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„Wir Slawen sind schrecklich sensibel...“ Fremd- und Eigenbilder in der Prosa Radek Knapps

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Academic year: 2021

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ISSN 2083-5485

© Copyright by Institute of Modern Languages of the Pomeranian University in Słupsk

Original research paper Received: Accepted:

16.09.2015 25.05.2016

„WIR SLAWEN SIND SCHRECKLICH SENSIBEL...“

FREMD- UND EIGENBILDER IN DER PROSA RADEK KNAPPS

Alicja Krauze-Olejniczak

Uniwersytet im. Adama Mickiewicza Poznań, Polska

al.krauze@gmail.com

Schlüsselwörter: österreichische literatur, Stereotype, Migrationsliteratur, Verfremdungseffekt,

Fremd- und Eigenbilder

1. Radek Knapp – witziger Realismus mit Verfremdung

Seit Jahrzehnten geben AutorInnen aus unterschiedlichen Heimatländern, mit unter-schiedlichen Migrationshintergründen, die in Österreich ihr neues Zuhause gefunden und Deutsch als ihre Schreibsprache gewählt haben, wertvollen Input für die deutsch-sprachige Literatur. Im Gegensatz zu den AutorInnen des immer noch umstrittenen

Gen-re der ‚Migrationsliteratur‘1 in Deutschland, fanden bislang die österreichischen

Schrift-stellerInnen nicht deutscher Muttersprache relativ wenig akademische Beachtung. Den Gegenstand der Betrachtung stellt ein Autor polnischer Herkunft dar, der sei-nen Lebensmittelpunkt nach Österreich verlegt hat und der seit über zwei Jahrzehnten Prosawerke auf den deutschsprachigen Markt bringt, die sich beim Lesepublikum gro-ßer Popularität erfreuen. Radek Knapp wurde 1964 in Warschau geboren und wuchs bei seinen Großeltern auf, bis er im Alter von 12 Jahren seiner Mutter nach Wien folg-te, wo er ursprünglich nur die Sommerferien verbringen sollte und dann doch für im-mer geblieben ist. Wie er selbst in seiner skizzenhaften humoristischen Kurzautobio-graphie schildert, stellte dieses Ereignis einen tiefen Einschnitt in seinem Leben dar, da die Umgebung, die Sprache und die Stadt ihm fremd und feindlich erschienen [Knapp 2003]. Nach dem Abitur studierte er Philosophie an der Universität Wien und

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1 Die Bezeichnungen ‚Migrationsliteratur‘ und ‚Migrantenliteratur‘ werden auch im weiteren Textverlauf immer in Klammern angegeben, da die Diskussion um die Begriffsbestimmung für die Texte der AutorInnen der nicht deutschen Muttersprache im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich genug behandelt werden kann.

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verdiente seinen Lebensunterhalt als Tennislehrer, Saunaaufgießer und Würstchenver-käufer. Sein Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm mit dem 1994 erschienenen Er-zählband Franio, der mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosa-Debüt ausgezeichnet wurde. Der Preis machte Knapp über Nacht bekannt und

ermöglichte ihm, sich der schriftstellerischen Tätigkeit vollständig zu widmen2. Sein

nächster Roman Herrn Kukas Empfehlungen wurde 1999 veröffentlicht und brachte dem Autor 2001 den Adalbert-Chamisso-Förderpreis.

Radek Knapp schreibt ausschließlich auf Deutsch, das zu seinem künstlerischen Ausdrucksmittel wurde:

Ich habe in der Fremde eine Sprache gefunden, die mir auf den Leib geschnitten ist. […] sie ist der rote Faden, der mich zwischen den Kulturen führt, in denen ich le-be. [Knapp 1998: 8]

Das Aufeinanderprallen von zwei Kulturräumen mündet in wachsame Beobach-tungen sowohl der österreichischen als auch der polnischen Realität, die nicht selten in eine Satire übergehen. In seiner Prosa beobachtet Radek Knapp seine österreichi-sche Wahlheimat, aber auch sein zurückgelassenes Geburtsland Polen mit dem un-voreingenommenen Blick eines Fremden, der vieles Gewohnte exotisch, ja bizarr er-scheinen lässt. Im Grunde erfüllt jede Literatur (oder sogar die Kunst im Allgemei-nen), nicht nur die Literatur der AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache diese Aufgabe: automatisierte, vertraute Sichtweisen aus einer ungewohnten Perspektive, verfremdet aufzuzeigen [Ackermann 1996: 211]. Damit bekommt man einen neuen Zugang zu Dingen und Eigenschaften, die zu starren Wahrnehmungsmustern ge-worden sind und dadurch nur noch an ihrer Oberfläche aufgenommen werden.

Bei dem russischen Literaturwissenschaftler Viktor Šklovskij, der als erster 1917 die Verfremdung als einen Verfahrensbegriff der künstlerischen Ästhetik und Litera-turtheorie definiert hat, heißt es folgendermaßen:

Dinge, die man mehrere Male wahrnimmt, beginnt man durch Wiedererkennen wahr-zunehmen; der Gegenstand befindet sich vor uns, wir wissen davon, aber sehen wir ihn nicht. Deshalb können wir nichts über ihn sagen. […] um das Empfinden des Lebens wie-derherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstands zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wiedererkennen [Šklovskij 1994: 15].

Im vorliegenden Beitrag wird deswegen die Fragestellung verfolgt, wie sich die Dichotomie – das Eigene und das Fremde – bzw. ihre Überwindung in der Prosa Radek Knapps gestaltet und wie die Außen- oder Zwischenperspektive seiner litera-rischen Figuren die Darstellung der Wahlheimat Österreich und des Heimatlandes Polen beeinflusst. Also mit welchen Mitteln versucht Knapp – um es noch mal mit den Worten von Šklovskij auszudrücken – den Gegenstand aus dem Automatismus der Wahrnehmung herauszulösen? [Šklovskij 1994: 15] Dabei wichtig erscheint die Gegenüberstellung von West und Ost, die die Grundstruktur von Knapps früher

Pro-———————

2 Obwohl er auch zwischendurch als Obstverkäufer arbeitet, zur Entspannung, wie er es in einem Video-Interview erzählt: www.youtube.com/watch?v=sq_CL6oFi0A

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sa ausmacht, und der damit einhergehende Einsatz von (nationalen) Stereotypen. Als Grundlage dienen die erfolgreichen Werke von Knapp: der Erzählband Franio (1994) und der Roman Herrn Kukas Empfehlungen (1999).

