewussten Katholizismus.

Der Bund gab die Zeitschrift Neue Jugend heraus und förderte die »liturgische Bewegung«. 1938 wurde er von den Nationalsozialisten aufgelöst, 1948 von ehemaligen Mitgliedern reaktiviert. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die Mitglieder des »Bundes Neuland« gewesen waren und die bedeutenden Einfl uss auf das öffentliche Leben in Österreich ausübten, gehörten u. a. Joseph Ernst Mayer, Otto Mauer, Ida Friederike Görres und Felix Hurdes (vgl. Franz M. KAPFHAMMER: Neuland. Erlebnis einer Jugendbewegung, Graz/Wien [u. a.]

1987, S. 179–233). Der »Bund Neuland« entwickelte sich aus drei Quellen: aus Anton Orels christlicher Arbeiterjugendbewegung, mit der »Neuland« den Charakter als Laienbewegung teilte, aus dem deutschen

»Quickborn«, von dem »Neuland« die Naturverbundenheit übernahm, sowie aus dem »Christlich-Deutschen Studentenbund«. »Neuland« war ursprünglich auch eine Art Protestbewegung gegen den Liberalkatholizis-mus, dem vorgeworfen wurde, »abgestanden« und »halbschlächtig« zu sein. Diesem Katholizismus fehle es an innerem Antrieb, denn er sei nicht mehr vom Geiste des Christentums berührt. Der Bund verstand sich als eine »radikale jungkatholische Erneuerungsbewegung«, die mit einem »entseelten Christentum«, das zu einem »Scheinchristentum« herabgesunken sei, Schluss machen wollte. Nicht nur der Kampf gegen die

»übliche religiöse Lauheit des Mittelstandes«, sondern auch das Eintreten für die soziale Gerechtigkeit, die

Bahnen nicht mehr weiter ging, daß man neue Wege fi nden musste, denn die Zeit hatte sich gewandelt“.843 Ihr Schulkonzept erinnerte stark an reformpädagogische Bildungs- und Erziehungsansätze844, die in jener Zeit zunehmend an Popularität gewannen. Paula von Preradović kam mit dem »Bund Neuland« in der Mitte der dreißiger Jahre in Berührung. Damals lernte sie auch Dr. Karl Rudolf845 – einen der zwei Begründer des »Bundes Neuland« und Leiter des Seelsorgeinstitutes der Erz-diözese Wien – kennen.846 Später wurde der Prälat zu ihrem Freund und Berater. Die Opferbereitschaft, die Entschlossenheit und das Zielbewusstsein der jungen Lehrer sowie ihr konsequentes Streben nach einer »organischen Lebensform«, die Sozialität der Schüler und die Neuartigkeit des Vorhabens beeindruckten die Dichterin zutiefst.

Schon zuvor waren manche der von der Bewegung propagierten Ideen in Preradović’

Weltbild im Keim vorhanden, doch die Begegnung mit dem »Bund Neuland« stellte für sie einen starken Anreiz dar, der ihr literarisches Schaffen nachhaltig beeinfl usste.

Sie entschied sich den Auftrag anzunehmen, einen kurzen Text über die Neulandschule zu verfassen, der „eine breite Öffentlichkeit mit Werdegang, Wesensart und Zielen der Schulsiedlung bekannt machen“847 sollte.

Naturverbundenheit, die Liebe zum »Volkstum« (man orientierte sich an der deutschen Volkskultur, pfl egte jedoch die österreichische Eigenart) und die Selbsterziehung gehörten zu seinen Idealen. Er entwickelte für die Jugend einen Lebensstil, der von Einfachheit, romantischer Hingabe an die Natur, einer tiefen Beziehung zum ländlichen Kulturraum, Selbstverantwortung sowie religiösem Ernst geprägt war. »Neuland« übernahm von dem Wiener Soziologen und Antikapitalisten Anton Orel das »Prinzip der Dreieinigkeit« (Selbstführung, Selbsterziehung und eigenständige Tätigkeit). Unter den Mitgliedern waren sowohl Jungen als auch Mädchen (Frauen sollten zu Mitträgern der neuen Geistigkeit gemacht werden) vor allem aus mittelständischen Schich-ten. Trotz seiner Offenheit wollte »Neuland« jedoch bewusst keine Massenbewegung sein, sondern stand dem Elitegedanken nahe. Man gab sich mit den gegebenen Formen der Religiosität nicht zufrieden, sondern versuchte neue zu entwickeln, was vor allem in der Neugestaltung der Heiligen Messe seinen Ausdruck fand.

