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Widok Die Sprachenschutzcharta und ihre Diskussion in Deutschland und in den Niederlanden zwischen Wissenschaft und Politik

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Wrocław 2012

Dieter STELLMACHER (Göttingen)

Die Sprachenschutzcharta und ihre Diskussion in Deutschland und in den Niederlanden zwischen Wissenschaft und Politik

Abstract

Since 1992 the „European Charter for Regional or Minority Languages” is being discussed in Eu- rope together with opportunities and ways for the protection of lesser used languages, dialects are not rated among these. This points to linguistic diffi culties on how to defi ne regional and minority languages linguistically compatible. This will be discussed in the article with an emphasis on the particular diffi culties of the regional languages. Ultimately everything amounts to a defi nitional practice in which it is essential not to intermingle language politics with linguistic science. This, however, has happened in the discussion about the charter in Germany (with regard to Low German) as well in the Netherlands (with regard to Low Saxon, Limburgish and Zeelandic). The discussions are indirectly a plea for linguistic science to contribute to debates on linguistic politics so that these do not lose their substantial core of matter.

1. Einer der bekanntesten deutschen Sprachpfl eger, Uwe Förster (1935–2000), berichtete über eine 1989 erlebte Philologische Reise nach Polen, ihm sei dort aufgefallen, dass der „Sexismus in der Sprache […] (noch?) kein Thema (ist).

Auch von einer Renaissance der Dialekte, von einer Mundartwelle, von der sprachlichen Aufwertung der Regionen könne keine Rede sein“1. Nun beziehen sich diese Eindrücke, ob zutreffend oder nicht, auf die Verhältnisse vor der politi- schen Wende in Osteuropa und auch vor dem Tag, an dem der Europarat die „Eu- ropäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ beschlossen hatte.

An diesem 25. Juni 1992 wurde eine sprachpolitische Bewegung angestoßen, die nicht wenige sprachwissenschaftliche Fachleute, Dialektologen, Soziolinguisten oder Sprachhistoriker, zu überraschen in der Lage war. Dabei ging es den Char- tainitiatoren im Sinne umfassender Anti-Diskriminierungsbemühungen zunächst nur um „die Schaffung eines sprachenfreundlichen Umfeldes, in welchem die

1 Uwe Förster, Sprachpfl ege auf wissenschaftlicher Grundlage. Beiträge aus drei Jahrzehnten.

Wiesbaden 2000, S. 86–88, Zitat S. 87.

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Minderheitensprachen nicht mehr als Bedrohung, sondern als kulturelle Berei- cherung angesehen werden“2. Weil die Charta Sprachen und nicht Personen schüt- zen will, begründet sie keine juristisch einzuklagenden Individualrechte, sondern will für Sprachen, die weder Amtssprachen noch von solchen überdachte Dialekte sind, einen domänenspezifi schen Schutzraum reservieren.3

Die Sprachencharta kann in ihrer Begründung und ihren Wirkungsabsich- ten nur verstanden werden, wenn nachvollziehbar ist, wie man die Sprachfor- men „Minderheitensprache“ und „Regionalsprache“ defi niert. Das scheint bei den Minderheitensprachen als den Sprachen von Ethnien, die als autochthone Bevöl- kerungsteile einer Mehrheitsgesellschaft gegenüberstehen, weniger schwierig zu sein als bei den Regionalsprachen.4

Die Sprecher von Regionalsprachen empfi nden sich nicht als ethnische Min- derheiten, sondern als Vertreter einer großräumig verbreiteten Sprache, die der Amts- und Standardsprache gegenüber eine deutlich wahrnehmbare Distanz auf- weist. Das kann zwar auch auf Dialekte zutreffen, doch diese werden — wohl aus Praktikabilitätsgründen — vom Chartaschutz ausgenommen, obwohl auch ihnen eine generelle Schutzbedürftigkeit und -würdigkeit nicht abzusprechen ist. Der Chartakommentar5 merkt das an und weist auch darauf hin, dass eine sprachwis- senschaftlich-sprachstrukturelle Unterscheidung zwischen Dialekt und Nichtdi- alekt (= „Sprache“) nicht so einfach ist. Demzufolge ist das Sprachverständnis der Charta in ihrem „normativen Kontext“ zu sehen und nicht als linguistische Defi nition überzubewerten.

