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Kreutzer-Sonate und andere Novellen.

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Academic year: 2022

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L. N. TOŁSTOJ

* <

lUcut^cr^.Sonatc

unb anbere ^ooclleti

I)beraetzt von A. A. FIEDLER

*

NEUFELD & HENIUS VERLAG BERLIN

pracownia złotnicza

f łotr Zimny 48

* 100 GLl]BCZYCE'l)

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Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon mitihr die Ehe gebrochen in

seinem Herzen. (Matth.f, 28.)

Da sprachen die Jiinger zu Ihm:

Stehet dieSache einesMannesmitseinem Weibe also, so ist’snicht gutehelich werden.

Er sprach aberzu ihnen: Das Wort fasset nicht jeder- mann, sonderndenen es gegeben ist.

Denn es sind etliche verschnitten, die sind ausMutter- leibe also geboren; und sind etliche verschnitten, die von Menschen verschnittensind; und sind etlichever- sclmitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreicheswillen. Wer es fassen mag,derfasse es.

(Matth. 19,to—12.)

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Die ganze Fahrt uber vermied er es aufs sorgfaltigste, mit den iibrigen Fahrgiisten irgendeine Bekanntschaft an- zukniipfen. Wagte es wirklich einmal jemand, ihn an- zureden, so antwortete er unwillig und kurz. Entweder las er in einem Buche, rauchte oder sah zum Fenster hinaus. Zuweilen entnahm er auch seiner alten Tasche EBwaren und trank Tee dazu. Mir war es, als litte er unter seinem Alleinsein. Ich versuchte daher ver- schiedene Male, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen;

begegneten sich aber unsere Blicke, was haufig vorkam, da wir uns schriig gegeniibersaBen, so vertiefte er sich entweder sofort wieder in sein Buch oder schaute weiter

der Landschaft nach.

Als wir am Abend des zweiten Tages in einer groBeren Station hielten, holte sich dieser Nervose heiBes Wasser und bereitete neuen Tee. Der gutgekleidete Herr aber, ein Bechtsanwalt, wie ich spater erfuhr, ging mit seiner Begleiterin, der Dame im halb mannlichen Paletot, nach dem Warteraum, um dort Tee zu trinken.

Wahrend der Abwesenheit dieser beiden bestiegen neue Falirgaste unser Abteil; darunter auch ein alter Herr mil glattrasiertem faltigen Gesicht, der den Eindruck eines Kaufmannes machte. Er war in einen Iltispelz gekleidet und trug eine Tuchmutze mit einem iiberaus groBen Schirm. Er setzte sich auf den Platz der Dame gegenuber und dem Rechtsanwalt und fing sofort eine Unterhaltung mit einem jungen Menschen an, der ein Handungsgehilfe zu sein schien und gleichfalls mit ihm eingestiegen war.

Ich saB ihnen schrag gegenuber und konnte, da der Zug 8

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stand und sonst keine allzu groBen Gerausche waren, Bruchstficke ihres Gespraches vernehmen. Ich horte zu- nachst, daB der Kaufmann auf sein Gut fahren wolle, das nur eine Station entfernt sei. Dann sprachen sie, wie fiblich, uber Preise und Geschaftsfragen, fiber die Ge- schaftslage in Moskau und endlich von der Messe in Nishnij-Nowgorod. Der Handlungsgehilfe versuchte zu- nachst, von irgendwelchen tollen Streichen eines ihnen beiden bekannten Kaufmannes zu erzahlen, die jener wahrend der MeBzeit begangen haben soli. Der Alte schnitt ihm aber seine Erzahlung ab und tischte nun selbst Berichte von Zechgelagen auf, denen er persónlich bei- gewohnt hatte.

Er bildete sich scheinbar viel darauf ein und erzahlte mit groBer Freude, daB er einst in Kunawino mit demselben Bekannten einen ganz wfisten Streich ausgeffihrt habe, den er nur fliisternd berichten kónnte. Der Handlungs­

gehilfe bog sich vor Lachen, in das schlieBlich auch der Alte einstimmte. Da mich ihre Erzahlungen nicht inter- essierten, wollte ich ein wenig bis zum Abfahren des Zuges auf dem Bahnsteig auf und ab gehen. In der Tfir begegnete ich dem Rechtsanwalt und der Dame, die In ein auBerst lebhaftes Gesprach vertieft waren.

„Es ist keine Zeit mehr,“ sagte mir hóflich der Rechts­

anwalt, „es wird sogleich das zweite Mai Iauten.“

In der Tat, ich hatte kaum den letzten Wagen erreicht, als das Signal ertónte. Als ich meinen Platz wieder ein- genommen hatte, waren die beiden immer noch mit ihrem Thema beschaftigt. Der alte Kaufmann saB ihnen 9

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schweigsam gegeniiber, sah miirrisch vor sich hin und bewegte hin und wieder miBbilligend seine Lippen.

„Sie erklarte also ihrem Manne unumwunden,“ hortc ich den Rechtsanwalt lachelnd erzahlen, als ich an ihm vorbeiging, „daB sie weder mit ihm zusammen leben konne noch wolle, da..Das weitere verstand ich nicht mehr durch die Gerausche anderer vorbeigehender Fahr- gaste. Als es wieder ruhig geworden war und ich wieder die Stimme des Rechtsanwalts vernehmen konnte, war das Gesprach schon allem Anschein nach auf allgemeine Betrachtungen ubergegangen.

Der Rechtsanwalt erorterte, daB die offentliche Meinung Europas sich gegenwartig sehr stark mit der Frage der Ehescheidung befasse und daB auch bei uns solche Faile immer haufiger auftraten. Da er gewahr wurde, daB man nur seine Stimme allein im Wagen vernahme, unterbrach er seine Rede und wandte sich an den Alten.

„Friiher waren wohl solche Probleme den Menschen fremd?“ fragte er freundlich lachelnd. Der Alte wollte etwas erwidern, aber im selben Moment setzte sich der Zug in Bewegung. Der Alte zog die Miitze, bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet. Der Rechtsanwalt sah diskret weg und wartete ab. Als der Alte das Gebet gesprochen und sich noch dreimal bekreuzigt hatte, setzte er seine Miitze tief ins Gesicht, streckte sich bequem aus und be­

gann : „Das beschaftigte auch friiher schon die Menschen, mein Herr, wenn auch nicht in so vielen Fallen wie heute. Das bringt eben die Zeit mit sich, denn die Menschen von heute sind doch zu gebildet."

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Da der Zug immer schneller fuhr und immer gerausch- voller uber die Weichen hinpolterte, konnte ich das Ge- sprach weiterhin nur sehr schwer vernehmen. Da es mich aber interessierte, riickte ich naher heran. Selbst mein Nachbar, der nervose Herr, schien Interesse an diesem Gesprach zu haben und lauschte, ohne aber seinen Platz zu verandern, gespannt auf die Unterhaltung.

„In welcher Weise aber soli denn Bildung schadliich sein?“ sagte die Dame mit einem leisen Lacheln. „Sollte es vielleicht besser sein, heute noch zu heiraten, wie es fruher ublich war, da Braut und Brautigam sich vor ihrer Heirat nicht einmal ansehen durften?" fuhr sie fort, ohne auf die Antwort ihres Partners einzugehen, was ja typisch weiblich ist, sondern auf das antwortend, was er ihrer Meinung nach hatte antworten sollen.

„Sie wuBten ja gar nicht, ob sie sich liebten und lieben kónnten. Sie heirateten blindlings, um sich dann ihr ganzes langes Leben lang zu martern. Das also erscheint Ihnen die bessere Losung?“ fragte sie, sich mehr an mich und an den Rechtsanwalt wendend, als an den Alien, mit dem sie doch eigentlich dies Gesprach fuhrte.

„Die Menschen von heute sind eben doch zu gebildet,”

sagte der Alte, wahrend er die Dame verachtlich ansah, ohne auf ihre Frage einzugehen. Es wiirde mich inter- essieren, zu horen, wie Sie den Zusammenhang zwischen Bildung und Disharmonie in der Ehe erklaren wollen,“

fragte der Rechtsanwalt, kaum wahrnehmbar lachelnd.

Der Alte wollte antworten, die Dame aber unterbrach ihn.

„Gott, diese Zeit ist doch langst vorbeil" Der Rechts- 11

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anwalt aber schnitt ihr das Wort ab: „Lassen Sie doch erst mai den Herrn seine Ansicht aussprechen.“

„Alle Dummheiten entspringen der Bildung“, sagte der Alte kurz und schroff.

„Man verlieiratet Menschen mileinander, die sich nicht lieben, und dann begreift man nicht, wenn sie sich gegen- seitig aufreiben“, erwiderte eiligst die Danie, mich, den Rechtsanwalt und selbst den Handlungsgehilfeu scharf anblickend, der sich erhoben hatte und auf die Lehne gestiitzt der Debatte lachelnd zugehórt hatte.

„Nur Tiere werden ja nach dem Willen ihrcs Herrn so ge- paart; Menschen aber haben doch ihre eigenen Neigungen und Empfindungen1', sagte die Dame, die scheinbar den Alten damit reizen wollte.

„Sie irren sich, meine Dame,“ versetzte der Alte, „ein Tier ist eben ein Yieh, dem Menschen aber ward ein Ge- setz gegeben.”

„Gut, wie aber soil man mit einem Menschen zusammen leben konnen, den man nicht lieben kann?“ erwiderte die Dame, die sich einbildete, ihre Ansicht sei eine un- erhórte Neuigkeit.

„Fruher dachte man so etwas nicht,“ sagte der Alte ein- dringlich, „erst heutzutage besteht diese Mode. Ereignet sich heute irgend etwas, so schreit die Frau sofort: ,Ich lasse mich scheiden von dir.‘ Selbst bei den Bauern ist das zur Mode geworden. ,Da, nimm dein Zeugs, ich geh mit Wanjka, denn er hat schónere Locken als du.‘ Was soli man aber noch viel Worte machen? Die Frau muli eben in erster Linie Furcht haben.“

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Der Ilandl ungsgehilfe blickte den Rechtsanwalt, die Dame und mich an, wahrend er ein Lacheln zu unter- driicken versuchte. Er war zweifellos bereit, fiber die Ansicht des Alten zu lachen oder sie zu billigen, je nach- dem wie wir uns zu ihr stellen wurden.