Auf diese Weise wurde »Neuland« zum Schöpfer der »liturgischen Bewegung« in Österreich. Es sei auch darauf hingewiesen, dass der Bund keine demokratische Bewegung war und sich über das Frontdenken der Parteien hinwegzusetzen versuchte. Man lehnte die Dogmatik des Sozialismus ab, orientierte sich jedoch an dessen sozialem Ethos (vgl. Ludwig REINHOLD, a.a.O, S. 313–330).

843 Reginald VOSPERNIK: Paula von Preradović, a.a.O., S. 102.

844 Die Reformpädagogik zielte darauf ab, Erziehung, Schule und Unterricht zu erneuern. Bereits in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte man sich kritisch mit den damals existierenden Schulformen auseinander.

Die autoritären Bildungskonzepte sollten durch auf Selbständigkeit beruhenden, handlungsorientierten Unter-richt ersetzt werden. Der Lehrer sollte die Rolle des Begleiters und Förderers übernehmen. Man versuchte die Bildungsbemühungen an den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Kindes auszurichten, die Schüler als Individuen zu achten, ihre kreativen Kräfte zu wecken und zu fördern. Es wurden neue schulische Formen entwickelt, wie z.B. Gesamt- und Gruppenunterricht, Gymnastik, Werken, Schülermitverwaltung und Arbeitsgemeinschaften.

Zu den berühmtesten Vertretern der Reformpädagogik gehörten Johann Heinrich Pestalozzi, Maria Montessori und Alexander Sutherland Neill (vgl. Werner STANGL: »Reformpädagogik«, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, http://lexikon.stangl.eu/2299/reformpaedagogik/, Zugriff: 23.11.2014).

845 Karl Rudolfs (1886–1964) Lebenswerk war den Problemen der zeitgemäßen Seelsorge, besonders in Großstädten und unter Gebildeten gewidmet. 1919 wurde er zum ersten Akademikerseelsorger der Erzdiözese Wien ernannt. Gemeinsam mit Michael Pfl iegler gründete er 1921 den »Bund Neuland«. 1931 entstand unter seiner Leitung das Wiener Seelsorgeinstitut (vgl. Johann WEISSENSTEINER: Prälat Karl Rudolf – Ein Stürmer und Dränger, in: Website der Erzdiözese Wien, http://www.erzdioezese-wien.at/site/glaubenfeiern/spirituelles/

grossechristen/article/ 38275.html, Zugriff: 10.11.2014).

846 Vgl. Reginald VOSPERNIK: Paula von Preradović, a.a.O., S. 189.

847 Paula von PRERADOVIĆ: Ein Jugendreich. Die Neuland-Schulsiedlung in Grinzing-Wien, Wien 1937, S. 3.

Die Abhandlung beginnt mit der Beschreibung eines Besuchs bei einer jungen slo-wenischen Bauernfamilie in der Krain (Königreich Jugoslawien). Die Dichterin zeigt sich von der Ruhe und Harmonie des Bauernlebens beeindruckt und kommentiert dieses folgendermaßen:

Nichts Fremdes würde sie [die Bauernfamilie – Anm.: M.S.] stören, nichts Unorganisches ihr Leben verbiegen. […] die Gebote freudig und selbstverständlich geübter Frömmigkeit und die starken Klammern ererbter, sinnschwerer Bauernbräuche würden ihr Leben formen und regeln. Ein Geschlecht von rauhen, der Welt wenig kundigen, einigermaßen einseitigen und unwissenden, aber unzersplitterten, in sich ruhenden, festverwurzelten Menschen würde hier […] blühen und sich erneuern, so lange es Gott gefallen würde. Die junge Bäuerin […] erschien mir als eine verehrens- und preisenswerte Stammmutter, und das Ungeborene, das sie trug und das einem mühevollen, aber sinnreichen, in Gottes Ordnung eingegliederten Leben entgegenwuchs, schien mir beneidenswert. […] Das Bauerntum mit seinem intensiven, organisch geschützten Leben ist uns Kulturmenschen wirklich ein verlorenes Paradies […].848

