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Present Past – Photography as a Media of Memory on the Example of the Novel Restaurant Dalmatia by Jagoda Marinić

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nr 10 ss. 209–218 2020

ISSN 2083-5485 https://doi.org/10.34858/polilog.10.2020.329 © Copyright by Institute of Modern Languages of the Pomeranian University in Słupsk

Original research paper Received: 7.06.2020

Accepted: 17.06.2020

VERGEGENWÄRTIGTE VERGANGENHEIT –

DIE FOTOGRAFIE ALS MEDIUM DER ERINNERUNG

AM BEISPIEL DES MIGRANTENROMANS

RESTAURANT DALMATIA VON JAGODA MARINIĆ

Joanna Flinik ORCID: 000-0003-1359-8163

Akademia Pomorska w Słupsku Słupsk, Polska

joanna.fl inik@apsl.edu.pl

Schlüsselwörter: Migration, Erinnerungsmedien, Fotografi e

Eines der historisch-gesellschaftlichen Prozesse, die sowohl Individuen als auch Kollektivitäten im 20. und 21. Jahrhundert prägen, ist Migration. Die Erfahrung der Migration erzählerisch wiederzugeben, ist immer ein Versuch, eine vielschichtige, hybride Geschichte zu erzählen, die auf der semantischen Achse zwischen dem Al-tem und dem Neuen, Bekannten und Unbekannten, dem Eigenen und dem Fremden gestaltet wird, es ist eine Narration des Vergangenen, das in der Gegenwart erzählt/ erinnert wird.

Die Literatur, und besonders die Migrantenliteratur, setzt Begriff e wie Vergangen-heit und Erinnerung in ein eigenartiges Verhältnis: die literarisch dargestellte Welt der Migranten ist in bezug auf die Identitätsentwürfe, die Wahrnehmung des Selbst und das Bedürfnis, sich seiner eigener Geschichte versichern und vergegenwärtigen zu können, auf Bilder der Vergangenheit eingestellt.

Infolge der Migration erlebt das Ich eine gewisse Diskontinuität in der eigenen Le-bensgeschichte, deshalb ist der Aufbau eines kohärenten Selbstbildes und die Bewälti-gung solcher Brüche sowie die Vergewisserung über die eigene Fähigkeit, selbständig zu handeln, zu lebensnotwendiger Aufgabe. Das dadurch erzielte Selbstverständnis resultiert desweiteren aus der Verbindung der Vergangenheit und Gegenwart, was eine gesicherte Existenz für die Zukunft zur Folge herbeiführt. Mit der Vergewisserung über seine Vergangenheit geht die funktionsfähige Identität einher.

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Im Prozess der Vergegenwärtigung der Vergangenheit zur Vergewisserung über sich selbst ist das Medium Fotografi e besonders geeignet, weil – obwohl man mit dem Foto in der Diegese zu tun hat – ist das Bild dennoch in der Vergangenheit ent-standen, also bevor sie in der Gegenwart dem Betrachter zugänglich wird. Dieser Umstand prädestiniert die Fotografi e als Gedächtnisstütze im Erinnerungsprozess, indem zugleich Objektivierung der Vergangenheit zustande kommen soll.

Jagoda Marinić, eine krotatisch-deutsche Schriftstellerin, geboren in Waiblin-gen, stammt aus der Familie jugoslawischer Gastarbeiter aus Dalmatien. Nach dem Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Anglistik an der Uni Heildelberg wurde sie zur Theaterautorin und Kolumnistin. Marinić lebt in Heidelberg. Neben Essays und Erzählungen verfasst sie Theaterkritiken und schreibt für die Frankfur-ter Rundschau. Sie debütierte mit Erzählungen, Eigentlich ein Heiratsantrag, die im Jahr 2001 veröff entlicht wurden, für den 2005 erschienenen Erzählband Russische Bücher wurde sie mit dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet. Im Jahre 2006 erschien der erste Roman Die Namenlose.

Die Inszenierung des Theaterstücks Zalina, zu dem Marinić den Text schrieb, brachte der Autorin 2007 den Exzellenzpreis für das „Beste Programm des Kultur-hauptstadtjahres Hermannstadt 2007“.