„Was fur eine Art Furcht meinen Sie denn?" fragte die Dame.

„Die, von der gesagt wird, daB die Frau Ehrfurcht haben soil vor ihrem Manne, die, die meine ich damit“, ant ■ wortete der Alte gelassen.

„Diese Zeiten waren einmal, meinHerr“, erwiderteerregt die Dame.

„Nein, nein, meine Gnadigste, diese Zeiten waren nicht;

sie bleiben ewiglich. Wie Eva aus der Rippe des Mannes erschaffen wurde, so wird es auch durch alle Zeiten hin- durch bleiben", sagte der Alte, so streng und siegesgewiB den Kopf schiittelnd, daB der Handlungsgehilfe, den Sieg des Alten vorausfuhlend, laut auflachte.

„Ja, so urteilt ihr Manner", sagte die Dame, die ihre Ansicht noch nicht aufgeben wollte, uns alle musternd.

„Euch selbst habt ihr die Freiheit gegeben, wahrend ihr uns Frauen hinter SchloB und Riegel halten wollt. Euch selbst erlaubt ihr alles."

„Kein Mensch hat uns etwas zu erlauben; aber der Mann bringt nichts ins Haus; die Frau dagegen ist ein zerbrech- liches GefaB."

Der eindringliche Ton des Alten schien die Zuhórenden auf seine Seite zu ziehen, und selbst die Dame fiihlte sich unterlegen, wollte sich aber noch immer nicht ergeben.

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„Ja, aber Sie werden doch zugeben mussen, daB auch die Frau ein Mensch ist und auch Gefiihl und Empfinden hat wie der Mann. Was aber soli sie tun, wenn sie ihren Mann nicht liebt?“

„Nicht liebt?" wiederholte streng der Alte, Augenbrauen und Lippen verziehend. „Sie muB ihn eben lieben!“

Dieses unerwartete Argument decide sich vollkommen mit der Ansicht des Handlungsgehilfen, der dies in einem zustimmenden Tone bezeugte.

„Nein! Niemals wird sie ihn lieben," gab die Dame zuriick, „wo Liebe nicht ist, laBt sie sich nicht erzwingen."

„Und wenn die Frau ihrem Manne untreu wird, was dann?“ fiel der Rechtsanwalt plótzlich ein.

„Dazu darf es nicht kommen," antwortete der Alte, „man muB eben achtgeben."

„Und wenn es nun dennoch geschieht, was dann? Es kommt doch oft genug vor.“

„Es mag vielleicht vorkommen, aber bei uns nicht“, sagte der Alte.

Alle schwiegen. Der Handlungsgehilfe riickte naher und begann, um hinter den andern nicht zuriickzubleiben, zu lacheln.

„Auch bei einem meiner Bekannten ist es einmal zu solch einem Skandal gekommen. Wer schuldig war, war nicht festzustellen. Er geriet in die Arme einer Ieichtsinnigen Frau, die ein schlechtes Spiel mit ihm trieb. Der Mann war anstandig und gebildet. Zuerst trieb sie es mit einem Buchhalter. Der Mann versuchte sie durch Giite zu uber- reden. Sie lieB nicht ab und trieb weiter ihre dunklen 14

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Erlebnisse. Sie stahl ihrem Manne Geld. Da schlug er sie. Immer wiister aber trieb sie es. Sogar mit einem Ungetauften, mit einem Juden, mit Verlaub zu sagen, lieB sie sich ein. Was sollte er tun? Er lieB sie laufen.

Seitdem lebt er allein, und sie treibt sich weiter von Mann zu Mann.“

„Weil er ein Dummkopf ist,“ schrie der Alte, „hatte er sie von Anfang an scharf angefafit und die Ziigel er- griffen, so lebte er noch heute mit ihr zusammen. Man darf eben von Anfang an der Frau nicht voile Frei­

heit lassen. Traue nicht dem Fohlen auf dem Felde, dem Weibe nicht im Hause.“

Da kam der Schaffner, um die Fahrkarten nachzupriifen.

Der Alte gab ihm seine.

„Ja, ja, friihzeitig die Frauen kurz halten, sonst ist alles verloren!"

„Aber Sie haben ja eben selbst noch erzahlt, wie sich die Ehemanner auf der Messe in Nishnij-Nowgorod mit hubschen Madels eingelassen haben“, wandte ich mich an ihn; ich konnte nicht mehr langer schweigen.

„Das ist ein Kapitel fur sich“, gab der Alte mir schroff zur Antwort und verstummte.

Als das Signal ertonte, stand er auf, nahm seine Reise- tasche unter der Bank hervor, knópfte seinen Pelz zu, luftete die Miitze und verliefi den Wagen.

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2.

Kaum war der Alte weg, so entspann sich ein auBerst lebhaftes Gesprach.

„Einer vom vorigen Jahrhundert 1“ ineinte der Handlungs- gehilfe.

„Der leibhaftige .Domostroj* !“*) fugte die Dame hinzu.

„Kuriose Ansichten uber Frau und Ehel“

„Stimmtl Wir sind noch sehr weit zuruck hinter der curopaischen Einstellung fiber das Problem der Ehe“, ineinte der Anwalt.

„Das Wesentlichste dabei ist ja das, daB diese Menschen nicht einsehen wollen, dali eine Ehe ohne Liebe unhalt- bar ist,“ fulir die Dame fort, „dali einzig und allein die Liebe die Ehe heiligt und nur eine solche eine wahr- haftige ist.“

Der Handlungsgehilfe lauschte mit lachelnder Miene und bemiihte sich, sich diese klugen Ansichten einzupragen, um sie gegebenenfalls einmal anwenden zu kónnen.

Mitten in das Gesprach der Damę fiel plótzlich der Laut eines abgerissenen Lachens, das sich wie ein Seufzen anhórte. Als wir uns daraufhin umsahen, gewahrten wir.

dali der nervose Herr aus Interesse am Gesprach un- bemerkt naher zu uns geriickt war. Die Arme auf die Lehne gestiitzt, stand er da. Er machte einen sehr auf- geregten Eindruck. Sein Gesicht hatte sich gerótet, und in seinen Gesichtszfigen spielte ein nervoses Zucken.

*) „Domostroj“, derTitel eines Lebensbuches aus dem 16. Jahrhundert.

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„Was soli denn das fiir eine Liebe ... fiir eine Liebe . ..

sein, die die Ehe heilige?“ fragte er verwirrt.

Die Danae, die seine Erregung erkannt hatte, versuchte, ihm moglichst freundlich und klar zu antworten.

„Wahre Liebe ... Besteht zwischen Mann und Frau wirk- lich eine solche, dann ist auch eine Ehe zwischen ihnen móglich", sagte die Dame.

„Gut! Was aber versteht man unter wahrer Liebe?"

fragte der Herr angstlich und lachelte verlegen.

„Aber ein jeder weiB doch, was Liebe ist", erwiderte darauf die Dame, die allem Anschein nach jetzt gern das Gesprach abgebrochen hatte.

„Ich aber weiB es nicht", versetzte ihr der Herr. „Bitte, spręchen Sie sich naher dariiber aus.“

„Hóchst einfach", meinte die Dame, muBte aber doch genauer dariiber nachdenken. „Mit Liebe — Liebe be- zeichnet man die Bevorzugung einer oder eines anderen gegeniiber."

„Und wie lange soli eine solche Bevorzugung bestehen bleiben? Einen Monat, zwei Monate, eine halbe Stunde?"

fragte der Grauhaarige und lachte verschmitzt.

„Verzeihen Sie, mir scheint es aber, Sie sprechen von etwas anderem?"

„Aber nein, ich spreche durchaus von nichts anderem."

„Die Damę meint," mischte sich der Anwalt ein, „eine Ehe miisse sich erstens auf einer innerlichen Zuneigung, meinetwegen Liebe, wenn Sie das Wort besser finden, aufbauen, dann, nur dann konne sie etwas Geheiligtes darstellen; ferner, daB alle Ehen, denen diese innerliche

Tołstoj, Kreutzer-Sonate 2 17

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Zuneigung, ,Liebe', fehlt, keine moralischen Verpflich- tungen in sich bergen. So meinen Sie es doch?" wandte er sich an die Dame.

Die Dame bestatigte durch Kopfnicken, daB sie seine Auslegung ihrer Gedanken billige.

„Ferner...“, wollte der Anwalt fortfahren, aber der nervose Herr, dessen Augen jetzt aufgliihten und der nur schwer seine Erregung meistern konnte, schnitt ihm das Wort ah.

„Wir wollen nicht abscliweifen von der Frage der Be- vorzugung eines oder einer vor anderen. Ich mochte ja eben wissen, wie lange eine solche Bevorzugung anhalten soli?"

„Wie lange? Sehr lange, oft zeitlebens", antwortete achselzuckend die Dame.

„Im Roman — ja — nie aber im Leben. Im Leben halt diese Bevorzugung hóchstens einige Jahre, of ter einige Monate, meist aber doch nur Wochen, Tage oder Stunden an", sagte er. Man fiihlte, daB er uns mit dieser Ansicht verbliiffen wollte, und er war auch sichtbar zu- frieden dariiber.

„Aber erlauben Sie I Nein, nicht doch!" riefen wir alle drei plotzlich auf einmal. Selbst der Handlungsgehilfe stieB irgendeinen Laut von sich.

„Ich, ja, ja, ich weiB es!" iiberschrie uns alle der grau- haarige Herr. „Sie alle sprechen von dem, was als fest- stehend gilt, ich aber von dem, was feststeht. Jeder Mann empfindet das, was Sie mit Liebe bezeichnen, fur jede hubsche Frau."