Eine theoretische Stütze liefert der Aufsatz von Irmgard Ackermann Deutsche

ver-fremdet. Die Darstellung des »Anderen« in der »Ausländerliteratur«

[Acker-mann 1996: 213], in dem die Forscherin drei Ansätze zu Fremdheitsperspektiven und Darstellungsformen des “Anderen” unterscheidet:

1. kulturkontrastive, typisierende Darstellungen, in denen die Fremdheitsperspek-tive ausdrücklich thematisiert wird (bevorzugte Gattung: Satire);

2. unsichtbare Fremdheitsperspektive, auch wenn die Fremdheit den Hintergrund für die dargestellte Wirklichkeit bildet (individuelle Darstellung, keine Typen und Vertreter);

3. Zwischenposition: bewusst mehrkultureller Ansatz, in dem sowohl Einheimi-sche als auch Figuren anderer Herkunft, sowie ihre gegenseitigen Beziehungen differenziert gesehen werden und ein interkulturelles Miteinander gelebt wird.

Franio und Herrn Kukas Empfehlungen von Radek Knapp sind ein eindeutiges

Bei-spiel für die erste Darstellungsweise. Im Folgenden wird diese Zuordnung verdeutlicht.

2. Knapps Franio und Herrn Kukas Empfehlungen

Der Band Franio setzt sich aus fünf Erzählungen zusammen, die dem Leser ei-nen Einblick in das polnische Provinzleben der Vorwendezeit (wahrscheinlich, da es keine genauen Zeitangaben gibt, dafür aber einige Indizien) gewähren, „als alles noch ganz anders war als heute, als die Leute noch so arm waren, dass sie gerne zu-sammensaßen und sich miteinander unterhielten“ (Franio: 37). Der Schauplatz ist

die verschlafene Städtchen Anin3, das eher einem Dorf ähnelt und so klein war, dass

man sich das Scherzen nicht verkneifen konnte:

Wenn ein Bus durch Anin fährt, so hat der vordere Teil mit dem Lenker die Ort-schaft schon verlassen, während der hintere Teil mit dem Reserverad dort noch gar nicht angekommen war. (Julius geht nach Hause: 123)

Knapp stilisiert Anin zu einem rückständigen, aber dadurch idyllischen und mär-chenhaften Ort, in dem das Magische und Übernatürliche ihren selbstverständlichen Platz haben: der Eisenbahnschaffner Herr Tombka begegnet dem Teufel, der Vaga-bund Franio wird auf Schritt und Tritt von einer Vogelschar begleitet, der er vor Jah-ren das Leben gerettet hatte. Die stimmungsvolle Phantastik mit einer Prise Melan-cholie, da wir hier mit der berühmten slawischen Seele zu tun haben, schwingt in jeder Episode mit. Der Westen, für den stellvertretend Wien steht, tritt nur im Hintergrund als klischeehafte Vorstellung der Städtchenbewohner als Paradies auf Erden auf, als Projektionsfläche für eigene Wünsche [Palej 2004: 198]. Die Namen der Figuren und Ortschaften werden teilweise eingedeutscht, der Autor „dosiert“ dem

deutschsprachi-———————

3 Knapp bezeichnet Anin als Städtchen (z.B. Julius geht nach Hause: 131), obwohl es in Wirklich-keit eine Siedlung in Warschau ist.

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gen Leser die Exotik. Nachdem der Band mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeich-net wurde, waren sich die Kritiker nicht einig, ob sie Knapps Prosastücke eher loben oder tadeln sollten. Die kritischen Stimmen bezogen sich auf das klischeehafte idyl-lische Polenbild, das zu wortwörtlich und direkt als Wirklichkeitsabbildung gelesen und somit als verklärt beanstandet wurde (zumal sich Knapps Heimat zur Entste-hungszeit seines Debüts in wirtschaftlichen Wirren nach dem Systemwechsel befand und da es nicht gerade idyllisch zuging, erwarteten die Kritiker womöglich andere Stimmen aus Polen [Reichensperger 1995: 7]). Peter König rechtfertigt in seinem Aufsatz Stoßrichtungseffekte des Satirischen in der Prosa des (Österreicher-)Polen

Radek Knapp Knapps Texte aus dem Erzählzyklus Franio als spezifisch satirische

[König 1999: 130]. Knapp bedient sich der Perspektive eines Kindes (bzw. eines Erwachsenen, der sich an seine Kindheit erinnert), dem es erlaubt ist, die Gescheh-nisse verschönert, naiv und verzerrt darzustellen, ohne den objektiven Wirklich-keitsbezug zu beanspruchen und ohne über allwissenden Einblick in die erzählte Welt zu verfügen. König sieht das als konsequentes Erzählverfahren des Schriftstel-lers, das die Verantwortung für das Erzählte abweist und die Texte durchaus als Sa-tire auslegen lässt [König 1999: 130].

Der erfolgreichste Roman von Radek Knapp Herrn Kukas Empfehlungen wurde 1999 veröffentlicht. Der Text kann durchaus dem Genre des Schelmenromans zuge-rechnet werden: ein Schelm geht in die Ferne und berichtet von seinen kunterbunten Erlebnissen und Abenteuern, in die er sich andauernd verwickelt, aus der Perspektive des sozial Unterprivilegierten (Froschperspektive). Er steht mit seinem naiven und un-erfahrenen Weltbild der Gesellschaft, in die er Eintritt sucht und die oft egozentrisch und gewinnsüchtig ist, stark gegenüber. So ist eben der junge Pole Wandi, der Haupt-held, dessen Geschichte Radek Knapp mit etwas kauzigem Humor und sehr einfalls-reich in seinem Roman erzählt. Er möchte unbedingt in den Westen, den er nur vom Fernseher kennt, weil er „schrecklich neugierig [ist], wie es dort aussieht.“ [Knapp

2009: 74] Begleitet von den Ratschlägen des alten, heruntergekommenen, aber im

Westen bewanderten Herrn Kuka fährt er nach Wien, wo er sein Glück sucht:

Es gibt dort [in Wien – A.K.-O.] Arbeit wie Muscheln am Meer. An der Grenze darfst du aber dem Zöllner ja nicht sagen, dass du arbeiten willst. Und wenn er dich anlächelt, lächle ja nicht zurück. Das ist ein Grund für Leibesvisitation. Sag ruhig ein paarmal jawohl. Alle Uniformidioten mögen das. Und wenn du zum ersten Mal in Wien einfährst, wundere dich nicht, dass alle Neonreklamen eingeschaltet sind. Das ist im ganzen Westen normal. Wundere dich auch nicht, dass die Endhaltestelle an der polnischen Kirche ist. (HKE: 14f.)