Sie ist seit 2012 Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Seit 2012 leitet sie auch das „Interkulturelle Zentrum“ in Heidelberg. 2013 erschien der Roman Re-staurant Dalmatia und 2016 wurde der Roman Made in Germany – Was ist deutsch in Deutschland veröff entlicht, in welchem sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinandersetzt.

Jagoda Marinic geht in ihrem 2013 erschienenen Roman Restaurant Dalma-tia über die typische Migrationserzählung hinaus, da die Protagonistin die typische duale Perspektive mein-dein, Vertrautheit-Fremdheit, Herkunftsland (ehemaliges Jugoslawien) – Ankunftsland (Deutschland) springt und die Erzählung der Lebens-geschichte der Hauptfi gur um eine Vermittlerinstanz ergänzt wird, eine literarische Mitfi gur, die weder dem einen noch dem anderen Pol gehört.

Um den Prozess der Identitätssuche in den Gang zu setzen, verwendet die Auto-rin das Medium der Fotografi e. Dadurch behandelt der Roman Restaurant Dalamtia nicht die Vergangenheit an sich, sondern deren Vergegenwärtigung. Die Protagoni-stin erinnert sich nicht nur an vergangene Momente, sondern refl ektiert diese in der Gegenwart. Sie erinnert sich nicht zurück, um, wie es üblicherweise der Fall ist, aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu schöpfen, um in die Zukunft zu gelangen. Ihr ganzes Interesse ist auf die Vergangenheit selbst gerichtet, um sie noch einmal zu erleben, etwas in ihr zu ändern oder zu retten, und somit sich selbst zu fi nden.

Die Beziehung zwischen Fotografi e und Erinnerung ist vielschichtig und lä sst unterschiedliche Deutungen zu. Die Fotografi e bietet eine Mö glichkeit, Erinne-rungen hervorzurufen oder zu speichern. Die durch die Fotografi e ins Leben ge-rufenen Erinnerungen können aber auch die jeweiligen Erinnerungen verfä lschen oder verklären. Das weist darauf hin, dass das Erinnern als ein aktiver Prozess der Vergegenwä rtigung berücksichtigt werden muss, wobei das Gedä chtnis die jeweiligen

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Ereignisse bereitstellt. Die Fotografi e als Medium der Erinnerung besitzt somit ei-nerseits die Funktion als statischer Speicher und andererseits wirkt sie aktivierend. Diese Diff erenz betonen Aleida Assmann, indem sie dafür plädieren, die Fotografi e als Speichermedium zu betrachten:

Die materiellen Stü tzen dieses lebendigen Gedä chtnisses wie Photographien und Briefe werden dann zu Fossilien, zu Spuren einer verlorenen und nicht mehr spontan durch Erinnerung belebbaren Vergangenheit [Assmann 2006: 28].

Demnach wird „Erinnern als ein Prozess, Erinnerungen als dessen Ergebnis und Gedä chtnis als eine Fä higkeit oder eine verä nderliche Struktur“ [Erll 2005: 7] kon-zipiert.

Im Roman Restaurant Dalmatia wird am Beispiel der Hauptfi gur, Mia Markovic gezeigt, dass die Erinnerungen durchaus die Konstruktion des eigenen „Ichs“ för-dern und so zur Überzeugung von der biographischen Fortsetzung eigenes Lebens-laufs beitragen:

Eine Identitä tsbildung ohne Erinnerungsvermö gen gilt als undenkbar. […] Zur Grundthese erinnerungsbasierter Identitä tstheorien zä hlt, dass die aktive Aktualisie-rung und Aneignung der eigenen Vergangenheit den Ausgangspunkt fü r individuelle Identitä tsentwü rfe, fü r spezifi sche Realitä tsdeutungen sowie fü r aktuelle Handlungs-motivationen bildet [Neumann 2005: 20].

