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Jahrbuch für Philologie

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Academic year: 2021

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B i b l i o t e k a

U .M . K.

Tor un /

JAHRBUCH

FÜR PHILOLOGIE

0. BERTONI, TURIN / W. BLUM ENFELD, D RESDEN / W. FISCHER, DRESDEN / H. HATZFELD, FRANKFURT A. M. / V. K LEM PER ER , DRESDEN / W. KÜCHLER, WIEN / E. LERCH, MÜNCHEN / E.

LOMMATZSCH, GREIFSWALD / E. LORK, KÖLN / H. NAUMANN, FRANKFURT A. M. / F. NEUBERT, LEIPZIG / L. PFANDL, MÜNCHEN O. SCHÜRER, PRAG / L. SPITZER, BONN, / J. STENZEL, BRESLAU

K. VOSSLER, MÜNCHEN / O. WALZEL, BONN

VICTOR KLEMPERER/ DRESDEN

UNTER MITWIRKUNG VON

HERAUSGEGEBEN VON

UND

EUGEN LERCH/MÜNCHEN

I. BAND 1925

V E R L A G D ER HOCHSCHULBUCHHANDLUNG MAX HUEBER

MÜNCHEN

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'öGoO

Ö A

'X .

Copyright 1925 by Verlag d er H ochschulbuchhandlung Max H ueber/M ünchen

G edruckt von Dr. F. P . D atterer & Cie,, Freising-M ünchen. Printed in Qermany.

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Inhalt.

Seite Vorwort ... IV

Karl Voßler, München, Die Nationalsprachen als S t i l e ... i

Etienne Lork, Köln, Die Sprachseelenforschung und die französischen M o d i ... 24

Hans Naumann, Frankfurt a. M., Ueber das sprachliche Verhältnis von Ober- zu U n tersch ich t... 55

Eugen Lerch, München, Ueber das sprachliche Verhältnis von Ober- zu Unterschicht mit bes. Berücksichtigung der Lautgesetzfrage . 70 Giulio Bertoni, Turin, Che cosa sia l'etim ologia idealistica . . . . 125

Leo Spitzer, Bonn, Aus der Werkstatt des E ty m o lo g e n ... 129

Julius Stenzel, Breslau, Sinn, Bedeutung, Begriff, Definition. Ein Bei­ trag zur Sprache der Sprach m elod ie... ... 160

Erhard Lommatzsch, Ghreifswald, Deiktische Elemente im Altfranzö­ sischen. II... 202

Viktor Klemperer, Dresden, Positivismus und Idealismus des Literatur­ historikers ... 245

W. Blumenfeld, Dresden, Historische Wissenschaft und Psychologie . 269 Fritz Neubert, Leipzig, Antikes Geistesgut in der französischen Literatur seit der R e n a i s s a n c e ... 300

Walther Küchler, TVien, Esther bei Calderon, Racine und Grillparzer . 333 Helmut Hatzfeld, Frankfurt, Künstlerische Berührungspunkte zwischen Cervantes und R a b e l a i s ... 355

Ludwig Pfandl, München, Cervantes und der spanische Renaissance- R om an ... 373

Walther Fischer, Dresden, Joseph Hergesheimer, Ein Beitrag zur neuesten Amerikanischen L ite r a tu r g e s c h ic h te ... 393

Oskar Walzel, Bonn, Farin ellis deutsche A u f s ä t z e ...413

Oskar Schürer, Frag, Der Neoklassizismus in der jüngsten französischen M a l e r e i ... 427

Viktor Klemperer, Dresden, Der Begriff R o k o k o ... 444

Nachträge und B e r ic h tig u n g e n ...468

R e g i s t e r ... 47 °

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V o r w o r t .

D e r T itel, den dieses Jahrbuch tragen sollte, h at uns einiges K opfzerbrechen gem acht. W ir w ollten es zuerst „Id ealistisch e N e u ­ p h ilo lo g ie“ nennen, und so ist es bereits gelegen tlich vorw egnehm end zitiert worden. D am it sollte ausgedrü ckt werden, daß unser Jah r­

buch den W e g fortsetze, den unsere gleich n am ige V o ß ler-F estsch rift (H eidelberg 1922, C arl W inter) betreten hat. D och kam uns das Bedenken, daß der festliche T ite l einer G eb urtstagsgab e für den A llta g eines Jahrbuches unpassend sein und hier falsche A u sd e u tu n g finden möchte. D anach erw ogen w ir den T ite l „Jahrbuch für Sp rach - k ritik “, der gleich falls (in einem ersten Prospekt) an die Ö ffen tlich keit gelangte. A b er auch dieser T ite l w äre M ißverständnissen ausgesetzt gewesen, wenn n ich t besondere E rläu teru n g ihm W eitm asch igkeit und B iegsam keit verliehen hätte.

N u n haben w ir uns, ebenso bescheiden w ie unbescheiden, zu dem scheinbar nichtssagenden T ite l „Jahrbuch für P h ilo lo g ie “ ent­

schlossen. D er B egriff „P h ilo lo g ie “ ist heute doppelt an rü ch ig:

einm al riecht er nach Schulm eisterei, zum ändern nach jener p o si­

tivistisch en Sprach- und L iteraturw issenschaft, die uns zw ar als unentbehrliche G ru n d lage gilt, k ein esw egs aber als Ziel. W ir m öchten das W o rt in dem alten, großen und g eistigen Sin n nehmen, den es bei den H um anisten hatte, als sie in die „P h ilo lo g ia sacra et profana“

die gesam ten g eistigen In halte der V ergan gen h eit gossen.

Victor Klemperer. Eugen Lerch.

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Die N ationalsprachen als Stile Von Karl Vossler

D ie erste W irk u n g, wenn w ir eine frem de Sprache hören, p flegt abstoßend oder kom isch zu sein. „ W ie kann man anders als i c h , als w ir . m it seinen Sprach W erkzeugen u m geh en !“, so denken die K inder, die Völker, die U rsprün glichen. S ie höhnen den A u sländ er und haben irgend ein K ennzeichen seiner Sprechw eise, zum eist etwas Ä ußerliches, auch bald heraus, das sie äffend übertreiben.

D ieses A uffallende, das, w ie ein H elm busch, uns aus der F erne schon herausfordert oder anzieht, nenne ich das Ornam ent der Sprache. E s kann allerhand sein: K lan gfarbe, Stim m einsatz, B etonung, M elodie, R hythm us, oder irgend eine I^autgruppe, deren W iederkehr ins O hr sticht, etwas Z u fälliges so g u t w ie etwas W ese n t­

liches. D enn alles, was w ir an einer Sprache n ich t verstehen, berührt uns abweisend als F ratze oder, bei freundlicherer Betrachtung, an­

ziehend als Schm uck. K u rz, w as man nicht erklären kann, sieht man als schön und h ässlich an.

Darum w ird von der gram m atischen F o rsch u n g alle ästhetische B eu rteilu n g der einzelnen Sprachen als L,aiengerede abgelehnt. Ob das Italien ische „sch ön er“ sei als das F ran zösisch e oder das E n glisch e g ilt ihr als gegenstandslose Frage. A u ch ist sie m ißtrauisch mit gutem R echte gegen jede E rk lä ru n g von sprachlichen E rschein un gen aus Schönheitsbedürfnis, aus euphonischen, eurhythm ischen oder ähn­

lichen N eigu n gen . D a sie den Bau der Sprachen als ein zw eck ­ m äßiges System oder gar als einen M echanism us von A u sd ru c k s­

m itteln verstehen w ill, darf sie den L,aunen des G eschm acks auch

nich t den kleinsten Spielraum lassen. Das sprachliche Ornam ent

ist ihr ein T ru g b ild . In der T a t verblaßt für jeden, der sich um

eine Frem dsprache bemüht, in dem M asse w ie er sie verstehen und

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sprechen lernt, dieses häßlich-schöne Scheinw esen. D er R eiz k lin g t ab, der H elm busch verschw indet, w eil der Sprachbeflissene ihn nun selber trägt und n ich t m ehr sehen kann. E in e Sprache, die mein eigenes A n g e s ich t w ird, m eine eigenen G efü hle und G edanken zeigt, hat für m ich kein A u sseh en m ehr — es sei denn, daß ich vo r den Sp ieg el trete und durch R eflexion sie m ir noch einm al fremd mache.

