Elke Mehnert
Zur Rezeption biblischer Mythen
durch Anna Seghers
Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica 1, 113-120
1997
A C T A U N I V E R S I T A T I S L O D Z I E N S I S
FOLIA G ER M A N IC A 1, 1997
Elke M ehnert
Z U R R E Z E P T IO N B IB L ISC H ER M Y TH E N D U R C H ANNA S EG H ER S
In A n n a Seghers’ B iographie ist das Ja h r 1924 au f d oppelte A rt und W eise bedeutungsvoll: D ie D issertatio n Jude und Judentum im W erke
Rembrandts m ark iert den A bschluß ihrer kunsthistorischen Studien, und A ntje Seghers' Erzählung Die Toten a u f der Insel D jal (am 1. W eihnachtstag
in der „ F ra n k fu rte r Zeitung und H andelsblatt“ veröffentlicht) k a n n als G eburtsdatum der Schriftstellerin A nna Seghers gelten. D a sie selbst hartnäckig eine Beziehung zwischen ihrem Pseudonym und H ercules Seghers, einem R adierer der R em brandt-Zeit, bestritten h at, erscheint es wenig sinnvoll, eine kunsthistorische V erbindungslinie zwischen N etty Reilings P rom otions schrift und A ntje Seghers’ D ebüterzählung zu konstruieren - zum al sich G em einsam keiten anderer A rt anbieten: Beide Texte nehm en Bezug a u f biblische M ythologie.
In Die Toten a u f der Insel Djal sind christlich-mythologische Vorstellungen von Paradies, Jüngstem G ericht und W iederderauferstehung der T o te n kühn m it dem volkspoetischen W iedergängerm otiv verwoben, das in zahlreich überlieferten däm onologischen Sagen eine Rolle spielt. D abei lassen sich zwei Funktionsebenen dieser M otive unterscheiden: Zum ersten konstituieren sie die H andlung - zwei T ote sind ins Leben zurückgekehrt; der eine d an k wilder und zorniger Gebete, m it denen er G o tt so lange zugesetzt h at, bis der ihn „ a u f F ü rb itte seiner sieben Engel noch einmal in [seiner - E.M .] alten G estalt ins Leben lassen mußte“ 1; der andere, weil „ein sonderbarer K a u z “ zu r „ungebär digen Seele“2 wird, die auch u n ter der E rde keine R uhe findet.
1 A . Seghers: Die Toten a u f der Insel Djal. In: Über Kunstwerk und W irklichkeit. IV: Ergänzungsband. Berlin 1979, S. 209 ( = K uW IV).
2 Ebd., S. 206.
114 Elke M ehnert
A u f einer zweiten Funktionsebene sind die biblischen M ythen Gegenstände von D iskussionen über ihren W ert oder Unwert: Sise, der Pfarrer, liest im
Neuen Testament·. „U n d es ging ein Brief an die G em einde von L aodicea...“ 3
- eine Stelle aus der O ffenbarung Johannis 3, Vers 14ff; a u f den Inhalt des Briefes geht der Seghers-Text nicht ein - wohl aber a u f die R eaktion des Pastors, dem „aus irgendeinem G rund diese Stelle besonders wohlklingend und eine Zierde des N euen Testam ents zu sein“ 4 scheint. V erm utlich gefällt ihm die Stelle, weil der Brief zur Buße auffordert und bußfertigen Sündern E rlösung verheißt. M it spitzen Fingern blättert der K a p itä n die Bibelseiten um: Ihm ist unbegreiflich, wie ein „vernünftiger M ensch an solchem Gefallen finden k a n n “ 5. M orten Sise glaubt an die verheißenen W under nicht; sein Tod war nicht „verschlungen in den Sieg“6. D er Pastor widerspricht: „...w as die w underbaren Sachen anbelangt, so erlebt jeder genau so viel als er