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Widok Die soziale Markiertheit der Einheiten des niederländischen Sprachsystems

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Wrocław 2008

Jaroslav DOVHOPOLYJ (Olsztyn)

Die soziale Markiertheit der Einheiten des niederländischen Sprachsystems

0. Einleitung

Die schon am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts axiomatisch angenommene soziale Bedingtheit der Sprache [vergleiche z.B.: Jacob van Ginneken, Handboek der Nederlandsche taal. Deel I. De sociologische structuur der Nederlandsche taal; Deel II. ‘De sociologische structuur onzer taal’, Nijmegen 1914] fi ndet ih- ren Ausdruck in verschiedenen Formen: in der sozialen Differenzierung der Stan- dardsprache, im sozialen Verhältnis zwischen den Geschlechtern, in der Präferenz verschiedener sozialer Gruppen für diese oder jene von der Sprache angebotenen Ausdrucksformen, in dem verschiedenen Gebrauch der Varietäten, darin, dass bestimmte Formative die Funktion sozialer Markiertheit der Angehörigkeit des Sprechers zu einem bestimmten sozialen Milieu annehmen können.

Der biologische Unterschied zwischen Frauen und Männern als Grundlage sozialer und sprachlicher Unterschiede hat sich in der niederländischen Sprache auf der Ebene der Morphologie niedergeschlagen.1 Beispiele dieser mit dem Androzentrismus verbundenen sexistischen Einseitigkeit im Sprachgebrauch:

die Begriffe man (Mann) und mens (Mensch) sind gleichgesetzt, die Substan- tive weiblichen Geschlechts sind vorwiegend Ableitungen von den Maskulina2 [ANS 1984: 90–92] und nicht umgekehrt (die Anwendung maskuliner Oberbe- griffe für Frauen ist durchaus zulässig, dagegen trägt die Anwendung femininer Oberbegriffe für Männer eine abschätzige Konnotation in sich). Auffallend ist in dieser Hinsicht, dass vor hundert Jahren in der städtischen Sprachform von Drente der Begriff man (Mann) als zweites Kompositionsglied zur Bildung von Kosenamen für sowohl Männer als auch Frauen verwendet wurde: Jànmàn für

1 Der biologische Unterschied zwischen Frauen und Männern wird heute auch soziophone- tisch an Hand akustischer Messungen und auditiver Beschreibungen geforscht.

2 Z.B. Berufsandeutungen bekommen im Plural ein ~s, soweit keine Beschreibung gebraucht wird: vrouwelijke biologen (weibliche Biologen) [ANS 1984: 90].

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Jan und Bètmàn für Bertha; Váádermàn und Móódermàn für die Eltern [Twil- haar 1999: 62].

Eine männliche Markierung ist z.B. auch für manche Idiome zu postulieren:

aufgrund der Bildlichkeit (Jagd, Pfeiferauchen, männlicher Körperteil) sind Idiome des semantischen Feldes „sterben“ – naar de eeuwige jachtvelden vetrekken (in die ewigen Jagdgründe eingehen), zijn laatste pijp roken (buchstäblich: seine letzte Pfeife rauchen), met de pisser omhoog liggen (mit dem Zebedäus nach oben liegen) – vermutlich vor allem auf männliche Personen zu beziehen [Piirainen 2003: 112].

Diese geschlechtspezifi sche Markierung kommt auch in Wendungen des semanti- schen Feldes „Sex“ zum Ausdruck: de pijp uitkloppen (die Pfeife ausklopfen „Ge- schlechtsverkehr haben“), op drie benen staan (auf drei Beinen stehen „erigieren“), hoge rug (ein hoher Rücken „Erektion“), latten (Latten anbringen „kopulieren“).

Als ein anderes Beispiel der geschlechtsspezifi schen Markierung kann der Leitspruch baas in eigen buik in Zusammenhang mit dem Recht der Frauen auf Abtreibung genannt werden. Andererseits ist mit der Emanzipation der Frau der idiomatische Ausdruck de broek dragen (vgl.: sie hat zu Hause die Hosen an „den Chef spielen“) zu einem Archaismus geworden. Bemerkenswert ist in dieser Hin- sicht, dass diese Wendung auch territorial bestimmt ist, da sie im Norden nie ge- läufi g war [Wilmots 2004: 467].

Auch viele bildhafte Wendungen und kennzeichnende Zusammenstellungen aus Fachsprachen sind geschlechtsspezifi sch geprägt. Somit ist der in der nieder- ländischen Phraseologie insgesamt herausragende Bildspenderbereich „Seefahrt“

[Piirainen 2003: 121] auch in Idiomen dieses Feldes fassbar: dat is geen zeil voor dat schip (diese Frau eignet sich für diesen Mann nicht), de duurste schepen liggen het langst aan wal (Mädchen, die hohe Ansprüche stellen, bleiben lange unver- mählt), driedekker (eine robuste Frau), een lastig zeeschip (eine widerspenstige Frau), het is een jan van een bram (umgangssprachlich: eine große Frauenbrust), oud fregat (zurechtgemachte Frau), oude schepen blijven aan wal (wenn junge Mädchen nicht zu ihrer Zeit verheiratet sind, dann bleiben sie für immer ledig), uit roeien gaan (einer Frau bei der Entbindung Beistand leisten), zo plat als een schol (von Frauen, die beinahe keine Brust haben).

Die innere Motivation einer sozialen Differenzierung kann in verschiedenen idiomatischen Zusammensetzungen auftreten, wobei sich bei manchen die Bedeu- tung des Idioms leicht aus den Bedeutungen seiner Bestandteile erklären lässt: uit een rijke, arme broek geschud zijn (von vornehmer, niederer Abkunft sein); geen broek aan zijn kont hebben (umgangssprachlich: arm sein); een zuinige broek (von einem sparsamen Mann gesagt).