Doch bevor seine Reise richtig anfängt, muss Waldi einsehen, dass die Empfeh-lungen des kultivierten Wodkatrinkers Kuka nicht viel wert sind. Sowohl die Fahrt in die österreichische Hauptstadt mit einem klapprigen Bus voller Schmuggelware, als auch der ganze Sommeraufenthalt in Wien gestalten sich skurril bis tragikomisch: von einer angeblich günstigen Hotelempfehlung Kukas, die sich als eine gut versteckte Parkbank entpuppt, bis hin zum versuchten Banküberfall mit Spielzeugpistole, aus der im entscheidenden Moment Wasser tropft. Von seinen Landsleuten, die er trifft, wird

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er mal betrogen, mal greifen sie ihm unter die Arme. Konfrontiert mit der westlichen Realität muss er seine Vorstellungen vom goldenen Westen revidieren: „Wien, du bist wirklich so, wie es auf den Willkommensschildern steht. Anders.“ (HKE: 108) Mit ei-nem typischen Schelmenhelden verbindet Waldi auch die Fähigkeit, aus allen schein-bar ausweglosen und verzwickten Situationen herauszukommen.

3. Höfliche Wiener und sensible Slawen – das Eigene und das Fremde bei Ra-dek Knapp

Den verhältnismäßig wenigen Österreichern, die in Knapps Prosa persönlich auf-treten, wird die Rolle der ‚typischen Österreicher‘ zuteil, was auch ein Merkmal die-ser Darstellungsweise der Fremde und des Fremden bei Ackermann ist. Sie werden nur aus der Sicht der Hauptfigur dargestellt, sind keine individuell gestalteten Cha-raktere und haben im Text bestimmte Funktionen zu erfüllen. Eine in Herrn Kukas

Empfehlungen auftretende Wienerin ist Frau Simacek, die Hausvermieterin, die eine

wohlhabende, leidenschaftliche Leserin der Kronenzeitung und Anhängerin der rechtspopulistischen FPÖ ist:

Ich hab nichts gegen Ausländer. Im Gegenteil, ich find, die Wiener sollten richtig froh sein, dass die Ausländer zu uns kommen und uns die schwersten Hacken abneh-men. Klo putzen, Straßen kehren und Zeitungen verkaufen, das ist nichts für uns, weil wir ja so feine Leute sind. Und trotzdem haben wir die Ausländer nicht besonders gern. Es liegt daran, dass viele Schlawiner zu uns kommen und euch, den guten Aus-ländern, den Ruf verderben. […] und wegen euch wähle ich die FPÖ. Damit nicht noch mehr Neger ins Land kommen und euch die Arbeit wegnehmen. (HKE: 165f.)

Die meisten Passagen bei Knapp über Österreicher und vor allem über Wiener in einer unbestimmten Anzahl werden direkt, pauschal und undifferenziert getroffen. Demzufolge sind die Wiener ausländerfeindlich (was das obige Zitat veranschau-licht), dabei aber sehr höflich:

Die Wiener sind nämlich die höflichsten Menschen in Europa. Überall wird zuerst Gott gegrüßt, und erst dann wird geschaut, wen man da eigentlich gegrüßt hat. (HKE: 68)

stehen auf Ordnung und Sauberkeit:

Aber auf der Straße lag nichts, nicht einmal ein zufällig fallen gelassenes Papierta-schentuch. Als wäre gerade vor einem Moment ein riesiger Staubsauger vorbeigefahren und hätte alles, was nicht niet- und nagelfest war, in sich aufgesaugt. (HKE: 37)

sind entspannt, sorglos und langsam:

[…] sah ich endlich die ersten Wiener. Sie machten einen entspannten und harmlosen Eindruck. Man konnte sie nur nicht richtig auseinanderhalten. Bei uns unterscheidet man einen Arbeiter von einem Bankdirektor auf den ersten Blick. Aber die Wiener sahen sich alle erstaunlich ähnlich. (HKE: 38)

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Über Allem hing eine eigentümliche Langsamkeit. Ich dachte bis jetzt, im Westen würde es nur so vor Leben beben. […] Aber hier bewegten sich die Leute so langsam, als legte man überhaupt keinen Wert darauf, wohin man ging […]. (HKE: 38)

Wien ist schöner […] als Warschau, schöner als Krakau…, die Straßen sind voller Menschen, die nichts anderes zu tun haben als herumspazieren und die Auslagen an-schauen. Wenn ihnen ganz langweilig wird, kaufen sie sich ein Eis und essen es ganz langsam. (Franio: 55)

zeichnen sich durch den Stolz darauf aus, Wiener zu sein:

Es ist nämlich gar nicht so leicht, einen Wiener auf den ersten Blick zu erkennen. Denn obwohl Wiener ziemlich viel Wert darauf legen, Wiener zu sein, sehen sie trotzdem anderen Menschen sehr ähnlich. (HKE: 67)

Wiener konnten nur Wiener von Nichtwienern unterscheiden. Ansonsten tappten sie im dunklem. (HKE: 89)

Sie können dem Wiener alles vormachen, nur den Akzent nicht. Manchmal glaube ich fest, dass wir ihn erfunden haben, damit sich keine Fremder in unsere Reihen ein-schleicht. (HKE: 93)

sind dabei auch melancholisch und hängen an ihrer Geschichte:

[…] so ein Riesenmuseum wie Wien. Dort leben nämlich zwei Millionen Museums-wärter auf engstem Raum und reden dauernd über den Tod. (HKE: 13)

Die Wiener Kaffeehäuser, in denen die gebürtigen Wiener „die meiste Zeit sitzen […] und stundenlang in der Zeitung blättern und an einer Melange nippen“ (HKE: 69), stehen für die kulturelle Raffinesse der Österreicher und ihre kulturelle Überle-genheit den Polen gegenüber:

Die Kaffeehäuser sind dort so groß wie das Warschauer Militärmuseum. (Schwager Wilhelm: 138)

In Sachen Kultur hinken wir mindestens um dreißig Jahre nach.