vertragen kan n “ 7. Individualität als M aß des W underbaren - von einem P asto r ausgesprochen, h ö rt sich der Satz m erkw ürdig irdisch an und h at wohl weniger m it den „w underbaren“ Verheißungen der Bibel als m it jenen „W undern der W irklichkeit“ zu tun, die zum konstituierenden Elem ent von Seghers’ Realism us-Auffassung geworden sind. D ie A utorin w ar zeitlebens gegen „chinesische M a u e rn “ zwischen W irklichkeit und P hantasie, weil „W irklichkeit nicht einfach das ist, was ins Auge springt oder in einem Spiegelbild zu sehen ist [...]. Auch T räum e, phantastische G edankenverbin dungen, W ünsche usw. gehören zur W irklichkeit. Zu was sollten sie auch sonst gehören?“ 8
Bezeichnenderweise arbeitet N etty Reiling an R em brandts Ju d en d arstel lungen „im biblischen Bilde“ gerade die Beziehungen zwischen mythologischem Sujet und dessen alltagsbezogener Realisierung heraus: „...indem das A lte T estam ent zum bevorzugten T hem a wird, k an n die ganze Fülle des täglichen Lebens in die D arstellung einström en. M a n erkennt in den biblischen Geschichten sich selbst w ieder...“ 9. Ausführlich entwickelt die Prom ovendin ihre G rundthese von der „Deckungsgleichkeit“ biblischer Sujets m it den „schlichten V orkom m nissen des Tages, wo im m er E ltern ihre K in d er erw arten, Söhne zurückkehren oder gesegnet w erden“ 10. M a n gew innt den E indruck, N etty Reiling unterstelle R em brandt ihre eigene Beziehung zum
3 Ebd., S. 207. * E M . 3 E M ., S. 207.
6 Vgl.: 1. Korinther 15, Vers 15. 7 A . Seghers: D ie Toten..., S. 208. ■ A. Seghers: KuW IV, S. 181.
9 N etty Reiling (d.i. Anna Seghers): Jude und Judentum im W erke Rembrandts. Leipzig 1981, S. 36.
Z u r R ezeption biblischer M ythen d u rch A. Seghers 1 1 5
biblischen M ythos, indem sie dessen reliöse In terp retatio n deutlich vom „ursprünglichen M y th o s“ 11 abhebt.
Diese „ursprünglichen M ythen“ stellen E rfahrungsm uster dar, die das W esen kom plizierter Sachverhalte sinnlicher W ah rnehm ung zugänglich m achen. M a rx 5 bekannte Ä ußerung zur griechischen M ythologie läß t sich generalisieren: M ythen konfrontieren heutige Rezipienten m it der geschicht lichen K indheit der G attu n g M ensch. D arau s erw ächst ihr ewiger Reiz. D iesen R eiz hab en M y th en d er V ölker lebenslang a u f A n n a Seghers ausgeübt. D er Sachverhalt findet seine In terpretation in dem poetologischen K onzept d er Schriftstellerin. N ach Seghers5 Ansicht verläuft näm lich der Schaffensprozeß in drei Phasen. In der ersten Phase nim m t der A u to r die W irklichkeit unm ittelbar auf. ln der zweiten d u rchdringt er seine W irklich keitserfahrung rational, bevor er eine d ritte Stufe — näm lich die einer U nm ittelbarkeit neuer Q ualität - erreicht, die in sich die erste und zweite A neignungsphase aufhebt12. M einer A nsicht nach ist dieser Sachverhalt auch m it H ilfe des Begriffs N aivität zu beschreiben: U n ter N aivität wollen wir eine A rt der W eitsicht verstehen, in der sinnliche Elemente der W ahrnehm ung gegenüber rationalen dom inieren. Eine naive B etrachtung richtet den Blick au f K o n k retes13, begegnet uns in den M ythen der Völker: W o W ahrneh m ungen rational nicht hinreichend interpretierbar sind, um ein ganzheitliches Bild von der W elt zu schaffen, tritt Phantasie a u f den Plan, die Leerstellen zu füllen. „E in M a n n kann nicht wieder zum K inde w erden oder er wird kindisch“ 14, heißt es bei M arx. „A ber freut ihn die N aivität des K indes nicht?“ 15