Veränderungen der sozialen Hintergründe bewirkten, dass in der heutigen Konsumgesellschaft solche Wendungen wie op zijn paasbest (buchstäblich:

„sich wie zu Ostern kleiden“, in übertragener Bedeutung: sich in die Schale wer- fen) oder de gebraden haan uithangen (den großen Herrn spielen) veraltet sind.

So gesehen kann Wilmots [2004: 468] zugestimmt werden, wenn er feststellt:

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Seitdem die populären Konfektionsbetriebe den Markt erobert haben und man Rang und Stand einer Person auf der Straße nicht mehr auf Grund von Kleidungsunterschieden bestim- men kann, hat dieser Ausdruck seinen Sinn verloren. Auch hängt heute niemand mehr den gebratenen Hahn aus. Die Zeit, dass der Hahn eine besondere Feinkost, ein kulinarischer Höhepunkt auf Hochzeiten und Jubiläen war, haben wir hinter uns, seitdem die Hühnerzucht so ungefähr vor fünfzig Jahren industrielle Formen angenommen hat.

Die Funktion sozialer Markiertheit der Angehörigkeit des Sprechers zu ei- nem bestimmten sozialen Milieu können auch Antroponyme als Kollektiva (mit oder ohne abschätziger Konnotation) annehmen: Jan Splinter (Kleinverdiener), Jan met de pet (der kleine Mann), Jan Modaal (Otto Normalverbraucher), Jan Krent (Pfennigfuchser), Jan Grabbel (der kleine Mann), Jan Kordaat (Landser), Jan, Jantje Kaas (populäre Benennung für einen niederländischen Matrosen), Jan Punt (gemeiner Soldat), Jan met de lappen (Obergefreiter), Jantje Soet (Zuhälter), Jan Rap (Plebs), de dolle Mina’s (Mitglied einer niederländischen, nach Wilhel- mina Drukkers benannten Frauengruppe).

Durch begriffl iche Information sozialer Art sind auch Mikrotoponyme ge- kennzeichnet: Soestdijk (dieses die ehemalige Residenz der niederländischen Kö- nigin bezeichnende Toponym wird zum Ausdruck der Verdutztheit oder Verwun- derung in der Wendung Ben je soms op Soestdijk geboren? gebraucht), Jordaan (ehemaliges Arbeiterviertel im Westen von Amsterdam), Heerenstraat (Straße, in welcher früher reiche Kaufl eute und Vertreter des Adels wohnten), Kalverstraat (Straße in Amsterdam mit häufi g besuchten Geschäften; in der Seemannssprache:

„Gang auf dem Unterdeck zwischen Offi zierskajüten“), Transvaalbuurt (Wohn- sitz der niedrigeren sozialen Schichten in Den Haag), Sportlaan (Wohnsitz der höheren sozialen Schichten in Den Haag), De Kaap (Hurenviertel in Rotterdam), Krententuin (Gefängnis in Hoorn).

Die Angehörigkeit des Sprechers zu einem bestimmten sozialen Milieu kann in der Auswahl des Wortgebrauchs zum Ausdruck kommen. In gebildeten Krei- sen hört man selten: zweten (schwitzen), braken (sich erbrechen), verstopping (Verstopfung), buikloop (Durchfall), knoeien (schludern, pfuschen), usw.; viele sagen lieber: transpireren (transpirieren), vomeren (vomieren), constipatie (Kon- stipation), diarree (Diarrhöe), malversaties plegen (Veruntreuung pfl egen) [Rijp- ma/Schuringa 1978: 28]. Außerdem kann diese soziale Markiertheit auch in schichtenspezifi schen Stadtvarietäten auftreten. So gehören zu dem Wortschatz der höheren sozialen Kreise in Den Haag solche „gepfl egte Entlehnungen“ wie astrant (rotzig), anrikkemendeere (empfehlen), vooruit affanseere (befördert wer- den), rittereere (sich zurückziehen) [Goeman 1999: 128]. Eine Anzahl dieser Ent- lehnungen stammt noch aus dem 17. Jh. und bezieht sich auf die administrative und militärische Terminologie.

Da die französischen Entlehnungen meistens durch mündliche Kontakte ins Niederländische aufgenommen wurden, blieb die Umgangssprache der niederen Klassen auch davon nicht unberührt. Diese Entlehnungen sind dann durch Um-

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stellung oder Vertauschung von Lauten innerhalb der Wörter gekennzeichnet: be- zjoer (bonjour); juust (justement); komplementen (compliments); treiteren (trai- ter); krek (correct); merakles (miracles); rinneweren, verrinneweren (ruïneren) [Vries u.a. 1995: 247]. Auch andere Entstellungen sind für die Umgangssprache charakteristisch: menist (Mennonit) – benist; beschuit (Zwieback) – meschuit;

marmot (Meerschweinchen) – barmot [Rijpma/Schuringa 1978: 57].

Nachstehend wird ein Versuch unternommen, den selektiven Charakter der sozialen Bedingtheit der Sprache mit den in der niederländischen Sprache vor- kommenden Erscheinungen zu illustrieren.