2 Andreas Neumann, Sprachensterben in Europa. Rechtliche Maßnahmen zur Erhaltung von Minderheitensprachen. Wien 2009, S. 149. Hier wird auch der europäische Sprachenschutzgedanke in seiner institutionalen Entwicklung nachgezeichnet, Teil III, S. 141 ff.

3 Ob sich aus den Chartabestimmungen wirklich keine Individualrechte ableiten lassen, wird juristisch aber auch bezweifelt, siehe Sigrid Boysen, Peter Hilpold, Christine Langenfeld, Dagmar Richter, Jutta Engbers, Marco Körfgen, Detlev Rein, Klaus Rier, Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Handkommentar. Zürich/St. Gallen 2011, S. 157 und weitere Stellen.

4 Die Problematik der sog. Gesinnungsminderheiten, wo man sich einer Minderheit zugehörig fühlt, ohne ihre Sprache zu können, sei hier ausgeklammert, vgl. dazu Hubertus Menke, ‘Ich bin ein Däne und spreche Deutsch’. Zur Sprachgeschichte und Sprachenpolitik im deutsch-dänischen Grenzraum, in: Roland Marti (Hg.), Sprachenpolitik in Grenzregionen. Politique linguistique dans les régions frontalières. Language Policy in Border Regions. Polityka językowa na prograniczach.

Saarbrücken 1996, S. 137–161, bes. S. 153. Hierher gehören auch die Fälle von wechselndem Sprachbekenntnis, z. B. In Belgien: „Während 1930 noch mehr als 40000 Personen in der Provinz Luxemburg erklärten, deutschsprachig zu sein, waren es 1947 nur noch 7000“ (Peter Hans Nelde, Volkssprache und Kultursprache, Die gegenwärtige Lage des sprachlichen Übergangsgebietes im deutsch-belgisch-luxemburgischen Grenzraum. Wiesbaden 1979, S. 69.) Wie linguistisch zutreffend solche Angaben sind, darf hinterfragt werden. Zweifellos ist hier auch mit Überlebensopportunismus zu rechnen, wie bei den sog. „Speckdänen“: Mit dem Ausdruck wurden Deutsche belegt, die bei der vom Versailler Vertrag geforderten Volksabstimmung 1920 in Schleswig für Dänemark votiert haben.

5 Siehe Fußnote 3, S. 67f., Abschnitte 26, 27.

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2. Um sich mit der Problematik von „Sprache“ und Dialekt vertraut zu ma- chen, bietet sich die Geschichte des Niederdeutschen an. Es hat in seinem 100-jäh- rigen Verlauf einen tiefgreifenden Statuswandel erfahren: von mittelalterlicher großräumig-nordosteuropäischer Verkehrs- und Quasistandardsprache zu einer etwa ein Drittel des heutigen deutschen Sprachraumes einnehmenden ausbauakti- ven Regionalsprache mit dialektalem Sprachstatus („Plattdeutsch“). Dass sich das Niederdeutsche von ebenfalls großräumigen Dialekten wie im Mitteldeutschen dem Fränkischen oder im Oberdeutschen dem Bairischen deutlich unterscheidet, ist seiner Prägung durch innersprachliche Entwicklungen (die Abwesenheit der hochdeutschen Lautverschiebung als auffälligstes Merkmal) und außersprachli- chen Überlieferungen (z. B. dem Mythos der auf die sassische Stammessprache gründenden Eigensprachlichkeit) zuzuschreiben. Während die innersprachlichen Befunde linguistisch unangefochten sind, ist der niederdeutsche Sprachmythos und die an ihn gebundene Vorstellung vom Niederdeutschen als einer soziokul- turellen Einheit Gegenstand langer und kontroverser Auseinandersetzungen.6 In sprachgeschichtlichen Arbeiten ist die hier aufscheinende Problematik auf die Alternative Niederdeutsch — Sprache oder Dialekt? konzentriert worden.7 Eine einfache Umformung dieser Frage in die Aussage, „jeder Dialekt ist eine Sprache, doch nicht jede Sprache ist ein Dialekt“ macht deutlich, dass zwischen Sprache und Dialekt keine Merkmalsidentität vorliegen kann. Das verweist auf sprach- wissenschaftlich Gebotenes, nämlich die Merkmalsdifferenzen zwischen diesen Sprachformen herauszuarbeiten, um zu Kriterien für eine überzeugende Unter- scheidung zwischen ihnen zu gelangen.

