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Die Erfahrung der Migration – Literatur als Heimat von Paulina Schulz aus interkultureller Perspektive

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Academic year: 2021

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ISSN 2083-5485

© Copyright by Institute of Modern Languages of the Pomeranian University in Słupsk

Original research paper Received: Accepted:

11.10.2015 25.05.2016

DIE ERFAHRUNG DER MIGRATION –

LITERATUR ALS HEIMAT VON PAULINA SCHULZ

AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE

Eliza Szymańska

Uniwersytet Gdański Gdańsk, Polska finej@ug.edu.pl

Schlüsselwörter: Migration, Fremdheit, Liminalität, Hybridität, Interkulturalität

Die Migration wird heutzutage als „eine Form moderner Existenz“ [Köstlin 2007: 377] aufgefasst. Es ist nämlich kein Stigma oder kein Trauma mehr, den Ort, an dem man lebt, zu wechseln, sondern dies wird immer häufiger zur Normalität. Wenn man sich die Statistiken ansieht, merkt man schnell, dass die Zahl der Men-schen, die ihren Wohnort (manchmal mehrmals) wechseln, von Jahr zu Jahr steigt [vgl. Glorius 2007: 13]. Migration wird daher oft als Bereicherung und nicht als Handicap interpretiert [vgl. Köstlin 2007: 378f.]. Der Begriff Migration ist mit zwei Kategorien verbunden, denen man auch kreatives Potential nachweist. Zum einen ist es die Kategorie der Interkulturalität, die als kreatives Milieu, das die Identität er-weitert [vgl. Leskovec 2011: 44] oder Neues schafft [Wierlacher 1999: 175], aufge-fasst wird. Zum anderen ist es die Hybridität, der seitens vieler Wissenschaftler ein kreatives Potential zugesprochen wird [Forest 1991: 324; Schneider 1994: 20f.; Ha 2005: 14]. Dabei sollte man jedoch eins nicht ausblenden. Bevor man das kreative Potential der Migration nutzen kann, hat man meistens mit gewissen Hürden zu kämpfen. Da die Eingliederung in das neue Milieu selten ohne Reibungen und Schwierigkeiten verläuft, gleicht sie eher einem Hürdenlauf als einem entspannten Spaziergang. So berichtet z.B. Illia Trojanow, ein mit dem Adalbert-Chamisso-Preis ausgezeichneter, anerkannter Autor, wie diese Anerkennung oft der Distanz gegen-über kulturellem Anders-Sein weichen muss(te) [vgl. Kerski 2010: 9f.]. Dass es nicht immer leicht ist, sich in einem neuen Milieu zurechtzufinden, zeigt auch Pauli-na Schulz in ihrem Essay Literatur als Heimat, in dem sie ihre Migrationserfahrun-gen beschreibt. Dieser autobiographische Text wird zum GeMigrationserfahrun-genstand meiner Analy-se. Dabei bediene ich mich einiger zentraler Kategorien der interkulturellen

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nistik, wie etwa der Liminalität, der Fremdheit, der Hybridität, da sie sich meines Erachtens zur Darstellung der von der Autorin beschriebenen Erfahrungen beson-ders eignen. Es wird vor allem auf die Fragen eingegangen, wie der Zustand der Li-minalität und des damit verbundenen Dazwischen-Seins in den verschiedenen Pha-sen des Aufenthalts in Deutschland von der Autorin beschrieben wird, wie sie mit der Exklusion und dem Fremdheitsempfinden umzugehen weiß und dank welcher Mittel sie diese zu überwinden sucht/schafft.

Paulina Schulz stammt aus einer deutsch-polnisch-tatarischen Familie. Nach dem Studium von Prosa, Film, Dramatik und als Hauptfach Übersetzen am Deutschen Li-teraturinstitut in Leipzig, arbeitete sie als Literaturübersetzerin und Gutachterin bei diversen polnischen und deutschen Verlagen. Sie übersetzte unter anderem Werke von Manuela Gretkowska, Marek Krajewski, Maria Nurowska, Jerzy Pilch, Leszek Szaruga, Brygida Helbig, Magdalena Parys oder Uljana Wolf. Darüber hinaus war sie als Dozentin für Literarisches Schreiben, Theorie und Praxis des Übersetzens und Kommunikation an mehreren Universitäten in Deutschland und in Polen tätig. Gleichzeitig schreibt sie selber literarische Texte. Es entstanden bis jetzt der Erzähl-band Wasserwelt (2005), die Lyrikbände Paralysing Shadows (2006) und

Mee-res.Spiegel (2013) sowie die Erzählung Das Eiland (2014). Sie lebt heute als freie

Buchautorin und Übersetzerin in Stralsund und arbeitet zur Zeit an einem neuen Roman sowie an einer Buchübersetzung.