1. Die soziale Markiertheit

der sprachlautlichen Erscheinungen

Wohl zum ersten Mal werden die Erscheinungsformen der sozialen Differenzie- rung der Sprache im Bereich der sprachlautlichen Erscheinungen in einem Bericht des Alten Testament erwähnt, nach dem die Kinder Ammons (Ephraimiten) von den siegreichen Gileadern gezwungen wurden, zu ihrer Identifi zierung Schibbo- leth zu sagen: „sprach er aber Sibboleth..., ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans“ [Buch Richter 12, 5–6]. Diese Methode wurde während des Zweiten Weltkrieges erfolgreich vom Chef des niederländischen Abschirm- dienstes, Oberst Oresto Pinto, bei der Enttarnung von Personen, die sich in Eng- land für Holländer ausgaben, verwendet. Die als Spione verdächtigten sollten auf Bitte des Obersten einen Kurztext auf Niederländisch vorlesen. Das Schlüsselwort war dabei der Ortsname Scheveningen, in dem die anlautende Buchstabenverbin- dung „sch“ als [sx] ausgesprochen wird und nicht als Sibilant wie in der deutschen Sprache [Aus dem Buch: Оресто Пинто, Охотник за шпионами, Москва 1964;

Originalversion: Oresto Pinto, Spycatcher, Harper&Brothers, New York 1952].

Zu einer entscheidenden Lautveränderung in der niederländischen Sprache kam es am Übergang vom Mittelniederländischen zum Neuniederländischen: zur Diphthongierung des [i:] (geschrieben als 〈ij〉) zu [ei] und des [y:] (geschrieben

〈uu〉) zu [oey]. Geht man davon aus, dass Angehörige der Brabanter Oberschicht, die im Zuge der Gegenreformation in den protestantischen Norden gefl üchtet wa- ren, die Diphthonge ins vornehme Oberschicht-Holländische gebracht haben, so können wir von einer sozialen Markiertheit des sprachlautlichen Inventars schon zu Zeiten der Etablierung der niederländischen Einheitssprache sprechen.

Das Fehlen des Phonems /h/ ist ein Kennzeichen der süd-westlichen Dia- lektgruppe sowie auch einiger isolierten Gegenden in Nord-Holland. Die auffäl- ligsten Unterschiede zwischen Nord und Süd oder zwischen niederländischem Niederländisch und belgischem Niederländisch zeigen sich auf phonologischer Ebene. So wird zum Beispiel der 〈g〉-Klang ([]) im Süden sanfter (stimmhaft) ausgesprochen als im Norden.

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Heutzutage gilt im Bereich des Vokalismus als die sozial stigmatisierende die a-artige Aussprache von [e] und [o]. Jemand, der die „vornehme“ Sprachvariante von Den Haag spricht, setzt sich durch seine a-artige Aussprache von [e] und [o]

von der Sprache der Unterschicht ab. Für die Realisation der Sprachlaute des Mi- krotoponyms Rijswijkse plein kommt in den Haag die Aussprache [Rèèswèèkse plèèn] vor.3 Der Gebrauch dieser Aussprache ist auch sozial bestimmt: man hört sie eher bei den „niederen“ als bei den „höheren“ Klassen, sie ist auch stilistisch bestimmt: man hört sie mehr in informellen als in formellen Situationen. Wir ha- ben es hier mit einem vertikalen Kontinuum zu tun. Es kommt noch hinzu, dass zwischen dem „reinen“ [ei] und dem [èè] verschiedene Nuancen herauszuhören sind [Van Bree 2004: 49].

Im Vergleich zu der normierten niederländischen Aussprache tritt in den an- geführten Beispielen eine doppelte Markierung auf: eine territoriale und eine so- ziale, die eigentlich in allen Urbanolekten vorkommen kann.

Einige niederländische Dialekte sind durch Gemination gekennzeichnet, vor allem dann, wenn die Verdoppelung zum Ausdruck des Bedeutungsunterschiedes dient. Man unterscheidet u.a. das Adjektiv wit (weiss) vom Partizip wit (gewit – getüncht) durch die Aussprache [wιt] – [wιŧ], auch die fl ektierten Formen witte [wιtə] und gewitte [ewιŧə] unterscheiden sich, genauso wie hij ziet (er sieht) im Drentischen [hι zt] und hij ziet het (er sieht es) [hι zŧ]. In der niederländischen Standardsprache wird diese Erscheinung [Rijpma/Schuringa 1978: 28] nicht als Doppelkonsonant ausgesprochen: afvegen [αfe:ə].

Eine typisch niederländische Erscheinung im Bereich der Sprachlaute, der in der Linguistik wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist das Vorkommen etymologisch unmotivierter eingeschobener Laute (Svarabhakti)4 zur Ausspra- cheerleichterung. In der neuesten Forschung „Svarabhaktivokale im Standard- niederländischen in Flandern und den Niederlanden“ wurde geprüft, inwiefern die Einfügung des Svarabhaktivokals in Auslautclustern [z.B. kεrək, mεlək] mit sozialen Variablen (Land, Dialektgebiet, Geschlecht, Alter) und phonotaktischen Variablen (Zusammensetzung des Konsonantenclusters) zusammenhängt [Kloots u. a. 2004], [Van Bree 2004: 62]. Untersucht wurden (graphemisch) monosyl- labische Wörter, zusammengesetzt aus einer Liquida (/r/, /l/ und -/m/, -/p/, -/f/, -/k/ oder -/x/ vom Typ: wolk (Wolke), wilg (Weide), palm (Palme), kerk (Kirche), arm (Arm). Die Epenthese des Schwa ist ein normenempfi ndliches Phänomen:

je mehr Sprossvokale jemand einfügt, desto weniger standardkonform ist seine Sprache. Im niederländischsprachigen Raum wurde der Sprossvokal lange Zeit bekämpft, insbesondere in Flandern, was nach Meinung der Forscher vielleicht

3 Die Besonderheiten der lautlichen Erscheinungen, die in 20 niederländischen Urbanolekten vorkommen, sind ausführlich in der Sammlung Honderd jaar stadstaal van Joep Kruijssen en Nico- line van der Sijs (red.), Amsterdam, Uitgeverij Contact, 1999, beschrieben worden.