A n n a Seghers freut sich an der N aivität von M ythen, aber sie weiß, d aß die heutige W elt m it M y th e n nicht au sd eu tb ar ist. Sie ist keine M ythenerzählerin; aber ihr gelingt jene Stilisierung alltäglicher V orgänge ins Legendäre, die H erm lin zu der Ä ußerung veranlaßt h at, A n n a Seghers5 Reich sei durchaus von dieser W elt, aber nicht allein von dieser W elt. „D ie Poesie ist, wie die T räum e, die M ärchen von hier, aber [...] auch von dort. Es handelt sich um jenes ,D o rt‘, das noch kein ,H ierc ist“ 16. Im poetischen Reich der A n n a Seghers erscheint uns das K o nkrete als Exem plarisches, das Gegenwärtige als m om entaner N u, in dem abrückend historisch Ursachen
11 Vgl.: W. Beltz: G ott und die Götter. Biblische M ythologie. Berlin-W eimar 1982, S. 5. 12 A. Seghers: Briefwechsel m it Georg Lukàcz. In: Über Kunstwerk und W irklichkeit. I: Die
Tendenz in der reinen Kunst. Berlin 1970, S. 175 ( = KuW I).
13 Nach M arx stellt das Konkrete die Einheit des M annigfalügen dar. (Vgl.: Einleitung
zur K ritik der Politischen Ökonomie. In: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1963,
H. 1, S. 248. H Ebd., S. 259. 15 Ebd.
1 1 6 Elke M ehnert
und F olgen gegenwärtiger V orgänge m it bedacht werden. In der poetischen W elt der A n n a Seghers werden Bilder als Sinnbilder zum A ngebot an Rezipienten; denn N aivität ist nicht nu r Elem ent des Schaffensprozesses, sondern auch eine Bedingung des Rezeptionsvorganges: A uch das K unstw erk will zunächst naiv aufgenommen, schließlich m it K unstverstand, ästhetischem Geschm ack und W ahrnehm ungsfertigkeit durchdrungen sein, ehe sich in einer dritten Aneignungsphase die neue U nm ittelbarkeit im K unstgenuß herstellt.
M ythologische Figuren, Sujets, M otive und T opoi stellen d an n eine besondere H erausforderung an Rezipienten dar, wenn diese veranlaßt sind, die Elemente eine m ythologischen W eltbildes m it V erstand und Phantasie dem Sinnpotential eines sozialistisch-realistischen K unstw erks zu integrieren. V or solche Schwierigkeiten stellen uns die m eisten W erke A nna Seghers’. In Seghers’ G esam tw erk lassen sich Elemente verschiedener M ythologien, d a ru n ter auch der biblischen M ythologie nachweisen. Diese T atsache k an n m an als Indiz für die K o n tin u ität eines Erbeverhaltens w erten, das au f A neignung an dessen Zielt, was die W eltk u ltu r an Progressivem und H um anistischem hervorgebracht hat. A n n a Seghers entdeckt diese hum anis tischen W erte auch in K unstw erken, bei einzelnen A utoren oder in ganzen K unstström ungen, deren hum anistischer G ehalt durch Fehlinterpretation oder M iß b rau ch überlagert wird.
G rundsätzlich lassen sich folgende A spekte des Erbeverständnisses von A nna Seghers bestimmen:
1. D as Erbeverhalten der Seghers ist historisch-konkret: N icht zu jeder Zeit „hilft“ ihr jedes Buch.
2. Es ist historisch-kritisch. D as ließe sich beispielsweise an ihren T olstoi- und Dostojew ski-Essays nachweisen.
3. Ist A nna Seghers’ Erbeverständnis funktional orientiert, und es geht von einem weltliterarischen F undus aus.
Zu diesem F undus gehören die M ythen der Völker - d aru n ter auch die M ythen der Bibel. Diese T raditionslinie hat Spuren im G esam tw erk hinter lassen. D a d er lückenlose Beweis für diese These hier nicht angetreten w erden kann, beschränken wir uns a u f die exemplarische U ntersuchung von vier W erken: Einen ersten Nachweis der T radierung biblischer M ythen h atte bereits die D ebüterzählung aus den zwanziger Jahren geliefert. Als Beispiele aus den vierziger Ja h re n sollen Texte sehr unterschiedlichen U m fangs dienen: der R om an Transit u n d die K urzgeschichte Der Baum des Jesajas aus dem T riptychon Die drei Bäume. Aus dem Ja h r 1970 stam m t die E rzählung Sagen von Unirdischen - eine Science-fiction-Erzählung m it um gekehrten Vorzeichen.
D aß in dem R om an Transit Endzeitbilder eine besondere Rolle spielen, erklärt sich aus zeit- und personalgeschichtlichem H intergrund der W
erkentste-Z u r R ezeption biblischer M y th en d u rch A . Seghers 117
hung: 1940 befindet sich A n n a Seghers in M arseille - w iederum a u f der F lu ch t vor deutschen Faschisten, getrennt von ihrem M an n , besorgt um die K inder, verunsichert durch bürokratische Erschwernisse des A usreisever fahrens. Leicht vorstellbar, daß nicht n u r der Ich-E rzähler in den anrüc kenden W ehrm achtstruppen B oten des Jüngsten G erichts sieht: „ In unserem Lager begann der Hexentanz. M anche weinten, m anche beteten, m ancher versuchte, sich das Leben zu nehm en, m anchem gelang es. M anche besch lossen, sich aus dem Staub zu m achen, aus dem Staub vor dem Jüngsten G ericht!“ 17 Solche apokalyptischen Bilder dom inieren die M ythenrezeption im R om an: D a w erden K onsulatsangestellte m it Engeln des G erichts verglichen, ein M ärchen vom toten M ann wird erzählt, dessen H öllenqual im „blödsinnige(n) W arten a u f nichts“ besteht, und die m ehrfach erw ähnte Episode in der K ry p ta unterm M eeresgrund stellt sowohl den Bezug zur Sintflut (1. M oses 6-8) her als auch zur Sage vom U ntergang d er Stadt V ineta und dem Schicksal des „edlen D ulders O dysseus“ . A nleihen aus den verschiedenen M ythologien überlagern sich zu einer alpdruckartigen Szene, die der deutsche E m igrant in einem T ag trau m erlebt. U nm erklich w ird die Realebene verlassen: D er G an g in die K irche, der A bstieg in die K ry p ta könnten noch tatsächlich stattfm den; aber der Chorgesang jener „ewig bleichen“ K n ab en ist nicht von dieser W elt - ebensowenig wie d er „u ralte“ Priester, dessen Predigttext aus dem 2. Brief des Paulus an die K o rin th er stam m t: Paulus zieht die Summe erlittener Q ualen und zeiht sich der Schwachheit, die ihn zu G o tt beten hieß „d aß er von m ir weiche“ (2. K o rin th er 12, Vers 8). A ber G o tt h a t zu ihm gesagt: „L aß dir an m einer G n ad e genügen; denn m eine K ra ft ist in den Schwachen m äch tig “ (Vers 9). D ie G ottesantw ort a u f die A postelklage ist im T ransit-T ext ausgespart. D ennoch verläßt der junge E m igrant die K ry p ta (seinen T ag trau m ) in der Gewißheit, es sei besser, m it seinesgleichen ein schweres Schicksal zu erleiden, als sich allein vom R and der gefährdeten wirklichen in eine sichere Phantasiew elt zu retten. D azu hat ihn die zornige R ede des Greises gebracht, ihr „dum pfer, Reue weckender“ Ton.