Aus Erfahrungen in der Romania, wo es im Verhältnis von Korsisch, Italie- nisch und Französisch eine den deutsch-niederdeutschen Verhältnissen ähnliche Situation gibt, hat Hans Goebl diese soziolinguistisch-sprachgeschichtliche Fol- gerung gezogen: „Jedes Idiom kann prinzipiell von zwei streng voneinander zu trennenden Standpunkten aus betrachtet und damit in weiterer Folge klassifi ziert werden: von 1. einem innerlinguistisch-dialektologischen Standpunkt aus, wobei es um die Analyse der beispielsweise nach Phonetik, Morphologie, Syntax und so weiter beschreibbaren inneren Sprachstruktur des untersuchten Idioms geht, und 2. von einem außerlinguistisch oder auch meta-linguistisch zu bezeichnenden Standpunkt. Dabei ist aufzuzeigen, in welchen sozialen Zusammenhängen und Funktionen das untersuchte Idiom verwendet wird, und auch, wie sich dieses Idi- om seinen eigenen Sprechern darstellt bzw. welchen sozialen Status es für sie hat […]. Es hätte […] gar keinen wissenschaftlichen Sinn, diese beiden Klassifi zie- rungen gegeneinander auszuspielen. Wohl aber hat sich gezeigt, daß aus eindeutig

6 Siehe Friedrich W. Michelsen, Bilden die niederdeutschen Mundarten eine soziokulturelle Einheit? Anmerkungen zu einer aktuellen Frage. In: Niederdeutsches Wort 33 (1993), S. 125–137.

7 Ausführlicher dazu Dieter Stellmacher, Niederdeutsch — Formen und Forschungen. Tübin- gen 1981, S. 5f.: „Das Dilemma des Niederdeutschen: Sprache oder Dialekt?“.

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außerwissenschaftlichen Gründen — im Klartext: aus politischen Gründen — die- se zwei radikal voneinander getrennt zu haltenden Spielarten von Klassifi kationen sehr oft aufeinander bezogen oder gegeneinander ins Feld geführt worden sind.

Wenn dies vonseiten dessen geschehen ist, was man die ‘profane Welt’ nennt, so entzieht sich das der Kritik der Wissenschaft. Es ist aber überaus betrüblich, fest- stellen zu müssen, daß diese Vermischung an sich inkompatibler Sehweisen sehr oft vonseiten der Wissenschaft begangen wurde und noch immer wird“8. Aus die- ser Sicht wird es verständlich, wenn in der französischen Sprachpolitik „Dialekte als unselbstständige Sprachen, (die) grunsätzlich keinen Anspruch auf Schutz hät- ten“, betrachtet worden sind:9 politisch sagbar, wissenschaftlich Unsinn.

Auch die alternative Frage nach dem Status des Niederdeutschen erhält auf diese Weise eine überzeugende, weil wissenschaftliche, also nicht politische Ant- wort: Niederdeutsch ist heute gleichermaßen eine „Sprache“ und ein „Dialekt“, je nach der Sehweise und der herangezogenen Klassifi kation sowie in Abhängigkeit von dem Interesse, das dem niederdeutschen Idiom entgegengebracht wird. Dar- aus ergibt sich eine Berechtigung für den von der Charta angebotenen Sprachen- schutz, denn ein typologischer Dialekt der deutschen Standardsprache ist das Nie- derdeutsche keineswegs, im Gegensatz etwa zum Fränkischen oder Bairischen, wenn es auch von der deutschen Standardsprache überdacht ist und die sich dar- aus ergebenden Beeinfl ussungen auszuhalten hat.