4 Diese Erscheinung kommt auch in anderen Sprachen zum Ausdruck, z.B. in der Russischen:

нажми–нажами, негр–негэр.

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erklärt, warum die fl ämischen Versuchspersonen auch heute noch bedeutend we- niger Sprossvokale produzieren als ihre niederländischen Kollegen. Rundheraus erstaunlich sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Flandern und den Niederlanden. In den Niederlanden produzieren die Männer bedeutend mehr Svarabhaktivokale als die Frauen, während in Flandern gerade die Frauen die meisten Sprossvokale benutzen. Auch der Faktor „Alter“ zeigt interessante Un- terschiede: die jüngere Generation verwendet weniger epenthetische Schwas als die ältere. Weiter zeigten sich große Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen des niederländischen Sprachraumes. In den peripheren Regionen ergibt sich ein direkter Zusammenhang zwischen Mundart und Standardsprache (Gro- ningen/Drente, West- und Ostfl andern, Belgisch- und Niederländisch-Limburg).

Das heißt: Informanten, die aus einer Region stammen, in der für die Mundarten viele bzw. ganz wenige Sprossvokale charakteristisch sind, produzieren auch vie- le bzw. ganz wenige Svarabhaktivokale in der Standardsprache [Kloots u.a. 2004:

149–150].

Auf den Faktor „Alter“ in den Unterschieden der Aussprache im Bereich der Standardsprache verweist auch Jos Wilmots:

Seit kurzer Zeit werden Gedanken über das „Gooier r“ und über das „Polderniederlän- disch“ ausgetauscht. Ich möchte mich nur dazu äußern, dass ich vor kurzem einen sehr großen Unterschied zwischen dem Richter, der den Mörder von Pim Fortuyn vor dem Haager Ge- richtshof verurteilte, der Botschafterin Ihrer Majestät der Königin der Niederlande in Prag und derer Kulturbeamtin einerseits und der fünfzehn bis zwanzig Jahre jüngeren Vertreterin des Prinz-Bernhard-Fonds, die ich bei derselben Gelegenheit sprechen hörte, festgestellt habe. Die ersten drei erinnerten mich an ein Märchenbild aus dem Vergnügungspark Efteling aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die letztere erinnerte an die Beschreibung von Jan Stroop. Wenn ich mich nicht irre, sind die Unterschiede der Aussprache im Bereich der Standardsprache in den Niederlanden gegenwärtig mehr eine Frage des Alters (und Milieus) als der regionalen Verschiedenheit [Wilmots 2004: 474].

2. Suprasegmentale Merkmale

Abhandlungen, die eine sozial und professionell bedingte Akzentmarkiertheit der Angehörigkeit des Sprechers zu einem bestimmten sozialen Milieu angeben, kommen in der Fachliteratur nicht vor – vielleicht schon deswegen, weil die Be- tonung für das Niederländische äußerst wichtig und deshalb nicht permeabel für den sozialen Einfl uss ist. Im Akzentbereich der niederländischen Sprache tritt hauptsächlich eine territoriale Markiertheit auf: mispakken (in Belgien), mispak- ken (Niederlande) – sich vergreifen; schoorsteenmantel (Holland), schoorsteen- mantel (Schornsteinmantel: vor allem in Friesland und Groningen). Im Osten der Niederlande kann in Zusammensetzungen anstatt der Endbetonung die alte Beto- nung auftreten: arbeidsloon (Arbeitslohn), meesterknecht (Obergeselle), boeren- zoon (Bauernsohn), stadhuis (Rathaus). Auch Toponyme werden anders betont:

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Hoogkerk, Veenwouden, Buitenpost anstatt Hoogkerk, Veenwouden, Buitenpost [Rijpma⁄Schuringa 1979: 63–64].

Eine andere als in der Standardsprache angewandte Hervorhebung der Beto- nung in der Aussprache von Mikrotoponymen deutete Jan Oudenaarden auch für die Rotterdammer Sprechweise an: Westzéédijk, Oostzéédijk, Oranjebóómstraat und Oldenbarnevéltstraat [Oudenaarden 1985: 24].

3. Die soziale Markiertheit der lexikalischen Bedeutungen

Die soziale Markiertheit der lexikalischen Bedeutungen kommt im Bereich des Wortschatzes zum Ausdruck, da die Bestimmung der Wortbedeutung oder der Bedeutungskomponente ihr soziales (und kein anderes) Wesen aufdeckt. Zu den trivialen Abarten der sozial markierten lexikalischen Bedeutungen gehören die metaphorischen Umdeutungen der allgemeingebräuchlichen Lexik, die in einer durch professionelle oder soziale Merkmale begrenzten Gruppe von Sprechern stattfi ndet.

Weniger erforscht wurde eine grundsätzlich andere Erscheinung, die auf das Problem der sozialen Markierung ebenfalls einen direkten Bezug hat: die in einer lexikalischen Einheit erfasste Widerspiegelung der sozialen Rolle, die sich an das Verhalten von Positionsinhabern in Interaktionssituationen richtet.

Jede Sprache verfügt über einen Wortschatz, der interpersonal und institutio- nell Beziehungen zwischen den Sprechern sowie das Verhalten gegenüber Person und Gesellschaft andeutet. Dieses Verhalten realisiert sich sprachlich in einer gewissen hierarchischen sozialen Struktur: Familienkreis, Arbeitsgruppe, Mann- schaft, Einheit usw. Aus den lexikalischen Bedeutungen solcher Wörter geht her- vor, welche soziale Rolle ein Individuum, das mehrere Rollen gleichzeitig inne- haben kann, gerade spielt.