V on Z o rn und Reue ist im Bibeltext ebensowenig die R ede wie der K o n tex t des Bibel-Zitats in Transit dessen läuternde W irkung erklärt. D as erm utigende W o rt von der K raft der Schwachen (m ehr als zwei Jahrzehne später T itelm etapher eines N ovellenbandes) bleibt in Transit ausgespart. N u r demjenigen erschließt sich der U ntertext, der den Code zu deuten weiß. Ist das nicht der Fall, hält m an den E ntschluß des Ich-Erzählers, „nicht a u f dem M eeresboden klebenzubleiben“ , sondern lieber „oben m it seinesg leichen“ zugrundzugehen, für das R esultat eines plötzlichen Stim m ungsum schwungs.
1 1 8 Elke M ehnerl
Dreierlei läßt sich an dieser Textstelle zeigen: Erstens A n n a Seghers’ freier U m gang m it dem mythologischen M aterial, das sogar die K om bination verschiedener M ythologien impliziert; zweitens die untertextkonstituierende F u n k tio n m ythologischer Elemente und schließlich drittens die Diesseits gew andtheit der biblischen M ythenauslegung: N icht göttliche, sondern die irdische K ra ft der Solidarität ist in den Schwachen m ächtig und gibt ihnen L ebensm ut18.
Z um H u m an ism u sk o n zep t A n n a Seghers’ geh ö rt es, diejenigen als H elden zu rühm en, die unerkannt etwas W ichtiges tun und dabei über sich selbst, über ihre Schwäche und F u rch t hinausw achsen. H eldentum besteht also nicht darin, keine F u rc h t zu kennen - sondern die F u rc h t zu über w inden. D ieser G edanke liegt der K urzgeschichte D er Baum des Jesajas zugrunde, die Jesajas’ (allerdings nicht in der Bibel, sondern in nachbiblis chen Legenden überlieferten) T od zum Sujet hat: Jasajas soll a u f Befehl des K önigs M anasse (690 v.u.Z.) bei lebendigem Leib zersägt w orden sein. Seghers entlehnt dem biblischen M ythos zwei Fakten: E rstens die Ex klusivität des von G o tt erwählten P ropheten und zweitens die U m stände seines Todes. Die logische Beziehung zwischen diesen beiden Sachverhalten ist ihre Erfindung: Jesajas erscheint nicht als m utig schlechthin - er kann es nu r sein, wenn er einem inneren A uftrag (interessanterweise: der Stimme des Volkes - nicht jener Gottes) folgt. Als dieser „feste K e rn “ seines W esens verlorengeht, erliegt er der F u rc h t. A uch hier w äre u n ter his torisch-genetischem A spekt Ausführlicheres zu sagen als der Verweis au f existenzielle G efährdung der A utorin, A nw andlungen von Resignation, die aus dem Abgeschnittensein von G enossen, Freunden, V erw andten resul tieren.
V or G efäh rd u n g , gänzlich anderer A rt w arnt die E rzählung Sagen von
Unirdischen aus dem Ja h r 1970: D ie verbreitete E uphorie über sprunghaften
W issenschaftsfortschritt einerseits, das U nverm ögen andererseits, den K rieg aus der M enschheitsgeschichte zu verbannen, hat A n n a Seghers in einem Text ausgedrückt, der V erfahren der Science-fiction-Literatur dazu nutzt, am vergangenheitsgeschichtlichen Stoff (Zeit der frühbürgerlichen Revolutionen, D reißigjähriger K rieg) die notw endige Synthese von W issenschaft und K u n st zu begründen. R ealität und Ideologie der H andlungszeit rechtfertigen die E inbeziehung biblischer Mythologie: Im zeitgeschichtlichen H intergrund w erden die Rolle von L uthers Theologie in den revolutionären A
useinander-18 D as wird am Schicksal des Ich-Erzählers, besonders aber an der Rettung von Heinz deutlich. D a heißt es: „Was für eine K ette von Händen war nötig gewesen, kilometerlang, um die lebenden Reste seines Körpers von einem Wagen zum anderen, von einer Treppe zur anderen, von einem Schiff zum anderen zu reichen“ . (A. Seghers: Transit, S. 177). Im Obertext wird kein Zusammenhang zwischen diesen Sätzen und der sich anschließenden Erinnerung an den Greis in der Krypta von Saint-Victoir hergestellt.