In ihrem Essay Literatur als Heimat beschreibt sie, wie sie im Jahre 1989, also kurz vor der Wende, im Alter von fünfzehn Jahren zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Polen (Breslau) verließ, um nach Deutschland (Friedland) zu ihrem Vater, der 6 Monate früher nach Deutschland kam, überzusiedeln. Der Text setzt mit der Beschreibung der Zugfahrt von Polen nach Deutschland ein, was für die Autorin in mehrfacher Hinsicht zu einer liminalen Erfahrung wurde. Der Begriff der Limina-lität, der in meinem Beitrag eine wichtige Rolle spielt, geht auf Victor Turner zurück und beschreibt ein Übergangsstadium. Es geht um einen Prozess des Übergangs von den gewohnten sozio-kulturellen Strukturen in ein neues, anfangs fremdes Milieu. Dieser erfolgt in drei Phasen. Die erste Phase wird die Trennungsphase genannt. In ihr: „verweist symbolisches Verhalten auf die Loslösung eines Einzelnen oder einer Gruppe von einem früheren fixierten Punkt der Sozialstruktur, von einer Reihe kul-tureller Bedingungen (einem »Zustand«) oder von beiden gleichzeitig“ [Turner 2005: 94]. In der zweiten Phase, der sogenannten Schwellenphase, durchschreitet der Passierende einen kulturellen Bereich, der sowohl mit dem vorherigen als auch mit dem zukünftigen Zustand kaum Gemeinsamkeiten aufweist. In der dritten, der Angliederungsphase, ist der Übergang vollzogen und das rituelle Subjekt befindet sich erneut in einem stabilen Zustand mit klar definierten, sozialstrukturbedingten Rechten und Pflichten [vgl. Turner: 94f.]. Es ist auffallend, dass wir in dem Text von Paulina Schulz über die erste Phase, also die Trennungsphase, wenig bis gar nichts explizit erfahren. Es entsteht der Eindruck, als ob die Autorin in die zweite Phase hineingeworfen worden wäre, ohne wirklich eine Chance bekommen zu ha-ben, sich von ihrem „alten Leben“ zu verabschieden. Wir erfahren von daher nichts über den Abschied von der restlichen Familie (z.B. von den Großeltern) oder von den Freunden, die im Leben eines fünfzehnjährigen Mädchens meistens von großer

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Bedeutung sind. Es wird auch kein Wort über all den Schmerz und all den Schre-cken verloren, der die Menschen meistens in solchen Situationen begleitet. Trotz-dem kann man an Trotz-dem Anfang des Essays ablesen, dass es für die Autorin ein trau-matisches Erlebnis war, aus dem gewohnten Rahmen der vertrauten Umgebung her-ausgerissen zu werden. Der Essay fängt mit den Worten an: „Ich weiß noch, wie am 9. April 1989 am späten Nachmittag der Zug nach Deutschland den Bahnhof in Wrocław verließ. Ich stand im Flur am Fenster. Ich fühlte nichts” [Schulz 2010: 191]1. Die Formulierung „Ich fühlte nichts“ verweist auf eine Art Erstarrung, in der

sich die Autorin befand. Dieser Satz lässt auch darauf schließen, dass die Tren-nungsphase für sie zu einem Schock wurde, den sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal imstande war, in Worte zu fassen, geschweige denn zu verarbeiten. Im Zug befand sie sich in einer Art Schwellenzustand (hier setzt also bereits die zweite Phase des Über-gangs ein), in dem sie „nichts fühlt“ oder viel mehr von einem Gefühl der „Leere“ be-herrscht wird. Um sie wird es dunkel (so ihr persönliches Empfinden), sie ist auf ein-mal ihrer Muttersprache nicht mehr mächtig (sie versteht die Schilder mit den polni-schen Ortsnamen, an denen sie vorbeifährt, nicht mehr) und verliert auch komplett das Zeitgefühl: „Irgendwann passierten wir die polnisch-deutsche Grenze, nach drei Stun-den oder drei Tagen, ich wusste es nicht“ [LaH: 191]. Es sei an dieser Stelle zu unter-streichen, dass Turner die Sprachlosigkeit und das Gefühl, sich „außerhalb der Zeit“ zu befinden als Hauptmerkmale der Liminalität benennt [vgl. Turner 2005: 96]. Nach Turner befinden sich Personen, die in einem Schwellenzustand verweilen, „weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen“ [Turner 2005: 95]. So ist es auch im Falle der Autorin, die ihre Gefühlslage zu diesem Zeitpunkt auf folgende Art und Weise beschreibt:

Ich war eingeschlossen in einem Zeit-Raum-Gefüge außerhalb alles bisher Erleb-ten. Es war kein Ende mehr, aber noch kein Anfang, ein Dazwischen, in dem es keine Gefühle gab, keine Gedanken an die Zukunft, kein Warten – nur ein Sein, sich selbst so fremd wie die in ihren Abteilen eingeschlossenen Menschen. Draußen mochten Stunden oder Minuten vergehen, Länder andere Namen haben, doch innerhalb dieser nächtlichen Wirklichkeit des Zuges funktionierte die Welt anders. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Ich hatte keine Angst, ich fühlte immer noch nichts [LaH: 191]. Die Autorin beschreibt in dem oben angeführten Zitat zum ersten Mal den heutzu-tage so hochgeschätzten Zustand des „Dazwischen“ [vgl. Bachmann-Medick 2010: 116], der sie auch später während ihres Aufenthalts in Deutschland stets begleiten wird, da er in das Migrantenleben fest eingeschrieben ist. Das Dazwischen wird weder als Vakuum noch als ein Überlappungsbereich, sondern als ein Beziehungsfeld ver-standen. Innerhalb dieser Beziehung überbrücken die Individuen ihre Trennung und schaffen eine gemeinsame Umwelt: „diese Umwelt wird gedacht als ‚dritte Ordnung‘ von Zwischenpositionen und Zwischentönen, die wie alle Beziehungskultur als Situa-tion und als Prozeß zu begreifen sind“ [Wierlacher 1999: 169]. Ortrud Gutjahr schreibt in diesem Zusammenhang von Interkulturalität nicht nur als einer Interaktion zwischen ———————

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den Kulturen im Sinne eines Austausches von jeweils kulturell Eigenem. Sie hebt das hervor, was sich im Austauschprozess der Kulturen als Bereich eines neuen Wissens festhalten lässt, den die Wissenschaftlerin als ein „intermediäres Feld“ [Gutjahr 2002: 353] bezeichnet. Bei dem Konzept der Hybridität ist oft von Brüchen, Übergängen, Überschreitungen und Metamorphosen die Rede [vgl. Blioumi 2001: 94]. Bhabha wer-tet nämlich in seinem Konzept des dritten Raumes zwei Momente auf: den des Über-gangs und den des Bruchs [vgl. Bhabha 2011: 1ff.], was dazu führt, dass er in jeder Gemeinschaft Hybriditätstendenzen sieht. Die Subjekte seien heimatlos, da sie in ei-nem Zustand des liminalen Übergangs verweilten. Ihre Kultur sei jenseits der kulturel-len und vor allem jenseits der nationakulturel-len Grenzen verortet. Bhabha behauptet, sich ge-gen Ende des 20. Jahrhunderts in einem Moment des Übergangs zu befinden, in dem sich solche Kategorien, wie Differenz, Identität, Vergangenheit, Gegenwart, Innen, Außen, Einbeziehung (Inklusion) und Ausgrenzung (Exklusion) konstituieren [vgl. Bachmann-Medick 1998: 23]. Bei der Erarbeitung der Kategorie des Bruchs greift Bhabha die Ideen aus Walter Benjamins Geschichtsphilosophie auf, die die Kontinui-tät der Zeiterfahrung in Frage stellen. In der homogenen Kultur herrscht nämlich die Idee von der Kontinuität der Zeit und, was daraus resultiert, dem harmonischen Ablauf der Geschichte. Bhabha definiert jedoch die postkoloniale Erfahrung der Zeit als eine Erfahrung von Brüchen, die es seitens des Individuums produktiv zu nutzen gilt [vgl. Hofmann 2006: 30]. Auf ihrer Reise nach Deutschland begleiten wir Paulina Schulz in einem Moment, der für sie einen bestimmten Bruch, einen Übergang und eine Über-schreitung bedeutet und in dem die Kontinuität der Zeit aufgehoben, durchbrochen wird. Sie wird ihr Dazwischen-Sein, dieses „intermediäre Feld“, also die hybride Posi-tion, in die sie sich durch die Migration hineinbegibt, später als eine Bereicherung se-hen. Bevor aber die Autorin imstande ist, die Hybridität zu ihren Gunsten als das „kre-ative Potential“ produktiv nutzen zu können, ruft diese bei ihr zunächst ein Ohn-machts- und Fremdheitsgefühl hervor. Diese Empfindung wird die Autorin noch lange Zeit begleiten. Hans-Christian Trepte macht es vor allem an der Sprachlosigkeit der Autorin fest [vgl. Trepte 2013: 280], die selber von sich behauptete: „Ich war sprach-los, ich hatte keine Sprache mehr” [LaH: 193]. Vor allem aber geht dies m.E. aus der Überzeugung hervor, eigentlich nirgendwohin zu gehören. Bereits nach der Ankunft im Übergangslager Friedland stellt sie fest, dass die Familie kein Zuhause mehr hat2.