Bei der Betrachtung dieser Erscheinung anhand zweier Beispiele-Prädikate, wurde ein Wortfeld gebildet, in dessen relevantes soziales Umfeld pathogene, re- pressive, institutionalisierte Interaktionen oder Beziehungen der Symmetrie oder Asymmetrie5 geprägt werden können:

I) aanvoeren (anführen), advieseren, raad geven (beraten) afvaardigen (dele- gieren), afzetten, ontslaan, omverwerpen, ten val brengen (absetzen), arresteren (verhaften), audiëntie (Audienz), begenadigen, gratie verlenen aan (begnadigen), begifting (Begnadung), bekeuring (Strafe), benoemen (ernennen), benoeming, aan- bieding van een ambt (Berufung), betichten (j-n bezichtigen), commanderen, het bevel voeren over, aanvoeren (befehligen), controleren, aan een controle onderwer-

5 Die Begriffe „Symmetrie“ vs. „Asymmetrie“ wurden von Brown/Gilman bei der Unter- suchung einer Anredesituation zur Bezeichnung der Statusunterschiede eingeführt [vergleiche:

Brown/Gilman 1977: 245–270].

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pen (kontrollieren), dictaat (Diktat), dictatuur (Diktatur), examineren, onderzoe- ken, testen, op de proef stellen (prüfen), gebieden (gebieten), heersen (herrschen), iemand een standje geven (jemanden einen Verweis erteilen), in beslag nemen, beslag leggen op (beschlagnehmen), kapittelen, een reprimande geven, uitkafferen (j-n heruntermachen), keuren, controleren, toezicht houden op (inspizieren), leiden (vorstehen), onderschikking, onderwerping, plaatsing onder, subordinatie (Unter- ordnung), ontheffen van, ontslaan uit (entheben), ontslag, invrijheidstelling, vrijla- ting (Entlassung), overheid (Obrigkeit), plaatsen onder, de leiding geven aan, laten ressorteren onder (unterstellen), plechtig laten beloven (verpfl ichten), protectie, steun, voorspraak (Protektion), snauw (Anschnauzer), ter plaatse doorzoeken, vi- siteren (revidieren), terugroepen (abberufen werden), tiranniseren (tyrannisieren), toezicht, opzicht, inspectie, controle, surveillance (Aufsicht), uit een woning zetten, eruit gooien (exmittieren), uitwijzen, uit het land, over de grens zetten (ausweisen), verbieden (untersagen), vergunning, inwilling, toelating (Genehmigung), verzor- gen (betreuen), voogdij, curatele (Vormundschaft) u.ä.; all diese Wörter können so- ziale Situationen bezeichnen, in denen die Rolle des ersten Positionsinhabers höher gestellt ist als die soziale Rolle des zweiten Positionsinhabers, was schematisch als P(X) > P(Y) ausgedrückt werden kann.

II) afsmeken (erfl ehen), een beroep doen, appelleren (appellieren), fl ikfl ooien, pluimstrijken (Süßholz raspeln), gehoorzaamheid tegenover zijn chef (Gehorsam gegenüber seinem Chef), houding zonder enig respect (Respektlosigkeit), hulp zoe- ken (sich konsultieren lassen), iemand naar de mond praten (j-m nach dem Mund reden), iets ronduit zeggen, zonder omwegen spreken (gerade heraussagen), indrui- sen, in strijd zijn met (widersprechen), kruiperij (Kriecherei), ongehoorzaamheid (unfolgsam sein), redetwisten, bakkeleien, in de clinch liggen (sich streiten), verlof, permissie krijgen (die Erlaubnis erhalten), verschaffen, bezorgen (verschaffen, er- wirken), verslag, rapport uitbrengen, verslag doen (berichten, mitteilen), verzoeken om (erbitten), zich verstouten, zich vermeten, de moed hebben (sich erkühnen) u.ä.;

die soziale Rolle des ersten Positionsinhabers ist der Rolle des zweiten Positionsin- habers untergeordnet und wird schematisch als P(X) < P(Y) ausgedrückt.

Die semantische Struktur der Wörter, die sozial orientierte Beziehungen an- geben, bezieht sich auf Interaktionen, bei denen die Reaktion von alter und ego vorgegeben oder nicht vorgegeben sind. Einige von diesen Wörtern verweisen auf bestimmte soziale Funktionen der Personen, zwischen denen diese Beziehungen unterhalten werden. Auf solche sozial orientierte Beziehungen wird auch im Van Dale-Wörterbuch hingewiesen: “bevel, 1. gezag om een groep van personen te lei- den en opdrachten te doen uitvoeren, m.n. in het krijgswezen, syn. commando: het bevel voeren over een leger; onder bevel van… 2. opdracht waaraan gehoorzaamd moet worden, syn. gebod: een bevel tot arrestatie…“ – (Befehl, 1. Befehlsgewalt, um eine Gruppe von Personen zu führen und um Aufträge auszuführen, nament- lich im Militärwesen, Syn. Kommando: den Befehl über eine Armee führen; unter

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dem Kommando von… 2. Auftrag, der erfüllt werden muss, Syn. Gebot: der Haft- befehl), [VD 1992: 344].