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„Nein, das ist ja schrecklich, was Sie da sagen! Es wohnt doch im Menschen ein Gefiihl, das man Liebe nennt, und das nicht Monate und Jahre — sondern die ganze Lebens- dauer beherrscht.“

„Nein, das stimmt nicht 1 Zugegeben, daB ein Mann fur die ganze Zeit seines Lebens eine bestimmte Frau alien andern vorzieht, so ist doch mit groBer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daB diese Frau einem anderen den Vor- zug geben wird. Von jeher war das so und wird auch immer so bleibcn“, bekraftigte er, nahm eine Zigarette aus seinem Etui und begann zu rauchen.

„Das Gefiihl kann doch aber auch von beiden Seiten ein gleiches sein“, bemerkte der Anwalt.

„Nein, das kann es nicht sein,“ erwiderte jener, „das ist ebenso undenkbar wie die Moglichkeit, daB in einem Wagen voller Erbsen zwei vorher bezeichnete Erbsen nebeneinander zu liegen kamen. Auch daher ware das schon ganzlich unmoglich, weil dann unbedingt eine Uber- sattigung sich einstellen wurde. Von einem Manne oder einer Frau verlangen, das ganze Leben hindurch einen einzigen Menschen zu lieben, ist gleichbedeutend, von einer Kerze zu erwarten, ein ganzes Leben hindurch brennen zu konnen."

„Sie sprechen ja doch aber immer nur von der sinnlichen Liebe. Erkennen Sie denn keine Liebe an, die auf Gleich­

heit der Ideale, auf Wahlverwandtschaft fundamentiert ist?" entgegnete die Dame.

„Wahlverwandtschaft, Gleichheit der Ideale!" wiederholte er, einen seltsamen Laut von sich gebend. „Aus welchem

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Grunde soil man denn aber dann, verzeihen Sie den vul- garen Ausdruck, zusammen schlafen? Legen sich die Menschen vielleicht aus Gleichheit der Ideale zusammen ins Bett?“ fragte er nervos lachelnd.

„Halt! Erlauben Sie," bat der Anwalt, „die Tatsachen widersprechen dem, was Sie sagen. Jeder weifi doch, daB Ehen bestehen, daB die Menschheit, oder doch zum min- desten ein Teil dieser, im Eheverhaltnis lebt und daB auch sehr viele ehrlich zeitlebens miteinander verheiratet leben."

Der nervose Herr lachte von neuein auf.

„Sie sind der Ansicht, die Ehe sei auf Liebe aufgebaut;

wenn ich aber meine Bedenken an der Existenz einer anderen als der sinnlichen Liebe ausspreche, so wollen Sie mir die Existenz der Liebe durch die Existenz der Ehe beweisen. In heutiger Zeit aber ist das ganze Ehe- leben doch weiter nichts als Lug und Trug.“

„Bitte, erlauben Sie," sagte der Anwalt, „ich spreche ja doch nur von der Tatsache, daB es Ehen gibt."

„Gibtl Gut, warum aber? Sie bestanden und bestehen noch heute bei den Menschen, die in der Ehe ein Sakrament erblicken; ein Sakrament, das den Menschen eine Pflicht Gott gegcnuber auferlegt. Solche Menschen besitzen aller- dings eine Ehe. Wir andern aber heiraten und betrachten die Ehe einzig und allein nur als Paarungsfaktor. Das, was daraus entsteht, ist ja doch nur Betrug oder Ver- gewaltigung. Bleibt es nur beim Betrug, dann laBt es sich noch ertragen. Mann undFrau betriigen ihreMitmenschen, daB sie vortauschen, in Monogamie zu leben, wahrend

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sie in Polygamie oder Polyandrie dahinvegetieren. Ubel ist das, aber es ist ertragbar. Wenn aber, wie dies das Vorherrschende ist, Mann und Frau, die die gesetzliche Verpflichtung auf sich genommen haben, ihr ganzes Da- sein gemeinsam zu durchleben, sich schon im zweiten Ehemonat einander hassen und das Verlangen haben, wieder voneinander zu gehen, dennoch aber weiter neben- einander herleben, so entsteht daraus jene unertragliche Hoile, die einen zum Trunk, Selbstmord oder Verbrechen treibt."

Er hatte sich selbst so in Erregung geredet, daB sich seine Worte iibersturzten und keiner auch nur ein Wort dazwischenwerfen konnte.

Es trat eine peinliche Stille ein.

„GewiB gibt es im Eheleben kritische Episoden", sagte der Anwalt. Ihm lag viel daran, dieses indiskrete Ge- sprach, das so hitzige Formen angenommen hatte, endlich abzubrechen.

„Ich habe das Gefiihl, Sie haben mich erkannt“, sagte der nervose Herr leise und ruhig.

„Nein, ich habe nicht das Vergnugen."

„Ein Vergniigen ist es wohl nicht. Posdnyschow ist mein Name. Ich bin die Person mit der kritischen Episode, auf die sie soeben angespielt haben, der Episode, in der der Mann seine Frau ermordet hat“, sagte er, wahrend er uns alle mit einem pfeilschnellen Blick streifte.

Keiner von uns konnte etwas darauf erwidern.

„Ubrigens ist es ja ganz belanglos", meinte er und stieB wieder seinen eigentiimlichen Ton aus. „Verzeihen Sie 21

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iibrigens! Ich mochte mich Ihnen nicht weiter auf- drangen."

„Aber nein, bitte sehr . . erwiderte der Anwalt, ohne recht zu wissen, was das ,bitte' eigentlich bezeichnen sollte.

Posdnyschow achtete aber nicht darauf, wandte sich um und nahm wieder seinen alten Platz ein. Der Herr und die Dame tuschelten miteinander. Ich saB neben Posdny­

schow und schwieg. Ich wuBte nichts zu reden. Da es zum Lesen zu dunkel war, schloB ich die Augen und tat.

als ob ich schlafen wollte. Schweigend fuhren wir so bis zur nachsten Station. Hier stiegen der Herr und die Dame, wie sie dies bereits vorher mit dem Schaffner be- sprochen hatten, in ein anderes Abteil. Der Handlungs- gehilfe streckte sich lang auf der Bank aus und schlief ein. Posdnyschow rauchte weiter und trank seinen Tee, den er sich noch auf der letzten Station zubereitet hatte.

Als ich die Augen offnete und zu ihm hinblickte, wandte er sich plótzlich energisch und stark erregt an mich:

„Sollte es Ihnen vielleicht unheimlich sein, mit mir zu- 8ammenzusitzen, jetzt, wo Sie wissen, wen Sie vor sich haben, so kann ich ja hinausgehen?"

„Aber wieso! Durchaus nicht!"

„Darf ich Ihnen vielleicht einen Tee anbieten? Er ist z war etwas stark."

Er fiillte ein Glas fiir mich.

„Alles das Gerede! Alles Lug und Trug . . .“ sagte er.

„Von was sprechen Sie, bitte?" fragte ich ihn.

„Noch immer vom gleichen Thema. Was die mit Liebe bezeichnen. Wollen Sie nicht schlafen?"

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„Nein, noch nicht!"

„Interessiert es Sie, zu hOren, wie mich diese gleiche Liebe zu dem Ereignis getrieben hat, das ich erlebt habe?"

„Wenn es Ihnen nicht zu schwer wird?"

„Nein, aber das Schweigen falit mir schwer. Trinken Sie doch den Tee. Oder ist er Ihnen zu stark?"

Er war wirklich wie Bier so dunkel, aber dennoch trank ich mein Glas aus. In diesem Augenblick ging der ' Schaffner durch den Wagen. Posdnyschow verfolgte ihn mit grimmigen Blicken, und erst als er fort war, nahm er die Erzahlung auf.

3.

„Also ich werde Ihnen erzahlen . . . Interessiert es Sie aber auch wirklich?"

Noch einmal beteuerte ich ihm, daB es mich sehr interessiere. Er dachte nach, fuhr mit der Hand iiber seine Stirn und begann:

„Ich muli meine Erzahlung von Anfang an beginnen.

Da muB ich Ihnen zuerst sagen, wie und warum ich ge- heiratet habe und was fiir ein Leben ich vor meiner Heirat gefiihrt hatte.

Vor meiner Heirat lebte ich wie alle unseres Standes.

Ich bin Gutsbesitzer und Rechtskandidat. Eine Zeit aber war ich Adelsmarschall. Vor meiner Heirat fiihrte ich wie alle unseresgleichen ein verlottertes Leben und bildete mir dabei ein, dali mein Leben so sei, wie es eben sein muBte. Ich glaubte von mir selbst, daB ich ein netter 23

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und wirklich sittlich vollkoinmener Mensch sei. Ich war kein Verfiihrer, hatte keine unnatiirlichen Neigungen, sah in den Ausschweifungen meines Lebens nicht den Kern- punkt, wie das doch viele meiner Altersgenossen taten.

Ausschweifungen betrieb ich in Grenzen, anstandig, nur der Gesundheit wegen. Dabei hielt ich mich von den Frauen fern, die mich durch Geburt oder allzu groBe An- hanglichkeit hatten fesseln konnen.

Vielleicht mógen auch Kinder und Anhanglichkeiten be- standen haben, doch ich kummerte mich nie um solche.

Darin fuhlte ich mich nicht nur moralisch einwandfrei, sondern empfand einen gewissen Stolz daruber."

Er hielt inne und stieB wieder einen jener Laute von sich, wie er das immer tat, wenn er einen neuen Gedanken faBte.

„Darauf baut Jich ja eben die gróBte Gemeinheit aufl“

schrie er los. „Ausschweifung liegt nicht im Physischen — eine rein physische Ausschweifung ist noch lange keine Unzucht; unter wirklicher Unzucht bezeichnet man ein Nichterkennen jeglicher moralischer Pflichten der Frau gegeniiber, mit der man physisch verkehrt. Ich weiB noch genau, wie es mich qualte, als ich einmal iibersehen hatte, eine Frau, die sich mir allem Anscheine nach aus Liebe hingegeben hatte, mit Geld abzufinden. Und erst, als ich iłir das Geld zugestellt hatte, war ich von meiner Unruhe befreit. Denn dadurch hatte ich ihr zu verstehen gegeben, daB ich mich in keiner Form moralisch ihr gegeniiber gebunden hielt... Nicken Sie bitte nicht mit dem Kopfe, als seien Sie der gleichen Meinungl" schrie er mich 21

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plotzlich an. „Ich kenne das schon! Wir alle, alle, auch Sie, wenn Sie nicht zufallig eine riihmliche Ausnahme bilden, vertreten die gleichen Standpunkte, auf die ich mich stellte. Na, es ist gleich, verzeihen Sie,“ fuhr er fort,

„aber es ist doch schrecklich, schrecklich, schrecklich!