(Schwa-ger Wilhelm: 144)

Auch das Polenbild ist stark von Klischees geprägt. Die meisten der von Knapp auf-gegriffenen nationalen Stereotype über Polen lassen sich noch auf die Zeiten der Teilun-gen Polens (1772-1918) und die über Jahrhunderte hinweg geführte deutsche bzw. preu-ßische Kulturarbeit zurückführen. Durch die einst weit verbreitete antipolnische (Kolo-nisierungs-)Literatur (maßgebendes Beispiel stellt dabei Gustav Freytags Soll und

Ha-ben dar, das zu den meistgelesenen Romanen im 19. Jahrhundert gehört) und durch zum

Zweck der Bekämpfung des Polentums gegründete Institutionen wurde in Deutschland ein antipolnisches bzw. ein pauschal antislawisches Narrativ konstruiert, das auf geläufi-gen Klischees wie Alkoholismus, Unsauberkeit, Verantwortungslosigkeit, Faulheit, Bar-barei usw. aufgebaut wurde und das deutsche kulturelle und wirtschaftliche Überlegen-heit nachweisen, territoriale Bestrebungen nach Osten begründen und die Slawen als „germanisierungsbedürftig“ darstellen sollte [Joachimsthaler 2009: 36].

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Im Erzählband Franio ist die polnische Provinz ein eigentümliches Gemisch von Rückständigem, Rätselhaftem und Übernatürlichem und all das unter der Schirm-herrschaft der wehmütigen slawischen Seele. Ein unentbehrliches Requisit ist dabei die Wodkaflasche, nach der häufig und gerne gegriffen wird. Nahezu alle (haupt-sächlich männlichen, aber nicht nur) Städtchenbewohner neigen zum Alkoholmiss-brauch. Um in Schwung zu kommen, müssen sie ein Gläschen kippen und sehen da-ran nichts Schlimmes:

Frau Majowa griff unter das Bett und fischte dort mit einer unerwartet geschickten Bewegung eine neue Likörflasche hervor. Sie machte mit dem Flaschenverschluss kurzen Prozess und begann ihr Glas vollzugießen. Die Hälfte davon landete auf dem Teppich.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie Alkohol mögen«, staunte Kossa.

»Ich bin Katholikin«, sagte die Bahnhofsvorsteherin. »Nirgends in der Bibel steht, dass man nicht ab und zu einen trinken darf«. (Franio: 101)

Auch wenn sie das normalerweise nicht tun, werden sie durch gewisse zweifel-hafte Umstände dazu gezwungen, oder dieses Getränk macht einfach einen essenzie-len Anteil ihrer Lebensweise aus:

Maniek, der nie Alkohol trank, öffnete eine Wodkaflasche, um sich aufzuwärmen. (Julius geht nach Hause: 128)

Bahnhofsvorseher Nowak […] hing nur an zwei Dingen: an der Wodkaflasche und an seinem Rottweiler. (Herr Trombka: 8)

Die polnische Provinz Knapps zeichnet sich nicht nur durch den gesellschaftlich akzeptierten Alkoholismus, sondern auch durch andere Schwächen, die bei der Be-zeichnung „provinziell“ mitgedacht werden, aus: nachbarliche, grundlose Missgunst, Analphabetismus, politische und soziale Passivität, Abergläubigkeit, Egoismus, Stigmatisierung und Ablehnung unangepasster oder überdurchschnittlicher Indivi-duen und allgegenwärtige Ignoranz.

Im Roman Herrn Kukas Empfehlungen wird die Handlung fast vollständig nach Österreich versetzt, deswegen wird das Bild Polens nicht direkt vermittelt, sondern entsteht erstens durch Vergleiche mit der westlichen Realität und zweitens durch die polnischen Landsleute, die Waldi trifft – sie geben indirekt einen Überblick über die polnischen bzw. östlichen Begebenheiten. Und so sind die Vertreter und Träger der Polen-Bildes Schmuggler, die im Westen auf einen schnellen Schilling hoffen, in ih-rer Geldgier zu allen dunklen Machenschaften bereit sind, keine Solidarität kennen und eigene Landsleute erbarmungslos ausnutzen, wenn sich die Möglichkeit dafür bietet. Dabei verhalten sie sich rüpelhaft und haben immer eine verdächtige Flasche mit einem leicht zu erratenden Inhalt dabei. Und sie sind es gerade, die den Ruf der Polen im Aus-land bestimmen. Den wenigen ordentlichen, zu denen natürlich auch der Protagonist ge-hört, ist es klar, dass sich daran nichts mehr ändern lässt:

Die Wiener glauben schon längst, dass es bei uns zu Hause so aussieht wie in die-sem stinkenden Bus. (HKE: 46)

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Deswegen bekommt Waldi von dem titelgebenden Herrn Kuka, der sich übrigens auch nur dann auf ein Gespräch einlässt, wenn er eine Wodkaflasche auf den Tisch gestellt bekommt („Mit diesem Treibstoff können wir dreimal um den Globus fah-ren“ [HKE: 7]), einen nicht zu überschätzbaren Ratschlag und zwar unter keinen Umständen zuzugeben, dass er Pole ist:

Bevor unser Elektriker den Kommunismus kurzgeschlossen hat, waren die Deutschen sehr gut zu uns. […] Jedenfalls griffen sie dir gleich unter die Arme, wenn sie hörten, dass du aus Polen kommst. Das war im ganzen Westen so. Aber dann kam die Wende, und plötzlich wurden die Dörfler aus ganz Polen über Nacht Europäer. Sie fuhren hinüber und begannen zu klauen, was nur ging. […] Von da an wusste im Westen jeder, dass wir alles sind, nur keine Europäer. Deshalb darfst du niemals zugeben, woher du wirklich kommst. […] Beim Wort Polen kannst du gleich wieder nach Hause gehen. (HKE: 11f.)

