Małgorzata Kubisiak
Die "Volksmärchen der Deutschen"
von Johann Karl August Musäus und
deren Rezeption in der Romantik
Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica 2, 171-183
2000
A C T A U N I V E R S I T A T I S L O D Z I E N S I S F O L IA G E R M A N IC A 2, 2000
M ałgorzata Kubisiak
D IE V O L K S M Ä R C H E N D E R D E U T S C H E N V O N JO H A N N K A RL A U G U ST M U SÄ U S U N D D E R E N R E Z E P T IO N IN D E R R O M A N T IK
1. In seinen 1786 herausgegebenen Litterarischen Reisen durch Deutschland, einer kleinen L iteraturgeschichte in Reisebriefen, k o m m t F riedrich Schulz nach W eim ar. N achdem er d er R eihe nach längere A b sch n itte W ieland, H erd er u n d G oethe gewidm et h at, erw ähnt er „drey W eim arische[n] G eleh- rte[n]‘11: Jo h a n n Joachim C h risto p h Bode, Jo h a n n K arl A ugust M u säu s und Friedrich Justin Bertuch. Z u M usäus verm erkt Schulz u n d faß t den C h a rak ter dessen literarischer W irkm ächtigkeit p rä g n a n t zusam m en:
D ie Iitle ra rish e C e le b ritä t dieses M a n n es h a t sich so a u f ein m al u n d so allgem ein v erb reitet, d a ß ich kein ähnliches Beyspiel in u n serer L itte ra tu r w ü ß te. A b e r seine M an ier h a t auch allerdings seh r viel Eigenes u n d O riginelles.2
D as ,,Eigene[s] und Originalle[s]“ der M usäusschen Erzählw eise w ar dem literarischen Publikum des 18. Ja h rh u n d erts nicht u n b e k a n n t. Z w ar erregte sein erster, an o n y m 1760-1762 h erausgegebener R o m a n Grandison der
Zweite o der Geschichte des Herrn von N.*** kein großes A ufsehen, doch
die 1778-1779 - w iederum anonym - erschienenen Physiognomischen Reisen, a u f die hier Schulz anspielt, w aren ein bedutender Erfolg.
D ie Physiognomischen R eisen erw eckten das Interesse H am an n s, der hartnäckig versuchte, den A u to r des R om ans zu identifizieren. Im B rief an Linder vom 27. D ezem ber 1778 fragt er: „Ist der Verf. d er physiognom ischen Reisen nicht d o rt bekannt. Ich habe den 2ten H eft sehr interessant gefunden“ ,3
und im B rief an H erd er von 21. F e b ru a r 1779: „ Ist Ihnen au ch d er Verf. 1 F . Schulz, L ite ra risc h e Reisen durch Deutschland, Leipzig 1786. ln : Kleines A rch iv des
achtzehnten Jahrhunderts, m it einem N achw . hrsg. von Ch. Weiss, R. W ild, St. In g b ert 1996, S. 79.
2 E b d ., S. 80.
3 J. G . H a m a n n , Briefwechsel, h rsg. von A . H enkel, B d . 4, W iesb ad en 1859, S. 37. [171]
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d er physiognom ischen R eisen nicht bek an n t?“ 4 Im Brief an H erd er von 13. D ezem ber 1779 m u tm a ß t er: „Ich h alte den V erfaßer der physiognom ischen R eisen für eben den M . H ase d er in Curl, m ein N ach b a r und guter F re u n d w ar“ .5 H an s Ja k o b von A uersw ald bittet er im B rief vom 03. A u g u st 1780 „die physiognom ischen Reisen bey Gelegenheit nicht zu vergeßen, 6
U nd im B rief an H erder vom 25. O k to b er 1780 berichtet er über die L ek tü re des R om ans: „ D er physiognom ische R eiseschreiber scheint m ir ein hom uncio lepidissimus zu seyn - ich habe seine vier Bändchen m it Vergnügen kürzlich w iderholt“ .7 Als d er A u to r d er Physiognomischen Reisen schließlich b e k an n t w urde, frag t er ihn im Brief vom 05. A ugust 1781: „W as ist ihr M usäus für ein M ann, der jungst für den w ahren Verf. der physiognom ischen reisen proclam irt w orden?8
D e r E rfolg der Physiognomischen Reisen w urde aber bald durch die fü n f B ändchen d er 1782-1786 in G o th a erschienenen Volksmärchen der Deutschen9, einer Sam m lung von achtzehn M ä rc h e n 10, übertroffen. D ie Volksmärchen
der D eutschen11 erfreuten sich großer Popularität: 1787-1788 erschien die „N eue Auflage“ 12, 1795-1798 ein R aubdruck13 und 1804-1806 die W ielandsche A usgabe m it dem vom ursprünglichen abw eichenden Titel Die deutschen
Volksmärchen
.u
D er Rezensent der „Allgem einen L iteratu r-Z eitu n g “ lobte 1789 des Verfassers „H u m o r u n d W itz“ 15 und in der .A llgem einen D eutschen B ibliothek“ prophezeite m an nach dem E rscheinen der VdD: „Sechs M essen lang wird es V olksm ärchen regnen“ .16 Zu den Liebhabern des M ärchenbuches4 H a m a n n , Briefwechsel, Bd. 4, S. 58. s E b d ., S. 141.
6 E b d ., S. 207.
7 E b d ., S. 231. L epidus b ed eu tet zierlich, an m u tig u n d auch, w as h ier zu treffen m ag. gefällig, heiler u n d au ch drollig.
8 E b d ., S. 318.
9 J. K . A . M u säu s, Volksm ahrchen der Deutschen. Erster [bis: F ü nfter] Theil, G o th a 1782-1786. Vgl. Erstausgaben deutscher D ichtung. Eine Bibliographie zur deutschen L iteratur
1600-1990 , A ufl. 2, S tu ttg a rt 1992, S. 112.
10 D a v o n bilden die fü n f Legenden von R üb ezahl einen geschlossenen Zyklus. u im folgenden wird fü r den Titel d e r Volksm ärchen der Deutschen d ie A b k ü rz u n g VdD
verw endet.