Dieser Wirrwarr falscher Ansichten in bezug auf die Frauen und unsere Einstellungen ihnen gegeniiber, in dem wir leben. Ja, ich kann nicht ruhig iiber diese Dinge sprechen; nicht etwa, weil ich jene kritische Episode er- lebte, sondern weil ich damals sehend wurde und sich mir dann plotzlich alles in einem anderen Lichte zeigte, in einem anderen, ganz entgegengesetzten 1“

Er brannte eine neue Zigarette an, stiitzte die Ellbogen auf die Knie und begann zu erzahlen.

Die Dunkelheit machte mir sein Gesicht unerkennbar, dagegen vernahm ich durch das Gerausch des Zuges seine eindringliche und recht sympathische Stimme.

4.

„Ja, ja, erst nach den unsagbaren Qualen, die ich zu er- dulden hatte, und nur dank dieser verstand ich, wo der Kern alles Dbels steckt und wie alles eigentlich hatte sein sollen. Aus dieser Erkenntnis erlebte ich denn erst das Unheimliche alles dessen, was ist.

Doch nun achten Sie bitte auf das, was mich zu meiner .Episode' hintrieb und wie und wann es begann. Ich war damals noch nicht achtzehn Jahre alt, Gymnasiast noch, wahrend mein alterer Bruder bereits Student im ersten 25

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Semester war. Wenn ich mich auch noch nie einer Frau genahert hatte, so war doch auch ich schon, wie alle un- gliicklichen Kinder unserer Gesellschaftsklasse, kein naiver Knabe mehr. Meine Mitschiiler hatten mich schon seit einem Jahre ,aufgeklart‘. Schon iibte die Frau, nicht eine bestimmte Frau, sondern die Frau als ein wonniges Etwas — die Frauen als solche, der Gedanke an die nackte Frau einen geheimnisvollen Reiz auf mich aus. Die Stunden meines Alleinseins waren nicht mehr keusch. Ich zermarterte mich, wie sich neunundneunzig von hundert unserer Knaben zermartern. Ich entsetzte mich, litt, betete und ward doch nie erlost. Verdorben war schon meine Phantasie, verdorben war ich auch schon in Wirk- lichkeit, ohne jedoch den letzten Schritt bereits getan zu haben 1 Ich allein sank moralisch, ohne an ein anderes menschliches Wesen Hand gelegt zu haben. Da tauchte nun plótzlich einmal ein Freund meines Bruders, ein aus- gelassener Student, ein sogenannter guter Kerl auf, der grofite Schuft iibrigens, brachte uns das Trinken und Spielen bei und iiberredete uns schlieBlich nach einer wusten Kneiperei, nach einem gewissen ,Hause‘ zu ziehen.

Wir gingen dann auch hin. Mein Bruder, der auch wie ich noch unschuldig war, liefi hier seine Unschuld zuruck.

Und ich, der Sechzehnjahrige, besudelte, ohne mir daruber klar zu sein, mich selbst und ein Weib. Hatte doch keiner der Erwachsenen mir jemals gesagt, daB das, was ich begangen, unmoralisch sei. Und heute, wer wagte da, diese Belehrung zu geben? Die Zehn Gebote sprechen allerdings davon, aber sie sind doch lediglich nur dazu

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da, sie dem Geistlichen beim Examinieren aufsagen zu kónnen. Dabei wird ihnen langst nicht die Wichtigkeit beigemessen, die man dem Gebrauche des ,ut‘ im Be- dingungssatze zuschreibt.

Keiner der Erwachsenen, dereń Ansichten ich hoch ein- schatzte, hatte mir also gesagt, daB das schlecht sei: im Gegenteil, von denen, an denen ich emporsah, hórte ich, daB es gut sei. Sie erzahlten mir, daB alle meine Qualen, meine Martern spater verschwanden. Ich hórte und las, daB es der Gesundheit zugute kamę. Meine Freunde aber erblickten darin sogar nach ihrer Aussage etwas hóchst Ruhmliches. Jeder also billigte es als etwas Gutes. Die Gefahr einer Krankheit? Auch der ist vorgebeugt. Der Staat selbst hat SchutzmaBnahmen dafur getroffen. Er uberwacht die vorgeschriebene Einrichtung dieser óffent- lichen Hauser und sorgt fur gefahrlose Ausschweifungen der Gymnasiasten. Arzte leben von der Uberwachung.

Alles ist glanzend organisiert. Sie behaupten, die Un- zucht sei der Gesundheit wegen erforderlich, und so sorgen sie fur geregelte Abwicklung. Mir sind sogar Miitter be- kannt, die in diesem Sinne fur die Gesundheit ihrer Sóhne sorgen. Selbst die Wissenschaft rat den Junglingen zum Besuch dieser óffentlichen Hauser.“

„Die Wissenschaft?" fragte ich erstaunt.

„Wozu gehóren denn die Arzte? Sind sie keine Priester der Wissenschaft. Sind sie es nicht, die die jungen Menschen durch die Behauptung verderben, der Gesund­

heit wegen sei es nutzlich. Und dann doktern sie jahr- zehntelang an Syphilitikern herum."

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(30)

„Warum wenden Sie sich gegen das Behandeln der Syphilis? “

„Weil es keine Spur von Syphilis mehr gabe, wenn man nur ein Hundertstel der Sorgfalt und Miihe, mit der man versucht, der Syphilis zuleibe zu gehen, auf die Bekehrung von der Unzucht verwenden wiirde. Alles Miihen kon- zentriert sich aber nicht auf die Behcbung von der Un­

zucht, sondern auf ihre Fórderung und ihre Gefahr- beseitigung. Doch das nur nebenbei. Tatsache ist, dali ich, wie neun Zehntel nicht nur aller Menschen unserer Gesellschaftskreise, sondern auch selbst des Bauern- standes, meine Unschuld nicht durch den naturlichen, verfuhrerischen Reiz einer bestimmten Frau verlor, sondern daB ich fiel, weil meine Gesellschaftsklasse darin einesteils etwas durchaus Erlaubenswertes und der Ge­

sundheit Zutragliches sieht, und andernteils, weil sie es als das naheliegendste und nicht nur verzeihbare, sondern sogar als das harmloseste Vergniigen fur einen jungen Menschen billigte. Ich verstand iiberhaupt nicht, daB man dies mit einem Fallen bezeichnen konnte. Fur mich war es einfach Vergniigen, Bediirfnis, da man mich gelehrt hatte, daB dies einem gewissen Alter eigentiimlich sei.

Ich tat es ohne jede Uberlegung, so wie ich einst mit dem Trinken und Rauchen begonnen hatte. Und dennoch lag in dicsem ersten Fallen etwas ganz Eigenartiges und Melancholisches. Ich erinnere mich noch, welcher eigen- tiimliche seelische Schmerz mich damals ergriff, noch bevor ich jenes Zimmer verliefi, und daB mir so traurig, so unsagbar traurig ums Herz ward, daB ich hatte los-

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weinen kónnen. Weinen uni meine vcrlorene Unschuld und das fiir immer verlorene Verhaltnis zum weiblichen Geschlecht. Ja, jenes natiirliche, keusche Verhaltnis zur Frau war nun fur ewig verloren; ich konnte es mir nie wieder zurfickerobern. Ich war zum Liistling geworden, befand mich also in einem gleichen physischen Zustand, wie etwa ein Morphinist oder Saufer oder Raucher sich be- findet. So wie alle diese Arten von Menschen als normale nicht mehr bezeichnet werden konnen, so ist auch ein Mensch, der mehrere Frauen zu seinem Genuli erkannt hat, kein normaler Mensch mehr, sondern eben ein fiir immer gefallener Liistling. So wie man Morphinisten und Saufer sofort an den Gesichtsziigen und an ihren Gebarden erkennt, so auch den Liistling. Wenn dieser sich auch periodenweise enthalten und gegen seine Be- gierden ankampfen kann, so kann er doch nie mehr in seinem Leben in ein klares, reines und einfaches Verhalt­

nis zur Frau treten. Sein Blick und die Art seiner Be- obachtung jungen Frauen gegeniiber werden ihn stets verraten. So wurde auch ich zum Liistling, und darin liegt der Grund meines Verderbens.“

5.

„Ja, so war es, und so ging es weiter und immer weiter.

Es gab Verirrungen vielerlei Art. 0 Gott, wenn ich mich heute all dieser Gemeinheiten erinnere, so packt mich ein Ekel vor mir selbst. So urteile ich heute fiber mich, wahrend meine Kameraden sich fiber meine sogenannte

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Unschuld lustig machten. Und denke ich erst an die goldene Jugend, die Offiziere, die Pariserl... Ver- kórpern wir alle, wir dreiBigjahrigen Wustlinge, auch ich naturlich, die wir Hunderte der verschiedensten Ver­

brechen gegen die Frau auf dem Gewissen haben, gut gewaschen, glattrasiert, parfiimiert, in blendender Wasche, Frack oder Uniform, sobaid wir im Salon oder auf einem Ball erscheinen, nicht das Sinnbild von Rein-

heit und Makellosigkeit? ,

Vergleichen Sie doch selbst einmal, wie es ist und wie es sein sollte! Ware es nicht recht und billig, daB ich, wenn in einer Gesellschaft ein solcher ,Herr‘ sich meiner Schwester oder Tochter nahert, ich, der ich doch seinen Lebenswandel kenne, ihn beiseite nehme und ihm sage: ,Ich weifi ja, mein Verehrter, wie du lebst, in welcher Art und mit wem du deine Nachte verbringst.