Die Komponente der lexikalischen Bedeutung „bevel voeren over“ (den Be- fehl führen über), „onder bevel van“ (unter Befehl von), die auf die Ungleich- heit des Sozialstatus der Teilnehmer der entsprechenden Situation deutet, liegt hier auf der Hand. Als anderes Beispiel von lexikalischen Einheiten, die sozial orientierte Beziehungen angeben, können Phraseologismen angeführt werden, deren Gesamtbedeutung auf die semantische Reihe des Begriffes „berispen“ (zu- rechtweisen; tadeln) zurückzuführen ist. Das Van Dale-Wörterbuch defi niert das Stichwort „berispen“ als „die leichteste administrative oder disziplinarische Stra- fe auferlegen“: berispen: brommen op (schimpfen mit), de les lezen (jmdm. eine Lehre erteilen), de mantel uitvegen (jmdn. abkanzeln), de oren wassen (jmdm. den Kopf waschen), de pen op de neus zetten (jmdm. den Daumen aufs Auge setzen), de wind van voren geven (jmdm. den Kopf waschen), een bril op de neus opzetten (jmdm. ein Licht aufstecken), een hartig woordje met iemand spreken (mit jmdm.

ein ernsthaftes Wörtchen zu reden haben), een schrobbering geven (jmdm. eine Zigarre verpassen), een standje geven (eine Rüge verteilen), een uitbrander geven (jmdm. eine Standpauke halten), een veeg uit de pan geven (einen Rüffel bekom- men), onder handen nemen (jmdn. ins Gebet nehmen), op de vingers tikken (auf die Finger klopfen), op zijn lazer geven (jmdn. zusammenstauchen), uitfoeteren (ausschelten).

Die Widerspiegelung der sozialen Verhältnisse unter den Teilnehmern ei- ner Sprechsituation kommt auch in den Sprachvarietäten verschiedener sozialen Schichten zum Ausdruck. So hat zum Beispiel das Wort „kruiperij“ (Kriecherei:

im Van Dale-Wörterbuch als „sklavische Demut“ defi niert) in der Soldatenspra- che die vulgäre Entsprechung bruinwerker. Derselben pejorativen Stilschicht ge- hören die den Körperteilen entstammenden Ausdrücke kontlikken, gatlikken an, die „kriechen“ bedeuten.

Die Bedeutungen der Wörter, die das Verhalten von Positionsinhabern in In- teraktionssituationen andeuten, sind sozial orientiert – im Gegensatz zu den So- ziativbildungen, die zur Bezeichnung des Einzelnen nach seiner Beziehung zu einem Anderen dienen. Formal ist dabei u.a. die Vorsilbe ge- ein entsprechendes Bildungsmittel zur Benennung von Individuen, die in das engere Umfeld gleich- sprechender, gleichgesinnter und in gleichem sozialen Gefüge lebender Menschen eingebunden sind:

genoot – mittelniederländische Soziativbildung zu ghenoot „gleicher in Rang, Geselle“ mit der ursprünglichen Bedeutung „derjenige, der sich mitbeteiligt, ins- besondere an der Bewirtschaftung eines gemeinsamen Stück Landes“ [Franck 1971: 188];

gemaal – schon zu Kiliaens Zeiten als „Germanismus“ bezeichnet, entstammt dem Althochdeutschen gimahalo „sich durch Eheversprechen verbinden“ [Franck 1971: 184];

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gepeupel – schon zu Kiliaens Zeiten in der Form ghepuffel unter dem Einfl uss des Französischen peuple vorhandene Soziativbildung „Pöbel, Plebs“;

gezel – mittelniederländische Soziativbildung zu sale, also jemand, der im gleichen Saal (Haus) wohnt, dann verallgemeinert zu „Gefährte“, „Gehilfe“, „jun- ger Mann“ (veraltet) [VD 1992: 984]. In derselben Reihe stehen: matroos (mit der ursprünglichen Bedeutung: jemand, mit dem man den Schlafplatz teilt), kameraad (mit der ursprünglichen Bedeutung: jemand, der im gleichen Zimmer wohnt).

Neben diesen Wörtern ist auch das niederländische boer zu nennen, dessen Bedeutung abgedriftet ist. Im Mittelniederländischen hatte ghebuur hauptsächlich die Bedeutung „Mitbewohner, Nachbar“ und war fast ausschließlich auf die dörf- liche Gemeinschaft (rusticus) fi xiert, so dass von daher dann sehr schnell die Be- deutungsveränderung „Ackerbau treibender“ eintreten konnte. Im Mittelnieder- ländischen war dorper, dorpeling (Dorfbewohner) das geläufi ge Wort für „Bauer“

[Franck 1971: 77] sowie rekel vonden lande (1486) Landwirt [EW 1993: 629] und landman bei Wigardus van Winschooten (1681).

Neben den behandelten alten Soziativbildungen mit ge- kommen die neueren Soziativbildungen mit dem Präfi x mede- hinzu, was wieder im Einklang mit dem lateinischen con-, cum- steht, das übers Französische auch direkte synonymische Entsprechungen oder sogar parallele niederländische Wortbildungen liefern kann:

medebewoner (Mitbewohner), medebroeder (Amtskollege), medecontractant (Vertragspartner), mededader (Mittäter), mededinger (Mitbewerber), medehuur- der (Mitmieter), medestander (Mitkämpfer), medestudent (Kommilitone).

Es ist hervorzuheben, dass die Forschung der sozialen Markiertheit der lexi- kalischen Bedeutungen einen Aufschluss über die Formenvielfalt der sprachlichen Entwicklungen und dem Verhältnis von Sprache und Gesellschaft gibt. Eine Grob- einteilung ergibt für die asymmetrischen Verhältnisse (Unterordnung, Abhängig- keit) und die symmetrischen Verhältnisse (gleiche Beziehungen) Folgendes:

– sozial markierte lexikalische Bedeutungen können Situationen ausdrücken, in denen die soziale Rolle des ersten Positionsinhabers höher gestellt ist, als die soziale Rolle des zweiten (asymmetrisch);

– sozial markierte lexikalische Bedeutungen können Situationen ausdrücken, in denen die soziale Rolle des ersten Positionsinhabers der sozialen Rolle des zweiten Positionsinhabers untergeordnet ist (asymmetrisch);

– nicht sozial markierte lexikalische Bedeutungen können Wortfelder zur Be- nennung von Individuen bilden, die in gleichem sozialen Gefüge lebender Men- schen eingebunden sind (symmetrisch).