Für die „Sprachlichkeit“ des Niederdeutschen werden vor allem drei merk- malbegründende Feststellungen angeführt:

1. Die Geschichte, die das Niederdeutsche als eine Quasistandardsprache be- zeugt und ihre reiche schriftsprachliche Überlieferung;

2. die tendenzielle Normensetzung im modernen Niederdeutschen, d. h.

Schreibvorschriften, präskriptive Lexika, Gebrauchsgrammatiken, Lehrbücher;

3. der linguale Abstand und eine gewisse Autonomie der deutschen Standard- sprache gegenüber.10 Dementsprechend wird das Inventar der Sprachstatus erwei- tert, sodass ein regionalsprachlicher Status die Status von von Standardsprache und Dialekt ergänzt: „Beim Niederdeutschen handelt es sich […] um eine histori- sche Einzelsprache teils nordseegermanischer Prägung in der Existenzform eines (Kultur-)Dialekts und mit dem Status einer Regionalsprache“11 und: „Het Neder- duits is nu geen taal meer (im Gegensatz zur mittelaterlichen hansischen Quasi- standardsprache, D. St.) waarbij in elk geval noch geprobeerd wordt te komen

8 Hans Goebl, Das Korsische oder: Wie entsteht eine neue Sprache? In: Dieter Messner (Hg.), Scripta Romanica Natalica. Zwanzig Jahre Romanistik in Salzburg. Salzburg 1984, S. 147- 165, Zitat S. 149f.

9 Andreas Neumann wie Fußnote 2, S. 157.

10 Hubertus Menke, Das Niederdeutsche im Kreise der übrigen „weniger gebrauchten Spra- chen“ (Kleinsprachen) im Geltungsbereich der hochdeutschen Kultursprache, in: Plattdeutsch in der aktuellen Politik, hg. vom Landtag Schleswig-Holstein 1991, S. 59–79, bes. S. 69f.

11 Ebd., S. 67.

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tot boven een veelheid van dialecten uitstijgende genormeerde schrijftaal, maar het heeft nu de status van een regionale taal, die zich in een reeks dialecten in het noorden van het Duitse taalgebied manifesteert“12.

Wie im deutschen Sprachgebiet die sich von Krefeld im Westen bis Frankfurt/

Oder im Osten erstreckende Lautverschiebungslinie die nördlichen „ik-Mund- arten“ von den südlichen „ich-Mundarten“13 trennt, so gilt im niederländischen Sprachraum die Rhein-IJssel-Linie als „van oudsher […] de grens tussen Neder- landers die op het oosten georiënteerd zijn en anderen waar dit niet of veel minder het geval was en is“14. Sprachgeschichtlich ist diese Grenze „über die Jahrhunder- te im Gegendruck von West und Ost entstanden und erst seit dem späten Mittel- alter und in der Neuzeit zu einer Sprachscheide geworden wie die niederdeutsch- hochdeutsche Grenze zwischen Rothaar und Harz“15.

Westlich der Rhein-IJssel-Linie fi ndet man die holländischen Dialekte, öst- lich davon, in den „nedersaksische regio’s“ werden die „sächsischen“ Dialekte lo- kalisiert. So ergibt sich „talig gezien […] een brede, trapsgewijs verlopende over- gangszone, een dialect-, c. q. (in eerder tijden) een schrijftaalcontinuum, dat door de polen ‘Kernnederlands’ en ‘Kernnederduits’ bepaald wordt“16. Der zwischen Niederländisch und Niederdeutsch gelegenen ostniederländischen Sprachland- schaft ist immer wieder besondere dialektologische Aufmerksamkeit geschenkt worden. Im Zusammenhang mit den Chartadiskussionen hat das eine breite Öf- fentlichkeit erreicht, wobei es auch um die Legitimität der den Eigenheiten dieser Sprachform gerecht werdenden Sprachbezeichnung geht. Meinte Hendrik Entjes (1919–2006) noch, „Nedersaksisch is eenvoudig een ander woord voor Oostne- derlands en Westnederduits tezamen“17, so begrenzt man diese Sprachform jetzt auf das Ostniederländische: „[...] in de provincies Groningen, Drenthe, Overijssel, Gelderland en de gemeenten Oost- en West-Stellingwerf […] wordt de taalnaam Nedersaksisch sindsien gebruikt“18.