Was suchst du hier? Hier sind reine, unschuldige Madchen. Entferne dich eiligst 1* Das ware das richtige!

So aber, wenn ein solcher ,Herr‘ auf der Bildflache erscheint, mit meiner Schwester oder Tochter tanzt, jauchzen wir ihm schon zu, wenn er reich und gute Be- ziehungen hat. Vielleicht laBt er nach dem StraBenmadel auch meiner Tochter die hohe Ehre zuteil werden. Selbst wenn ihm die Folgen einer Krankheit noch zu schaffen machen, schadet das nichts, hat man doch heutzutage reiche Erfahrungen in der Behandlung solcher Leiden.

Ich kenne sogar einige Tochter erster Gesellschaftskreise, die von ihren Eltern an Manner verschachert worden sind, die mit diversen Krankheiten behaftet waren. Oh. wie 30

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widerwartigl SchlieBlich aber wird doch bald die Zeit kommen, da dieser ganze Lug und Trug zusammen- brechen wird 1“

Wieder stieB er seinen eigentiimlichen Ton von sich und griff zu seinem Tee. Der Tee war furchtbar stark, aber es fehlte an Wasser, ihn zu verdiinnen. Ich spurte, daB mich diese zwei Glaser, die ich getrunken, maBlos auf- regten. Auch seine Nerven hatte der Tee scheinbar stark aufgepeitscht, denn er wurde immer erregter. Auch wurde seine Stimme immer ausdrucksvoller. Er ver- anderte unablassig seine Stellung, setzte bald die Miitze auf, bald wieder ab, und sein Gesicht nahm seltsame Ver- anderungen an bei dem Halbdunkel, das uns umgab.

„So lebte ich bis zu meinem dreiBigsten Jahre, ohne dabei den Gedanken an eine Heirat und an ein reines, ideales Familienleben fallen zu lassen. Daher betrachtete ichein- gehend die jungen Madchen, um mir ein passendes zu erwahlen. W&hrend ich dem wolliistigsten Leben nach- jagte, spahte ich nach einem Madchen aus, dessen Reinheit meiner wurdig sei. Viele verwarf ich, da sie mir nicht makellos genug erschienen, bis ich endlich eine fand, die meiner wurdig zu sein schien. Es war eine der beiden Tóchter eines einst reich gewesenen, dann aber ver- armten Gutsbesitzers aus dem Pensaschen Gouvernement.

Eines Abends, als wir von einer Bootsfahrt im Mond- schein nach Hause kehrten, ich neben ihr saB und ihre schlanke, von einem enganliegenden Jersey umschlossene Figur und ihre Locken bewunderte, da fuhlte ich plótz­

lich, daB sie, nur sie, die Rechte fiir mich sei. Mir schien 31

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es aa jenem Abend, als verstande sie alles, alles, was mein Fiihlen und Denken regiere, und als triigen mich selbst nur die edelsten Gedanken und Gefiihle. Im Grunde genommen aber war es nur der Jersey und ihre Locken, die gut zu ihr paBten, und mein Verlangen nach dem in ihrer Nahe verlebten Tage, mich ihr noch starker, noch inniger zu nahern.

Es ist doch eigenartig, wie ausschlaggebend die Ein- bildung ist, daB das Schóne auch zugleich das Gute sei.

Eine schóne Frau kann noch so viele Dummheiten schwatzen, wir lauschen ihr begeistert und bilden uns ein, noch nie etwas so Gutes gehórt zu haben. Sie kann die unglaublichsten Dinge tun oder das dummste Zeug reden, immer werden wir nur etwas Schónes darin erblicken. Sagt sie aber weder etwas Dummes noch Widerwartiges und ist sie auch noch schon dazu, so sehen wir in ihr den kliigsten und sittlich hoch- stehendsten Menschen.

Vollig berauscht kehrte ich nach Ilause zuriick und war fest iiberzeugt, daB sie ein Meisterwerk sittlicher Voll- kommenheit und daher meiner wurdig sei. Und bereits am nachsten Tage machte ich ihr meinen Antrag.

Was ist das doch fiir eine Verirrung! Unter tausend heiratenden Mannern gibt es nicht nur in unserm Stande, sondern leider sogar im Volke kaum einen, der nicht schon vorher zehnmal bereits verheiratet gewesen ware.

Es soli jetzt allerdings jungę Menschen geben, die fiihlen und wissen, daB das Heiraten kein SpaB, sondern eine ernste Angelegenheit sei. Gott helfe ihnen! Zu meiner 32

(35)

Zeit war kaum ein solcher unter Tausenden zu finden.

Alle wissen es und tun doch so, als wiiBten sie es nicht.

In alien Romanen werden bis auf die kleinsten Einzel- heiten die Gefuhle der Helden, die Teiche und Gebusche, an denen sie lustwandeln, eingehendst beschrieben. Zwar wird von der groBen Liebe eines Helden zu irgendeinem Madchen erzahlt, ohne jedocli auch nur mit einem Wort etwas von dem Vorleben dieses Gepriesenen zu erwahnen.

Kein Wort wird iiber den Besuch óffentlicher Hauser, iiber Stubenmadchen, Kóchinnen und Frauen anderer ge­

sagt. Beschreibt aber wirklich einer einmal so un- passende Erlebnisse, so gibt man solche Biicher jungen Madchen, die sie doch am ehesten lesen miiBten, nie in die Hande.

Anfangs tauschen wir den jungen Madchen vor, daB die Sittenverderbnis, die die Half te des Lebens unserer Stadte und Dórfer beherrscht, uberhaupt nicht existiere. Dann gewohnen wir uns mit der Zeit selbst an diese Luge, bis wir endlich wie die Englander fest daran glauben, daB wir alle sehr sittliche Menschen seien und in einer sittlich vollkommenen Welt lebten. Die armen unschuldigen Madchen glauben aber wahrhaftig daran. Diesen Glauben hatte auch meine ungliickliche Frau. Ich erinnere mich noch, daB ich ihr einmal als Brautigam noch mein Tage- buch zeigte, aus dem sie wenigstens etwas fiber mein Vor- leben hatte erfahren kónnen, hauptsachlich aber fiber mein letztes Verhaltnis, von dem sie ja sehr leicht von anderer Seite Naheres hatte erfahren kónnen, und aus diesem Grunde hielt ich es fiir notwendig. Noch heute

Tołstoj, Kreutzer-Sonate 3 33

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erinnere ich mich ihres Schreckens, ihrer Verzweiflung und Verwirrung, als sie es erfuhr und begriff. Ich fuhlte, daB sie damals sich von mir losreiBen wollte. Hatte sie es doch getanl . .

Wieder gab er seinen Laut von sich, nahm einen Schluck Tee und verstummte.

6.

„Aber nein, nein, es ist ja so besser, viel besser", rief er aus. „Es geschieht mir ganz recht. Aber es handelt sich ja jetzt gar nicht darum. Ich wollte nur betonen, daB nur die unglucklichen jungen Madchen einzig und allein die Betrogenen sind.

Die Miitter wissen es ja auch, vor allem diejenigen, die von ihren Mannern erzogen worden sind. Sie geben sich zwar so, als waren sie von der Reinheit der Manner iiber- zeugt, handeln in Wirklichkeit aber doch ganz anders.

Wissen sie doch nur zu gut, mit welchem Koder sie die Manner fiir sich und ihre Tbchter heranlocken.

Nur wir Manner allein wissen es nicht, einfach, weil wir es nicht wissen wollen. Die Frauen aber wissen recht gut, daB die allerhabenste, sogenannte poetische Liebe nicht von sittlichen Vorzugen, sondern von der kórperlichen Nahe, von der Frisur, der Farbę und dem Schnitt der Kleider abhangt. Fragen Sie eine erfahrene Kokette, die sich die Aufgabe gestellt hat, einen Mann zu bezaubern.

was sie lieber wagen mbchte: in Gegenwart dessen, den sie bezaubern will, der Liige, der Grausamkeit, ja vielleicht selbst der Sittenlosigkeil iiberfuhrt zu werden, 34

(37)

oder sich ihm in einem schlecht sitzenden, unschdnen Kleide zu zeigen? Jede einzelne wird stets das erstere vor- ziehen. WeiB sie doch ganz genau, daft alles, was wir uber die hohen Gefiihle schwatzen, nichts als Luge ist;

dali uns nur der Kórper reizt und ihr daher alles ScheuB- liche verzeihen, nur kein haBliches, geschmacklosesKleid.

Eine Kokette ist sich dessen vollig bewuBt; jedes un- schuldige jungę Madchen weiB es auch, aber im Unter- bewuBtsein, wie ein Tier.

Daher eben auch alle diese Jerseys, die Turnuren, die nackten Schultern, Arme und die nur leicht verschleierten Bruste. Die Frauen, besonders diejenigen, die von den Mannern erzogen worden sind, wissen sehr gut, daB die Gesprache uber die sogenannten hohen Dingo in Wirk- Iichkeit nur wertloses Geschwatz sind und daB die Manner nur nach dem Kórper trachten und sich nur fur die Dinge interessieren, die ihn in ein móglichst ver- fiihrerisches Licht riicken. Und danach handeln sie auch.

Wenn man sich von der Einbildung, die uns zwar langst schon zur zweiten Natur geworden ist, alle diese abscheu- lichen Gewohnheiten schon z u finden, frei macht und einen Blick auf das schamlose Leben unserer ersten Ge- sellschaftskreise wirft, so muB uns dieses ganze Dasein als ein einziges groBes, óffentliches Haus erscheinen. Sie billigen diese Ansicht nicht? Gestatten Sie, ich werde es Ihnen beweisen", rief er, mich unterbrechend.

„Sie sagen, die Frauen unserer Gesellschaftskreise hatten andere lnteressen als die Frauen der óffentlichen Hauser.

Ich behaupte das Gegenteil und will es Ihnen beweisen.