D ann freilich sehe ich den H elm busch wieder, aber mit anderen, m it verstehenden und kritischen A u g e n als ein D in g, das an mir und außer mir ist, mein eigen und dennoch veräußerlich. Ich kann ihn tragen w ie mir beliebt: schief oder gerade. Ich probe seine W irk u n g aus und käm m e und bürste ihn. W as die w issen sch aft­

lich e G ram m atik leugnete, ist nun doch w ieder da und w ird sogar unter den H änden von akadem ischen Gram m atikern, R ednerschulen, D iktion skü n stlern und P uristen zum G egen stan d einer bew ußten Pflege.

W a s ist aber dieses ornam entale A usseh en einer Sprache, dieses D oppelwesen, das, sichtbar und scheinhaft, den Frem den reizt, dem E in ­ geborenen entschwindet, vom Sprachkenner bezw eifelt und verneint u n d vom L iebhaber bejaht und gep flegt wird ? E s ist das jew eils B e ­ sondere, Charakteristische, In dividuelle, N ationale, M undartliche, Id io ­ m atische usw., im U nterschied vom A llgem einen und Persönlichen. A l l ­ gem ein und persönlich ist die Sprache in ihrem Streben nach E in h e it­

lich k eit und Sachlichkeit, ind ivid uell aber in ihrem D rang nach M an n ig­

fa ltig k eit und Schm uck. D ie sog. Sach- und Fachsprachen, die W elt- und Einheitssprachen zielen auf das Zw eckm äßige, K onven tion elle und K ü n stlich e, fliehen das K ü n stlerisch e und vernachlässigen das O rna­

ment. Ihnen ist es gleich g ü ltig, w ie sie aussehen, w ofern sie nur v e r­

standen werden. S ie w ollen lieber gelten und herrschen als gefallen. S ie sind „interessiert“ . D ie individuellen und nationalen Sprachen da­

gegen halten auf ihr A ussehen, trachten nach S til und Schein. S ie pflegen bew ußt und unbew ußt das Ornament, das jen e verschm ähen.

W e r w eiß nicht, w ie geschm acklos, w ie undeutsch oft die F a c h ­ sprache der K a u f leute, der Ä rzte, der Richter, der T ech n ik er ist, und w ie fade und ledern das E speranto sam t seinen R ivalen.

Sonach fällt auf dem G ebiet der Sprache das spezifisch N ation ale unter den B egriff des Ornam entalen. D as D eutsche oder das Ita ­ lienische ist als eine besondere n a tion al-in d ivid u elle Instrum en­

tieru n g des sprachlichen D enkens gleichbedeutend m it deutscher

oder italienischer Sprachornam entik.

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N u n haben w ir aber bei unserer A n a ly s e des In d iv id u alitäts­

b e g riffs1) in A brede gestellt, dass Individuen, reine Individualitäten, w ie doch ein V o lk kraft seines N ation algefü h ls eine sein möchte, ausschließliche T rä g e r der Sprache sein können. U m an der Sprache teilzuhaben, sagten wir, m üsse man vo r allem eine Person sein, d. h. die G abe haben, sich in die verschiedenen R ollen des H örens, Verstehens, A ntw ortens usw. auseinanderzulegen. W ir brauchen, um den B egriff der N ationalsp rache und dam it den der sprachlichen O rnam entik zu retten, diese frühere T h e se kein esw egs preiszugeben.

N u r abgrenzen und verbinden, unterscheiden und vereinigen m üssen w ir die B egriffe der In divid u alität und der Person, der ornam entalen und der sachlichen Sprachen gegen - und miteinander. W ie man vom Individuum zur P ersönlichkeit aufsteigt, indem man die S tarr­

h eit des Steines und die D um pfheit des T ieres in sich überw indet, um in eine sachlichere und höhere E in h eit als man selbst ist, ein ­ zugehen, so m üßte andererseits eine Sprache, die nur individuell, nur ornam ental und national sein und bei der V olkstü m elei ihrer S onderlichkeit stehen bleiben wollte, zur bloßen M undart verkü m ­ m ern; gerade ih r nationales A u sseh en m üßte unter der Starrheit des G riffes, m it dem sie es festhalten w ollte, zerbröckeln.

E s g ib t keine N ationalsprache, die lediglich national w äre und gan z in ihrer O rnam entik befangen bliebe. Irgen d w ie m uß sie immer eine sachliche oder fachliche A n gelegen h eit betreiben. D as D eutsche stellt nich t nur deutsche E igen art dar, es dient auch den G eschäften der Deutschen, und diese sind niem als aussch ließlich deutsch g e ­ wesen. E benso m üßte eine O rnam entik, die keinen anderen Sinn hätte als ornam ental zu wirken, erstarren und von dem Bau, den sie schm ücken sollte, abfallen.1) Jedes sin n volle Ornam ent verrichtet in der Sprache w ie in der A rch ite k tu r einen tragenden, einen sach ­ lichen Dienst. Je entschiedener das O rnam entale und das S trukturelle sich g ege n se itig durchdringen, desto stilvoller wird eine Sprache.

D aher einer vollendeten N ationalsprache gegenüber die Forderung, daß alles, w as strukturell an ihr ist, zu gleich als ornam ental und vice versa betrachtet und verstanden werde. Je glatter diese R ech ­ n u n g aufgeht, desto geschlossener der sprachliche N ationalstil. M it anderen W orten : die N ationalsprachen müssen, wenn man ihrem

l) Vgl. meine Abhandlung über „Sprechen, Gespräch und Sprache“ in der Deutschen Vierteljahrsschrift (Halle 1923), I, S. 665 ff.

*) Über starre und unstarre Ornamentik in der Sprache, siehe meine

„Gesammelten Aufsätze zur Sprachphilosophie“, München 1923, S. 249 ff.

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besonderen Charakter gerecht werden w ill, als S tile und n ich t so sehr als Sprache gew ü rd ig t werden. N ation en sind Individuen, und als solche können sie sich zw ar sprachlich darstellen und stilisieren, aber n ich t eigen tlich sprechen. K s ist eine T äu sch u n g, dass eine bestim m te Sprache von einer entsprechenden N ation als solcher gesprochen werde. Sprecher sind die vielen Personen, die ihr an­

gehören. D ie N ation selbst ist stum m und daher jedem M ißtrauen u n d M ißverständnis frem der V ö lk e r preisgegeben. W ill sie zu W orte kom m en und etwa einer anderen N ation etwas sagen, so m üssen die beiden sich staats- und völkerrech tlich als P e r s o n e n k o n ­ stituieren, m üssen ihre Vertreter und zu gleich die Sprache bestimmen, in der diese sich unterhalten sollen.

D ie N ationalsprachen sind im I^ebensprozeß der M enschheits­

sprache der eigentlich stilistisch e Moment, d. h. diejenige Phase der sprechenden T ä tig k eit, in der der G eist sich den Spielraum schafft oder die Bahn bereitet, innerhalb deren gesprochen wird. D ie R egeln des G ebrauches erscheinen dann nich t als Z w ang, sondern als gew ollte B in d u n g und errungene Freiheit, ja n ich t einm al als etw as F ertiges, sondern als R ich tu n gen und Ström ungen des sprachlichen W illen s.

W e r eine Sprache auf ihre nationale E igen art und das heißt auf ihren S til untersucht, darf nicht, w ie der Gram m atiker, fragen, was in ihr erlaubt und m öglich i s t , sondern, w as durch sie erstrebt, g ew o llt und m öglich w i r d . N ic h t der potentielle, vielm ehr der aktuelle Spielraum , der dadurch geschaffen wird, daß man ihn ausfüllt, ist w esentlich für einen S til — nich t das, w as er bezeichnen kann, sondern, w as er tatsächlich bedeutet. In jeder N ation alsprache nistet ein kü nstlich er W ille, ein Baumeister, den w ir n ich t etw a ihr unter­

schieben oder andichten, sondern der sie als in d ivid uelle sprachliche E in h eit selbst ist. D ie R om antiker nannten das den G eist oder G en ius eines V olkes, und die P ositivisten haben darüber gelacht, w eil sie in der W issensch aft an keine G espenster glauben wollten. F re ilich darf man den G en ius nich t personifizieren, denn in seinem D ienste stehen, w enn die N ation groß ist, T au sen de und M illionen von Personen, die seine Vertreter sind. D er G en ius oder Sp rach geist einer N ation ist ihre Genialität, also kein Fabelw esen, sondern eine K raft, eine B egabung, ein Tem peram ent. W ie einzelne M enschen haben auch einzelne N ationen ihr ind ivid uelles Tem peram ent, ihre spezifische K raft, ihr besonderes K önnen, durch das sie sich von anderen N ationen als eine E in h eit fü r sich unterscheiden. Darum stoßen sie ab, w as ihnen fremd oder u n zuträglich ist und nehmen