12 J. K . A. M u säu s, Volksm ahrchen der Deutschen. Erster [bis: F ü n fter] Theil, N eue A u flage, G o th a 1787-1788.
13 J. K . A. M u säu s, Volksmahrchen der Deutschen. E rster [bis: fü n fte r ] Theil, n u r 1, Bd. m it dem Z u satz: von M usäus, F ra n k fu rt und Leipzig 1795, Bde. 2-5 , P ra g 1796-1798.
,4 Die deutschen Volksmahrchen von Johann [K a rl] A ugust M usäus, h rsg. v o n C. M . W ielan d , G o lh e 1804-1805.
JS Z it n ach : M . G ra tz , D as M ärchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum
Volksm ärchen, S tu ttg a rt 1988, S. 233.
16 Z it. nach: G . 1. F in k , Naissance et apogee du conte m erveilleux en A llem agne 1740-1800, Paris 1966, S. 468.
Die Volksm ärchen der Deutschen von J.K.A. Musäus 173
zählte au ch H am an n : D em B rief an Jo h a n n G eo rg Scheffner vom 07. O ktober 1784 fügt er als P ostscriptum hinzu: „K a n n m ich am d ritte n T heil der V olksm ährchen nicht satt lesen“ .17
2. D ie ro m an tisch e M ä rch e n fo rsch u n g h a tte fü r d as au fk läre risch e - u n terhaltende und unterrichtende - „Spiel“ der P hantasie, m ith in für dessen pragm atische D im ension, kein V erständins. D en n nicht einen „launig- ten“ 18 Schriftsteller, dessen hum oristischer Stil a u f dem W iderspiel k o m binatorischen W itzes und analytischen Scharfsinns basierte, wollte m a n in dem A u to r eines M ärchenbuches sehen, sondern die G a ttu n g „M ä rc h e n “ b rauchte einen In itia to r, der das W erk angefangen h at, es aber n ich t zu r V ollendung h a t bringen können.
D as Erscheinen d er Kinder- und Hausmärchen d er B rüder G rim m15
1812-1815 m a rk ie rte den w ichtigsten E in sch n itt in d e r G eschichte des M ärchens, ln weiten Teilen d er M ärchenforschung galt die G rim m sche Sam m lung von n u n an als N orm m it universellem G eltungsanspruch, an der alle Texte - auch retrospektiv - gemessen w urden. D er F o rsch u n g s glaube d er unverfälschten A ufzeichnung aus dem V olksm und, die begrif fliche G leichsetzung d er M ärchen der G rim m schen Sam m lung m it „V olks m ärchen“ und die Fixierung des G rim m schen V olksm ärchens als K in d e r m ärchen im plizierten, d aß d er von den B rüdern G rim m in den K H M entwickelte Stil - d er „ M ä rc h e n to n “ - zum In d ik a to r des eigentlich M ä r chenhaften w urde. D ie Ä nderungen, die von d er zweiten A uflage d e r K H M von 1819 an von W ilhelm G rim m vorgenom m en w urden, sowie die T a t sache, d a ß die B edeutung des von den B rüdern G rim m benutzten Bergriffes der „T reu e“ nicht eindeutig festigelegt w ar, w urden — sow eit bek an n t und reflektiert - weitgehend ausgeblendet. D ie P olarisierung in S to ff und F o rm sollte nach diesem A nspruch program m atisch aufgehoben sein; die A usrich tung an den Eigenheiten des „Stoffes“ , denen der D ichter zum A usdruck verhelfe, w urde von d er Idee einer objektiven, geschichtslosen A ngem essen heit geleitet, die als G estaltw erdung und nicht im Sinne eines A rsenals frei verfügbarer F o rm e n aufgefaßt w urde. Als entscheidendes K riteriu m zur Klassifizierung eines T extes als M ärchen galt d ah er die entw eder negativ oder positiv bew ertete schriftstellerische F reiheit in d er U m - u n d A usges taltung des „Stoffes“ - im m er gemessen am G rim m schen „ M ä rc h e n to n “ .
17 J. G . H a m a n n , Briefwechsel, hresg. von A. H enkel, Bd. 5, F r a n k fu r t a .M . 1965, S. 228. 18 Als „lau nig ten Schriftsteller“ bezeichnete M u säu s H e rd e r. In: A n d en ken des Professor
Musäus. A n seinem Begräbnistage, 30 O ktober 1787, dem S tiftu n g sta g e H erzog W ilhelm E rnst,
A bgedruckt in: J. G . H e rd e r, Säm tliche W erke X X X , h rsg. von. B. S u p b a n , H ieldesheim 1968, S. 138.
Is Im folgenden wird fü r den Titel d er Kinder- und H ausm ärchen d ie A b k ü rz u n g K H M verwendet.