Für die Bewertung der Rolle dieses Raumes und seiner Sprache ist wichtig, worauf Jan Goossens aufmerksam macht, nämlich dass dieses „Nedersaksenland“

12 Hermann Niebaum in: Handboek Nedersaksische Taal- en Letterkunde, hg. von Henk Bloemhoff, Jurjen van der Kooi, Hermann Niebaum en Simon Reker. Assen 2008, S. 437.

13 So die auf Stammes- und Landschaftsbezeichnungen verzichtende Terminologie Ferdinand Wredes (1863–1934) für die beiden deutschen dialektgeographischen Großräume (siehe Viktor M.

Schirmunski, Deutsche Mundartkunde, Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mund- arten. Berlin 1962, S. 132).

14 Jo Daan, Grenzen en Grenzen, in: Driemaandelijkse Bladen. Grenzen en Grensproblemen 1984, S. 44–52, Zitat S. 44.

15 Theodor Frings, Gotthard Lerchner, Niederländisch und Niederdeutsch. Aufbau und Glie- derung des Niederdeutschen. Berlin 1966, S. 21.

16 Niebaum wie Fußnote 12, S. 58.

17 Hendrik Entjes, Nedersaksische Taal- en Letterkunde, in: Driemaandelijkse Bladen 27 (1975), S. 25–44, Zitat S. 34.

18 Henk Bloemhoff in Handboek Nedersaksische Taal- en Letterkunde wie Fußnote 12, S. 296.

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in alten Beziehungen zum niederländischen Westen steht, denn vor „dem Ent- stehen der Neuerungen im Westen und ihrer Expansion in östlicher Richtung war der nl. Osten […] auch mit dem Westen verbunden. Solange man im We- sten hūs, old oder du sagte, war das ū in hūs, das l in old und der Erhalt des ursprünglichen Pronomens der 2. Person Sg. noch kein nd. Merkmal in den ostnl. Dialekten, wohl aber nach der Palatalisierung des ū, nach der Vokalisie- rung des l und nach der Verdrängung des Pronomens du“19. So ist die für die Ausbildung der niederländischen Standardsprache, des Algemeen (Beschaafd) Nederlands, ausschlaggebende „Hollandse expansie“20 im Nordosten nicht auf völlig fremdes Gebiet gestoßen, sondern auf einen durchaus vertrauten Kultur- kreis, denn: „verreweg de meeste dialectkenmerken die in de geschiedenis van het onderzoek als Nedersaksisch zijn beschouwd, zijn relictverschijnselen, die in een vroeger stadium in veel grotere gebieden voorkwamen dan in het areaal dat voor Nedersaksisch wordt gehouden“21. Aus diesem sprachgeschichtlichen Befund, unter „Nedersaksisch“ keine dem „Nederfrankisch“ entgegengesetzte Stammessprache zu verstehen, erklären sich die verglichen mit der niederdeut- schen Chartadiskussion anderen Akzente. Während man in Norddeutschland die Niederdeutschen niemals als eine von den Deutschen unterschiedene Ethnie be- trachtet (im Unterschied zu den Friesen), sondern sprachliche Eigenständigkei- ten hervorhebt, sind die Chartaaktivisten in den Niederlanden von einem stam- messprachlichen Gegensatz Sächsisch-Fränkisch ausgegangen. Damit folgen sie auch einem Mythos, aber einem linguistisch untauglichen,22 doch politisch zugkräftigen, denn Nedersaksisch ist am 19.10.1995 vom niederländischen Par- lament als Regionalsprache (nicht als Minderheitensprache!) in Sinne der Spra- chencharta anerkannt worden, noch vor der entsprechenden parlamentarischen Billigung in Deutschland. Dieses auch für das Limburgische und das Seelän- dische zu erreichen, ist nur zum Teil gelungen: Niederländisch-Limburgisch wurde als schützenswerte Regionalsprache durchgesetzt, Belgisch-Limburgisch hingegen nicht. Das Seeländische hat es ebenfalls nicht geschafft. Die Begrün- dung der mit der Fachprüfung beauftragten Nederlandse Taalunie lautet, dass es sich beim Limburgischen, und zwar in beiden Staaten, und beim Seeländischen um niederländische Dialekte handele. Das bedeutet nichts anderes, als „dass das Limburgische in den Niederlanden zu Unrecht als Regionalsprache anerkannt worden ist“23.