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auf und verarbeiten nur, w as ihnen angenehm oder förderlich er­

scheint. D an k diesem geistigen N atu rin stin k t erhält sich eine N ation als ind ivid uelle K in h eit und hat an sich selbst ihre G renze. S ie w i l l sich beschränken und entsagt, so oft sie sich auf ihre Individualität, auf ihre N atur, auf ihren G en ius besinnt, dem Im perialism us, w elcher das staatliche, n ich t das nationale W esen beseelt und quält. W o zu sollte die G enialität eines V o lk es sich G ebiete erobern, wenn sie Ideen geliefert bekom m t, w enn allerlei g eistige S ch ätze ihr so m assenhaft Zuströmen, daß sie sich deren eher zu erwehren als zu bem ächtigen hat ? Frem dw örter bieten sich an und drängen sich auf, daher es geschm acklos wäre, ihnen nachzulaufen. E s gehört n ich t zum W esen der Genialität, daß sie Eroberungen mache, sondern daß sie echt und genuin sei, daß sie sich treu bleibe. A ls die A rab er Spanien erobert hatten, w äre vielleich t die ganze H albinsel ihrer Sprache verfallen, wenn das A rab isch e nich t so arabisch gew esen wäre, d. h.

den Eroberern so eigen und den U nterw orfenen so fremd. U nd wenn das D eutsche nich t so deutsch, sich selbst nich t so getreu hätte bleiben wollen, so hätte es in der m ittelalterlichen K aiserzeit vielleich t die europäische W eltsprache werden können. A n äußeren M öglich keiten fehlte es nicht. Jeder sprachliche N ation alstil hat aber in sich selbst ein Maß, das er nich t ungestraft überschreitet, eine Grenze, w o die Selbstentfrem dun g beginnt, w o der W ille zum S til durch den W illen zur M acht gefälsch t und zerrüttet w ird und der G en ius dem Däm on weicht. D aher die nationale G enialität nicht ohne w eiteres zu r sprachlichen W eltherrschaft taugt. M an denke an die G riechen im V erg le ich zu den Römern, an die Italiener der R enaissance im V ergle ich zu den Spaniern, an die D eutschen der F reih eitskriege im V ergleich zu den Franzosen. D ie w ahre Iyebens- form einer N ationalsprache ist zentripetal und innerlich, nicht aus­

fällig. D ie N ationalsprachen geraten im m er nur dadurch m iteinander in K o n flik te und Käm pfe, daß sie Staats- und W eltsprachen, Fach- und Sachsprachen werden w ollen.

D ies tun sie nun freilich n ich t aus B osheit oder Torheit, sondern getrieben von dem selben nationalen Stilw illen , der sie davor warnen sollte. E s geh t ihnen genau w ie dem K ünstler, der stum m bleiben müßte, wenn er seinen G en ius nich t zu verraten und sein E igen stes n ich t preiszugeben w agte. D ie politisierte und eroberungssüchtige Sprache hat ihr G leich nis und G egen stü ck in jenen rhetorischen und lauten Poeten, die nur m it erhobener Stim m e ihre B egeisteru ng aus- drücken können. In der G eschichte jeder großen N ation w ie im

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Leben jedes bedeutenden D ichters gib t es A n fälle von Im perialis­

m us bzw. R hetorik, die aber, w enn nich t alle g eistige und leibliche K raft verbraucht werden soll, zurückm ünden m üssen in stillere S e lb st­

b esinnung und Innerlichkeit.

T reiben w ir uns nun n ich t in w issen schaftsw idrigen Bildern und M etaphern herum, w enn w ir eine N ation oder eine N ation al­

sprache einem leibhaftigen E inzelm enschen, einem K ü n stler g le ich ­ setzen und wenn w ir die N ation von einem G en ius beseelt sein lassen, der ihren Sprachstil w illen sm äßig gestalten soll, etw a so, w ie der D ichter sein W e rk ? W er wäre denn hier der K ü n stler?

E tw a das gan ze V o l k ? U nd wer das W e rk ? E tw a die gesam te Sprache jenes V o lk es ? In den greifbaren G rößen „K ü n stle r“ und

„ W e rk “ darf man freilich das tertium com parationis nich t suchen.

W oh l aber ist der geistige V o rgan g, d. h. der zielstrebige S ch ö p fu n gs­

akt, kraft dessen das W e rk aus dem K ü n stler hervortritt, oder, was dasselbe bedeutet, dieser in jenes eingeht, m it dem „L e b e n “ einer N ationalsp rache nich t nur vergleichbar, sondern w esentlich identisch.

D ort w ie hier w ird kü nstlerisch gestaltet: genau so in tu itiv und individuell, so bew ußt und unbew ußt, so planm äßig und instin ktiv, so w illen sstark und u nw illkürlich , so notw en dig und frei, so g efü h l­

v o ll und sachlich, so leiden sfähig und tätig, so genial und so k in d ­ lich, so sinnenfroh, handw erklich, praktisch und so weltfern. N u r daß der K ünstler, w eil er k u rzleb ig ist, seinem W irken den A b ­ sch lu ß oder die persönliche R u n d u n g zu geben sucht, so daß w ir ein „ W e rk “ oder deren m ehrere zu sehen bekom m en, indes die N ation durch Jahrhunderte hin an ihrem L ie d e spinnt, an ihrem sp rach­

lichen Standbild m eißelt und keine E ile hat, fertig zu m achen. D och dieser U nterschied ist äußerlich; denn in W irk lich k eit steht die N ation alsp rache jederzeit fertig da, bereit zum T agesdienst, so p ü n k t­

lic h und prom pt w ie das bestellte W erk eines Festsängers. V ie l eher haftet den L eistu ngen des E inzelnen etwas Übereiltes und Im p rovi­

siertes an, m ögen sie noch so gediegen und reif sein. E s gehört zum B egriff des Stiles, daß jeder kleinste F orm teil von dem selben K u n stw illen gep rägt und getragen sei, der das G anze beseelt. D aher die gru n d sätzlich e G leich ze itig k eit der*Einzelform m it dem G esam t­

system einer N atioualsprache.

E in anderer, nur äußerlicher und scheinbarer U nterschied

zw ischen nationaler Sprach gestaltu n g und persönlicher E in zeld ich ­

tu n g könnte darin gesehen werden, daß diese etw as Bestimmtes,

jene alles M öglich e zum In h alt hat. A u s jedem K u n stw erk läßt

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sich ein M otiv oder T h em a herausschälen, aus einer Sprache nicht.

E in e D ich tu n g ist ein T e x t, eine N ation alsprache ist ein Contextus>

von T ex ten , ein Stil. A b er gehört es n ich t zum W esen eines d ic h te ­ rischen T ex tes, daß er S til habe, ja daß er der verw irklich te S til seines D ichters sei? U nd soll nich t der T e x t einer stilvollen D ich tu n g im m er nur von d e m handeln, w as den D ichter innerlich beschäftigt, w as er w irklich erlebt hat, w ovon er besessen ist? Ist derjenige nicht ein schlechter Poet, der vo n D in gen singt, die ihn seelisch nichts an- gehen ? K an n und darf der echte D ichter überhaupt etwas anderes ausdrücken und darstellen als im m er nur s e i n e A r t die W elt zu sehen, das Lieben zu fühlen, die W irk lich k e it zu erfahren'? W ie die D ivin a Com edia das ganze U niversum auf D antisch ist, so ist es die italienische N ation alsprache auf Italienisch, die deutsche auf D eutsch, der F a u st auf G oethisch, oder der H am let auf Shake- spearisch usw. „ I s t es“, d. h.: soll es und w ill es sein.

Insofern eine D ich tu n g bzw. eine Sprache etwas sein soll oder sein w ill, deutet sie darauf hin. In der deutenden, nich t in der handelnden F ä h ig k e it lie g t das, w as D ich tu n g und N ationalsprache zusam m enführt. In dem, w as die D ich tu n gen und Sprachen b e­

zeichnen, w ovon sie handeln, w as sie um fassen, gehen sie w eit aus­

einander. Jede hat darin ih r eigenes und ausschließliches Geschäft, jede spricht unm ittelbar von etwas anderem. D er m ittelbare Z u g und D ran g ihres Bedeutens nur ist u niversal: ebenso universal w ie individuell.