Die in der jeweiligen Gegenwart erinnerten Inhalte können mittels verschiedener dem Ich frei zur Verfügung stehender Deutungsmuster und selektiver Interpretation so zurecht gelegt werden, dass sie fü r das in der Gegenwart aktivierte Selbstbild geeignet und passend erscheinen, was eine sinnstiftende Funktion besitzt. Die Fo-tografi e sichert nicht nur eine gewü nschte Version der Vergangenheit, sondern be-stätigt auch die eigene Identitä t in der Gegenwart bestä tigt [Blazejewski 2002: 83]. Die Hauptfi gur, Mia Markowich, ist Tochter der in Deutschland lebenden kroa-tischen Migranten. Sie ist im Wedding großgeworden, im Schatten der Mauer, die sie immer wieder mit der Polaroid-Kamera ablichtete. Sie gehört zur Generation der Dreißigjährigen. Nachdem sie nach Kanada zum Stipendium geht und Deutsch-land verlässt, beschließt sie, sich in Toronto niederzulassen, wo sie als Fotogra-fi n berühmt wird. Mit dem Erfolg geht eine Krise einher, deren Wurzeln, wie sich herausstellt, auf die Vergangenheit von Mia und ihr Leben in Berlin in den Um-bruchzeiten (der Mauerfall und der Balkankrieg) zurückgehen. Die Vergangenheit, an die sich die (erwachsene) Mia in Kanada nicht erinnern will, holt sie jedoch ein. Und plötzlich taucht ihr erstes in Berlin aufgenommenes Foto auf, das sie mit dem Polaroid gemacht hat, welches sie im Geheimen von ihren Eltern genommen hat. Die Erinnerungen werden lebendig, zum Wort kommt die Notwendigkeit, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, die sie bis jetzt mit Erfolg sorgfäl-tig zurückgedrängt hat, „um ohne Vergangenheit zu leben“ [Marinić 2013: 134]. Rafael, ihre große Liebe, überredet sie zu einer Reise nach Berlin, in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Er ist nämlich überzeugt, dass die künstlerische Krise

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mit existenziellen Fragen nach der eigenen Herkunft, Identität verbunden ist. Ihre gesicherte Position, nachdem sie abrupt ihren „deutschen“ Lebensabschnitt abge-schlossen, weit weg von den Kindheitserinnerungen an Deutschland will Mia nicht sofort aufgeben.

Im Inneren weiß sie aber, dass Rafael Recht hat. Als junges Mädchen war sie vor allem an einem Ort glücklich: im Restaurant Dalmatia ihrer Tante Zora im Wedding. Dorthin kehrt sie zurück und diese Rückkehr wird eine Reise ins Gestern, ins Westberlin der Wendezeit und nach Kroatien, das Land ihrer Eltern. Die Prot-agonistin reist nach Berlin, um dort ein paar Tage zu verbringen und sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Der refl exive Umgang mit dem Selbstbild erfolgt über die nach Jahren gefunde-ne Fotografi e, die die Prozesse der Refl exion und der Auseinandersetzung mit dem Ich in den Gang bringt. Dies erfolgt in Form der Erzählung der Lebensgeschichte – einer Erinnerungsarbeit, die sie dem in Berlin lebenden ausländischen Freund aus der Kindheit, Jesus, mit immer mehr Vertrauen off enbart. So ist der Zugang zu sich selbst durch das Erzählen der eigenen Geschichte möglich, die aus zahlreichen kleineren episodenhaften oder ereignishaften Geschichten besteht, denn „Die Iden-tität einer Person erwächst aus der Geschichte, die sie selbst erzählt, revidiert und unter dem Eindruck je neuer Erfahrungen variiert” [Haker 2000: 42]. Die eigene Lebensgeschichte kann verdrängt werden, wie Mia es gemacht hat, aber dadurch verschwindet sie nicht, sondern stigmatisiert das Unterbewusste.

Das Unterbewusste hat jedoch Einfl uss auf unser Handeln, Denken und Fühlen in der Gegenwart. Somit ist stets Gegenwart betroff en, denn: „Das Erinnern […] geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweigerlich zu einer Ver-schiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung“ [Assmann 1999: 29].

Das in der jeweiligen Gegenwart des Ichs gefundene Fotografi e aus der Vergan-genheit hat eine mnemonische und memoriale Funktion. Diese Doppelfunktion der Fotografi e weist einerseits auf ihre Statik hin als eine objektive Abbildung der Wirk-lichkeit und andererseits zeigt ihre Prozesshaftigkeit beim Vorgang des Erinnerns als eine subjektive Erinnerungsarbeit.