Z u r R ezeption biblischer M y th en d u rc h A. Seghers 1 1 9
Setzungen, die V erbindung von Religion und Politik im D reißigjährigen K rieg verhandelt. Im V ordergrundgeschehen ordnet M arie das E rscheinen der A ußerirdischen ohne E rstauen ihrer religiösen Vorstellungswelt ein: D er Sternengast kan n kein anderer als einer d er sieben Erzengel sein, „die vor dem H errn stehn“ 19. Bildwerke, die M ichael in der W erkstatt des M eisters M athhias kennenlernt, haben zwar biblische Sujets, aber sie drücken reale W idersprüche ihrer Zeit und die Zukunftshoffnungen von M enschen des 16. Ja h rh u n d erts aus: „W ie m üssen hinter dem Heil herjagen, wie a u f der R e n n b ah n “ , zitiert M eister M atthias den A postel Paulus. V erm utlich bezieht sich diese Ä ußerung au f den Brief des Paulus an die Philipper 3, Verse 13 und 14: „Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke m ich nach dem , was d a vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Z iel...“ ; diese In terp retatio n des Bildes durch M eister M atthias w iderspricht allerdings der Sujetdeutung durch die christliche Ikonographie, die in der E inhornjagd eine Allegorie der V erkündigung an M a ria erblickt20. F ü r M ichael ist das Bild ebenso unverständlich wie der Bibeltext - denn er ist ja nicht tatsächlich derjenige, für den m an ihn hält: In der D eutung seiner Existenz realisieren die Irdischen die vorwissenschaftliche E rklärungsfunktion von M ythen, zeigt sich religiöses Bewußtsein von M enschen den 16. Jah rh u n d erts. D a ß A n n a Seghers diesem Bewußtsein glaubhaft A usdruck verleihen kann, verdankt sie ihrer V ertrautheit m it biblischen M ythen. Sie gehören - neben M ythen L ateinam erikas und d er A ntike — volkspoetischen Ü berlieferungen aus der V ölkerwanderungszeit und Erzählungen der Scheheresad aus tausendundeinen N ächten an, neben Nibelungenpos und K alevale gehören sie zum M ythen- und M ärchenschatz, den A n n a Seghers in ihrem G esam tw erk trad iert. Sie h a t sich a u f der D elegiertenkonferenz des Schriftstellerverbandes 1963 zu ihrem E rbekonzept geäußert:
Es kom mt [...] darauf an, streng zu bewahren, zu behalten und zu verwerten, was für uns richtig und wichtig ist, die M ühe der Analyse auf uns zu nehmen und uns keinen D eut davon stehlen zu lassen, und endlich das Leben auf unserer, auf der höheren Stufe darzus tellen21.
D as w ar 1963 ein m utiger Satz. Die A u to rin reklam iert nicht n u r für sich selbst den gesam ten F undus hum anistischer W eltkultur als A neignungs gegenstand, sondern sie nim m t in diesem A nspruch auch eine Liberalisierung des offiziellen Erbekonzepts vorweg, die erst zu Beginn der siebziger Ja h re eintritt.
19 A . Seghers: Sagen von Unirdischen. In: Sonderbare Begegnungen. Berlin-Weimar 1973, S. 12. 20 S. [Badstübner] Neumann: Christliche Ikonographie in Stichworten. Leipzig 1980, S. 108. 21 A . Seghers: K uW I, S. 147.
1 2 0 Elke M ehnert
E lke M ehnert
RECEPCJA M ITÓW BIBLIJNYCH U A N N Y SEGHERS
Zainteresowania A nny Seghers tematyką biblijną towarzyszyły jej od zarania twórczości. Była to tematyka bliska jej innemu wielkiemu lematowi - humanistycznej kulturze światowej, której poświęciła wiele uwagi i wysiłku artystycznego.
Artykuł ukazuje sposób „wm ontowania” tematyki biblijnej i jej znaczenie dla dzieła na przykładzie wielu pozycji, np. Transit czy Sagen von Unirdischen.