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3. D ie VdD finden E rw ähnung in einer A n m erkung in der V orrede zum ersten Band d er K H M von 1812.20 D ie VdD und die m iterw ähnten
Neuen Volksmährchen der Deutschen von Benedikte N au b ert fü h rt W il
helm G rim m als Beispiele für Sam m lungen an, deren A u to ren vor allem Sagen b earbeitet hätten: „M u säu s und N a u b e rt verarbeiteten m eist, was wir vorhin L ocalsage n an n ten Eine W ertung zuungunsten M u sä u s’ scheint sich schon hier abzuzeichnen. D er d ritte der genannten A utoren: O tm ar, ein Pseudonym des Schriftstellers Jo h a n n C arl C h risto p h N ach- tigal aus H alb erstad t, der 1800 eine Sam m lung m it dem Titel Volcks-
Sagen herausgegeben h at, wird m it dem P rädikat: „der viel schätzbarere
O tm a r“ 22 versehen, obw ohl er n u r Sagen und keine M ärchen bearbeitete. Offensichtlich w ar es die A rt dieser Bearbeitung, die W ilhelm G rim m positiver urteilen ließ. A usführlicher geht W ilhelm G rim m a u f die VdD im A ufriß zur Geschichte des M ärchens ein, der sich im 1822 erschie nenen A nm erkungsband zu den K H M findet.23 E s ist hier von Bedeu tung, d aß die VdD als die erste deutsche Sam m lung fungieren, in der n ich t ausschließlich Sagen b earb eitet w ürden. M u säu s erscheint dah er im L ichte dieser A usführungen als der erste in D eutschland, d er sich d er genuin m ärchenhaften T rad itio n zuw andte. Freilich finden nicht alle M ärchen M u säu s’ E rw ähnung. G en an n t w erden n u r fü n f von insgesam t vierzehn: Die drei Schwestern, Richilde, Rolands Knappen, Ulrich m it dem
B ühel u n d Die N ym phe des Brunnens. D as K rite riu m d er getroffenen
A usw ahl ist die eigene Sammlung: die A ufzählung w ird m it dem Satz 20 D ie VdD w erden zum ersten M al in d er Ankündigung der altdänichen Heldenlieder W ilhelm G rim m s von 1810 erw äh n t. W ilhelm G rim m beschreibt hier k u rz die In h a lte der gep lan ten Ü b ersetzung. Einen d av o n b eschreibt er folgenderm aßen: „... d ass d e r B ru d e r die verlorene Schw ester au fsucht u n d in M eeresgrund findet, wo sie ein w ilder Z a u b e re r in seinem W asserschloss h ält, d e r d a s M enschenfieisch w ittert, u n d vo r dessen W u th ihn d ie Schwester sch ützt, bis sie endlich erlö st w erden.“ W. G rim m , A nkündigung d er alldänischen H eldenlieder. In : ders., Kleinere Schriften, hrsg. von G . H inrichs, Bd. 1, Berlin 1881, S. 190. Z u dieser in h altlich en W iedergabe einer Episode, die sich äh n lich in den Büchern der Chronika der drei
Schwestern von M u säu s findet, m ark t er an: „ A u ch M u säu s h a t dieses M ä rc h e n bearbeitet,
a b er in seiner M an ier, n ich t einfach und g erad , wie w ir es n o ch lieber h ö ren ; K in d e r nicht an d e rs.“ E b d ., S. 190.
21 W . G rim m , Vorrede zu Kinder- und H ausm ärchen. Gesam melt durch die Bruder Grimm, B erlin 1812, S. X IX , zit. n ach: Vergrößerter N achdruck der zweibändigen Erstausgebe von 1812
und 1815 nach dem H andexem plar des B rüder-G rim m -M useum Kassel m it säm tlichen handsch riftlichen K orrekturen und Nachträgen der Brüder Grimm sowie einem Ergänzungsheft: Trans- priptionen und K om mentare in Verbindung m it Ulrike M arguardt von H einz R ölleke, G ö ttin g en
1986.
22 E b d., S. X IX .
22 W. G rim m , Literatur, In: Kinder- u n d Hausm ärchen. G esam m elt durch die Brüder
Grimm , Bd. 3, A ufl. 3, G ö ttin g en 1856, S. 325 f., zit. nach: Brüder Grimm. Kinder- und H ausm ärchen, ausg. letzter H a n d , hrsg. von H . RöJleke, durchgesebene und bibliographisch
Die Volksm ärchen der D eutschen von J.K.A. M usäus 175
eingeleitet: „M ärc h en in dem Sinne unsers Buchs sind folgende“ .24 F ü r drei M ärchen M u sä u s’: Richilde, Rolands Knappen und Die N ym phe des Brun
nens w erden Vergleiche m it den M ärchen aus den K H M ausgewiesen. Am
ausführlichsten w ird das M ärchen Die drei Schwestern behandelt, dessen hier genannter Titel von dem O riginaltitel M u sä u s’ abw eicht (der O riginal titel aus dem VdD lau tet Die Bücher der Chronika der drei Schwestern).
Die drei Schwestern lautete der Titel des M ärchens, das sich u n ter N r. 82
im ersten B and der ersten A uflage d er K H M von 1812 fand. Z u diesem M ärchen wird angem erkt:
D ieses M ä rc h e n w ird o ft g eh ö rt, a b e r allezeit stim m t es d e r S ache n a c h m it d er au c h zum V o lksbuch gew ordenen E rzäh lu n g des M u säu s, so d a ß m an es a u c h h ier so fin d en w ird.22
In die zweite Auflage von 1819 werden Die drei Schwestern nicht übernom m en. D er alleinige G ru n d scheint die N ähe dez eigenen Version zu M u sä u s’ M ärchen zu sein. Ja co b G rim m bezeichnet das M ärchen Die drei Schwestern in B rief an A rnim von 7 Ja n u a r 1813 als
... d a s schlechteste M ä rc h e n d e r ganzen Sam m lu n g [...] d a s b lo s a u s M u s ä u s ausgezogen ist, und w iewohl unstreitig ach t u n d unerfu n d en feh lt ihm durch w eg d a s F rische der m ü n d lich en E rz äh lu n g .26
Als E rg än zu n g zu diesem aufschlußreichen, aber inhaltlich kn ap p en Hinweis fungiert d er Schlußteil d er V orrede zu d er zweiten A uflage der K H M von 1819. M usäus wird zw ar in dieser V orrede nicht genannt, doch die von W ilhelm G rim m verw endete Begrifflichkeit läß t die Schlußfolgerung zu, seine A usführungen betreffen auch die VdD. Im allgem einen w iederholt W ilhelm G rim m in der V orrede von 1819 die A rg u m en tatio n aus den V orreden zum ersten u n d zweiten B and d er ersten A uflage den K H M von 1812 und 1815. A n m anchen Stellen aber w erden seine A ussagen präzisiert, m anches wird ausführlicher dargestellt und m anches w eggelassen.27 A u sfü h r licher und auch viel offener als in den vorhergehenden V orreden (was allerdings als A bw ehrhaltung gegenüber w om öglichen E inw änden verstanden w erden m ag) legt W ilhelm G rim m die G ru n d satz d er A rbeit an den K H M dar. In d er V orrede von 1812 stellt W ilhelm G rim m fest:
26 E b d ., S. 337.
2S Kinder- und Hausm ärchen. Gesam melt durch die Brüder Grimm , Bd. 1, B erlin 1812, S. LV (A n m erk u n g : Z u den drei Schwestern, N r. 82), zit. n ach: Vergrößerter N achdruck der
zweihändigen Erstausgabe von 1812 und 1815... .