Die Fotografi e, die Mia nach Jahren fi ndet, wird zur Gelegenheit, sich wichtige – existenzielle – Fragen zu stellen. Ist es möglich, die von der Fotografi e festgehal-tene Zeit-Raum-Erfassung zu erleben? Ist es möglich, die Welt zu treff en, die die Gegenwart war, aber die es nicht mehr gibt? Wenn ja, wie viel hängt von unserem individuellen Gedächtnis, unseren Wahrnehmungsmöglichkeiten ab?Solche Fragen sind immer mit einer Schwierigkeit konfrontiert, nämlich dass eine fotografi sche Aufzeichnung immer in eine persönliche Konvention verwickelt ist.

Eine Reise nach Berlin beginnend, ist sich Mia bewusst, dass das von ihrem Po-laroid registriere Bild, eine Aufzeichnung von einem Bruchteil einer „hier und jetzt“-Realität aus der Vergangenheit ist, dass die Fotografi e eine Reduktion des Wirklich-keitsbildes ist, das ihr durch direkte Erfahrung bekannt war und nie ein Spiegelbild der Multidimensionalität des Raumerlebens sein wird, der schließlich unser Leben

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beeinfl usst, unser Verhalten determiniert, sich uns mit Hilfe vieler Sinnen erkennen lässt. Es ist eine Reduktion des Bildes von der Realität.

Durch Fotografi en wird dem Individuum das Bewusstsein vermittelt, eine „eigene Geschichte“ zu besitzen, ü ber die es frei verfü gen kann.

Bezogen auf das Konzept von Bachtin muss man feststellen, dass sich die Foto-grafi e immer auf ein bestimmtes Chronotop bezieht. Sie ist „Ein kleines Fragment, ein Fragment aus der Kontinuität der Realität; sie verwandelt einen vorübergehenden Moment in eine permanente Präsenz, ein Stück des Raum in ein Zeichen einer weite-ren und auf dem Bild unsichtbaweite-ren Realität“ [Olechnicki 2003: 114].

In Rekurs auf die von Susan Sontag Ende der 80er Jahre betonte Macht der Foto-grafi e als Medium des Authentischen und der Auseinandersetzung mit der Welt kann hervorgehoben werden: „Fotografi eren heißt, sich das fotografi erte Objekt anzueig-nen. Es heißt sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt zu setzten, die wie Erkenntnis – und deshalb wie Macht – anmutet” [Sontag 2003: 10].

Die Fotografi e wird im Roman Marinic’ sowohl Gegenstand als auch Medium der identitären Aushandlungen. Wenn die in der Kindheit angefertigte Fotografi e eine be-stimmte Lokalität aufgreift (Berlin) und in einem transnationalen Leben der Fotogra-fi n in Kanada auftaucht, so ist eine andauernde Auseinandersetzung mit der eigenen Identität die Folge. Somit lässt sich ihre Fotografi e mehrdimensional entziff ern: – auf der Inhaltsebene (da die Aufnahme gerade eines der Ereignisse der neuesten

Geschichte Deutschlands thematisiert);

– und auch auf der räumlichen Ebene (das Foto wurde in Berlin gemacht und nach Jahren in Kanada gefunden).

Durch diese Entkodierung der Fotografi e kann sich das identitätssuchende Ich den Zugang verschaff en zu den längst vergessenen Situationen, Orten und betroff enen Men-schen. So öff net die Fotografi e mehr Räume der Erinnerung, denn das auf dem Bilde gezeigte Abschnitt einer vergangenen und abgeschlossenen Realität führt direkt in an-dere unabgeschlossene Existenzräume, die in der Gegenwart fortgesetzt werden. Aleida Assmann konstatiert die Bedeutung der Fotografi e im Prozess des Sich-Erinneruns:

Die Photographie funktioniert aber nicht nur in Analogie zur Erinnerung, sie wird auch zum wichtigsten Medium der Erinnerung, denn sie gilt als sicherstes Indiz einer Ver-gangenheit, die nicht mehr existiert, als fortexistierender Abdruck eines vergangenen Augenblicks. Von diesem Vergangenheitsmoment bewahrt die Photographie eine Spur des Realen, mit dem die Gegenwart durch Kontiguitä t, durch Berü hrung verbunden ist: „Die Photographie ist, wö rtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin.“ Darin ü bertriff t die Photographie alle bisherigen Gedä chtnismedien, daß sie durch ihren indexikalischen Charakter einen geradezu kriminologischen Existenz-beweis einer bestimmten Vergangenheit liefert. Diese Erinnerungshilfe mag feinkö rnig und scharf konturiert sein, sie bleibt jedoch sprachlos. Deshalb fü hrt das ausgezeich-nete und unversiegliche Gedä chtnis der Photographien bald ein Eigenleben als Phanto-merinnerung, sobald der rahmende kommunikative Erzä hltext abbricht, der allein die externen Gedä chtnisbilder in lebendige Erinnerung zurü ckzuü bersetzen vermag [Ass-mann 1999: 221].