Doch Preradović beschränkt sich nicht nur auf eine idealisierte Beschreibung des Bauernlebens. Sie beginnt sich über die Existenz der Stadtmenschen Gedanken zu machen und nach Wegen aus deren vermeintlicher Misere zu suchen.849 Das geht aus der folgenden Passage deutlich hervor:

Die Kinder unserer Städte standen mir plötzlich vor Augen, […] die Mietskasernen, in denen Armut nicht Beschränkung auf das Notwendigste ist, sondern schäbige, herzbeklem-mende Dürftigkeit, Schmutz, Geschrei und Gedränge. Oder die Wohnungen wohlsituierter bürgerlicher Kreise, in denen sich Kitsch auf Kitsch häuft […]. Die Trennung von allem Naturhaften drohte mich an, […] die durch den Triumphzug der Technik immer mehr gestei-gerte Zersplitterung des Lebens […] Noch nie vielleicht war mir organische Lebensform so deutlich geworden, wie bei dem Besuch des kleinen, slowenischen Bauernhofes, noch nie hatte mich die Frage so brennend gepeinigt, wie die Zersplitterung des modernen kulturellen Lebens zur Einheit geführt, ihrer Ziellosigkeit ein Ziel gesetzt, einem in intellektuelle, wirtschaftliche und politische Unruhe hineingeborenen Geschlecht die zum Wachstum nötige Ruhe und Geborgenheit gegeben werden könnte.850

Im ersten der beiden Abschnitte ist vom »Unorganischen« die Rede. Dieser Begriff spielt zusammen mit seinem Antonym, dem »Organischen«, in dem Text eine besonders wichtige Rolle. Das »Unorganische« sei das Künstliche und das Störende – alles, was

848 Ebd., S. 5.

849 Die Ausführungen der Autorin verraten eine gewisse Nähe zur Heimatkunstbewegung. Besonders die Ablehnung der Großstadt – als Ort der Dekadenz, der Enge und des Elends – sowie die Faszination für das Landleben und die Verwurzelung in der »Scholle«, schließlich auch das Bedürfnis nach einer gewissen Statik, dem »Verweilen«, erinnern an die Ideen der Heimatkunst (vgl. Karlheinz ROSSBACHER: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975, S. 29–34).

850 Paula von PRERADOVIĆ: Ein Jugendreich, a.a.O., S. 5.

sich der natürlichen Ordnung widersetzt und die Harmonie des Lebens beeinträchtigt.

Ein wichtiger Bestandteil der natürlichen Ordnung und somit auch des »organischen«

Lebens ist die Religion, da Gott der Schöpfer aller Ordnung sei. Vor allem die Stadt-menschen leben in einer künstlichen, von innerer Zersplitterung geprägten Welt. Der schnell voranschreitende Wertewandel sowie die Materialisierung des Lebens führten zu einer metaphysischen Krise, die sich in erster Linie im großstädtischen Milieu bemerkbar machte. Die Stadtexistenz erzwingt gewisse Verhaltensweisen, denen man nicht ausweichen könne. Das was den Städter vom Landmenschen hauptsäch-lich unterscheide, sei jedoch nicht die Lebensführung, sondern sein Verhältnis zur Wirklichkeit. Der moderne Mensch des Industriezeitalters stellt die Gegenstände, die er im Alltag braucht, nicht mehr alleine her. Die zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung führte zu einem nie dagewesenen Phänomen – der Aufhebung und Zerstörung der natürlichen Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Arbeit, sowie den Produkten dieser Arbeit. Die Entfremdung des Menschen zieht immer weitere Kreise und beeinträchtigt die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Gefühl der Vereinzelung, der Abgegrenztheit von anderen Lebewesen und Dingen, aber auch die zwangsläufi g eingenommene Gegenposition des Menschen zur Natur entwickeln sich zu Dominanten der modernen Welt. Neben der zunehmenden Ent-fremdung kommt es zu einem Verlust des Form- und Ästhetikgefühls. Der Mensch sei nicht mehr in der Lage zu entscheiden, ob Dinge, die ihn umgeben, schön sind, wobei hinzugefügt werden muss, dass die Dichterin meistens das Schöne mit dem Naturhaften gleichzusetzen pfl egte.851