3* 35

(38)

Wenn Menschen sich in ihren Lebenszielen, in ihrer Auf- fassung des Lebens unterscheiden, so muB sich das auch in ihrem AuBeren auspragen. Ziehen Sie doch einmal einen Vergleich zwischen jenen Unglucklichen, von alien Verachteten, und den Damen der ersten Gesellschaft: Sie finden die gleichen Toiletten, den gleichen Schnitt, die­

selben Parf time, dieselben entblóBtenSchultern undArme, die gleichen, leicht verschleierten Briiste und die scharf markierte Riickenlinie. Sie stoBen auf die gleicheLeiden- schaft fur bunte Steine und kostbar glanzende Dinge und dieselben Vergniigen: Tanz, Musik und Gesang. Sie bedienen sich der gleichen Koder, die Manner an sich zu locken. Es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen. Sieht man der Sache auf den Grund, so kommt man allerdings zu der Erkenntnis, daB die Prostituierte im Moment ver- achtet wird, die dauernd Prostituierte dagegen anerkannt und verehrt wird."

7,

,,So wurde auch ich von diesen Jerseys und Locken ein- gefangen. Es war nicht schwer, mich zu fangen, weil ich in Verhaltnissen groB geworden bin, unter denen die ver- liebten jungen Leute wie die Pilze aus dem Mistbeet emporschieBen. Unsere iiberreichliche, nervenerregende Nahrung bei volliger kórperlicher Untatigkeit dient doch nur zur systematischen Aufstachelung unserer Sinnlich­

keit. Sie mógen daruber erstaunen, soviel Sie wollen, es ist so. Auch ich verstand es bis vor kurzem nicht. Jetzt ist es mir aber um so klarer. Daher empórt es mich auch 36

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so, daB niemand es einsieht und viele solche Dummbeiten schwatzen, wie jene Dame.

In meiner Nahe arbeiteten im Friihling Bauern an einem Eisenbahndamm. Die gewohnliche Nahrung des Bauern besteht aus Brot, KwaB und Zwiebeln. Dabei fiihlt er sich wohl und kraftig, und seine Arbeit fallt ihm leicht.

Arbeitet er am Eisenbahndamm, dann besteht seine Nahrung aus Griitze und einem Pfund Fleisch. Dieses Fleisch verbraucht er bei vierzehnstiindiger Arbeitszeit taglich hinter einem mit dreiBig Pud belasteten Karren.

Ihm geniigt es, und er fiihlt sich wohl. Wie aber ver- arbeiten wir die zwei Pfund Fleisch, Wild, Fische und allerlei erhitzenden Speisen und Getranke, die wir taglich zu uns nehmen? Doch nur in sinnlichen Exzessen! 1st unser Sicherheitsventil offen, lauft alles seinen guten Gang; schlieBt man aber das Sicherheitsventil, wie ich es zeitweise tat, so entsteht eine Erregung, die sich, durch das Prisma der kunstlichen Bedingungen unseres Lebens brechend, als Verliebtheit, vielleicht sogar als eine plato- nische auBert. Auch ich verliebte mich, wie alle andern sich verlieben. Alles durchlebte ich: Entzucken, Ruhrung und Poesiel In Wirklichkeit aber war diese meine Liebe einerseits das Produkt von Schneiderin und Mutter, anderseits die Folge ubermaBiger Nahrung bei volliger Untatigkeit. Hatte es keine Bootsfahrt gegeben, keine Schneiderin mit ihren Taillen, ware meine Frau in einem geschmacklosen Morgenrock herumgelaufen, und ware ich anderseits ein normaler Mensch gewesen, der nur so viel Nahrung seinem Korper zugefiihrt hatte, als er 37

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zur Ausfiihrung seiner Arbeit benotigt, und ware mein Sicherheitsventil, das gerade zu jener Zeit verschlossen war, geoffnet gewesen, so hatte ich mich nicht verlicbt, und man hatte mich nicht eingefangen."

8.

„Alles traf hier so gut zusammen: meine Empfanglich- keit, das schóne Kleid und die Kahnfahrt. Zwanzigmal war es erfolglos gewesen, diesmal aber klappte alles wie am Schniirchen. Ich scherze nicht. Ehen legt man jetzt wie FuBangeln aus. 1st ja auch das naturlichste. Ein Madchen ist herangereift und muB nun einen Mann haben. Das erscheint ja ganz selbstverstandlich, zumal wenn das Madchen kein Scheusal ist und heiratshungrige Herren vorhanden sind. So geschah und geschieht es in der ganzen Welt: bei den Chinesen, Indern, Mohamme- dancrn, bei uns im Volke. So ist es im ganzen Menschen- geschlecht, kurz bei neunundneunzig Prozent der Mensch­

heit. Aber ein Hundertstel oder noch weniger von uns Lust- lingen ist zu der Uberzeugung gekommen, daB das unrecht sei und haben daher etwas Neues ersonnen. Doch worin besteht dieses Neue? DaB die Madchen umhersitzen und die Manner wie in einem Basar herumgehen und aus- wahlen. Die Madchen aber warten und denken: .Liebster, nimm mich! Mich! Nicht sie; sieh dir meine Schultern an und was ich dir sonst an Reizen zu bieten habe.‘ So denken sie, wagen es aber nicht auszusprechen. Und wir Manner gehen schauhaltend umber und sind hochst 38

(41)

zufrieden: ,0b, ich lasse mich nicht einfangen.* So stolzieren wir auf und ab und freuen uns, wie treffłich alles fur uns eingerichtet ist. Doch eines Tages, wenn man nicht gut achtgibt — ist man plótzlich schon ge- fangen.“

„Wie sollte es aber denn sonst sein?“ fragte ich. „Soli die Frau vielleicht den Antrag stellen?"

„Ich weifi selbst nicht. Will man aber Gleichheit der Geschlechter, so sollte in allem Gleichheit sein. Hat man dieses Vermitteln als etwas Erniedrigendes erkannt, so ist das andere noch tausendmal schlimmer. Dort sind die Rechte und Chancen gleich, hier aber ist die Frau Sklavin auf dem Sklavenmarkt oder der Koder in der Faile. Sagen Sie irgendeiner Mutter oder dem Madchen selbst, daB ihr ganzes Interesse sich einzig und allein darum gruppiert, einen Mann einzufangen — Gott, welche Beleidigung! Sie aber tun alle nichts anderes und haben keine andere Beschaftigung. Das Entsetzlichste aber dabei ist, dafi man oft blutjunge, arme, unschuldige Madchen damit beschaftigt sieht. Doch wenn das alles wenigstens noch offen geschahel So aber ist alles nichts als Betrug: ,Ach, die Entstehung der Arten, wie hoch- interessant! — Lilly interessiert sich fiir die Malerei!

Werden Sie die Ausstellung besuchen? Was macht die Troikapartie? Das Theater? Die Konzertveranstaitung?

Ach, wie himmlischl Meine Lisa schwarmt fiir Musik.

Warum teilen Sie eigentlich nicht die gleiche Ansicht?

Und wo bleibt die Bootsfahrt?*

Doch der einzige Gedanke bei alien ist nur der: ,Nimm 3

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doch michI Mich! Meine Lisa! Nein, mich! Versuch’ es nur! Diese Gemeinheit! Diese Luge!“

Wieder unterbrach er seine Rede, trank seinen Tee aus und raumte das Geschirr weg.

9.

„Glauben Sie mir,“ fuhr er fort, den Tee und den Zucker in die Reisetasche packend, „davon riihrt die Weiberherr- schaft her, unter der die Welt zu leiden hat.“

„Welche Weiberherrschaft?" fragte ich. „Alle Rechte und Vorrechte gehoren doch den Mannern.“

„Das ist es ja eben,“ fiel er mir ins Wort, „davon will ich ja gerade sprechen. Das dokumentiert jene unge- wohnliche Erscheinung, daB, wahrend die Frau einerseits aufs tiefste erniedrigt ist, sie anderseits dennoch herrscht. Sie gleicht in dieser Beziehung den Juden, die durch ihre Geldmacht ihre Erniedrigung rachen. ,Ihr zwingt uns, nur Kramer zu sein', sagen die Juden. ,Gut, also wollen wir nur Handler sein und zwingen euch in unsere Gewalt.' — ,Ach, ihr wollt, daB wir nur ein Gegenstand der Sinnlichkeit sein sollenl Gut, wir sind ein Gegenstand der Sinnlichkeit und werden euch damit unterjochen', sagen die Frauen. Die Rechtlosigkeit der Frau besteht nicht darin, daB sie nicht stimmberechtigt ist und nicht als Richter amtieren kann, denn diese Vor- teile geben ja im Grunde genommen gar keine Rechte, sondern, daB sie in geschlechtlicher Hinsicht demManne nicht ebenbiirtig gestellt ist, daB sie nicht frei von sich aus mit dem Manne verkehren oder sich ihm entziehen 40

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kann, daB sie gewahlt wird, statt selbst auswahlen zu konnen. Sic wollen sagen, daB das widerlich ware?

Gut, dann sollen aber auch dem Manne diese Rechte nicht eingeraumt sein. Das Recht, das die Manner genieBen, ist den Frauen heute versagt. Daher suchen sie sich da- durch zu entschadigcn, dafi sie auf die Sinnlichkeit der Manner wirken. Dadurch wiederum besitzt sie eine solche Macht uber sie, daB die Manner nur der Form nach noch wahlen, wahrend in Wirklichkeit die Frauen wahlen.

Haben sie sich aber dieses Mittels bemachtigt, so miB- brauchen sie es und gewinnen damit eine katastrophale Gewalt fiber die Manner."

„Worin auBert sich denn diese katastrophale Gewalt?“

fragte ich.

„Worin sich diese Gewalt auBert? Uberall und in allem.

Gehen Sie einmal durch die Warenauslagen einer Grofi- stadt. Die Arbeit, die die Menschen auf diese verwenden, ist unschatzbar. Millionen von Werten sind da zu- sammengehauft. Sehen Sie doch selbst nach, ob auch nur neun Zehntel aller Artikel dieser Auslagen fur den Ver- brauch der Manner bestimmt sind. Aller Luxus desLebens wird von den Frauen verlangt und von ihnen unterhalten.