4. Die soziale Markiertheit der Anredeformen

Die Untersuchung der Anredeformen ist ein besonders günstiges Arbeitsfeld der Sprachsoziologie und der linguistischen Pragmatik, weil mit den Anredeformen

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ein leicht identifi zierbares sprachliches Teilsystem in seiner sozialen Relevanz erfasst werden kann. Brachte die Herausbildung differenzierter Gesellschafts- strukturen über lange Jahrhunderte immer distanzierte Anredeformen mit sich, so wirkten sich soziale Veränderungen in den 60er Jahren des vorigen Jahrhun- derts in mehr oder weniger dauerhaften Veränderungen von Anredeformen aus.6 Die in Wörterbüchern und verschiedenen Anleitungen beschriebene Titulatur für Anredeformen und zum Adressieren hat sich in Flandern nie durchgesetzt. Im Allgemeinen werden in Flandern weniger Titel gebraucht als in den Niederlan- den. Die altmodische Wörterbuchtitulatur wird dort nur dann verwendet, wenn der Briefabsender weiß, dass der Empfänger Wert darauf legt. Als Beispiele hier- für wären die Anredeformen an einen Baron: Aan de Hoogwelgeboren Heer – ‘An den hochgeborenen Herrn’ oder an einen Hochschullehrer: Aan de Hooggeleerde Heer – ‘An den hochgelehrten Herrn’ zu nennen. In den meisten Fällen werden jedoch gewöhnliche Anredeformen gebraucht.

Ein Anredeakt wird durch Alter und Geschlecht der an ihm Beteiligten deter- miniert, was allerdings über ein sozialkulturelles Filter erfolgt. Wie eine Person aktuell eine andere anredet, wird durch vier Faktoren bestimmt:

– biologische Variablen: Geschlecht, Alter, Verhaltensdisposition;

– soziale Variablen: soziale Attribute, Stellung bzw. Rolle;

– absolute Größen: Mann, Frau, Kind, Greis etc;

– relationale Größen: Vater von X, Freundin von X, Ehepartner von X etc.

Eine weitere Veränderung im Bereich der Fürwörter ist die Verdrängung des heute noch im Süden des niederländischen Sprachareals gebräuchlichen Anrede- pronomens gij/ge durch die Form jij/je, die sich im Norden im Laufe der Zeit erst in der Umgangssprache, später auch in der Schriftsprache durchsetzen konnte.

Auch bei den Anredeformen für Personen weiblichen Geschlechts – mevrouw, mejuffrouw und vrouw – kann man eine Verschiebung beobachten. Im 19. Jahr- hundert war mevrouw die Ansprechform für Damen der höheren Gesellschaft; me- juffrouw war bestimmt für Frauen aus der Mittelschicht, während vrouw als An- rede für ‘einfache’ Frauen aus dem Volke diente. Die Form vrouw (Frau) ist in der modernen Sprache als Anrede nicht mehr in Gebrauch; heutzutage wird fast ausschließlich mevrouw verwendet. Mejuffrouw (Fräulein) wurde eine Zeit lang als Anrede für nicht verheiratete Frauen gebraucht, kommt in letzter Zeit aber sehr selten vor. Für Männer wird die umgangssprachliche Anrede meneer (Herr) ge- braucht. Die volle Form mijnheer klingt schon vornehm. Zum Unterschied der Geschlechter verwendet man im Briefwechsel die Formen de heer und mevrouw.

Die Veränderungen im Bereich der Anredeformen vollziehen sich unter dem starken Einfl uss der evoluierten gesellschaftlichen Auffassungen über die Person

6 Vergleiche: M.C. van den Toorn, ‘De problematiek van de Nederlandse aanspreekvormen’.

In: De Nieuwe Taalgids 70 (1977), Nr. 6, p. 520-540; J.A.M. Vermaas, Veranderingen in de Neder- landse aanspreekvormen van de dertiende t/m de twintigste eeuw, Utrecht, LOT, 2002.

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und über die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Es erfolgt eine Abschwä- chung der sozialen Subordination, d.h. die Rollenverhältnisse der Kommuni- kationspartner in einer gegebenen Situation kann man als symmetrisch, paritä- tisch betrachten. In Printmedien macht man Gebrauch von einer gendersensiblen sprachlichen Gestaltung um beide Geschlechter gleich zu stellen.

Diese Symmetrie kommt zum Ausdruck in den pluralisch gebrauchten An- redeformen jongens en meisjes (Jungs und Mädchen) und mannen en vrouwen (Männer und Frauen), die synonym zu mensen (Leute, Kumpels) und lui (Leute) ist. Das Appellativum man wird auch als Diminutivum in Singular als Anredeform für Jungen gebraucht: Zeg, mannetje, kom eens hier (Hallo, Männchen, komm mal hier), [VD 1992: 1753]. Außerdem können Diminutiva auf eine Person, die Träger der im Grundwort ausgedrückten Eigenschaft oder Funktion ist, verweisen: groot- je ‹grootmoedertje (Großmutter), oudje ‹oude vrouw (alte Frau), broekje (unreifer Neuling), groentje (unreifeir Neuling), nakomertje (wesentlich später geborenes Kind, Nachzügler).