Vertreten ist bei Knapp auch die klischeehafte Vorstellung über die polnische Bin-dung an die katholische Kirche, der man allzu gerne ihre Heuchelei und ihre Verfeh-lungen nachsieht (z.B. Missbrauch der Minderjährigen und Gewinnsucht). Und so sucht der Priester Smolny in der Erzählung Julius geht nach Hause nach Beweisen der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, indem er die Röcke seiner Ministrantinnen verrutschen lässt, in der Erzählung Herr Trombka und der Teufel erlaubt der gleiche Priester die kirchliche Beerdigung einer Selbstmörderin nur gegen einen Zuschlag:

Der Pfarrer weigerte sich, die Messe zu lesen. Wären nicht Schuldirektor Miodek und Trombka für die Kosten aufgekommen, hätte man Malinka außerhalb der Fried-hofsmauer bestattet. (Herr Trombka: 26)

Die Unterschiede in der Geisteshaltung und Lebenseistellung der Polen und Ös-terreicher werden immer wieder unmittelbar in den Aussagen der polnischstämmi-gen Figuren hervorgehoben. Dabei bezeichnen sie sich immer wieder nicht als Po-len, sondern als Slawen:

Wir Slawen sind schrecklich sensibel (Julius geht nach Hause: 130) Wir Slawen sind alle ein bisschen eigenartig. (Schwager Wilhelm: 150)

Ähnliches wiederholt sich in Herrn Kukas Empfehlungen:

[…] wir Slawen sind ziemlich sensibel, was unser Privateigentum angeht. (HKE: 19)

Oder sogar:

Statistisch gesehen sind wir Slawen die geübtesten Kreuzworträtsellöser Europas. (HKE: 18)

Was darauf zurückzuführen ist, dass den Neonschriften im Osten häufig einzelne Buchstaben fehlten, wie:

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was man zu entziffern lernen musste. Die Nachlässigkeit, die das Markenzeichen des Ostens sei, kommt gerade bei der Konfrontierung mit westlicher Ordentlichkeit zum Vorschein:

Über der Konditorei stand Konditorei und über dem Supermarkt tatsächlich Super-markt. Wo man hinsah, war alles in Ordnung. Das war etwas bedrückend, denn es be-deutete, dass uns die Westler sogar darin um zwanzig Jahre voraus waren. (HKE: 38)

Beispiele könnte man nahezu endlos aufzählen.

Die satirischen Darstellungen beider Gesellschaften, der polnischen und der ös-terreichischen, beruhen in Hinsicht auf kulturelle und soziale Dimensionen vorwie-gend auf dem oppositionellen Prinzip. Was aber Polen und Österreicher gemeinsam haben sollten, ist ein gewisser Hang zum Selbstmord, der leitmotivisch den ganzen Erzählband Franio durchzieht: in den Freitod flüchtet die vom Teufel besessene Ge-liebte Herrn Trombkas, von dem Selbstmord schwärmt auch der titelgebende Held Franio, der nach jahrelangem Herumziehen in sein Elternhaus zurückkehrt, um „dort Selbstmord [zu] begehen, wo man aufgewachsen ist“ (Franio: 91f.). In der Erzäh-lung Der Komet wartet der Don Juan Lukas auf den Weltuntergang durch einen Zu-sammenstoß der Erde mit einem Kometen, der

[…] das besorgen [wird – A.K.-O.], worauf ich keine Zeit habe. […] Er wird dieses lächerliche Leben, das ich führe, beenden.“ (Komet: 122)

Suizidanfällig sind aber auch die Wiener bzw. die Österreicher, was sowohl in

Franio als auch in Herrn Kukas Empfehlungen zum Ausdruck gebracht wird:

[Die Kathedrale – A.K.-O.] ist so hoch, dass sich früher von oben junge Studen-ten, die aus Liebeskummer auf der schönen Erde nicht mehr leben wollStuden-ten, herunter-stürzten. […] sie öffnen das Fenster, und schon zeigen sie der ganzen Welt, dass mit der Liebe nicht zu spaßen ist. (Schwager Wilhelm: 139)

[Die Wiener – A.K.-O.] reden dauernd über den Tod. Und die sind so wie wir Slawen, die nur leeres Stroh dreschen. Die machen auch was. Gerade als ich dort war, haben sie einen Pensionisten gefunden, der sich den Kopf weggeschossen hatte. Er lag drei Jahre lang in der Wohnung herum, und obwohl er keinen Kopf hatte, mit dem er was lesen konnte, bekam er noch regelmäßig Kaufhauskataloge zugesandt. (HKE: 13)

Selbstverstümmelung und schließlich Suizid stehen auch hinter der Reihe grausamer Überfälle auf den wohlhabenden polnischen Zahnarzt Wilhelm aus Wien in der (sich mit ihren drastischen Beschreibungen vom Rest des Zyklus abhebenden) Erzählung

Schwager Wilhelm. Sein grausames Schicksal wird aber nur zu einer unterhaltsamen

Wirthausgeschichte, mit der der Familienangehörige des Selbstmörders Mostek seine Kameraden belustigt und die Schadenfreude über das Unglück seines Verwandten, der es im Westen zu materiellem Erfolg geschafft hat, zum Ausdruck bringt: „»Das kommt davon, wenn man einmal im Jahr nach Portugal fährt und eine Villa hat.« […] Alle drei Männer brachen wie auf ein Kommando in schallendes Gelächter aus.“ (Schwager Wilhelm: 151) Peter König sieht in dieser Geschichte eine „doppelte Stoß-richtung“ von Knapps Satire: Knapp wende sich gegen Österreich, um auch –

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wiede-rum mit grotesker Überspitzung – polnische Provinzialität bloßzulegen. Damit gelinge es dem Prosaiker zu beweisen, dass Polen und Österreicher bei all ihren kulturspezifi-schen Unterschieden letzten Endes an Inhumanität gleich sind (woraus die entspre-chende Selbstmordneigung resultieren sollte) [König 1999: 137f.]. Da sich aber die brutalen Überfälle auf den Zahnarzt schnell als sein autoagressives Spiel mit der Um-gebung entpuppen und das Bild vom inhumanen und gewalttätigen Österreich abge-baut wird – zugunsten der bereits hier erwähnten Abschlussaussage „Wir Slawen sind alle ein bisschen eigenartig.“ (Schwager Wilhelm: 150) – bleibt im gesamten Band