W o zu noch W orte, um die gru nd sätzlich e Identität von D ic h ­ tu n g und N ation alsp rache zu beweisen, wenn in zahllosen R eden s­

arten, V ergleichen, W ortbildern, Sprichw örtern, volkstü m lich en R e i­

men, L iedern und Epen das ganze W underhorn, aus dem eine N ationalsprache ihre dichterischen K eim e und F rü ch te in jed e r­

m anns G arten schüttet, m it H änden zu greifen ist? D ie V olksp oesie ist der Ort, w o die Sprache zur D ich tu n g w ird und sozusagen sich selbst verdichtet.

F reilich, w enn man ernstlich anfängt, fü r dieses oder jenes V olkslied, Sprichw ort oder G leich nis den U rheber zu suchen, so findet man, w e n n man ihn findet, im mer einen einzelnen M enschen, oder zw ei oder drei, oder höchstens eine klein e G ruppe von schöpferischen Individuen, die es geform t haben, aber nie und nim m er ist die G esam theit des V olkes, nie eine gan ze Sprachgem ein­

schaft der Verfasser. D ie Vielen sind von jeh er Publikum , und die

A utoren von jeher die W enigen gewesen. E ine D ich tu n g ist nich t

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deshalb volkstü m lich und national, w eil ihr U rheber im Schatten der A n o n ym ität verschw indet, sondern w eil er von der Sprache seines V o lk e s sich t i e f e r beschatten läß t als der K unstdichter, sei es, daß er geradezu in der M undart oder w enigsten s in den geläu figsten und beliebtesten Sprachstilen seiner H eim at dichtet.

T u t er dies aber bew ußterm aßen und p flegt er m it A b sich t den H eim atsstil, w ie der H um anist Leonardo G iustiniani m it seinen venezianischen Ballaten oder P olizian mit seinen toskanisierenden R isp etti oder die deutschen R om antiker m it ihren Liedern getan haben, so sind die D ichtungen, die dabei entstehen, schon keine echte V olksp oesie mehr, sondern literarisch veredelte H eim atkunst.

K s ist w esentlich für die V olkspoesie, daß sie unliterarisch bleibe.

Darin lie g t nun freilich ein W iderspruch, denn alle D ich ­ tung, auch die naiveste und bescheidenste, ist irgendw ie K u n st und w ill aus der R oh eit und S in n lich k eit des A u ge n b lick s und aus der F lü c h tig k e it der L u s t heraus und strebt nach dauernden, festeren Form en, w ie sie von den R egeln geselliger Spiele, vom T a k t der T änze, von den O rdnungen gem einsam er A rbeit, von den heiligen G ebräuchen des G ottesdienstes, von den Bildern und Zeichen der S ch rift und sch ließ lich vom Buchw esen, von der „L iteratu r“

gew ährleistet werden. Indem aber die m enschliche Stim me, aus ihrer V erg än glich k eit und W andelb arkeit nach solchen Stützen und regelm äßigen O rdnungen greift, findet sie in sich selbst, in ihrer eigenen G eb rech lich keit etw as Dauerndes und Festes, näm lich die natürlichen E rh altun gsm ittel des sprachlichen M etrums, des R hythm us, des G leich klan gs, des Reimes, der A lliteration, der ohr­

fälligen Sym m etrie, der syn taktisch en G lied eru n g usw. D iese sind nich t allein einem leiblich-seelischem Bedürfnis eutsprungen, nicht nur einem D ran g und einer L ust, die in dessen B efried igu ng g e ­ su ch t wird, sie sind ebensogut im D ienste der E rhaltung, F e s tig u n g und ,,V e re w ig u n g “ der sprachlichen Form en und K u n stw erk e g e ­ p fleg t und ersonnen worden. D enn alle g eistige L u s t „w ill E w ig ­ k e it“ und unterscheidet sich dadurch von der sinnlichen des A u g e n ­ blicks, die höchstens nach W ied erh o lu n g verlangt. A b er aus w ieder­

holten A u ge n b lick en setzt sich die E w ig k e it nich t zusam m en und geh t nichts Dauerndes hervor, nichts, das den R h yth m u s des Lebens hätte. D as hat m it besonderer K larh eit B ergson erwiesen.

In jeder Sprache w irk t ein sym m etrisches Prinzip, kraft dessen

sie den Störun gen und Zerstörungen, die aus der S in nen w elt drohen,

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T r o tz bietet und eine form ale R ü stu n g anlegt, unter deren elastischem D ru ck ihre zartesten L au t- und K lan gg eb ild e sich so g u t und rein erhalten, daß oft die spätesten G eschlechter noch sie unbeschädigt in m ündlicher Ü berlieferu n g em pfangen können. D er größte T e il des sogenannten archaischen S p rach gutes w ird in den sym m etrischen P ack u n gen der Sprichw örter, der G leichnisreden und der V o lk s ­ poesie von den A h nen an die E n k e l herabgereicht. In m ancher H in sich t ist diese poetisch -volkstüm lich e A r t der Ü berlieferung sogar zu verlässiger als steinerne und eherne Schriftzeichen, denn sie b e­

w ahrt den K la n g und die D auer der Sprachlaute, also gerade das F lü ch tigste, verh ältn ism äß ig am besten.

V o lksp o esie ist dem nach — ich w üßte keine andere B estim ­ m u n g ihres schw ankenden, seit den T a g e n der R om antik so vielfach hin- und hergezerrten Begriffes — G edächtnispoesie, d. h. eine K unst, die aus einem unm ittelbar, also zum eist m ündlich erworbenen Sp rach ­ g efü h l heraus sich zu so viel H öh e und Breite und K o m p lex- heit der Form en erhebt, w ie das G edächtnis meistern kann, ohne nach anderen H ilfen als denjenigen greifen zu müssen, die in der F orm enordn ung des K u n stw erk s selbst gegeben sind. A lso ein q uantitativer Begriff, der freilich auch etw as Q ualitatives umfaßt, insofern auf dem G ebiete der K u n st das F orm at in der R egel auch den G eh alt bestim m t oder w enigstens bestimmen sollte. A n sp ru ch s­

lose D ich tu n g in handlichen Form aten, in kleinen E inheiten, w ie sie dem unm ittelbaren sprachlichen U m g a n g abgew onnen und zur A u f­

bew ah rung und Ü berlieferung w ieder anvertraut werden können, das u n gefähr ist V o lk sd ich tu n g. Sie steigt und fällt, w ächst und schwindet, je nach der B ildu ngs- und F a ssu n gsk raft der U m gangssprach e eines V o lk es, also m eistens im um gekehrten V erh ältn is zu seiner S ch rift­

sprache. D aher sind die Ü bergänge von der volkstüm lichen zur literarischen D ich tu n g und von dieser zu jener von ähnlicher F lü s s ig ­ keit, L eb en d igk eit und H äu figk eit, w ie die zw ischen U m gangssprache und Schriftsprache.

E in V o lk sg e d ich t steht der Sprache seines V o lk es grundsätzlich näher als ein K u n stged ich t, aber nich t so sehr deshalb, w eil die P ersönlichkeit des Verfassers, die sich dazw ischen schiebt, dort w eniger stark wäre als hier — denn es gib t g ew altige und schm ächtige Sänger auf beiden Seiten, und große K u n st auch in kleinem Form at

— sondern in letzter H in sich t deshalb, w eil in der K u n std ich tu n g zw ischen M und und O hr sich eine G edächtnishilfe des A u g e s au f­

richtet: die Schrift. Ih r haftet eine frem dartige Starrheit an, die

9

(14)

nur durch außergew öhnliche A n stren gu n gen des Sprachverm ögens überwunden wird. D ie Selbstentfrem dung, die jedem sprachlichen Gedanken, jeder M ein u n g schon durch das bloße laute A ussprechen angetan wird, vergrößert sich durch die S ch rift um eine zw eite sin nlich e D im ension. E s w ird eine neue H em m ung eingeschaltet, an deren S p rö d ig k eit das Sprachgefühl, wenn es sie wiede: auf- lösen w ill, sich fortw ährend üben und schulen muß. D ie E in fü h ­ ru n g der S ch rift bedeutet für die S p rach en tw icklu n g eines V o lk es eine ähnliche S ch w ierig k eit und zu gleich F örd eru n g und S teig eru n g w ie der Ü b ergan g vom Stroh und L eh m zum Stein und E isen in

der Baukunst.