20 J. G rim m , B r ie f an A ch im von Arnim , 07.01.1813, zit. nach: H . R ölleke, [A nhang]. In: J. und W . G rim m ; Kinder- und Hausm ärchen Ausgabe letzter H a n d m it den Originalanmerkungen
der Brüder Grim m ..., h rsg . von H. R ölleke, Bd. 3, Aufl. 3, S tu ttg a rt 1994, S. 533 f.
27 Vgl. H . R ölleke, D ie M ärchen der Brüder Grimm, M ü n ch en , Z ü ric h 1895; vgl. ders., [N achw ort]. In: J. und W . G rim m , Kinder- und H ausm ärchen, B d. 3.
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In diesem Sinne [d.h. im Sinne d er S am m lung d er B rüder G rim m - M .K .] ex istirt n och keine S am m lung in D e u tsch land , m an h a t sie fast im m er n u r als S to ff b en u tzt, um grössere E rzäh lu ng en d a ra u s zu m achen, d ie w illkührlich erw eitert, v erän d ert, w as sie auch son st w erth seyn k o n n ten , d o ch im m er den K in d e rn das Ih rige au s den H ä n d e n rissen, und ih n en n ichts d a fü r g ab en .28
D iese kurze Bem erkung, m it der oben genannten A n m erkung zu M usäus un d anderen versehen, wird in d er V orrede von 1819 zu einer langen A u sfü h ru n g ausgew eitet. N achdem eindeutiger als v o rh er a u f d ie ver schiedenen V ersionen d e r einzelnen M ä rch e n als a u f Ä u ß e ru n g e n des „G eistes“ und keine „A bänderungen und E ntstellungen eines einm al dege- wesenen U rbildes“ 29 eingegangen und die Bedeutung der m u n d artlich en A ufzeichnung beto n t w ird, leitet W ilhelm G rim m in einer fast w örtlichen W iederholung aus der V orrede von 1812 zum zweiten Teil m it dem Satz über:
ln d iesem S inne g ib t es un sers W issens so n st k ein e S am m lungen v o n M ä rc h e n in D e u tsch la n d .30
D iesm al beläßt es aber Wilhelm G rim m nich bei bloßer E rw ähnung seiner un d seines Bruders Pionierleistung. E r versucht, die E igenart d er eigenen Sam m lung in A bgrenzung von anderen Sam m lungen deutlich herauszustel len. F ü r die nähere Bestim m ung der K H M zitiert er als negative Folie all diejenigen Sam m lungen, in denen M ärchen lediglich als ein zu b earbeiten d er „ S to f f “ benutzt w urden; zum Schluß der V orrede weist er au sd rü ck lich d a ra u f hin, d aß sich seine K ritik nu r gegen Sam m lungen richtet, die sich seiner A n sic h t n ach als unzulässige B earbeitungen volkstüm licher M ä rch e n ü b erlieferu n g erweisen. G egen „ein freies A uffassen derselben [d.h. d er M ä rch e n - M .K .] zu eignen, ganz der Zeit angehörenden D ich tu n g en“ 31 h ab e er aber nichts einzuwenden. D as bedeutendste A rgum ent, d as er in A nschlag gegen solche B earbeitungen brin g t, ist ästhetisher N a tu r. A uch d er Sam m ler sei in W ilhelm G rim m s V erständnis ein D ich ter, d er um gestaltet. Diese U m gestaltung dürfe aber nicht als „W illk ü r“ m iß v erstan d en w erden. W ilhelm G rim m fo rm u liert in aufschlußreicher M etaphorik:
A b e r es ist d o ch ein großer U nterschied zwischen jen em h a lb u n b ew u ß ten , d em stillen F o rttreib e n d er Pflanzen ähnlichen u n d von d e r u n m itte lb are n L ebensquelle g e trän k ten E in falten u n d einer absichtlichen, alles nach W illkür zusam m en k n ü p fen d en u n d au ch wohl leim enden U m än d eru n g : diese ab er ist es, welche w ir n ich t billigen k ö n n e n .32 28 W . G rim m , Vorrede, 1812, S. X V IU Γ.
19 W . G rim m , Vorrede, zur 2, A ufl. d er K l i M , 1819, zit. nach: J. und W . G rim m , K inder- und H ausm ärchen, B d. 1, S. 22.