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Die Frage nach der Fotografi e als Medium, welches Erinnerungen auslöst und fördert oder auch bestimmte Inhalte verschweigt, betont ihre mehrdimensiona-le Perspektive, denn „die Beziehungen zwischen Fotografi e und Erinnerung sind so vielfä ltig wie geheimnisvoll, und auf die Frage, woran eine Fotografi e ihren Schö pfer zu erinnern vermag, muß man antworten: an etwas, das auf ihr zu sehen ist; an etwas, das sie nicht zeigt; und an sich selbst“ [Starl 1995: 149].

Geht man von der Annahme, dass die Fotos eine Art „visuelle Belege“ sind, nach den jeweiligen Bedü rfnissen des Individuums, zusammengestellt und zu einer sinnstiftenden Lebensgeschichte verbunden werden [Blazejewski 2002: 83], muss in Bezug auf den theoretischen Diskurs, der auf Überlegungen von Susan Sontag [vgl. Sontag 2003], Roland Barthes [vgl. Barthes 1989 u. 1990] und Walter Benja-min [vgl. BenjaBenja-min 2006: 200–213] zu Fotografi e basiert, festgestellt werden, dass das vor Jahren aufgenommene Bild von Mia im Zusammenhang mit der Suche nach Identität durch die Hauptfi gur, den zwei grundlegenden Interpretationskontexten unterliegt. Erstens wird dem Objektivismus des Dargestellten der Subjektivismus des Fotografen gegenübergestellt und zweitens geht der Realismus des Bildes mit dem gewissen Kreationismus seines Autors einher. Die durch die Fotografi e in den Gang gesetzte Erinnerungsarbeit ist somit nie eine bloße Abbildung der bestimmten Realität, die es nicht mehr gibt, sondern zugleich deren Konstruktion durch die ge-genwärtigen Erfahrungen des Betrachters. Desweiteren bedeutet das Erzählen des Bildes, das das Erzählen über sich selbst ist, immer das Handeln in der Gegenwart und ihrem Interpretationskontext. Deshalb ist die aufgrund der Fotografi e erzielte Lebensdarstellung durch die Gegenwartsperspektive geprägt.

So sind Erinnerungen Mias an die Vergangenheit (als kroatisches Kind der nach Deutschland migrierten Eltern) Weichen für die Gegenwart (eine zweiwöchige Rei-se nach Berlin und Dalmatien) und können zugleich auf Zukunft (das Leben in Kanada) Einfl uss haben. Somit verortet sich die Protagonistin stets nicht nur zwi-schen den Kulturen, aber auch zwizwi-schen einem Vorher und einem Nachher. Dadurch sichert sie sich ihre biographische Kontinuität.

Man muss aber betonen, dass sich das Selbstbild des vergangenen Ichs immer an Kontexte der Gegenwart anpasst. Auch Familiengedächtnis könnte sich an der Gegenwartssituation orientieren, so dass bestimmte Inhalte nicht mehr erinnert wer-den. Mias Fotografi e darf also auch nicht über die interpretatorische Eindeutigkeit verfügen. Den Überlegungen von Susan Sontag zufolge ist die Fotografi e nie ein völlig unvoreingenommenes Wirklichkeitsabdruck, denn

es stellte sich jedoch schnell heraus, dass niemand ein identisches Foto von demselben Thema macht. […]. Fotos belegen nicht nur das, was in der Welt ist, aber auch das, was der Fotograf sieht: nicht nur allein die Aufzeichnung, sondern auch seine eigene verarbeitete Bewertung der Welt [Sontag 1986: 85f].

Die Fotografi e widerspiegelt nicht die vom Fotografen erlebte Wirklichkeit, son-dern die Vision dieser Wirklichkeit, die der Fotograf entworfen hat.