Die Besitzlosigkeit gehört übrigens zu den weiteren von Turner genannten Haupt-merkmalen des liminalen Zustands [vgl. Turner 2005: 110]. Davon, dass sie sich wäh-rend des Aufenthalts im Übergangslager im liminalen Stadium befindet, zeugt die Tat-sache, dass sie sich nur vage an diese Zeit erinnern kann. Von der Zeit im Lager sind ihr eigentlich nur die Essenmarken und eine Begegnung mit der Mutter einer Schul-kameradin im Gedächtnis haften geblieben. Dies zeugt davon, dass sie sich zu dieser Zeit immer noch in einer Art Starre befindet, die dazu führt, dass ihr Erinnerungsver-mögen versagt. Außerdem sieht sie die Zeit im Lager als eine Art „Verlängerung Po-lens“ [LaH: 192] an, was darauf schließen lässt, dass sie sich nicht mehr in Polen, aber auch noch nicht in Deutschland sieht. Sie befindet sich irgendwo dazwischen, in einem liminalen Zustand des Aufgehoben-Seins zwischen zwei Ländern. In Deutschland zu ———————

2 Über das Motiv des Durchgangslagers in der polnischen Migrantenliteratur schreibt unter ande-rem Renata Makarska [2013: 133-149].

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sein, fühlt sie erst, als die Familie den Wohnort wechselt und in einen Kurort umzieht. Das Städtchen beschreibt die Autorin wie folgt:

Der Ort, Bad Sooden-Allendorf, war eine Puppenstadt mit sauberen Gassen, wun-derschön renovierten Mittelalterhäuschen, großen Parks und ordentlichen Grünanla-gen, prächtigen Kurhäusern und vollen Supermärkten. Wir stammen ebenfalls aus ei-nem Kurort, Lądek Zdrój in den Sudeten, einer Stadt, in der es ebenfalls große Parks und prächtige Kurhäuser gibt, aber das hier war wie Disneyland, alles so bunt und sauber, dass es blendete [LaH: 192].

Mit diesen Worten beschreibt die Autorin eine Erfahrung, die viele (E)Migranten der 70er und 80er Jahre aus Polen teilen. Der Übergang von der grauen Volksrepublik--Polen-Realität in die bunte BRD-Welt versetzte viele in eine Art euphorischen Schock, sich von nun an in einer vollkommen anderen, bunten (lies: besseren) Wirk-lichkeit zu befinden. Es stellt sich aber schnell heraus, dass das kein Disneyland für je-den ist. Während eines Spaziergangs durch die Stadt sieht die Autorin vor einem Ge-schäft eine große Tafel mit der Überschrift: „Polen raus!“ [LaH: 192], was ihr schmerz-haft vor Augen führt, dass sie ausgegrenzt wird und einfach nicht dazugehört.