30 E b d ., S. 22. 31 E b d ., S. 24. 32 E b d ., S. 23.
Die Volksm ärchen der D eutschen von J.K.A. Musäus 177
D ie „U m än d eru n g “ sei dem „ S to f f1 heteronom und bedeute einen be w ußten E ingriff in die ursprüngliche E inheit; einen E ingriff, d er die dem „ S to f f1 innew ohnende K ra ft in ihrem „O ffenbarungsdrang“ hem m t. Im G egensatz zu diesem bew ußten A k t sei d as „E in falten “ ein H an d eln , dessen eigentlicher Beweggrund nicht auszuweisen sei und d er dem W esen des G egenstandes, dem m an sich zuw endet, zum A usdruck verhelfe. D e r D ich ter sei nu r ein - freilich besonders begabter - V erm ittler, dessen einziger O rientierungspunkt der „ S to f f1 selber ist. Ziel seines T u n s ist, die volks m äßige Ü berlieferung vo r dem Vergessen zu bew ahren. D a rin sei er ein R ep räsen tan t des Volkes, a u f dessen objektiven „ G e ist“ 33 er sich verlassen solle. W ilhelm G rim m b eto n t, d aß w ährend dieses als „n atü rlich fen]34
bezeichneten T uns „d er G eist des Volkes in dem Einzelnen w altet und einem besondern G elüsten vorzudringen nicht erlau b t“ .35 In den b ean stan deten B earbeitungen konzentriere m an sich dagegen a u f d as Subjektive, die eigene „B ildung“ 36 und a u f die eigene „A nsicht“ .31 B ekannt sind die W orte Wilhelm G rim m s: „... in diesen V olks-M ärchen liegt lau ter urdeutscher M ythus, den m an für verloren gehalten ... “ ,38 U nd aufschlußreich ist ein Bild aus dem A nm erkungsband:
D ies M ythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen E delsteins, die a u f dem von G ra s und B lum en ü b erw achsenen B od en z erstreu t liegen u n d n u r von d em schärfer blickenden A uge entd eck t w erden. D ie B ed eu tu n g d a v o n ist län g st verlo ren , a b e r sie w ird n o ch em pfu n d en , und g ib t dem M ärch en seinen G e h a ll, w ährend es zugleich die n a tü rlic h e L u st an dem W u n d e rb a re n befriedigt; niem als sind sie b loßes F arb en sp iel g eh altloser P h a n tasie .39
D er einfühlsam e Sam m ler kö n n e aber die B edeutung d e r „Z eugnisse“ im Hinblick a u f das G anze des M ythos entziffern. D ieser wissenschaftliche W ert gehe aber verloren, wenn die persönliche Perspektive des B earbeiters sich vo r d en „ S t o f f4 d rän g e u n d die „Z eugnisse“ n ich t - d u rc h ih n hindurch - sprechen lasse. Z w ar seien au ch diese B e arb eitu n g en von einigem Interesse. U n te r ästhetischem G esichtspunkt seien zw ar auch die Bearbeitungen von einigen Interesse. W ilhelm G rim m betont, m a n k ö nne in ihnen „F ein h eit“ , „G eist“ „W itz, der die Lächerlichkeit d er Z eit m it hineinzieht“ und auch „ein zartes A usm alen des G efühls4“10 finden, aber in all diesen Eigenschaften verfehle m an jedoch das Eigentliche: die U nm
ittel-33 E bd. 34 E b d . 35 E b d . 36 E bd. 37 E bd. 38 W. G rim m , Vorrede, 1815, S. V ll f. 39 W . G rim m , Literatur, S. 421. 40 W . G rim m , Vorrede, 1819, S. 23.
17 8 M agtorzata Kubisiak
b ark eit ebendieses G efühls, denn die Poesie w irke, „w o sie d ie Seele trifft“ .41 Im G egensatz dazu sei das ästhetische Prinzip dieser ,,sogenannte[n] Bearbeitungen, welche die M ärchen zu verschönern und poetischer auszustatten Vorhaben“ 42 Reiz, d e r zw ar den G egenstand augenblickhaft interessant erscheinen läß t und d er die A ufm erksam keit des Lesers a u f den „ S to f f “ ziehe, d er sich aber in Iteratio n , a u f die er angewiesen ist43, erschöpfe. Die R eiz-Ä sthetik kö n n e zw ar unterhalten, doch diese U n terh altu n g sei von keinem d auerhaften „ N u tz e n “ :
D ie geü b te H a n d solcher B earb eitu n g en [...] k a n n u n s m itte n im R eich tu m n ich t sättigen un d trä n k e n .44
D ie K ateg o rie der subjektiven E rfindung erweise ihre U nzulänglichkeit in der E rkenntnis der G egenstandes gerade d ort, wo sie besonders „reizend“ sein will; im Bereich des M ythos:
G a r wo a u s bloß er E in b ild u n g sk ra il die M y th o lo g ie m it ih ren Bildern soll an g eschafii w erden, wie k ah l, innerlich leer und g estalüos sieht d an n tro tz d e n besten u n d stärksten W o rten alles aus!45
M ythologische „B ilder“ sind „leer“ , weil sie nichts bedeuten, d.h. a u f nichts verweisen, u n d weil sie sich nicht zu einer G estalt zusam m enschließen. D abei m uß angem erkt w erden, daß der Begriff der U nterhaltung prim är u n ter einem quasi technischen A spekt verstanden w ird. Es geht um die U n terh altu n g des Geistes im Z ustand ständiger Gespanntheit; diese U nterhaltung k an n aber sehr w ohl zum Zwecke m oralischer U nterw eisung genutzt w erden.
4. D ie K älte und Leere des aufklärerischen W itzes, der u n terh alten will, sind in der F orschungsgeschichte d er VdD Signalw orte. Im aufklärerischen U m feld w ar d er Begriff des W itzes positiv ko n n o tiert. Bei L udw ig Tieck und A chim von A rnim än d ert sich der G ebrauch des Begriffs. D er auf klärerische W itz steht von n u n an für das U npoetische. D eutlich zeigt sich diese W andlung der K o n n o ta tio n im Tieckschen Phantasus. In d er ersten A bteilung des Phantasus wird in einer kleinen G esellschaft ü ber M ärchen gesprochen. M a n versucht, es zu definieren; d er N am e M u säu s' fällt gleich am A n fan g des G esprächs. C lara, die an diesem G espräch teilnim m t, seien die „w itzigen“ M ärchen, die M ärchen H am iltons und die „dahlenden im F een-C abinet“ „von je verhaßt gewensen“ .46 U nter diese „w itzigen“ M ärchen w erden von ihr auch die VdD subsum iert:
41 E b d ., s . 23. 42 E b d ., S. 24. 45 E b d ., S. 23 f. 44 E b d ., S. 24. 45 E b d .
40 L. T ieck , Phantasus, In:j ders., Schriften in z w ö lf Bänden, hrsg. v o n M . F ra n k u.a., F r a n k fu r t a .M . 1985, Bd. 6, S. 105.