19 Jan Goossens, Zwischen Niederdeutsch und Niederländisch. Die Dynamik der ostnieder- ländischen Sprachlandschaft, in: Niederdeutsches Jahrbuch 114 (1991), S. 108–133, Zitat S. 130.

20 Siehe G.G. Kloeke, De Hollandsche expansie in de zestiende en zeventiende eeuw en haar weerspiegeling in de hedendaagsche dialecten. Den Haag 1927.

21 Jan Goossens, Dialectgeografi sche grondslagen van een Nederlandse taalgeschiedenis.

Handelingen van de Koninklijke Commissie voor Toponymie en Dialectologie 80 (2008), S. 61.

22 Ebd., S. 221.

23 Jan Goossens wie Fußnote 21, S. 220.

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Die niederländische Chartadiskussion zeigt deutlicher als die niederdeutsche vor allem zweierlei: Eine sprachwissenschaftlich überzeugende Bestimmung der Regionlasprachen ist kaum möglich, weil sprachgeschichtliche Tatsachen und sprachmythische Überlieferungen unterschiedliche Bilder zu zeichnen vermögen, die sich so oder so ausdeuten lassen. Das mag zwar wissenschaftssystematischen Vorstellungen zuwiderlaufen, sprachpolitischen eröffnet es aber Erfolgschancen.

Sprachpolitik ist eben Politik und keine Wissenschaft. Das nie zu vergessen ist eine wichtige Lehre aus der Chartadiskussion in Deutschland und den Nieder- landen. Dazu gehört auch, dass in Bezug auf Regionalsprachen anders argumen- tiert werden muss als bei den Minderheitensprachen. Die Kriterien für die Auf- nahme des Westfriesischen in den Niederlanden, des Ost- und Nordfriesischen in Deutschland in den Chartaschutz erscheint sehr viel einfacher und plausibler als alles, was in dieser Beziehung zu Regionalsprachen vorgebracht worden ist.

Aus dialektologischer Sicht sind die Diskussionen über regionalsprachliche Char- tatauglichkeit oder -untauglichkeit deutliche Hinweise darauf, dass dialektolo- gischen Argumenten hohe sprachwissenschaftliche Relevanz zukommt. Einmal weil sie immer sprachgeschichtlich unterlegt sind, aber auch, weil die Raumdi- mension des Sprachlichen für die Sprachbestimmung ebenso belangvoll ist wie die sprachbezogenen Dimensionen der Zeit, der sozialen Sprecherzuordnung und der funktionalen Geltungsweise.24 Die Diskussionen lassen aber auch Grenzen wissenschaftlichen Argumentierens sichtbar werden. Sie deuten sich immer da an, wo sich politische Interessen als durchsetzungsfähiger erweisen. Das erinnert an eine Sentenz, die in vergangenen Zeiten oft zitiert worden ist, und die ich leicht abgewandelt noch einmal anführen möchte: Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.25

24 Vgl. hierzu das diese Dimensionen verbindende Sprachformenmodell in Dieter Stellma- cher, Niederdeutsch — Formen und Forschungen. Tübingen 1981, Kap. 1.7 und Abb. 9. Eine Wei- terentwicklung legt Peter Wagener vor, Untersuchungen zur Methodologie und Methodik der Dia- lektologie. Marburg 1988, Kap. 2.4.2 und Abb. 3.

25 Das korrekte Zitat lautet, die „Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ und stammt von Karl Marx (1818–1883) aus seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1843/1844), in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 1. Berlin 1972, S. 378–391, Zitat S. 385.

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