Franio eine explizite bzw. eindeutig erkennbare Kritik der österreichischen

Verhält-nisse (einmal von nationalen Klischees abgesehen, die aber auch verhältnismäßig posi-tiv konnotiert sind), die mit der, die gegen polnische Unzulänglichkeiten gerichtet ist, vergleichbar wäre, aus. Bei der Gegenüberstellung des Fremden mit dem Eigenen in Knapps Werken gilt grundsätzlich, dass das Fremde gegenüber dem Eigenen aufge-wertet wird [Palej 2004: 198]. Zu betonen ist allerdings, dass diese in Franio nahezu lückenlos vertretene Tendenz in Herrn Kukas Empfehlungen gebrochen wird und eine kritische Einstellung den kapitalistischen Missständen gegenüber sichtbar wird, ob-wohl diese im Grunde genommen beide Länder betrifft. Der Protagonist Waldi, kon-frontiert mit Schwierigkeiten, auf die er in Wien stößt (ergebnislose Arbeitssuche und Geldnot), muss schließlich einsehen, dass sich in seiner polnischen Heimat im Zuge der industriellen Entwicklung gesellschaftspolitische Veränderungen vollzogen haben, wodurch sich beide Gesellschaften in einigen negativen Aspekten näher gerückt sind:

Ich sah auf und sagte zu ihm: »Wo bin ich? Was ist das für ein Ort, wo sich Schwimmbäder in Nationalparks verwandeln? Wo eigene Landsleute uns der Polizei in die Arme treiben? Wo […] niemand dir eine Arbeit geben will, nur weil du die fal-schen Schuhe gefal-schenkt bekommen hast? Kennst du etwa noch einen Ort auf der Welt, wo es so zugeht? Ich nicht.«

»Sicher. Deutschland, Frankreich, überall ist es so.« »Aber nicht zu Hause.«

»Auch. Besonders jetzt.« (HKE: 135)

Der stereotypen polnischen bzw. östlichen (indirekt, vor allem durch Vergleiche vermittelten) Rückständigkeit auf der wirtschaftlichen Ebene wird der ausbeutende westliche Kapitalismus gegenübergestellt. In einer der letzten Szenen des Romans, kurz bevor sein Aufenthalt in Wien zu Ende geht, beschreibt Waldi, was er aus dem Fester seiner Wiener Wohnung sieht: dort, wo er ursprünglich nur „den Westen“ (HKE: 155) wahrgenommen hat, eine Welt, auf die er schon immer neugierig war, sieht er nun eine Stadt, die er erlebt hat:

Ich sehe hier längst nicht mehr das, was ich beim ersten Mal gesehen habe. Ich sehe nicht mehr den Westen und das Paradies […]. Ich sehe jetzt eine Stadt, in der ich ein Schwimmbad ausgehoben habe, das keines war und in der ich mehr erlebt habe als in meinem ganzen Leben zuvor. (HKE: 239f.)

Karin Sorko, die die Literatur der Systemmigration untersuchte, sieht darin eine Schlüsselszene, die es zum Einen erlaubt, den Text als Bildungsroman auszulegen, zum Anderen eine ernüchternde Dekonstruktion des Mythos „Westen“ darstellt

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[Sorko 2007: 137]. Beide Thesen bedürften ausführlicherer Erörterung, die nicht der Gegenstand vorliegender Untersuchung ist, jedoch sollte dabei eine gewisse Bin-senweisheit unterstrichen werden, die aus der oben zitierten Passage hervorgeht und die man besonders in der Literatur nicht oft genug in Erinnerung rufen kann: die ste-reotypisierten (Fremd- und Eigen-) Vorstellungen werden erst durch persönliche Er-fahrungen (oder deren literarische Kreationen) erfolgreich durchbrochen, auch wenn aus dem Mythischen das Vertraute und Gewöhnliche gemacht wird.

4. „Was darf Satire? Alles.“5 – Nationale Klischees in der ‚Migrationsliteratur‘

Der gängigen Klischees bedienen sich ähnlich wie Radek Knapp relativ viele Au-toren der sog. ‚Migrationsliteratur‘ (vor allem trifft das auf ihre Anfangsphase zu), da sich eine mit Stereotypen gespickte Erzählweise als Erfolgsrezept erweist, was ihnen auch ab und zu verübelt wird – mehr seitens der Literaturkritik als des Publikums (als Beispiel kann an der Stelle der deutsch-russisch-jüdische Autor Wladimir Kaminer erwähnt werden, der seit einiger Zeit mit jedem neuen Roman, die er in Massenpro-duktion auf den Markt bringt, in den kritischen Beschuss der Literaturwissenschaftler

und –kritiker gerät, obwohl er sich bei den Lesern eines großen Zuspruchs erfreut6):

die Realität ihrer Werke ist zwar verlockend, aber nur an das Stilmittel der Übertrei-bung angelehnt und dadurch stellenweise beharrlich schwarz-weiß skizziert. Irmgard Ackermann argumentiert, dass der gezielte Einsatz von Stereotypen in der Erzählsitua-tion gerade dem Bewusstmachen von solchen klischeehaften Vorstellungen und der Distanzierung von ihnen dient [Ackermann 1996: 214]. Sie schreibt:

Das Bewusstsein, selbst Stereotype vom Anderen zu gebrauchen wie auch den Stereotypen des Anderen ausgeliefert zu sein, ist ein wichtiger Schritt zur Objektivie-rung der eigenen Sichtweise, wenn auch damit die Grenze zwischen »wir« und »sie« noch nicht aufgehoben ist. [Ackermann 1996: 215]

Ferner eignet sich die satirische Darstellungsweise sowohl des Anderen als auch des Eigenen für eine kritische Auseinandersetzung, da die Form der Satire bekanntlich mit Überspitzung und Vereinfachung arbeitet, die den Blick auf den Sachverhalt ver-schärfen, ohne dabei Objektivität zu beanspruchen [Ackermann 1996: 216]. Deswegen findet Satire als Gattung Gefallen an nationalen Stereotypen, die Marotten, Schwächen und wunde Punkte ironisch, hier und da sogar mit bösartigem Anstrich hervortreten lassen. Den spielerischen Umgang mit nationalen Stereotypen muss der Leser in

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5 K. Tucholsky, Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. von M. Gerold-Tucholsky und F.J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg 1975, Band 2: 1919-1920, S. 44.