Zahlreiche unsymmetrische Nennungen von Anredeformen der Umgangs- sprache verwenden als Appellativum Verwandtschaftsbegriffe oder Benennungen gewisser sozialen Rollen:

baas – (buchstäblich: Chef, Boss) veraltete Anredeform für einen erwachse- nen Mann von niederem Stand: Baas, kun je zeggen waar de Rijnsburgerweg is?

(Baas, kannst du sagen, wo der Rijnsburgerweg ist?), [VD 1992: 243];

baasje – zu einem kleinen Jungen: Kom, baasje, het is bedtijd (Komm, Bürschchen, es ist Bettzeit), [VD 1992: 243];

bestje, besje (abgekürzt vom Verwandtschaftsbegriff bestemoer ‘Oma’) – um gangssprachliche Anredeform für ältere Frauen. Die Verwandtschaftsbegrif- fe opa und oma kommen in der niederländischen Sprache als Abkürzungen von grootpa(pa) und grootma(ma) erst im neunzehnten Jahrhundert vor. Die Formen grootvader und grootmoeder dagegen sind Lehnübersetzungen von grand-père und grand-mère, übernommen Ende des 15. Jahrhunderts von adligen Kreisen. Ende des 16. Jahrhunderts wurden für „Großvater“ und „Großmutter“ die Bennenungen bestevaar und bestemoer gebraucht, die auch Lehnübersetzungen aus dem Fran- zösischen sind. Jedoch das französische bon (gut) in den Bennenungen bon-papa und bon-mama wurde in der niederländischen Sprache mit dem Superlativ beste übersetzt. Alle diese Bennenungen entstanden dadurch, da es im Mittelalter üblich war Verwandte und Freunde mit den Höfl ichkeitsformen ‘guter/lieber Freund’ oder

‘bester Freund’ anzusprechen. Gleichzeitig begann man in der niederländischen Sprache bestevaar als einen vertraulich-ehrerbietigen Namen für einen Anführer zu gebrauchen: die zwei Seehelden Maarten Tromp und Michiel der Ruyter erhielten von ihrer Mannschaft den Beinamen Bestevaer (Großvater) [zitiert nach: Nicoline van der Sijs, Klein uitleenwoordenboek, Sdu Uitgevers, Den Haag, 2006, S. 136].

broer – für einen kleinen Jungen dessen Name man nicht kennt [VD 1992: 479];

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chef – (umgangssprachlich) informell (meistens in der Verkleinerungsform cheffi e) [VD 1992: 530];

maat – Wat zachter, maat (Etwas langsamer, Kamerad) [VD 1992: 1731];

maatje – Hé maatje, alles goed? (Na, Freundchen, alles gut?) [VD 1992:

1731];

madam – regionale Anredeform sowohl für verheiratete als auch unbekannte ältere Frauen [VD 1992: 1736];

mama – scherzhafte Anredeform für eine Puffmutter [Coster 1992: 295];

meid – informelle Anredeform sowohl unter Mädchen und Frauen als auch für Tochter oder Gemahlin: Kom, meid, ga je mee? („Komm, Mädchen, gehst du mit?“) [VD 1992: 1786];

moedertje – als schmeichelhafte Anrede: Hoe gaat het, moedertje? („Wie geht es, Mütterchen?“) [VD 1992: 1841];

omes – schon im Mittelalter verehrte man Senioren und vornehme Personen mit dieser Anredeform [Coster 1992: 408];

ouwe rups – gutmütige Anredeform [Coster 1992: 121];

tante – informell [VD 1992: 3018];

vadertje –als schmeichelhafte Anrede: Kan ik je helpen, vadertje? („Kann ich dir helfen, Väterchen?“) [VD 1992: 3247];

vriendje – ziemlich geringschätzige Anredeform für Personen, die eine niede- re soziale Stellung als der Sprecher einnehmen und für junge Menschen: Zeg eens, vriendje, je kon dat wel eens beter doen! („Sag mal, Freundchen, konntest du das nicht besser tun?“) [VD 1992: 3480];

vrouw – als eine nicht allgemeine Anredeform: Vrouw, er zijn weer meesjes in de tuin („Frau, es sind wieder Mäuschen im Garten“) [VD 1992: 3487];

wijfi e – informelle Anredeform, eine sehr vertrauliche, zärtliche Benennung für eine Frau: Zo, weifi e, is alles goed gegaan? („So, Weibchen, ist alles gut ge- gangen?“) [VD 1992: 3582].

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die soziale Bedingtheit der Sprache in verschiedenen Formen vorkommen kann, jedoch nicht alle Ebenen der Sprach- struktur sind in gleichem Maße permeabel für den sozialen Einfl uss: höchst per- meabel sind die Lexik und die idiomatischen Ausdrücke, im geringsten Maße – das Sprachlautinventar einer Sprache.

Im Bereich der niederländischen Morphologie kommen die sozialen Eigen- schaften der Gesellschaft zum Ausdruck, insbesondere die Dominanz der Männer über die Frauen: die Substantive weiblichen Geschlechts sind vorwiegend Ablei- tungen von den Maskulina.

Die sozial markierten lexikalischen Bedeutungen können Situationen aus- drücken, in denen die soziale Rolle des ersten Positionsinhabers höher gestellt ist als die soziale Rolle des zweiten (asymmetrisch); sozial markierte lexikalische Bedeutungen können Situationen ausdrücken, in denen die soziale Rolle des er-

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sten Positionsinhabers der sozialen Rolle des zweiten Positionsinhabers unterge- ordnet ist (asymmetrisch).

Nicht sozial markierte lexikalische Bedeutungen können Wortfelder zur Be- nennung von Individuen bilden, die in gleichem sozialen Gefüge eingebunden sind (symmetrisch).

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Franck 1971 = Franck’s Etymologisch Woordenboek der Nederlandsche taal, Tweede druk door Dr.

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