Sehen Sie sich doch einmal in den Fabriken um. Der bei weitem gróBte Teil arbeitet nur unniitzen Schmuck, Equipagen, Mobel und sonstigen Tand fiir das weibliche Geschlecht. Generationen von Skiaven gehen in diesen Fabriken zugrunde als Opfer der Zwangsarbeit fiir die Befriedigung weiblicher Launen. Wie machtige Herr- scherinnen halten die Frauen neun Zehntel der gesamten 41

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Menschheit in Sklaverei und schwerster Arbeit. Und nur, weil man sie erniedrigt hat, weil ihnen die gleichen Rechte wie den Mannern geraubt worden sind. Sie rachen sich dafiir, indem sie auf die Sinnlichkeit der Manner ein- wirken und sie in ihre Netze einfangen. Ja, darin liegt eben der ganze Grund.

Die Frauen haben aus sich auf die Sinnlichkeit der Manner so stark wirkende Elemente entwickelt, daB ein Mann nicht ruhig mit einer Frau verkehren kann. Sobaid der Mann sich der Frau nur nahert, gerat er in ihren Bann und ist seiner klaren Sinne beraubt. Bereits friiher war es mir unheimlich und bang zumute, wenn ich eine Frau im Ballstaat sah, jetzt aber furchte ich mich direkt davor, denn ich erblicke darin etwas Gefahrliches fur die Menschen, etwas Gesetzwidriges. Ich móchte die Polizei um Schutz gegen diese Gefahr anrufen und die Beseiti- gung dieses gefahrdrohenden Gegenstandes verlangen."

„Sie lachelnl“ schrie er mich an. „Ich scherze durchaus nicht. Ich bin iiberzeugt, daB die Zeit, und zwar sehr bald, schon kommen wird, in der die Menschen einsehen und daruber erstaunt sein werden, wie eine Gesellschaft hat bestehen kónnen, in der solche, die allgemeine Ruhe stórenden Handlungen, diegeradezu die Sinnlichkeit her- ausfordern, erlaubt wurden. Das bedeutet doch gerade soviel, als ob man auf Promenaden und StraBen FuB- angeln auslegen wurde. Ja, noch schlimmer sogar. Warum verbietet man Hasardspiele, wahrend man den Frauen erlaubt, in Dirnenkleidern einherzustolzieren? Sind sie nicht tausendmal gefahrlicher?"

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10.

„Auf diese Weise wurde also auch ich eingefangen. Ich war, was man so nennt, verliebt. Ich sah in meinerBraut die hóchste Vollkommenheit und auch mich selbst als einen durchaus vollkommenen Menschen. Es gibt ja doch keinen Taugenichts, der als solcher nicht doch von einem noch gróBeren iibertroffen wird und der aus diesem Grunde nicht Ursache hatte, stolz auf sich und zufrieden mit sich selbst zu sein. So ging es dann auch mir. Nicht um Geld heiratete ich, aus materiellem lnteresse also, wie die iiberwiegende Mehrzahl meiner Bekannten. Ich war reich, und sie war arm. Das war das eine; das andere, was mich stolz auf mich selbst machte, war, wahrend andere nach ihrer Verheiratung in ihrer Ehe ihr poly- games Leben fortsetzen, ich dagegen die feste Absicht hatte, in meiner Ehe durchaus monogam zu leben; ein EntschluB, der mich grenzenlos stolz machte. Ja, ja, ich war ein widerlicher Kerl, hielt mich aber dennoch fur einen Engel.

Die Zeit unseres Brautstandes wahrte nicht lange. Er- innere ich mich heute dieser Zeit, so muB ich mich ihrer schamen. Wie widerlich 1 Gewóhnlich wird ja eine geistige Liebe vorausgesetzt; der geistige Verkehr sollte Ausdruck finden in Worten und Gesprachen. Nichts von alledem fand bei mir statt. Waren wir ailein, so fanden wir keinen Gesprachsstoff, und suchten wir einen solchen, so war das die reinste Sisyphusarbeit. Kaum hatte man 43

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endlich einmal einen Gedanken gefunden und ihn aus- gesprochen, so stellte sich schon wieder ein gahnendes Schweigen ein. Wir wuBten buchstablich nichts, was wir miteinander redcn sollten. Alles was das Leben, die Ein­

richtung, die Zukunftsplane betraf, war schon liingst durch und durchgesprochen. Von was sollte nun also geredet werden. Waren wir Tiere, dann wuBten wir, daB wir nicht zu sprechen brauchen, als Menschen aber muBte doch iiber etwas gesprochen werden, nur wuBten wir nicht was, da wir nur von einem einzigen Gedanken beherrscht waren, iiber den es nichts zu sprechen gibt. Hinzu kommt noch die dummc Angewohnheit des Naschens und die un- angenehmen Vorbcreitungen zur Hochzeit, die Wohnungs- frage, das Schlafzimmer, die Betten, die Morgenkleider, Schlafrbcke, Toiletten. Verstehen Sie mich doch, wenn man im Sinne des ,Domostroj‘ heiratet, wie jener alte Herr vorhin sagte, so sind doch alle die Federbetten, Kissen und sonstigen Aussteuergegenstande nur Einzel- heiten des heiligen Sakraments. Heute finden Sie aber bei uns kaum unter zehn Heiratenden einen, der an das Sakrament glaubt, sondern auch daran nicht, daB er mit einer Heirat eine gewisse Verpflichtung auf sich nimmt.

Unter hundert Miinnern finden Sie kaum einen, der nicht schon vor seiner Heirat verheiratet gewesen ware, und unter fiinfzig keinen, der nicht im voraus auf Treubruch sinnt, und die Mehrzahl unter ihnen betrachtet die Fahrt zur Kirche nur als eine unerlaBliche Form, in denBesitz einer bestimmten Frau zu kommen. Bedenken Sie, welch schreckliche Bedeutung dann alle diese Einzelheiten 44

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erhalten. Einzelheiten werden zu Wichtigkeiten. Es tragt den Charakter einer Art Handel. Ein unschuldiges Madei wird an einen Wustling verkauft und dieser Handel in tauschendster Weise beschónigt."

11.

„So heiraten alle; so habe auch ich geheiratet. Nun kam der so viel gepriesene Wonnemonat. Wie irrsinnig ist doch schon diese Bezeichnung", knirschte er wiitend.

„Ich bummelte einmal zwischen den Schaubuden von Paris umher und betrat eine Bude, in der eine behaarte Frau und ein Seehund ihre Kiinste vorfuhrten. Diese ,Frau‘ war nichts anderes als ein dekolletierter und in Frauenkleider gesteckter Mann und der ,Seehund' ein- fach ein ganz alltaglicher in das Fell eines Seehundes gesteckter Hund, der in einer Wassertonne umher- schwamm. Was war daran nun besonders Interessantes?

Als ich die Bude verlieB, begleitete mich der Besitzer, der die beiden ,Prunkstiicke‘ dem Publikum vorfuhrte, hoflich zur Tur und sagte, wahrend er sich zur Menge wandte: ,Fragen Sie nur bitte diesen Herrn, meine Herr- schaften, obes nicht sehenswert ist. Kommen Sie herein I KommenSie herein I Einen Franken nur die Person!' Ich weiB nicht, weshalb ich mich scheute, den Leuten zu sagen, daB es nicht interessant sei, und allem Anscheine nachhatte der Besitzer auch damit gerechnet. So geht es wohl auch alien denen, die das Widerwartige der Flitterwochen erlebt haben, den andern aber das Geheimnis nicht 45

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entschleiern wollen. Damals habe auch ich niemand enttauscht, sehe aber nicht ein, warum ich jetzt nicht die Wahrheit verkunden soli. Ich halte es sogar fur meine Pflicht, nunmehr offen daruber zu sprechen. Die Flitterwochen enttauschen einen bitter; man schamt sich, ist bedruckt, traurig, unsagbar traurig sogar. Es war der gleiche Zustand, den ich empfand, als ich das Rauchen anfing; mir wurde iibel, der Speichel floB mir im Munde zusammen, und wahrend ich ihn łiinunterschluckte, ver- suchte ich doch eine Miene aufzusetzen, als bereite mir das Rauchen einen HochgenuB. Der eigentliche GenuB des Rauchens ebenso der des Geschlechtsverkehrs stellte sich erst spater ein. Der Mann muB die Frau erst zu diesem Laster erziehen, damit es ihnen schlieBlich GenuB bereite."

„Laster?" fragte ich. „Sie sprechen doch von dem natiir- lichsten Triebel"

„Naturlich 1“ sagte er. „Naturlich? — Nein, ich muB Ihnen sagen, daB ich im Gegenteil zu der Uberzeugung gekommen bin, daB es ganz, ganz unnaturlich ist. Fragen Sie Kinder, fragen Sie unverheiratete Madchen. Meine Schwester heiratete sehr jung einen Mann, der noch einmal so alt war wie sie und noch ein Wustling oben- drein. Ich besinne mich sehr genau, als sie in der Hochzeitsnacht bleich, verweint, am ganzen Kórper zitternd, von ihm weglief und erklarte, sie konne um keinen Preis in der Welt das aussprechen, was er von ihr verlangt habe.

Sie sagen ,naturlich"? Essen ist etwas Natiirliches, es 46

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macht Vergniigen, falit einem leicht und erfordert keine Uber winching der Scham. Hierbei aber ist alles wider- lich, erfordert Scham und bereitet Schmerzen. Nein, es ist durchaus unnatiirlich, und jedes unverdorbene Madchen ekelt sich davor, wie ich mich davon uberzeugt habe."

„Wie aber sollte denn dann das Menschengeschlecht fort- bestehen?" fragte ich erstaunt.

„Weshalb soli es denn fortbestehen?" versetzte er mit beifiender Ironie, ais hiitte er diese Frage erwartet.