6 Einen sehr interessanten Artikel über Wladimir Kaminer und seinen Ruhm als Medienstar hat El-ke Mehnert verfasst: sie spricht Kaminer den Unterhaltungswert seiner Prosa sowie seine Ver-dienste für die deutsch-russische Verständigung nicht ab, diskutiert allerdings u. a. die Tatsache, dass Kaminer in seinen Texten konsequent auf die Zugkraft der Stereotype setzt und mit großer Übertreibung das „typisch Deutsche“ dem „typisch Russischen“ gegenüberstellt, was zwar sein Gespür für den Marktbedarf beweist, allerdings dem Abbau von nationalen Klischees nicht dient, obwohl der Autor selbst das Gegenteil behauptet [Mehnert 2014].

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Herrn Kukas Empfehlungen spätestens dann erkennen, wenn Knapp seine deutsche

Figur Lothar, einen Freund von Waldi, zwanghaft klauen lässt (Polen als Autodiebe ist wohl das gängigste Stereotyp in der Bundesrepublik über die östlichen Nachbarn, das seinen Ursprung in den frühen 1990er Jahren hat und bis heute in der deutschen Ge-sellschaft eingebrannt ist). Von dem Versuch der Überwindung der nationalen Vorur-teile zeugt auch die Tatsache, dass Knapp die Ebene der Nationalitäten verlässt und kaum von Polen und Österreichern, sondern vorwiegend von Slawen und Wienern spricht. Die Klischees werden so überspitzt, bis sie in ihrer Sinnlosigkeit bloßgestellt und damit entkräftet werden. Auch die naive, ja manchmal kindliche Erzählweise soll-te letzsoll-tendlich als schriftssoll-tellerische Methode und ein Ausdruck der Distanz und Ver-fremdung ausgelegt werden. Ebenfalls nicht zu vergessen ist, dass die Stereotype, die den potenziellen Leser leicht ansprechen und den Effekt der Widererkennung hervor-rufen sollten, meistens bewusst nicht als Kulturvermittlung eingesetzt werden, sondern nur der Unterhaltung wegen. [Heero 2007: 353]. Doch gerade der Umstand der Zuge-hörigkeit jener Texte zur Unterhaltungsliteratur kann unter Umständen die Wahrneh-mung des beabsichtigten Spiels mit nationalen Klischees mit dem Ziel ihrer Entkräf-tung beim Leser dieser GatEntkräf-tung erschweren, der sonst bei der Lektüre Belustigung und vergnüglichen Zeitvertrieb sucht.

Radek Knapp, obwohl er eher ein Wenigschreiber ist, entwickelt sich literarisch sichtlich. Seine Werke sind von der Thematik her ziemlich vielfältig (im Unterschied zu vielen anderen AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache, die das Leben zwischen

Kulturen zu ihrer künstlerischen Devise erhoben haben7) und seine neusten Texte

las-sen sich weder narrativ noch strukturell dem immer noch umstrittenen Genre der ‚Migrantenliteratur‘ bzw. ‚Migrationsliteratur‘ zuordnen: Papiertiger (2003) ist eine Satire auf den Literaturvertrieb, Reise nach Kalino (2012) kann man als eine

Mi-schung aus Antiutopie und altmodischem Detektivroman bezeichnen8. Nicht alle

Wer-ke von Radek Knapp sind beispielhaft für die ‚Migrationsliteraur‘ in Österreich, wenn man überhaupt nicht einem Autor Unrecht tut, indem man sein Œuvre als beispielhaft für eine Strömung bezeichnet, die – trotz Appelle vieler Literaturwissenschaftler und AutorInnen selbst, und fast fünfzig Jahre nach Michel Foucaults‘ und Roland Barthes‘ Postulat vom „Tod des Autors“ – allzu häufig ausschließlich über die biografische

Er-fahrung definiert wird9. In diesem Zusammenhang spricht man immer häufiger von

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7 Als Beispiel hier lässt sich Artur Becker anführen, ein „polnischer Autor deutscher Sprache“, wie er sich selbst bezeichnet, der mittlerweile 11 Prosatexte herausgegeben hat, deren Hauptthemen Migration, Grenzgängertum und Leben zwischen Kulturen sind. In einem Interview sagt er: „Ich lese das manchmal in Kritiken: »Becker erzählt immer Geschichten zwischen zwei Kulturen.« Der Vorwurf ist Unsinn, den könnte man Günter Grass machen, dessen Geschichten nun seit 40, 50 Jahren um Danzig kreisen. Ich finde, dass Autoren, sobald sie wirklich literarisch arbeiten, monothematisch sind“, www.arturbecker.de/Presse/varia/artikel014.html (11.09.2015).

8 Die Fertigstellung des vorliegenden Beitrags hat sich mit der Herausgabe des neusten Romans von Radek Knapp Der Gipfeldieb (erschienen am 14.09.2015) überschnitten. Der Verlagsankün-digung ist zu entnehmen, dass dieser von „ausgebufften Wienern und polnischen Wunderknaben“ handelt, Knapp scheint also zu der vertrauten Dichotomie „das Eigene vs. das Fremde“ zurück-gekehrt zu sein. Verlagsinformationen: www.piper.de/buecher/der-gipfeldieb-isbn-978-3-492-97218-5-ebook (11.09.2015).