Dieses Gefühl des Nicht-Dazu-Gehörens wird sie auch später nicht los, wenn sie in Kontakt mit Vertretern anderer Nationalitäten tritt. Zu diesem Zeitpunkt war sie nur mit einem anderen Polen aus ihrem Sprachkurs befreundet und sie beschreibt ihr Ver-hältnis zu den anderen Kursbesuchern folgendermaßen: „Wir kannten lediglich ein paar Leute von unserem Sprachkurs, mit denen wir uns zwar sprachlich, aber mensch-lich nicht verstanden. Und so blieben wir meist zusammen, ein polnisches Pärchen in der unverständlichen deutschen Welt“ [LaH: 194]. Die „deutsche Welt“ bleibt für die Autorin unverständlich und fremd, auch wenn sie sie nach einiger Zeit sprachlich ein-ordnen kann. Es ist aber die unterschiedliche Mentalität, die dazu führt, dass die Auto-rin sich nicht wirklich „zu Hause“ fühlt. Dies wird besonders bei dem Realschulbe-such deutlich. Ihre Erfahrung des Ausgeschlossen-Seins beschreibt sie mit folgenden Worten: „ich [war] als Polin ein seltsamer Fremdkörper in dem Organismus der rein deutschen Schule“ [LaH: 194]. Aber auch später, als sie bereits das Gymnasium be-sucht, findet sie keinen Zugang zu deutschen Mitschüler und Mitschülerinnen. Sie wartet sehnlich auf jedes Wochenende, denn sie kann sich dann mit dem polnischen Freund treffen und sich über die polnische Kultur unterhalten:

Umso mehr freute ich mich auf die Wochenendtreffen mit meinem polnischen Freund, der in einer anderen Stadt wohnte. Wir redeten stundenlang auf Polnisch über unsere polnischen Freunde, über polnische Literatur, Stachura, Gombrowicz, hörten polnischen Jazz und polnische Hörspiele. Insgeheim verachteten wir die – so schien es uns damals – kulturlosen Deutschen, die sich in der Schule nur übers Essen, über Mode und den neuesten Hollywoodfilm unterhielten [LaH: 194].

Es ist also eher das Gefühl der Andersartigkeit, das auf die unterschiedlichen In-teressen zurückzuführen ist, als die Sprachlosigkeit der Autorin, das dazu führt, dass sie sich immer noch fremd fühlt. Es ist vor allem die Überzeugung „kulturell unter-schiedlich geprägt zu sein“ [Gutjahr 2002: 346], um auf die Interkulturalitätsformel

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von Ortrud Gutjahr zurückzukommen, die es der Autorin nicht erlaubt, sich als ein Teil der Gemeinschaft, in der sie jetzt fungiert, anzusehen. Um diese Unterschied-lichkeit zu überwinden, baut sie sich eine Brücke auf, und zwar in Form von Litera-tur. Allmählich fängt sie an, dank der Literatur, die deutsche Kultur kennen zu ler-nen. Wie sie früher tatkräftig ihre Sprachlosigkeit bekämpfte: „Es ging mir einzig darum, diese Sprachlosigkeit zu überwinden, ich bekämpfte sie wie einen Feind“ [LaH: 195], so versucht sie jetzt mithilfe der Literatur Eingang in die für sie neue Welt zu finden. Die Autorin erinnert sich noch ganz genau an all die Titel der deut-schen Bücher, die eine Bekannte für die Familie aussortiert und mit denen sie sich nach und nach vertraut gemacht hat:

»Das Glasperlenspiel« und »Der Steppenwolf« von Hermann Hesse, »Zimmerlaut-stärke« von Reiner Kunze, »Der Butt« von Günter Grass, von Heinrich Böll »Gruppen-bild mit Dame« und »Das Ende einer Dienstfahrt« sowie »Momo« von Michael Ende. Nur langsam traute ich mich an diese dicken deutschen Bücher heran. Schließlich habe ich dann eines Tages »Momo« angefangen, irgendwann den »Steppenwolf« und Kunzes Gedichte gelesen. Die Kunze-Faszination ist mir bis heute geblieben [LaH: 195]. Mit diesem Sich-Vertraut-Machen mit der Literatur fängt für die Autorin die An-gliederungsphase an. Die Literatur verschafft ihr Zugang zu der für sie bis jetzt unver-ständlichen deutschen Welt. Sie kann auch erste Erfolge verzeichnen, als sie etwa bei einem gesamtdeutschen Schüler-Literaturwettbewerb eine Auszeichnung erhält. Dies gibt ihr mehr und mehr die Kraft, ihre Situation nicht als Handicap, sondern als Berei-cherung zu sehen. Sie ist erst jetzt im Stande, den liminalen Zustand des Aufgehoben-Seins zu ihren Gunsten zu nutzen. In der Literatur findet sie einen Ort, der für sie „Heimat“, im Sinne „Zu- Hause-Sein“ oder „Angekommen-Zu-Sein“ bedeutet: „Ich habe meine Heimat in der Literatur gefunden. Ich fühle mich keinem Land verbunden, auch nicht der deutschen oder der polnischen Sprache“ [LaH: 195]3. Die Autorin ist an