D ie Volksm ärchen der D eutschen von J.K .A . M u säu s 179
... u n d u n serm M u säu s bin ich o ft rech t böse gewesen, d a ß er m it seinem sp a ß h aften T o n , m it seiner M an ier, den Leser zu necken u n d ih m q u e r in seine E m p fin d u n g und T ä u sc h u n g hinein zu fallen, o ft d ie sch önsten E rfin d u n g en und Sagen n u r en tstellt und v erd o rb en h a t.47
Tieck, M u säu s’ N achfolger in der N ovellensam m lung Sttraußfedern, galt schon im U rteil A rnim s als einer, dem die VdD wenn nicht zum V orbild, so jedenfalls als Folie gedient haben. Im B rief an W inckelm ann von 24. Septem ber 1801 schreibt A rnim , die VdD h ä tte n ihm „m anche Stunde angenehme Gesellschaft geleistet“ 48, er weist a u f drei unter ihnen: Liebestreue,
Stum m e Liebe und Der geraubte Schleier his und beto n t deren Bedeutung
für Ludw ig Tiecks 1797 in Berlin erschienenen Volksmährchen herausgegeben
von P eter Leberecht:
... es ist schön, wie so ein D ic h te r im m er a n dem F rü h e re n im m er h ö h er e n tb re n n t; o hne diese m ö ch ten T iecks V olksm ärchen n ie en tstan d en sein.49
Schon vor dem Erscheinen der G rim m schen Sam m lung w erden die VdD also als M ä rc h e n angesehen, die in ihrer fo rm alen A u sg estaltu n g als überholt erschienen.50 In demselben B rief schreibt A rnim :
N ich ts veraltet schneller als W itz, d a ru m ist m anches in diesen E rzählungen so u ngenießbar, wie zersch n itten er R ettig im H eringssalat, gew orden. M a n beiß t d a ra u f, und h a t m an endlich lange gebissen, so h a t m an n ichts als d e n scharfen G e sch m ack .51
In d er „Z eitung für Einsiedler“ k o m m t A rnim 1808 noch einm al a u f die
VdD zu sprechen. Bei dem Vergleich der VdD m it dem Neuen Volks mährchen52 von Benedicte N au b ert kom m t er zum Schluß, M u säu s habe
die „E igentüm lichkeit“ der Sam m lung von N au b ert, die er ausdrücklich lobt, nie erreichen können. E in „g u ter Schriftsteller“ kritisierte die N au b er- tsche Sam m lung als eine unglückliche N achahm ung der VdD\ dagegen w endet A rnim ein:
47 E b d., S. 105.
48 Z it. n ach : R . Steig, A ch im von A rn im u n d Clemens Brentano, S tu ttg a rt 1894, S. 24. 49 E b d., S. 24.
50 In sg esam t bem ängeln die R o m a n tik e r den „ T o n “ d er M ärch en v o n M u säu s. Jo sep h Görres verm erk t in d e r E in leitu n g zu seinen D eutschen Volksbüchern: „... m eh rere a u s M u säu s a b g edru ckte V o lkssagen sind zw ar n ich t u n zw eck m äß ig g ew äh lt, obgleich d e r in ih n en herrschende T o n keineswegs eigentlicher V olkston und ih re N a iv e tä t n ich t V olk sn aiv etät ist.“ J. G ö rre s, Einleitung z u den Volksbüchern. In: H. M ay er (H rsg.), M eisterw erke deutscher
Literaturkritik. A ufklärung, K lassik, R o m a n tik, S tu ttg a rt 1962, S. 694.
51 E b d ., S. 24.
52 [B. N a u b e rt], N eu e V olksm ährchen der D eutschen. E rstes [b is: F ünftes, B ändchen , Leipzig 1789 (Bd. 2 -5 : Leipzig 1791-1793); Volksmährchen der D eutschen von B fe n e d ik te ]
1 8 0 M a g ło rz ala K u b isiak
... unbegreiflich ist dies V erkennen einer reichen E igenthüm lichkeit, a n die M usäus, u n g e a ch te t seines T a len ts nie an reich en k o n n te, n ic h t zu gedenken, d a ß sie rein sind von den w idrigen literarischen A nspielungen d er Zeit, die zu den Zeiten des M u säu s fü r W itz gellen m u ß te n [...].”
N a u b e rt ging in d er U m gestaltung der Sagenstoffe, die sie in ihren Neuen
Volksmahrchen bearbeitet h atte, entschieden weiter als M usäus. N ichtsdes
tow eniger fiel das U rteil A rnim s günstiger für N a u b e rt aus. D ies lä ß t sich d ad u rch erklären, d aß die N aubertsche Sam m lung für A rnim n ich t m eh r in den Bereich d er bloßen B earbeitungen von Sagen und Legenden gehör te, wie das d er F all noch für die B rüder G rim m w ar. D ie VdD p a ß te n in keins dieser Schem ata; sie waren entw eder zu viel oder zu wenig B ear beitung.
5. D ie K onsolidierung der G rim m schen N orm zeigt sich besonders p rä g n a n t bei Ludw ig Bechstein, d er sich in seiner literarischen und th eo reti schen T ätigkeit unm ittelbar an den B rüdern G rim m orientiert und aus diesem G ru n d e im R ahm en des Aufrisses d er rom antischen R ezeption der
VdD zu behandeln ist. Bechstein w ar selber ein erfolgreicher M ächensam m ler
- und dichter, d er seine erzählerische Praxis zeitgem äß zu verorten suchte; die VdD und die K H M boten sich geradezu als G egenpole a n.54 In seiner ersten Sam m lung Thüringische Volksmärchen von 1823 orientiert er sich noch explizit an M usäus. Im V orw ort zu Selinde aus dieser Sam m lung, einer B earbeitung der Sage von G rafen von G leichen, beruft er sich a u f „des vortrefflichen M usäus ergötzliche V olksm ärchen, und vor allem Melech- sa la“ .55 A u ch in seiner D ik tio n leh n t er sich an M usäus a n.56 Im Laufe seiner Entw icklung w endet sich Bechstein von diesem V orbild - w enigstens p ro g ram m atisch - ab. Im V orw ort zum Deutschen Märchenbuch von 1845 stellt er fest, in der G rim m schen Sam m lung fände das M ä rch e n seine V ollendung: „... m a n k ö n n te fast sagen, sie [die K H M - M .K .] m achten jed e andere überflüssig“ .51 In A nlehnung an die G rim m schen A usführungen unterscheidet Bechstein zwischen Sage, M ärchen, M y th o s und Legende, um diesen Befund sogleich ohne explizite N en n u n g a u f M u säu s anzuw enden.