9 Für Manfred Weinberg lässt sich der Begriff ‚Migrantenliteratur‘ „nur dadurch […] retten, dass man ihn und die von ihm in seiner rein biographischen Variante transportierte Ignoranz als

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ge-der ‘transkulturellen Literatur’, da die das ‘Nebeneinange-der’ implizierenden Begriffe der Inter- oder Multikulturalität angesichts der momentan geführten Diskussionen ob-solet zu sein scheinen. Der Begriff der Transkulturalität leitet die Erkenntnis ein, dass die gegenwärtigen Kulturen stark miteinander verflochten sind und ein Gewebe voller Wechselwirkungen bilden, was die individuelle Entklammerung von nationaler Identi-tät und die Entwicklung des hybriden Charakters aller kulturellen Phänomene ankur-belt [Herro 2009: 206]. Radek Knapp bewegt sich literarisch in diesem transkulturellen Raum, auch wenn die Diskrepanz zwischen Eigen und Fremd noch nicht überwunden wurde, obwohl er in einem Interview bereits zugibt: „Wien und Warschau sind für mich zu einer Stadt zusammengeschmolzen“. [Knapp 1996: 145]

Bibliographie

Primärliteratur

Knapp R., 1996, Franio, Reinbek bei Hamburg.

Knapp R., 2009, Herrn Kukas Empfehlungen, Ungekürzte Taschenbuch – ausgabe 14. Auflage, München.

Sekundärliteratur

Ackermann I., 1996, Deutsche ver-fremdet gesehen. Die Darstellung des „Anderen“ in der

„Ausländerliteratur“, [in:] P.M. Luetzeler (Hg.), Schreiben zwischen Kulturen. Beiträ-ge zur deutschsprachiBeiträ-gen GeBeiträ-genwartsliteratur, Frankfurt am Main, S. 211-212.

Becker A., Wie Sand am Fluss. Sasa Stanisic trifft Artur Becker. Ein Interview, www. ar-turbecker.de/Presse/varia/artikel014.html (11.09.2015).

Heero A., 2007, Das Eigene und das Fremde in der Literatur W. Kaminers, [in:] J.-M. Valen-tin, Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. „Germanistik

im Konflikt der Kulturen“ Band 6, Bern, S. 349-354.

Heero A., 2009, Zwischen Ost und West: Orte in der deutschsprachigen transkulturellen

Literatur, [in:] H. Schmitz (Hg.), Von der nationalen zur internationalen Literatur: Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migrati-on, New York, S. 205-225.

Joachimsthaler J., 2009, „Undeutsche“ Bücher: Zur Geschichte interkultureller

Litera-tur in Deutschland, [in:] H. Schmitz (Hg.), Von der nationalen zur internationalen Literatur: Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globa-ler Migration, New York, S. 19-36.

Knapp R., 1996, Wien und Warschau sind für mich zu einer Stadt

zusammengeschmol-zen. Radek Knapp im Gespräch mit Christa Stippinger, [in:] Ch. Stippinger (Hg.), Jeder ist anderswo ein Fremder. Eine Anthologie mit Texten und Interviews der Auto-ren und Autorinnen der Schreibwerkstatt für Zuwanderinnen und Angehörige ethni-scher Minderheiten in Österreich 1995/1996 im Amerlinghaus, Wien, S. 145-148.

Knapp R., 1998, Kurze Geschichte meiner Sprache, [in:] Ch. Stippinger (Hg.),

Weltenz-wischenwelten, Wien, S. 8.

Knapp R., 2003, Dowcipny realista, www.iik.pl/biografie.php/42 (12.05.2015).

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rechte Strafe für jene AutorInnen versteht, die mit der Bedienung des in ihm vorausgesetzten Kli-schees die Auflagenzahlen ihrer Bücher zu steigern versuchen“ [Weinberg 2014: 34]

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König P., 1999, Stossrichtungseffekte des Satirischen in der Prosa des (Österreicher-)

Polen Radek Knapp, [in:] K. Kuczyński, A. Kozłowski, B. Miązek (Hg.), Polska- -Austria. Drogi Porozumienia, Łódź, S. 128-141.

Mehnert E., 2014, Wladimir Kaminer – der ‚gute Russe‘ aus Berlin, [in:] R. Cornejo, S. Piontek, I. Sellmer, S. Vlasta (Hg.), Wie viele Sprachen spricht die Literatur?

Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa, Wien, S. 108-124.

Palej A., 2004, Interkulturelle Wechselbeziehungen zwischen Polen und Österreich im 20.

Jahrhundert anhand der Werke von Thaddäus Rittner, Adam Zieliński und Radek Knapp, Wrocław.

Reichensperger R., 1995, Mit starker Rückhand, „Der Standard“ 17.02., S. 7.

Šklovskij V., 1994, Kunst als Verfahren, [in:] J. Striedter (Hg.), Russischer Formalismus.

Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München, S. 2-35.

Sorko K., 2007, Die Literatur der Systemmigration, München.

Weinberg M., 2014, Was heißt und zu welchen Ende liest man Migrantenliteratur?, [in:] R. Cornejo, S. Piontek, I. Sellmer, S. Vlasta (Hg.), Wie viele Sprachen spricht die

Litera-tur? Deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa, Wien, S. 15-36.

Summary

„We, the Slaves, are terribly sensitive...” The creation of external and self-images in Radek Knapp’s prose works

The influence of the foreign-born writers on the German-speaking literature is nowadays undisputed. In contrast to the so-called ‘migration literature’ (although the most authors fight against categorizing their literary works as ‘migration literature’, finding the term demeaning and ghettoized) in Germany, the writers of non-German mother tongue or non-German-speaking background in Austria have not received much academic attention so far.

Radek Knapp (born in 1964 in Poland) belongs to the most distinctive Austrian au-thors, whose texts are mostly interpreted in the context of migration. He moved from Warsaw to Vienna in the age of 12 and defined himself to be expressed in German there-fore dedicating his literary career mostly to German-speaking readers, although simulta-neously taking his unique position between two cultures. For more than two decades his novels constantly gain popularity among the reading public. It is due to his protagonists who usually represent a group of cross-border commuters whose perceptively observa-tions and satirical comments of Austrian as well as Polish reality make (otherwise famil-iar) surroundings appear unfamiliar or even exotic.

The aim of the study is to investigate the creation of external and self-images in two most popular prose works of Radek Knapp: his literary debut from 1994 – the short story collection titled Franio and the novel Herrn Kukas Empfehlungen (Mr. Kuka’s Recom-mendations), published in 1999. Of particular interest is the confrontation of East and West, which defines the basic structure of Knapp’s works, including the use of stereotypes. Key words: Austrian literature, stereotypes, migration literature, alienation effect, external-

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