einem Punkt angekommen, an dem sie das Aufgehoben-Sein zwischen zwei Ländern, Sprachen und Kulturen nicht als Verlust, sondern als Vorteil empfindet: „Aus dem entsetzlichen Gefühl des fünfzehnjährigen Mädchens, verstummt zu sein, seine Spra-che verloren zu haben, ist mittlerweile das Gefühl geworden, sich jede SpraSpra-che, jede Literatur aneignen zu können und somit überall zu Hause sein zu können“ [LaH: 196]. In der Literatur vollzieht sich für die Autorin ihre Inklusion in die deutsche Gesell-schaft und das Schreiben und Übersetzen werden zu Übergangsritualen.

Heute verfügt Schulz über die sogenannte Bindestrich-Identität [vgl. Langenfeld 2001: 318]. Die Inhaber dieser Identität sprechen meistens zwei (oder mehrere) Sprachen, sind in zwei kulturellen Codes zu Hause und können ihren Dazwischen-Status, der für sie meistens anfangs eher lästig war, zu ihren Gunsten nutzen. Was ihr gegenüber einmal als Vorwurf geäußert wurde, ihre Lyrik stehe weder in der polnischen noch in der deutschen Literaturtradition, versteht die Autorin heute als das größte Lob [vgl. LaH: 196]. Sie sieht nämlich ihre Freiheit darin, sich für keine ———————

3 Ganz ähnlich beschrieb Peter Handke seine Situation. Er reiste viel durch die ganze Welt, wohnte unter anderem in Graz, Düsseldorf, Berlin, Kronberg, Salzburg, um letztendlich ab 1991 in Chaville bei Paris seinen Sitz gefunden zu haben. Zum Thema „Heimat“ äußerte sich der Schriftsteller wie folgt: „Ich habe keine Heimat, meine Heimat sind die Bücher“. Zit. nach Herwig [2011: 208].

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Tradition entscheiden zu müssen, sondern zwischen beiden zu stehen und aus beiden (und eigentlich vielen mehr, denn sie interessiert sich auch stark für die lateinameri-kanische, irische, nordamerikanische und skandinavische Literatur) frei nach Belie-ben wählen und schöpfen zu können. Wenn Schulz im letzten Satz des Essays von sich behauptet, keine Polin und keine Deutsche, sondern eine Europäerin zu sein, plädiert sie somit für den Kosmopolitismus, der als eine Anerkennung der Andersar-tigkeit und der Verschiedenheit, wie es Ulrich Beck und Edgar Grande einmal pos-tuliert haben, aufgefasst werden kann [vgl. Beck, Grande 2004: 27]. Alterität kann man nämlich in positiver Konnotation als das unabdingbare Andere, das zur Selbst-bestimmung erforderlich ist, verstehen. Wenn man annimmt, dass jede kulturelle Fremdheitserfahrung zugleich auch eine Konfrontation mit möglichen Alternativen der eigenen Lebensgeschichte ist und uns zur prüfenden Revision der Welt und un-serer Rolle und Position veranlasst [vgl. Wierlacher 1993: 64], so können wir die Al-terität als: „Basis der Subjektkonstitution durch Bewußtsein“ [vgl. Sommer 2001: 25] oder auch „Bedingung für Identität und Selbstvergewisserung“ [Sting 2008: 106] sehen, wie es eben Paulina Schulz in ihrem Essay tut.

Bibliographie

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Sekundärliteratur

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Summary

The experience of migration – Literatur als Heimat by Paulina Schulz from intercultural perspective

In this article I have been dealing with the essay by Paulina Schulz Literatur als Heimat (Literature as motherland), in which the author describes her migrational experi-ence. In my article I have used a few crucial/key categories of intercultural German phi-lology. These are the following ones: liminality, alienation and hybridity. They seem to be incredibly useful for describing the author’s experience. First of all I have been trying to answer the questions of how this state of liminality and connected with it ‘being in-between’ were described by the author during her different phases of living in Germany, how she tried to cope with the feeling of alienation and exclusion and what strategies she used in order to overcome these problems.

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