Zw ar ist die S ch rift eines der w ichtigsten, doch nicht das einzige M ittel zur kü nstlerischen V ered lu n g und F e stig u n g des sprachlichen U m gan gs bzw. der sprachlichen G estaltun gskraft. A u ß er Bildern und Buchstaben kann allerlei anderes noch als konven tion elle Sprach- krücke, G edächtnishilfe und als künstlerisches Form m aterial dienen, z. B. die H an dlu ngen und Zerem onien des G ottesdienstes oder der D äm onenbeschw örung, wofern sie nur en ge g en u g m it bestim m ten Sprüchen, W örtern, Versen, Sprachgebilden verkn ü p ft werden. So gab es bei den D ruiden in G allien eine ungeschriebene und doch über das V o lk stü m lich e und U m gan gssp rach lich e w eit hinaufgesteigerte sakrale D ich tu n g und „L iteratu r“. A u c h die Form en der R e ch ts­

pflege, auch höfische Sitte, w enn sie stren g und hieratisch g en u g sind, können genügen, um ohne die H ilfe der S ch rift eine H o f­

sprache und H ofk u n st der Sprache sich überhalb der gew ö h n ­ lichen U m gangsp rach e und V o lk sd ich tu n g abheben zu lassen. E s hat unter den stilstrengsten M innesingern des M ittelalters viele A n ­ alphabeten gegeben. A ußerdem können selbstverständlich T a n z und M u sik den sprachlichen F orm w illen so w irk u n g sv o ll unterstützen, daß er vom rohesten Schnaderhüpfel bis zu r zierlichsten Ballade sich an ihnen em porarbeitet und in einem vielgestu ften A u fs tie g die schw ankende G renze der V o lk sk u n st überschreitet.

M an darf sich diese G renze nich t so vorstellen, daß jenseits derselben nichts V olkstü m lich es un d diesseits nichts K u n stm äß iges lebte. W ir kennen z. B. rein vu lgärlatein isch e T e x te so w e n ig w ie aussch ließlich schriftlateinische. — D ie gan ze klassisch e D ich tu n g der G riechen ist m undartlich gefärbt, und man kann beinahe be­

haupten, daß jede altgriechische D ich tu n g sg attu n g bis auf die letzten G ipfel ihrer literarischen H öhe die M undart derjenigen G egen d nach­

schleppt, in der sie entstanden oder u rsprün glich gep flegt worden ist.

(15)

D ie gan ze und reine M undart nun freilich nicht, aber charakteristische M erkm ale derselben hingen jenen literarischen G attungen derart an, daß sie für den Stilch arakter geradezu als obligatorisch em pfunden w urden.1) — S o lan ge man die altfranzösischen Chansons de geste für V o lk sd ich tu n g reinsten W assers hielt, versuchte man die D ialekte und dam it die G egenden zu ermitteln, in denen sie gew achsen sein m ußten. D abei kam man beinahe nie in die M itte einer M undart, sondern m eist auf deren R änder und auf Ü b ergän ge zu N ach b ar­

mundarten, w o nich t gar auf zw ei und drei verschiedene M undart­

grenzen rittlin gs zu sitzen und geriet in V erlegenheit, nach w elcher Seite man absteigen sollte. D es sprachgeographischen V oltigieren s w ar kein Knde, da man der M einu ng lebte, daß M undart und V o lk s ­ d ich tu n g in sich selbst ruhten w ie das E i in der Sch ale.2) A llm äh lich keh rt man zu der E in sich t zurück, die schon D ante im D e vu lgari eloquentia ausgesprochen hat, näm lich, daß den M undarten einer N ationalsprache, genau w ie deren D ichtern und Schriftstellern, ein literarischer H öhentrieb innewohnt, so daß sie von den entferntesten H eim aten ausgehend, einer geahnten und gew ollten N orm zustreben, bis sie in der V e rw irk lic h u n g eines nationalen Sprachstiles sich zusam m enfinden. A ls A ntonio Ive in V elletri V o lk slied e r sammelte, fiel ihm die G erin g fü g ig k eit der m undartlichen E in sch läge auf, und er bemerkte, daß selbst das niederste V olk, besonders dann, wenn es G edanken, G efü hle und G em ütsbew egun gen feinerer und höherer A r t ausdrücken w ill, sich so w eit w ie ihm irgend m öglich ist, vom gew öhnlichen Sprachgebrauch zu entfernen su ch t.3) W arum sollte der gem eine M ann nich t auch seine preziöse A d er haben? — In der altprovenzalischen L y r ik gehen die A n fän ge des gepflegten Stiles, des t r o b a r c l u s , bezeichnenderw eise auf T rob adors zurück, die n i c h t zum ritterlichen Stande gehörten und den M angel einer h ö ­ fischen G eburt durch den A d el der S p rach ku n st ersetzen wollten.4)

*) Diesem Verhältnis ist mit besonderer Sorgfalt A. Meillet nachgegangen in seinem Aper9a d’ une histoire de la langue grecque, Paris 1913.

*) Vgl. Gertrud Wacker, Über das Verhältnis von Dialekt und Schrift­

sprache im Altfranzösischen. Berliner Dissert. 1916 und dazu meine Be­

sprechung im Literaturblatt für german. und roman. Philologie 1917, Sp. 109 ff.

und in „Französische Philologie“ , Wissenschaftliche Forschungsberichte I, Gotha, 1919, S. 22 ff.

') A. Ive, Canti popolari Velletrani, Rom 1907, S. 30.

4) Vgl. K. Vossler, Der Trobador Marcabru und die Anfänge des ge­

künstelten Stiles; in den Sitzungsberichten der bayr. Akademie der Wissen­

schaften 19x3.

II

(16)

Jeder D ichter, auch der vo lk stü m lich befangenste, strebt nach einer N orm , und jed e N ationalsprache, auch die m undartlich zer­

rissenste, desgleichen. Ja, gerade in den Zuständen ihrer jew eiligen Befangenheit und Zerrissenheit g ib t die einheitliche G em einsam keit des F orm w illen s auf beiden Seiten sich deutlicher zu erkennen als dort, w o sie eigen tlich erreicht und verw irklich t ist: in den Z u ­ ständen der V o llen d u n g. Denn eine N ationalsp rache vollendet sich in der straffen und allgem einen G ü ltig k e it ihres gram m atischen G ebrauches, eine D ich tu n g dagegen in der persönlichen E igen art ihres Schöpfers. D ort tritt ein k o llek tives System , hier eine in d i­

vid u elle G estalt uns als das erreichte Z iel entgegen. U n d doch sind beide das E rgeb n is einer und derselben Bem ühung, eine und dieselbe A ngelegen h eit.

A u f der S tu fe der V o lk sd ich tu n g ist der einzelne K ü n stler noch derart in den G efühlen und im G esch m ack seiner U m g eb u n g g e ­ fangen, daß sein S tilw ille auf etwas G attu n gsm äß iges zu zielen scheint. E r su ch t E rfo lg und B eifall nur innerhalb des kurzen und engen B ezirkes seiner augen blicklich en nächsten U m gebu n g. D as L ied, das je tzt und hier gefällt, setzt sich durch, das andere, das kein unm ittelbares E ch o findet, fällt zu Boden und w ird vergessen.

In dieser raschen, zufälligen, spontanen A u sso n d e ru n g besteht zu ­ näch st die gan ze literarische K ritik . Sie ist ein W iderh all oder Refrain, nich t u nähnlich den A ntw orten, den Z ustim m un gen oder V ern einungen, w ie sie uns im G espräch zuteil werden. D aher in der V o lk sd ich tu n g die R ollen zw ischen Poet, P ub liku m und K ritik er m anchm al so rasch und leich t vertauscht werden, w ie im G espräch das Sprechen, H ören und A ntw orten. D ie W ech selgesän ge im ita­

lienischen R itornello, oder im R ispetto oder im bayerischen Schnader- hüpfel können als sin n fällige Beispiele dieses V erhältn isses gelten.

W ie ein B all oder unförm iger K lo ß flie g t das kleine sprachliche G eb ilde von H an d zu H and und w ird im H in und H er des W erfens und A u ffan gen s von den H änden aller, die am Sp iel sich beteiligen, ausgeform t, geknetet und gepreßt zu einer m ehr oder w eniger festen K u n stform oder D ich tu n gsgattu n g. D er V o rg a n g ist so m unter und behende, daß er der ph ilologisch en B eobachtun g zum eist entschlüpft.

U n ter g ü n stige n U m ständen ereignet er sich aber auch im L ic h t der G esch ich te und auf schriftlichem W ege. E in Beispiel.