33 A. von A rn im . In: „Z eitu n g fü r Einsiedler,“ 20.07.1808, S. 256.
54 V ol. J. G . K aiser, [Art.] Bechstein, Ludw ig. In: Handwörterbuch des deutschen M ärchens, B d. I, S. 217.
ss L. Bechstein, Thüringische Volksmärchen. In: d ers., Säm tliche M ärchen, vollst. A usg. n a c h d e r A usg. letzter H an d , hrsg. von W . Scherf, M ü n ch en 1988, S. 703. Vgl. W . Scherf, [A nm erkungen], ln : L . Bechstein, S äm tliche M ärchen, S. 889. S cherf bem erk t, d a ß diese „w eitschw eifligen p h antastisch en E rzählu n g en “ d er Thüringischen Volksm ärchen k eine „V o lk s m ärc h e n “ seien; d er T itel also nich zutreffend sei. Vgl. ebd., S. 889.
56 In k u rz e r Z u sam m en fassu n g d e r Sage, d ie ein V orsp an n zu d e r eigentlichen E rz äh lu n g ist, v erw eist e r n o c h einm al a u f d ie M elechsala M u s ä u s ’ als Beispiel e in e r gelungenen E rzäh lu n g . L. B echstein, Türingische Volksmärchen, S. 704.
D ie Volksm ärchen der Deutschenvon J.K .A . M u säu s 181
M an unterscheide imme: noch nicht zwischen Legende, Sage und M ärchen, klagt er ein:
... u n d so begegnet zum Beispiel die Lächerlichkeit des A usdrucks: Legenden vom R ü bezahl.50 D ie an d er G rim m schen Sam m lung gemessenen VdD fallen jetzt in das G ebiet d er „sogenannten M ä rch e n “ 59: die G renzen zwischen Sage, M ythos u n d M ärchen seien in ihnen verwischt und die M ä rch e n seien „novellistisch versp o n n en“ .60 D esh alb sind sie genauso w enig wie die
Neuen Volksmährchen von N a u b e rt „echte deutsche M ä rch e n“ .61 D iffe renzierter als in diesem V orw ort, in dem es vo r allem galt, die eigene Praxis in n o rm ativer A usrichtung zu festigen, erscheint Bechstein in seinem 1854-1855 erschienenen theoretischen H au p tw erk M yth e, Sage, M äre und
Fabel im Leben und Bewußtsein des deutschen Volkes. A ufschlußreicher
als das A ufzeigen d er Q uellen für die einzelnen M usäusschen M ärchen ist sein V ersuch, diese doch „irgendw ie“ zu verorten. Bechstein ist sich der zeitlichen D ifferenz bew ußt. Bedeutsam ist schon d er erste Satz des A bschnittes, den er M u säu s w idm et: M u säu s „ e rra n g sich m it ihnen [den VdD — M .K .] eine vohlverdiente Palm e“ .62 Z u A ugust Bohse verm erkt Bechstein, dieser h ab e „ o h n e richtiges V erstän d n is d e r M ä rch e n p o esie vom heutigen S tan d p u n k te d er B eurtheilung“ 63 geschrieben. D ie Insistenz auf diesem „heutigen S tan d p u n k te“ läß t die teilweise scharfen F o rm u lierungen Bechsteins verständlich erscheinen. In d er Stum m en Liebe seien die sagenartigen E lem ente „glücklich zu einem G an ze n verw ebt ,..“ 64, in den Büchern der Chronika der drei Schwestern h ab e M u säu s die „w i tzelnde^] und ironisierende[n] W eise“ 65 Basiles „glücklich“ 66 nachgeahm t,
50 E bd., s . 374. 50 Ebd. «° E b d . " E b d ., S. 375.
62 L. B echstein, M yth e , Sage, M ä re und Fabel im Leben und Bewußtsein des deutschen Volkes, Teil 2, S. 210. Vgl. L. Bechstein; D as M ärchen und seine Behandlung in Deutschland.
In: Germania. D ie Vergangenheit Gergenwart u n d Z u k u n ft der deutschen N ation, e in g efü h rt durch E .M . A rn d t, Bd. 2, Leipzig 1852, S. 324: „[...] seine M ä rc h e n gefielen, un d dem Publicum , dem sie gefielen, k o n n te es äu ß erst gleichgültig sein, o b nach ih m M ä n n e r k om m en würden, welche, von Ü berzeu g u n g geleitet, sagen m u ßten: ,M u säu s V olk sm ärch en sind kein M ärchen1.“
63 L. B echstein, M yth e , Bd. 2, S. 209. A u g u st B o hse w ar d e r erste d e u tsch en Ü bersetzer der M ärhen der T ausend u n d Einer N a cht: D ie Tausend und eine N acht [...] aus Gotland's
französfischer] U ebersfungJ ins Teutsche übersetzt. M it der Vorrede H rn Talander's [d.i. August Bohse] gedruckt zu m ändern M ahl, 4 Bde., Leipzig 1712. D ie erste A u flag e sei
vermutlich 1710 erschienen. A n g ab e n a c h M . G rä tz , D as M ärchen..., S. 33. « E b d ., S. 213.
« E b d ., S. 212. « E bd.