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich im 20. Jahrhundert vor allem der marxistische Entfremdungsbegriff852 durchsetzte. Bei der Analyse von Preradović’

Texten muss jedoch eine wichtige Tatsache berücksichtigt werden: Der Begriff der Entfremdung hat biblische Wurzeln. Im Brief des Paulus an die Epheser schreibt der Autor Folgendes über die Heiden: „Ihr Sinn ist verfi nstert. Sie sind dem Leben, das Gott schenkt, entfremdet durch die Unwissenheit, in der sie befangen sind, und durch die Verhärtung ihres Herzens“.853 Entfremdung bedeutet hier die Verstrickung in Sünden, also einen Zustand der Gottesferne, der nach Erlösung verlangt. Das entfremdete Leben ist eine Existenz in Verblendung und Unglaube. Überdies sei die Entfremdung eine Folge der Sündenfalls, meinte z.B. Augustinus.854 Man könne

851 Vgl. Reginald VOSPERNIK: Paula von Preradović, a.a.O., S. 111.

852 Karl Marx zufolge beschreibt der Entfremdungsbegriff die negativen Auswirkungen des Privatbesitzes der Produktionsmittel und der Arbeitsteilung im Kapitalismus auf die arbeitenden Massen. Der Mensch wer-de entfremwer-det: (1) von wer-den Erzeugnissen seiner Arbeit, da diese wer-dem Kapitalisten gehören, (2) von anwer-deren Menschen, weil es zu einer Kommerzialisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen käme, (3) von seiner Gattung, weil die Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft den wahren Charakter der Produktion als gemeinschaftlichen Handelns verdecke, (4) in und von seiner Arbeit, da die Arbeitsteilung die freie Ent-faltung der individuellen Neigungen und Fähigkeiten einschränke. (vgl. Dirk SAUERLAND: »Entfremdung«, in:

Gabler Wirtschaftslexikon, http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Defi nition/entfremdung.html?referenceKeyword Name= Arbeitsentfremdung, Zugriff: 26.11.2014)

853 Eph 4,18.

854 Vgl. Matthias JUNGE / Thomas KRON (Hrsg.): Zygmunt Baumann: Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, Wiesbaden 2014, S. 310f.

ihr durch ein gottgefälliges, mit Glaube und Liebe erfülltes Leben entgegenwirken, doch für die Annäherung an Gott seien Barmherzigkeit und Gnade unentbehrlich.

Die biblische Bedeutung der Entfremdung spielt im Weltbild der österreichischen Dichterin eine wichtige Rolle und muss während der Textanalyse der Broschüre über die Grinzinger Neulandschule berücksichtigt werden.

Nichtsdestotrotz sei der moderne Mensch in der Lage ein harmonisches, »organi-sches« Dasein anzustreben – so Paula von Preradović. Zwar könne er nicht zu dem Anfangsstadium zurückkehren, aus dem er sich herausentwickelte, denn der Lebensstil des Bauerntums „[…] ist für das Geschlecht, das ihm einmal untreu geworden ist, unwiederbringlich dahin“855, doch er sei durchaus in der Lage Wege zu suchen, die ihn einer »organischen« Lebensweise näher brächten. In Preradović’ Broschüre ist von einem »neuen Menschen« die Rede, der ohne sein Leben in der Stadt aufzugeben, alle möglichen Chancen einer naturnahen Existenz nutzt. Aus dem Text geht hervor, dass die Neulandschule Kindern und Jugendlichen neue Möglichkeiten eröffnen und sie zu einer selbständigen Suche nach »organischen« Lebensformen anregen sollte.