A ls der taktlose Streber L e F ran c de Pom pignan in die A cadem ie frant^aise aufgenom m en w urde und eine großm äulige A ntrittsrede hielt, ließ V oltaire eine F lu g sc h rift gegen ihn in Paris vertreiben:

12

(17)

L e s Quandj notes utiles sur un discours prononce devant l ’A cadem ie fran^aise. Jeder S atz dieser spöttischen R atsch läge begann m it quand.

„ W a n n man in eine w ü rd ige G esellsch aft aufgenom m en wird, so ll man in seiner R ede unter dem S ch leier der B escheidenheit die u n ­ verschäm te E in b ild u n g verbergen, die h itzigen K öp fen und m ittel­

m äßigen F ä h ig k eiten eigentüm lich is t“ usw . — G leich ließ ein zw eiter G egn er L e F ra n c’s eine ähnliche F lu g sc h rift: Les E n cas que folgen, als dritter stellte sich der A bbe M orellet ein m it Les Pourquoi. D ann g in g V o ltaire von der P rosa zum V ers über und schrieb Les Pour, ein Spottgedicht, dessen säm tliche Strophen mit P o ur b egann en:

Pour vivre en paix joyeusement, Croyez-moi, n’offensez personne:

C’est un petit avis qu’on donne Au sieur Le Franc de Popignan.

und zum S ch lu ß :

Pour prix d’un discours impudent, Digne des bords de la Garonne, Paris offre cette couronne Au Sieur Le Franc de Popignan.

Jetzt waren die Schleusen erst gan z geöffnet, eine satirische D ich tu n g sg attu n g w ar geschaffen, und ein H ag el von C ouplets:

Les Que, Les Qui, Les Quoi, Les Oui, L e s Non, Les Car, Les Ah, A h, prasselte auf den armen L e F ran c de P om pignan .1)

Im w esentlichen nich t anders, wenn auch im einzelnen gru n d ­ verschieden, darf man sich die G enesis des toskanischen R ispetto denken. W ie jen e C ouplets gegen L e F ran c eine V erh öh n u n g in F orm von R atsch lägen sind, die alle mit demselben wiederkehrenden Form wörtchen ein geführt werden, so ist das R ispetto ein Liebes- gru ß in Form von Beteuerungen, die in der R egel zweimal, dreimal oder öfters w iederholt, variiert und dabei gesteigert werden, z. B . :

O viso bianco quanto la farina, Chi l’ha composte a voi tante bellezze?

Dove passate voi l’aria s’inchina, Tutte le stelle vi fanno carezze:

Dove passate voi l’aria si posa, Voi siete del giardin la vaga rosa:

Dove passate voi l’aria si ferma, Voi siete del giardin la vaga stella:

(D ove p a ssa te v o i l’aria si priva, Voi siete del giardin la vaga cima.)

*) Siehe Georg Brandes, Voltaire, II. Band, Berlin 1923, S. 186 f.

*3

(18)

O d e r :

Quando tu passi dalla casa mia, Mi par che passi la spera del sole.

Alluminar tu fai tutta la via, Quando tu passi, lasci lo splendore:

Ma lo splendor che lasci per la via 15 sempre meuo della fiamma mia:

Ma lo splendor che lasci, scema e cala, I/amor mio durerä fino alla bara.

O d e r :

Dimmi, bellino, com’i’ho da fare Per poterla salvar l’anima mia?

l ’vado’n chiesa e non ci posso stare, Nemmen la posso dir l’Ave Maria:

I’vado’n chiesa, e niente posso d ire : Ch’i’ho sempre il tuo bei nome da pensare;

l ’vado’n chiesa, e non posso dir niente, Ch’i’ho sempre il tuo bei nome nella mente.

M an hat dieses letzte R ispetto m it einem sizilian ischen Stram - botto zusam m en gestellt, um es aus diesem abzuleiten:

Amuri, amuri, chi m’hai fattu fari!

L,i senzii mi l’hai misu’n fantasia, Lu patrinnostru m’ha’fattu scurdari E la mitati di la vimmaria;

Lu creddu nun lu sacciu ’ncuminciari, Vaju a la missa, e mi scordu la via;

Di novu mi voggh’ jri a vattiari, Ca turcu addivintai pri amari a tia.

A b er gerade dieser und ähnliche V ergleiche, w ie sie A lessandro D ’ A n con a m assenhaft an gestellt hat,1) bew eisen w eniger die sizilia- nische H erk u n ft des toskanischen R ispetto als die sp ezifisch tos­

kanisch e E ige n art des Form prinzipes der wiederholenden, variierenden und steigernden Beteuerung.

V o lk slied er wandern n ich t w ie fertige literarische W are in Papier verp ackt und säuberlich gebunden: sie pflanzen sich fort w ie ein G espräch, d. h., sie entstehen an jedem O rt unter neuen B edingungen aufs neue. E in Lehnw ort, eine L autgruppe, ein Sprachgebrauch w andert nich t w esen tlich anders. S ie alle gehen unter B en ützun g geselliger V erkehrsgelegenheiten von M und zu Ohr, von O hr zu M und und passen sich dem jew eils herrschenden F orm w illen an, bürgern sich ein und nationalisieren sich. W ie die W örter v a d o

*) A. D’Ancona, ha. poesia popolare italiana, 2. Aufl. Livorno 1906.

(19)

oder a m o r e in S izilien die L au tgestalt v a j u und a m u r i an­

nehm en, so erscheint der L ieb esgesan g in T o scara als Rispetto.

A b er nich t nur in der A rt ihrer F ortb ew egu n g und Ü berlieferung, auch in ihrer ganzen S tru k tu r gleichen die volkstü m lich en D ich tu n g s­

gattun gen den R egeln und K ategorien der U m gangssprache. D ie R egeln des Reim es, bzw . der A ssonanz, oder der S ilb en zäh lu n g und Synerese haben innerhalb des Bereiches der italienischen V o lk s ­ d ich tu n g dieselbe lockere A r t von G ü ltig k e it w ie die R egeln der g ra m ­ m atischen K o n g ru en z oder der R ectio innerhalb der entsprechenden U m gangssprache. K s ist ein Irrtum , zu glauben, daß jene etwa nur eine kü n stlich e V eranstaltu n g oder spielerische K on ven tion im D ienste der sprachlichen S ch ön h eit oder H arm onie seien, diese d agegen eine N o tw en d igk eit elem entarer N atur, und daß der V e r­

stoß gegen die M etrik nur läßliche Schönheitsfehler erzeuge, während durch gram m atische Sünden das ganze Sprachverständnis zerstört und vereitelt werde. M ag man einer form alistischen S ch u le von K unstpoeten, M eistersingern oder Parnassiern gegenüber das V e r­

h ältnis im m erhin so darstellen. B eckm essers R egelkram hat weder mit dem dichterischen G en ius noch m it den w erktätigen N o tw e n d ig ­ keiten einer Sprache viel zu schaffen. D ie V ersk u n st des V o lk es dagegen ist sin n voll und unschem atisch, d. h., w o im mer ihr von außen her — sei es aus M usik, T a n z oder gem einsam er rhythm ischer A rbeit, sei es aus frem dsprachlicher D ich tu n g — ein Versschem a zugetragen wird, w eist sie alles ab, w as sich m it der phonetischen und akustischen N a tu r ihres heim ischen Sprachm aterials auf die D auer nich t vertragen w ill: so daß man stren g genom men sagen m uß: sie baut ihre V erse nur aus der Spontaneität des ererbten Sprachgebrauches auf, sie su ch t und erfindet keine R hythm en, keine Metren, keine Cäsuren, keine G leich klän ge, die n ich t in der U m ­ gangssprache, in der schlichten R ede des T a g e s schon an gelegt und w ie ein geologisch es Vorkom m en von poetischem M etall in ihr gegeben wären. D ie lautliche, klangliche, rhythm ische, k u rz die sinnliche A u ßen seite des Sprachgebrauches wird durch den V o lk s ­ dichter zu einer geistigen K ategorie erhoben, d. h. bedeutend und sin nvoll gem acht, während sie in der gew öhnlichen U m gangssprache immer nur jenes zu fällig ornam entale Scheinw esen bleibt, um das sich der E inheim ische nich t sonderlich küm m ert und an dem, w ie w ir sahen, der Frem de Ä rgern is nimmt. D as nationale V erdienst des V olkspoeten beruht nich t darin, daß er vaterländische G esänge anstim m t und fremde Sprachgem einschaften schmäht, sondern, daß

15

(20)

er die O rnam entik seiner M uttersprache sin n voll und hörbar und ihre Schön heit evident macht. W er über die „S ch ö n h eit“ einer Sprache etwas einigerm aßen Brauchbares und Ü berzeugendes aussagen w ill, w ird g u t tun, sich vo rzu g sw eise an deren volkstü m lich e D ich tu n g zu halten, denn nur in dieser ist sie faßbar und u rsp rün glich zugleich.