1 8 2 M agtorzata K-ubisiak
Richilde, „d as M ärchen von Schneewitchen“ 6’, sei aber „w iderw ärtig m o d e r
nisiert und d er A m nuth des einfachen M ärchens völlig entkleidet“ 68, Ulrich
m it dem B ühel fange wie ein M ärchen an, zuletzt aber „w ird ganz m o d ern
erzählte R itterm äre, der d er A n hauch des G eschm acklusen nicht abgeht, welcher alle jene sogenannten V olksm ärchen d er D eutschen, Sagen der V orzeit u. dgl., die m a n m it u n d n ach M u säu s in die W elt sandte, charakterisiert“ 69 und die M elechsala sei in der „einm al sich angeeignet habenden M a n ier“ ’ 0 verfaßt w orden, wobei Bechstein als Beispiel dieser „hoch p o etisch en W o rte“ 11 M u sä u s’, von denen er sich d istan z ie rt, die E pisode m it dem R osenw under der hl. Elisabeth a n fü h rt.’ 2 Ale besonders stilwidrig stuft Bechstein satirische F ärb u n g und Verwicklungen des H a n d lungsverlaufs - „P hantasie-A usw üchse“ , wie er sie nennt - ein, die d er im M ärchen anzustrebenden G rim m schen Einfachheit zuw iderlaufen.’ 3
T ro tz alledem sei M usäus eni V orläufer der B rüder G rim m in ihren B em ühungen um M ärchen. Schon seine Persönlichkeit kö n n e ihn zum M ärchenerzähler prädestiniert haben:
D u rc h und d u rch G em ütbsm ensch, erschien er [M usäus - M .K .] als d er glückliche F in d e r d er W underblum e, d er W iederfinder und W iedererw ecker des verloren gegangenen M ärchens, w enn auch, w as er M ärch en n a n n te , n ich t eigentlich M ä rc h e n sin d .74 M u säu s verdiene [...] d a ß w ir n ich t flüchtig an ih m Vorbeigehen. E r verdient es, weil e r als M ä rc h e n d ic h te r E poche m ach te, o hne d a ß er M ärch en schrieb.75
Finden, was m an nicht gesucht, hat, kann m an ohne weiteres. Die vorsichtigere F o rm u lieru n g , die M ä rch e n von M u säu s seien in uneigentlichem Sinn M ärchen, Findet sich aber ain p aar Zeilen später in eine P aradoxie um gew an delt. Bechstein form uliert vorsichtig. E r bescheingt M usäus d as V erdienst, die A ufm erksam keit der G ebildeten a u f die vergessenen und vernachlässigten Stoffe gelenkt zu haben. A uch d aß er im T ital den n ationalen C h a rak ter seiner M ärchen herausgestellt habe, sei ihm hoch anzurechnen. U nd der Erfolg beweise, d aß ein solches Buch vonnöten w ar. W enn auch die A rt d er Behandlung des Stoffes dem Stilepfmden der G egenw art nicht entspreche,
e7 E bd. 6“ E bd. 69 E b d ., S. 215. 70 E b d . 71 E b d . 72 E b d ., S. 215 f.
73 Bechstein verm erk t in M yth e, Sage, M äre und Fabel im Leben und Bewußtsein des
deutschen Volkes zu den n a c h 1800 en stand enen M ärch en sam m lu n g en : „E s ging einem g roßen
Theile ih re r V erfasser, wie es vielen ju n g en D ic h te rn n o ch ergeht, und wie es u n s selbst beim B eginne u n serer poetischen V ersuche ergangen ist, sie wollen M ärch en un d Sagen schreiben, u n d wissen no ch nicht, w as ein M ärch en ist, u n d wie die M ä rc h e n d ic h tu n g zu b eh andeln;
L. B echstein, M ythe, Bd. 2, S. 225. 74 E b d ., S. 210.
Die Volksmärchen der D eutschen von J.K.A. M usäus 183
... w enn m an sich von dieser C lassicität des Styls und d e r B ehandlungsw eise verletzt ab w e n d e n m uß , d a s V erdienst b leibt M u säu s u n b e s tritte n , glücklich und erfo lg reich an g ereg t zu h a b e n .76
Bechstein beendet den M usäus gewidm eten A bschnitt forsch m it einem aufschlußreichen Satz:
Seine V o lk sm ärchen, die keine w aren , erschienen 1782.71
M ałgorzata Kubisiak
N I E M IE C K I E B A Ś N I E L U D O W E J O H A N N A K A R L A A U G U S T A M U S Ä U S A I IC H
R E C E P C JA W R O M A N T Y Z M IE
W y d an e w lata c h 1782-1786 N iem ieckie baśnie ludowe Jo h a n n a K a rla A u g u sta M u säu sa, znanego oświeceniowej publiczności a u to ra poczytnych P odróży ß zjo g n o m iczn ych , p rzyjęto p o czątk o w o entuzjastycznie, u zn ając je z a w yjątkow o u d a n ą fo rm ę literaryzacji elem entów baśniow ej tradycji u stnej i pisanej o ra z p o d k reślając w alory „do w cipn ej” n arracji.
W w ieku X V III pojęcie „b a śn i” (M ärchen) m iało szerokie znaczenie. Słow niki i leksykony w skazują n a to , iż pojęcia: „ b a jk a ” (Fabel), „ b a śń ” (M ärchen), „ p o d a n ie ” (Sage) i „ legen d a”
(Legende) m ogły być używ ane zam iennie. M u säu s definiuje we w stępie d o swego zbioru
z a ty lu łow an jm Słowo wstępne do pana Dawida Runkela, będącym h um orystyczną au to p rezen tacją pisarza i jego baśni, pojęcie „baśni” jak o „poezję cudow ną” (wunderbare Dichtung), przem aw iającą w sposób szczególny d o w yobraźni czytelnika. T a k a definicja baśni pozw oliła zebrać M usäusow i w swym zbiorze teksty, k tó re według dzisiejszych k ry terió w ok reślo n o by w większości ja k o p od an ia.
U k azanie się w ro k u 1812 pierwszego to m u Baśni dziecięcych i domowych braci J a k u b a i W ilhelm a G rim n ó w było w ydarzeniem epokow ym w histo rii baśni. B aśnie braci G rim m ó w n a d ług o stały się n o rm ą o uniw ersalnym znaczeniu, według k tó re j o ceniano baśnio w o ść tego typu u tw o ró w . P o d łu g ro m antycznej m iary G rim m ó w o ceniano rów nież oświeceniowe baśnie M u säu sa, a ocena ta najczęściej nie w y p ad ała pozytyw nie. A rty k u ł p rzed staw ia recepcję
Niem ieckich baśni ludowych M u s ä u s a u braci G rim m ó w , L u d w ik a T ieck a, A chim a v o n A m im a
i u n aw iązującego b ezp ośrednio d o rom an ty czn y ch koncepcji G rim m ó w L u d w ik a B echsteina, uw y p uklając n a ich przykładzie różnicę w ujęciu fenom enu baśniow ości w oświeceniu i ro m a n tyzmie.
76 E b d ., S. 216. 77 Ebd.