Noch während des Aufenthaltes in der Krain erkannte die Dichterin Folgendes:

„[…] was du suchst, […] das suchen ja auch sie, die Gründer, Leiter und Mitarbeiter der Neulandschule, über die du schreiben sollst, und trachten es durch ihr Werk zu verwirklichen. Einen Regenbogen suchen sie zu spannen von dem verlorenen Paradies einfachen, wesenhaften Lebens in den Tumult der Großstadt-Kindheiten“.856 Später fügte die Autorin hinzu: „Durch die neue katholische Schule das Bild des neuen Menschen formen zu helfen, das lag […] als Aufgabe, als riesiges, zu bewältigendes Werk vor jenen, die dereinst ausgezogen waren, durch das Leben der Gemeinschaft sich selbst aus dem Wirrsal der Zeit zu retten“.857

Einen wichtigen Bestandteil der Weltanschauung der Dichterin bildete also die Über-zeugung von der Notwendigkeit einer Besinnung auf das natürlich »Rhythmische«

und das »Organische«. Der Mensch lebe in einer unsicheren Welt, sein Leben sei von Entwurzelung und Entfremdung geprägt. Durch den Zerfall des alten Europa sei es nicht nur zu einer Aufl ösung bisheriger gesellschaftlicher Strukturen und traditioneller Abhängigkeitsverhältnisse gekommen, sondern auch zu einer Zerstörung alter Identi-tätsmuster und Bindungen. Die Donaumonarchie, ehemals Heimat vieler Familien mit einer ethnisch differenzierten Herkunft, hörte auf zu existieren. In den vorausgehenden Kapiteln war bereits davon die Rede, dass der Zerfall des Habsburgerreiches das Weltbild der Dichterin, deren Vorfahren im Dienste des Herrscherhauses standen, prägte und sie zur Suche nach einer neuen »geistigen Heimat« anregte. Dies führte schließlich zu ihrer Neuentdeckung der Landschaft sowie zur Überzeugung von der Notwendigkeit der Einheit des Menschen mit der Natur. Angesichts der Zerstörung der ursprünglichen Harmonie und der Lösung der Menschheit aus dem »Organischen«

gebe es nur eine Möglichkeit der Wiederherstellung von Ruhe und innerer Ausge-glichenheit – die Rückbesinnung auf das Verlorene, das Streben nach einer Nähe zur

855 Paula von PRERADOVIĆ: Ein Jugendreich, a.a.O., S. 5.

856 Ebd., S. 5f.

857 Ebd., S. 10f.

Natur und zu Gott, ihrem Schöpfer. Aus der innigen Verbundenheit der Dichterin mit der Landschaft erwuchs ihr Gefühl für den Menschen sowie die Beziehung zu Gott.858 In ihrem Streben nach Einheit offenbarte sich „sowohl das religiöse und künstlerische Erleben als auch das Erleben der Liebe, notwendiger Ausdruck der Religion“.859 Der Text enthält aufschlussreiche Informationen über die Ansichten der Dichterin zur Rolle des Glaubens. Sie verstand diesen vor allem als den Anspruch, in einer über alle rationalen und empirischen Erkenntnisse hinausgehenden Schau die Welt als Ganzes zu sehen.860 Gerade der Glaube ermögliche uns eine Überwindung der drohenden Entwurzelung. Der Mensch müsse alles daran setzen, die Kluft zwischen der mate-riellen und der metaphysischen Welt zu bewältigen, um den Platz im Schnittpunkt von Natur und Übernatur einzunehmen. Glaube dürfe niemals oberfl ächlich sein, da eine Bindung an Gott ohne geistig-seelische Tiefe das Wesen der Religiosität negiere.

Der Literaturwissenschaftler Reginald Vospernik schrieb, Religion sei für Preradović

„[…] nicht ein subjektives und in der Eigensetztlichkeit des Menschen determiniertes Gefühl, sondern das notwendige Einssein mit Gott, da nur in diesem Einssein Heil und Ordnung ist. Gott ist für die Dichterin der Große und Ferne, aber doch zugleich auch Nahe und Glühende, stetig Bleibende, zu dem der Mensch emporstreben muß, um sich in ihm zu läutern […]“.861 In den Augen der Autorin setzte die Neulandschule die Idee der Erziehung zu echtem Glauben in die Tat um. Die Schüler sollten eine

„innerliche, wahrhaftige, religiöse Einstellung, wurzelnd in der lebendigen Liturgie

„innerliche, wahrhaftige, religiöse Einstellung, wurzelnd in der lebendigen Liturgie