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Das Bild in seiner Hand haltend, kehrt Mia in die Vergangenheit illusorisch zu-rück, sich der Tatsache bewusst, dass sich der auf dem Foto dargestellte Augenblick nicht wiederholt, weil er fest in der Realität verwurzelt ist, die es nicht mehr gibt. Der Ausschnitt der erfassten Raumzeit ist keine Kopie der Realität. Jeder, der die Foto-grafi e betrachtet, kann sie anders interpretieren, aber für Mia ist sie der Schlüssel, um diese Mia Markovich aus alten Zeiten zu fi nden, ist die Spur eines Kindes, das jetzt erwachsen ist. In dieser Erzählsituation wird nicht explizit ein wichtiger Aspekt be-rührt, nämlich das Verhältnis von (ihrer) Fotografi e zu (ihrer) Erinnerung. Die Einzig-artigkeit der Amateurfotografi e von Mia beruht nicht auf der EinzigEinzig-artigkeit der Form oder der kindlichen Perspektive, sondern auf der Tatsache, dass ihre Fotografi e ihre persönlichen Erfahrungen, ihre Erinnerungen, die ihr damals vertraute Atmosphäre und bekannte Gerüche im Erinnerungsprozess freisetzen kann. Die Erinnerungen be-ziehen sich nicht nur auf das Fragment der Realität, die auf der Fotografi e festgehalten wird, sondern gehen auch weit über den Raum-Zeit-Rahmen der Fotografi e hinaus. Das ist nicht mehr nur das Erinnern an die Straßennamen, an derer Ecke Mia das Bild aufgenommen hat, sondern auch die Erinnerung an ihre Eltern, an ihr lang vergesse-nes Geheimnis, das sie die Kamera heimlich aus dem Hause mitgenommen hat, ihre Freundschaften. Slawomir Sikora betont, dass die Fotografi e nur ein Zeugnis dessen ist, dass es etwas gab, und nur das Ereignis selbst als dessen Sinn /Bedeutung ver-ewigt [vgl. Sikora 2004: 17].

Bei der Analyse des Romans von Jagoda Marinić ist die Dialogizität zwischen der Fotografi e und ihrer Betrachterin deutlich, in der eine Art private Symbolik zum Vor-schein kommt. Es handelt sich um eine relevante biografi sche Erfahrung im Leben der Protagonistin, die es Mia ermöglicht, über die wichtige Struktur ihres eigenen Lebens zuerst sich selbst und dann allmählich den anderen zu berichten. Jede auf dem Foto aufgenommene Raumzeit kann das Tor zu einer anderen (vergangenen) Raumzeit öff -nen, die eine unbegrenzte Anzahl von Motiven enthält. Jedes Motiv kann eine eigene Raumzeit haben. Das Betrachten von Fotografi e wird zu einer Herausforderung für das Gedächtnis, die Sensibilität und die Vorstellungskraft. Im Roman entdeckt Mia auf dem Foto nicht alle Einzelheiten auf den ersten Blick, und ihre Assoziationen werden schichtweise ihr bewußt.

Einige Tage, die Mia in Berlin verbringt, bestimmen in der Struktur des Romans die Erzählperspektive, derer Zeit vor allem die gegenwärtige Zeit ist, real und nach-prüfbar. In der Reise in dem realen geographischen Raum – von Kanada nach Berlin – von der Ankunft bis zur Abreise wird ein Außen-Chronotop des Romans festgelegt: Berlin des zwanzigsten Jahrhunderts mit seiner urbanen Präsenz, die europäische Po-litik, die Kultur, Balkankrieg. Die Ankunft nach Berlin und der Spaziergang durch die vertrauten Straßen ist nicht das wichtigste und einzige Ziel der Heldin, aber äußerer kompositorischer Griff , welcher einzelne Kapitel über das Schicksal Mias Familien-mitglieder vereinigt.