V orhan den ist sie freilich auch in der P rosa des U m gan gs, ja so gar in der gram m atischen Struktur, nur eben zerstreut und tief versteckt. P h ilosop h isch läß t sie sich selbst dort nachw eisen,1) aber em pirisch nich t fassen. U m die stilvo lle Schön heit einer L an d sch aft aus ihrem geologisch en U nterbau zu verstehen, bedarf es einer A r t naturw issen schaftlicher S pekulation und p h ilosoph isch er Phantasie, die dem L aien ve rsag t und dem Zu nftgeleh rten verd äch tig ist.

E i n e T a tsa ch e aber ist h andgreiflich und n ich t w ohl aus der W e lt zu schaffen, näm lich daß, w enn schon in der G ram m atik keine Poesie, doch jedenfalls in aller Poesie irgen d etwas Gram m atisches steckt. S o frei ist keine Dichtersprache, w eder die volkstü m lich ste noch die künstlichste, daß nich t gram m atische Strukturen, R egeln und K atego rien in ihr erwiesen w erden könnten. Selb st ein spielerisch anarchischer S p rachschöpf er w ie T e o filo Folen go, der sich aus Latein, Italien isch und M an tu an isch ein eigenes N u d elw elsch im provisiert hat, trägt ein gram m atisches G erüste im L e ib ; und w enn m oderne E xp ression isten an die G ram m atik den K r ie g erklären, so erheben sie tatsächlich nur ihre eigene Gram m atik auf den S ch ild .8) S ie protestieren im N am en eines erlebten und erfühlten Sprachgebrauches gegen den erlernten und erstarrten; sie spielen gegen das solitum das curatum aus und gegen das G ram m atikalisierte das Gram m atikable;

d. h. anstatt vom G ram m atischen loszukom m en, arbeiten sie an dessen E rn eu eru n g mit.

Darum kann jeder dichterische A u sd ru ck , wenn man ihn seelisch zu analysieren weiß, auf gram m atische K ategorien gebracht werden;

ja, die rich tig verstandene literarische K ritik tut im G runde nichts anderes als dies, d. h. sie w eist die E rlebnisse und G efühle, die L eidenschaften und E rfah ru ngen auf, die einen D ichter beherrschen und derart stark in ihm werden, dass unter i h r e m D ru ck seine Sprache k a t e g o r i s c h , d. h. verbin dlich für ihn und für alle w ird die seinen Erlebnissen, G efühlen, Leiden schaften und E rfahrungen

*) Vgl. darüber meine gesammelten Aufsätze zur Sprachphilosophie München 1923, S. 249— 258.

*) Vgl. a. a. O. S. 128 ff.

(21)

nachhängen w ollen. Ja, für niem anden ist die Sprache, die er g e ­ braucht, in solchem M asse xarrjyogixrj, d. h. kraft ihres form alen A u f­

tretens eine so zw ingende A n k lä ge rin und Verräterin seiner Seele, eine so bindende Belasterin seines innersten W esens, w ie fü r den Poeten. Jeder andere M ensch kann sich, w enn n ich t vom Inhalt, w en igsten s vo n der Form seiner R ede lossagen. Der D ichter ist gerade m it dieser verw achsen.

U n d wiederum bietet das V o lkslied, m it seinen kleineren, h and­

licheren A usm aßen die gü n stigsten B eispiele und G elegenheiten für die Ü berführung und A u sm ü n d u n g der literarischen K ritik in gram ­ m atische A nalyse.

W ir haben z. B. gesehen, w ie dem toskanischen R ispetto die wiederholende, variierende und steigernde B eteuerung des G efü hls als gattun gsm äß iges M erkm al eignet. S ie fällt Jedem auf, der eine genügende A n za h l von E xem plaren beobachtet hat. E s bedarf keiner H äu fu n g von B elegen. N u r eines noch fü g e ich den obigen bei.

Vo’pianger tanto, che tni vo’ finare, Come fece Maria Maddalena:

E un gran fiume di lacrime vo’fare Che in ogni tempo ci colghi la piena.

Che in ogni tempo ci colgano i sassi;

Cosi pianger vogl’io se tu tni lassi:

E d’ogni tempo ci colgano i fiori;

Cosi vo’pianger io se m’abbandoni.

Ist es nicht, als ob die gram m atische K atego rie der Steigerung, als ob eine A r t Positiv, K om parativ, S u p erlativ im D rang der G efühle hier erlebt, ja als etwas N eues erfunden und m it zitternder H an d zum ersten M ale entw orfen w ürde? D er logisch e Gram m atiker freilich schüttelt sein kahles H au p t zu einem Schema, in w elchem „ H o c h ­ w asser“ (piena), „Stein e“ (sassi) und „B lum en“ (fiori) sich ähnlich untereinander verhalten sollten w ie „ v o ll“, „vo ller“, „am vo llste n “.

A b er der R eiz des L iedch ens ist eben dieses D enken und Fühlen, daß der T ränenstrom in seiner höchsten A u sw irk u n g eine B lum en- w iese sein wird, w odurch, gram m atisch gesprochen, die S teigeru n g

„ u n r e g e l m ä ß i g “ verläuft; ähnlich u n regelm äßig etwa, w ie die vo n Sch iller entw orfene K lim a x : Löw e, T iger, M ensch in den Versen:

Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken, Verderblich ist des Tigers Zahn,

Jedoch der schrecklichste der Schrecken,

Das ist der Mensch in seinem Wahn.

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E in Schem a ist in den V ersen zu fü h le n ; und daß es m it dem Schem a der gram m atischen K om p aration der betreffenden Sprachen irgen dw ie zusam m enhängt, sp ürt jeder, der einige S c h u lu n g des Sprachgefühles hat. A ber, w as ist das G em einsam e? Im Begrifflichen darf man es nich t suchen; denn gerade hier w eichen unsere D ich ter m it ihrer „B lum en w iese“, m it ihrem „ T ig e rz a h n “ und „M en sch en ­ w ah n “ von der gram m atischen S teig eru n g ab, die an E i n e m B egriff als dem zu steigernden durch alle Stufen h in festhält. Im rein F o r ­ malen, in der äußeren F orm kann das Gem einsam e auch nich t liegen ; denn die G ram m atik läß t nur bestim m te W ortklassen , vo rzu g sw eise A d jek tiva und A d verb ia zur S teig eru n g zu. U m „innere F o rm “ kann es sich sch ließlich deshalb nich t handeln, w eil die G ram m atik, d. h.

der fertige Sprachgebrauch dergleichen als N orm n ich t anerkennt.

D am it sehen w ir uns in ein R eich zurückgew orfen, das sozusagen unterhalb der Sprache liegt, aus dem aber die sprachlichen Form en der G ram m atik sow oh l w ie der Poesie em porgetrieben werden, und für das uns zun ächst kein T erm in u s technicus zu G ebote steht. D aß in dieser sprachlichen U nterw elt n ich t nur gefü h lt und empfunden, sondern irgen dw ie gearbeitet, ja sogar gesch au t und gestaltet w ird, m üssen w ir schon deshalb annehmen, w eil das poetisch-gram m atische U r-Schem a, dem w ir nachspüren, atmend und warm aus ih r hervor­

tritt, um erst am L ich te der O berw elt sich in F lexio n en und Rhythm en, in gram m atische und poetische F orm kategorien auseinauderzulegen

und zu festigen.

M an könn te diese U nterw elt die m etaphysische S prachgem ein­

schaft nennen.1) E s ist jen e G egen d der T räu m e und Zaubereien, w o auch außerm enschliche D in ge zum Sprechen gebracht und besprochen, also in zw ei R ich tu n gen anthropom orphisiert werden, näm lich durch m agisch-m echanische B eleh n un g m it Sprache und durch m ythisch-sym bolische Beseelung. D och lassen w ir das Bild einer jen seitigen oder unterw eltlichen G egen d und sagen w ir sch lich t, daß w ir denjenigen M om ent des sprachlichen W irk e n s meinen, der dem besonderen A k t des eigentlichen Sprechens vorangeht, also das V erm ögen der Sprache im U nterschied von ihrem jew eiligen K önnen.