„Die Enthaltsamkeit vom Kindergebaren predigen, damit die englischen Lords noch mehr fressen kbnnen, ist er- laubt. Die Enthaltsamkeit vom Kindergebaren predigen, damit wir uns den Genussen des Lcbens hemmungsloser hingeben kónnen, ist erlaubt. Wurde aber einer einmal wagen, ein Wbrtchen uber die Enthaltsamkeit vomKinder- gebaren aus Grunden der Sittlichkeit zu sagen, o Gott, welch ein Geschrei wiirde sich da erheben. Sofort wurde gesagt werden, das Menschengeschlecht konne aussterben, nur wenn einige wenige beschliefien wurden, ihr schweinisches Leben aufzugeben.

Entschuldigen Sie bitte, mich blendet das Licht, darf ich es verhangen?" lragte er, wahrend er auf die Laterne wieś.

Ich sagte ihm, daB es mir gleich sei. Ilastig erhob er sich und zog den Vorhang vor die Laterne.

„Und doch wiirde das Menschengeschlecht aussterben,"

sagte ich, „wenn alle Menschen nach Ihrem Gesetze leben wurden."

Er antwortete nicht sogleich.

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„Sie meinen, dann also wiirde das Menschengeschlecht aussterben?“ fuhr er fort, wieder seinen Platz mir gegen- iiber einnehmend.

„Weshalb sollen wir denn aber existieren?"

„Weshalb? Na, um eben zu existieren.“

„W ozu sollen wir denn existieren?

„Wenn wir leben, ohne ein Ziel vor uns zu haben, wenn das Leben nur des Lebens wegen gelebt wird, so braucht man allerdings iiberhaupt nicht zu leben. Verhalt es sich aber so, dann sind alle Anhanger Schopenhauers, Hart­

manns sowie aller Buddhisten im Recht. Und dem ist auch so“, sagte er sichtlich erregt und mit einer gewissen Selbstbefriedigung iiber diesen Gedanken. „Und dem ist auch so. Bitte, bedenken Sie folgendes: Wenn das Ziel der Menschheit in den Weissagungen der Propheten liegt, daB also alle Menschen eine groBe Gemeinschaft einer einzigen Liebe bilden, dafi die Schwerter zu Sensen um- geschmiedet werden und so weiter, was steht der Er- reichung dieses Zieles im Wege? Einzig und allein doch nur die Leidenschaft. Die starkste, gemeinste und hartnackigste aller Leidenschaften ist aber die ge- schlechtliche, sinnliche Liebe. Wurden also die Leiden­

schaften und mit ihnen die machtigste unter ihnen, die geschlechtliche Liebe, abgeschafft werden, so wurden sich die Weissagungen erfiillen, die Menschheit hatte ihr Ziel erreicht, und damit wiirde sich jegliches Weiterleben eriibrigen. Solange aber die Menschheit lebt, verfolgt sie ein Ideal, natiirlich nicht das der Karnickel oder Schweine, die nur den Trieb der Ver-

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mehrung kennen, aber auch nicht das der Affen und Pariser, die nur den GenuB des Geschlechtsverkehrs auskosten wollen, sondern das des Guten, das nur durch Reinheit und Enthaltsamkeit erreicht werden kann. Nach diesem hat die Menschheit stets gestrebt, auch heute noch.

Doch wie sieht das Resultat davon aus? Die sinnliche Liebe erweist sich als das Sicherheitsventil. Wenn die gegenwartige Generation das Ziel noch nicht erreicht hat, so liegt der Grund doch nur darin, daB sie noch mit Leidenschaften kampft, unter denen die geschlechtliche die machtigste ist. In dieser geschlechtlichen Leiden- schaft liegt aber zugleich das Fundament einer neuen Generation und wiederum in ihr die Móglichkeit, daB eventuell das erstrebte Ziel von ihr erreicht wird. Hat auch diese das Ziel nicht erreicht, so ubertragt sich die Hoffnung auf die kommende und so fort, bis das Ziel wirklich einmal erreicht und damit die Weissagung er- fullt ist, daB die Menschen in der Gemeinschaft einer einzigen Liebe sich vereinigen werden. Was karne sonst aber noch heraus? Wenn Gott die Menschen erschaffen hat, mit der Bestimmung, ein Ziel zu erreichen, so hatte er sie entweder sterblich, ohne sinnliche Triebe, oder un- sterblich geschaffen. Was aber kamę heraus, wenn sie sterblich, ohne geschlechtliche Leidenschaften waren?

Sie wurden eine gewisse Zeitlang leben, um dann, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, zu sterben. So miiBte Gott wieder ein neues Geschlecht erschaffen, damit dieses das Ziel erreiche. Nehmen wir aber an, die Menschen seien un- sterblich und wurden nach vielen Jahrtausenden das Ziel

Tołstoj, Kreutzer-Sonate 4 49

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erreicht haben (obwohl es gleichen Menschen einer Generation schwer fallen wurde, Fehler gutzumachen und sich der Vollkommenheit zu nfihern, als neuen Generationen). Was sollte dann werden? Welche Auf- gaben hatten sie dann noch zu erfullen? Wo dann hin mit ihnen? Das Bestchende ist also doch wohl das Beste.

Vielleicht aber stoBen Sie sich an meiner Ausdrucksforin.

Vielleicht vertreten Sie die Entwicklungstheorie. Doch auch dann kommt man zum gleichen Resultat. Die Menschen, die hóchstentwickelte Art aller Lebewesen, mussen, um den Kampf mit den anderen Lebewesen er- folgreich durchfuhren zu konnen, sich eng wiedieBienen in einem Schwarm zusammenschlieBen und sich nicht ins Unendliche vermehren. Sie mussen wie die Bienen Geschlechtslose aufziehen, also nach Enthaltsamkeit streben. Unser ganzes Dasein richtet aber sein Haupt- augenmerk nur auf das Aufpeitschen sinnlicher Geluste.“

Er hielt inne. „Das menschliche Geschlecht wird aus- sterben. Wird dies auch nur einer bezweifeln konnen?

Es steht ja ebenso fest wie der Tod. Alle Religionen weisen auf das Ende der Weit hin, und auch alle wissen- schaftlichen Theorien laufen auf das gleiche Resultat hinaus.“

12.

„Unsere Weit wird gerade vom Gegenteile beherrscht.

Wenn jemand in seiner Junggesellenzeit noch an Ent­

haltsamkeit denkt, so betrachtet er nach seiner Heirat die 50

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Enthaltsamkeit als etwas hóchst Uberfliissiges. Alle Hochzeitsreisen, die Einsamkeit, die die jungen Eheleute mit Genehmigung der Eltern aufsuchen, sind doch nichts anderes als eine Genehmigung der Ausschweifungen.

Das sittliche Gesetz racht sich aber stets an dem, der es verletzt. So viel Miihe ich auch darauf verwandte, die Flitterwochen so angenehm wie móglich zu gestalten, so blieb doch alles vergebens. Diese ganze Zeit war haBlich, demutigend, schamvoll und traurig. Bald aber wurde sie qualvoll und immer schwerer zu ertragen.

Es war, soweit ich mich erinnere, am dritten oder vierten Tage, als ich meine Frau in sehr gedriickter Stimmung antraf. Ich fragte nach der Ursache, legte meinen Arm um sie, womit ich meiner Ansicht nach alles getan hatte, was sie iiberhaupt nur erwarten konnte; sie aber wies meinen Arm zuriick und brach in bitterliches Weinen aus. Warum sie weinte, wuBte ich nicht zu sagen, aber sie war so niedergeschlagen, so unsagbar bedriickt. Ihre geschwachten Nerven hatten ihr aller Wahrscheinlichkeit nach das Widerliche unserer gegenseitigen Beziehungen empf inden lassen; nur konnte sie sich nicht aussprechen daruber. Ich belastigte sie mit allerlei Fragen, bis sie mir schlieBlich ihre Sehnsucht nach ihrer Mutter verriet. Ich glaubte ihr das nicht. Ich suchte sie zu beruhigen, vermied aber die Mutter dabei zu erwahnen. Ich verstand nicht, daB sie sich gramte und die Mutter nur als Vorwand gebrauchte. Sie war verletzt, daB ich ihre Mutter mit keiner Silbe erwahnte, als miBtraue ich ihr.

Sie sagte, daraus ersahe sie, daB ich sie gar nicht liebe.

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Ich warf ihr Eigensinnigkeit vor. Ihr Gesicht veranderte sich plótzlich, aus Trauer wurde Gereiztheit, und in den giftigsten Worten warf sie mir Harte und Egoismus vor.

Ich blickte sie an. Ihr ganzes Gesicht hatte den Ausdruck des Zornes angenommen, der sich gegen mich richtete.

Ich erinnere mich noch, welches Entsetzen mich ergriff, das ich bei diesem Anblick empfand. — ,Wie? Was?‘

fragte ich mich. ,Statt Liebe, die da Seelenverwandtschaft sein soli, stoBe ich auf Hali? Das kann ja nicht seinl Das ist doch nicht dieselbe, meine FrauT Ich bemiihte mich, sie zu beschwichtigen, stieB aber auf eine so un- iiberwindliche Mauer von Kalte und gif tiger Feindselig- keit, daB die Reizbarkeit, ehe ich mich dessen versah, auch mich ergriff und wir uns nun gegenseitig die ge- hassigsten Worte sagten. Der Eindruck dieses ersten Streites war schrecklich. Ich nenne es einen Streit, das war es aber eigentlich gar nicht, vielmehr war es das Gewahrwerden jener Kluft, die von Anfang an hemmend zwischen uns gahnte. Das Gefiihl der Verliebtheit war durch die sinnliche Befriedigung erschópft; nun waren wir auf unsere tatsachlich bestehenden Beziehungen zu- einander angewiesen, das heiBt, wir standen uns als zwei einander vollig fremde Egoisten, die nur gegenseitig die Befriedigung ihrer Wollust erwarten, gegeniiber.

Ich nannte das, was sich zwischen uns abgespielt hatte, Streit, in Wirklichkeit aber waren es nur die Folgen unserer erlóschten Sinnlichkeit, die nun unsere eigent- lichen Beziehungen zueinander bloBlegten. Ich begriff da- mals nicht, daB diese kalten, feindseligen Beziehungen

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