Die Reise in die Vergangenheit zeigt sich in vielen Bildern, die über das Werk verstreut sind, welche die lineare Reihenfolge der Handlung stören. In der Hand-lung (Aufenthalt in Berlin) wurde die Chronologie der Ereignisse unter dem

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Einfl uss zahlreicher Rückblenden verletzt. Die Ereignisse der Handlung werden in zwei zueinander komplementären Sequenzen angeordnet: die Abfolge der Ereig-nisse autobiographischer Natur – das Leben der Heldin und eine Reihe von histori-schen Ereignissen – die Geschichte von Kroatien, Deutschland und Europa. Diese Sequenzen kreuzen sich oder erscheinen parallel. Daher gibt es neben dem echten externen Chronotop ein zweites – internes. Es ist die Zeit und der Raum des Lebens der Heldin und ihrer Familie. Innerhalb des internen Chronotops realisiert sich der wesentliche Zweck der Reise der Heldin, die durch die Fotografi e in Gang gesetzt wurde, der auch die Idee des Romans ist (Überprüfung des bisherigen Lebens der Heldin und Refl exion über die Geschichte ihrer Familie ist involviert in die tur-bulente Geschichte des Balkans) und die Auseinandersetzung mit der Gegenwart fi ndet deswegen statt, um eine bewusste Bewertung der Vergangenheit zu machen und seinen Platz in der Gesellschaft zu defi nieren.

Die Fotografi e wird zu einem Wendepunkt in ihrem Leben und zu einem Träger vieler Bedeutungen, wie sich nach der Ankunft in Berlin herausstellt. Sie wird weni-ger ein Augenblick im Bild festgehalten, sondern vielmehr ein Bild, das mit Zeit und Bedeutung gefüllt ist. Der im Bild dargestellte Ausschnitt der Realität ist ein Aus-gangspunkt für Mia im kognitiven Prozess. Der besondere Wert der Fotografi e beruht auf der Tatsache, dass sie für die Heldin zusätzliche Bedeutungen entdeckt, die für die Erfahrung der Migration so wichtig sind. Die von Mia gefundene Fotografi e ruft nicht nur die Erfahrung der im Bild gezeigten Realität hervor, aber auch das Vorher und Nachher. In Mias Identität als Migrantin verwoben, ist das Bild eine Art Bindemittel, das die Kontinuität der Zeit bestätigt.

Zusammenfassend kann gemeinsam mit Susan Sontag gesagt werden: „Die letzte Weisheit eines fotografi schen Bildes liegt in der Aussage: Hier ist die Oberfl äche. Und nun denk darüber nach – oder besser: erfühle, erkenne intuitiv –, was darunter ist, wie eine Realität beschaff en sein muss, die so aussieht“ [Sontag 2003: 28].

Die Migrationsrealität von Mia Markowicz, fügen wir hinzu.

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Summary

Present Past – Photography as a Media of Memory on the Example of the Novel Restaurant Dalmatia by Jagoda Marinić

Migration is one of the most signifi cant existential experiences of the century. In her novel, Restaurant Dalmatia (2013), Jagoda Marinić goes beyond the typical dual nar-rative of migration, i.e mine-yours, familiarity-strangeness, now-then, with the indi-vidual as a point of reference. The aim of this paper is to focus on one of narrative concepts of the author of the novel – the medium of photography.

The protagonist, Mia Markowich, a daughter of Croatian migrants living in Ger-many, is in her thirties. After her leave for a scholarship in Canada, she decides to per-manently settle down in Toronto where she gains popularity as a photographer. How-ever, along with this success comes a crisis – the roots of which, as it turns out, reach back to Mia‘s past and her life in Berlin at the time of the fall of the Berlin wall and the Balkan war. It also happens to be a past that Mia is trying hard not to remember. And yet, suddenly, there appears her fi rst photo taken in Berlin by a Polaroid used in secret from her parents. Memories resurface as does the need to deal with the burden of her past. On her way to Berlin, Mia is more than aware that the picture she recorded by Polaroid is a record of a mere fraction of some „here and now” from the past – that the photo is a reduced version of perceived reality known to her from the direct expe-rience and it will never be a refl ection of the multidimensional way of experiencing space which, after all, aff ects and organizes our life and determines our actions – let-ting itself be known through many senses. It is, however, only now – when Mia is looking at this hastily taken photo – that she notices with her trained photographer‘s eye numerous details related to the fragment of reality she was observing then.

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Here we touch upon another crucial aspect: the relation between (her) photograph with (her) memory. The special value of an amateur photo does not rely on the special quality of the form, but on the fact that it can evoke experiences, memories, atmos-phere and smells. The special value of the photograph results from the fact that it opens up for the protagonist new senses and meanings so important in the experience of migration.

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