A b e r auch die Bestim m ung, daß das V erm ögen dem K önn en voran ­ gehe, darf nicht zeitlich, sondern m uß lo g isch verstanden werden, denn V erm ögen nnd K ön n en greifen derart ineinander, daß das zw eite

*) Ich muß hier auf meine Abhandlung über metaphysische und empirische

Sprachgemeinschaft verweisen, die in der Neuen Rundschau X X X V (1924),

S. 504 ff. erschienen ist.

(23)

nur als die andere Seite vom ersten, n ich t als ein Zw eites fü r sich gelten kann.

D as sprachliche V erm ögen also w äre der log isch e O rt oder M oment, w o — um auf unser Beispiel zurückzukom m en — der gram m atische K om p arativ m it den poetischen B eteuerungen jenes R ispetto zusam m enfällt; und w as die poetische m it der gram m a­

tischen Form gem eint hat, w äre in diesem F all das besondere V e r­

m ögen der sprachlichen S teigeru n g, also die F ähigkeit, beliebige E rsch ein u ngen und V o rgä n g e der W e lt in eine steigende R eihe zu ordnen, ihnen eine feste B ezieh un g zueinander und eine fortlaufende B ew egu n g übereinander hinaus zu geben: kurz, R h yth m us und R a n g in die D in ge zu bringen. W enn die italienische Sprache dieses V e r ­ m ögen nich t hätte, so gäbe es in Italien w eder ein gram m atisches Kom parationsschem a, noch eine D ich tu n g sg attu n g w ie das to s­

kanisch e Rispetto.

So finden D ichter und Sprachgebräuche, poetische und gram ­ m atische G ebilde sich darin zusammen, daß sie R hythm us und R angordnungen, B ew egu n g und H arm onie in das W eltb ild der M enschen, der V ö lk er und der E inzelnen weben. Denn w as w ir am Schem a der K om paration festgestellt haben, g ilt m utatis m utandis fü r alles Gram m atische. E s g ilt z. B. für die M odi des Verbum s, kraft deren die indogerm anischen Sprachen alles G eschehen und H andeln als frei und gebunden, als gegeben und gew ollt, als bedingt und gew iß abteilen und ineinanderfließen lassen ; und w as die

„W eish eit des Brahm anen“ lehrt, dasselbe könnten unsere m odalen G efäße von sich sagen:

Sechs Wörtchen nehmen mich in Anspruch jeden Tag:

Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.

Und, da im fortw ährenden W and el der gram m atischen und stilistischen G ebräuche die Form en, Funktion en und Bedeutungen der M odi sich um gruppieren, ablösen und w ech selseitig ergänzen, so stellen sie sch ließlich an jede Sprache, an jeden einzelnen Sprecher die Bitte und M ahnung:

Nur wenn du stets mich lehrst, weiß ich was jeden Tag Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.

W orau f es uns ankommt, ist nich t so sehr die Selbstverständ­

lichkeit, daß die gram m atischen K ategorien eine sprachliche O rd ­ nu n g sind, sondern, daß sie bew egt sind und R h yth m us haben.

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E in e O rd n u n g g en ü g t es festzustellen, zu verstehen und gebührend einzuhalten; aber ein W a lzer w ill aufgespielt und getan zt sein. E ben darin, daß sie nich t nur hingenom m en, gelehrt und beobachtet, nein, daß sie m itgem acht, erlebt, ausgeführt, geübt, getanzt, m arschiert, geatmet, geflötet, posaunt, getrom m elt, gezeichnet, koloriert und gesu n gen werden w ollen, darin vo r allem lie gt der ornamentale, der poetische und nationale W ert der gram m atischen K ategorien. D as ist es, w as die D ichter, dank der G ew alt ihres G en ius rascher, g rü n d ­ licher, inten siver und konzentrierter besorgen als die zögernden, schleichenden, sickernden, exten siven und über Jahrtausende v e r­

fügenden A rbeiten von nationalen Sprachgem einschaften. D iese stricken an einem endlosen Riesen Strumpf, w ie die rom anischen Sprachen oder die slavischen einer sind, m it größter B eh aglich keit in die L ä n g e und Breite. D ie gram m atischen K ategorien sind dabei w ie M aschen, an denen so lan ge w ie m öglich festgehalten wird.

D esto lebhafter pulsieren sie in der D ichtung, und alsbald w ird das dialektische G esetz der Selbstentfrem dung oder des A ndersw erdens im E inssein an ihnen w irksam .

Denn, je feuriger der P oet eine gram m atische K atego rie e x e ­ kutiert, um so w en iger ist es diese K ategorie mehr. W er einen W alzer m it den Beinen des H erzens und nicht seines T anzlehrers ausführt, der tanzt schon keinen W alzer mehr, sondern die eigene Lebensfreude. Betrachten w ir das bekannte französische V olkslied der B ed ingu ngssätze:

Par derrifere chez mon pere Si tu te mets alouette, il y a un etang. alouette dans les chatnps, Je me mettrai anguille, je me mettrai chasseur, anguille dans l’etang. — je t’aurai en chassant. — Si tu te mets anguille, Si tu te mets chasseur anguille dans l’etang, pour m’avoir en chassant, je me mettrai pecheur, je me mettrai nonnette,

je t’aurai en pechant. — nonnett’ dans un couvent. — Si tu te mets pecheur Si tu te mets nonnette, pour m’avoir en pechant, nonnett’ dans un couvent, je me mettrai alouette, je me mettrai precheur alouette dans les champs. — je t’aurai en prechant.

Si tu te mets precheur pour m’avoir en prechant, je me donnerai ä toi, puisque tu m’ aimes tant.

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K ein Zw eifel, daß hier echte hypothetische K onstru ktionen sind, und doch insofern nich t echt, als der eigentliche Sinn, die M einung, die Inspiration des L iedch ens nich t aus einer bedingenden, sondern wünschenden, liebenden, begehrenden E in ste llu n g stammt. N achdem der Dichter, bzw . die Liebenden, sich aber auf diese F ik tio n der gram m atischen H ypoth ese eingelassen haben, verstricken sie sich darin und komm en nich t w ieder los. D as w itzig e Sp iel — denn ein solches ist und bleibt es, solan ge die K ate go rie der B edingungen nich t ernst genom m en und erlebt w ird — könn te seinem starren Form gesetze nach endlos verlängert werden. D as G anze ist nur inh altlich durch einen liebensw ürdigen E in fall abgeschlossen, aber nich t formal, nicht künstlerisch gelöst, denn die K atego rie der B e­

d in gu n gssätze m acht den V erlau f der G efü hle nur äußerlich mit, ohne einen eigenen R hythm us, kraft dessen sie in eine andere K a te ­ gorie hinübertreten und eingehen müßte, in sich selbst zu haben.

M an w ird besser verstehen, was ich meine, wenn man betrachtet, w ie ein stärkerer, ernsthafterer D ichter ein ähnliches M otiv m it ähn­

lichen M itteln zum A b sch lu ß fü h rt:

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer Vom Meere strahlt;

Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen W ege Der Staub sich h e b t;

In stiller Nacht, wenn auf dem schmalen Stege Der Wanderer bebt.

Ich höre dich, wenn dort in dumpfem Rauschen Die Welle steigt.

Im stillen Haine geh’ ich oft zu lauschen, Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne, Du bist mir n a h !

Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.

O, wärst du da!

G ram m atisch sind auch hier die B ed in gu n gssätze echt, denn, wenn es Tem poralsätze wären, hätte G oethe jedenfalls w a n n , n ich t w e n n geschrieben. A b er sachlich handelt es sich nur um die z u ­ fällige, äußerliche Bedingtheit, die ein A nlaß, keine conditio sine qua non ist. U nd dies# A n lässe zum liebenden G edenken sind w irklich, sind innerlich erfahren und erlebt. H ier ist die K atego rie

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keine F ik tio n . U n d da sie nun so ernst genommen, so in n ig g e ­ sun gen wird, en tw ickelt sie ihren eigenen R hythm us und schreitet in diejenige K a te go rie hinüber und zurück, aus der sie seelisch hervor g egan g en ist: — O, w ärst du da! — die K a te go rie des großen W u n sch e s: dieselbe, aus der auch sp rachgeschichtlich zum T e il die h ypoth etisch en und konditionalen Satzgebilde sich her­

schreiben. D as sp rachliche F orm gesetz des G edichtes als eines L ie d es der S eh n su ch t und des W u nsch es ist dam it erfüllt, seine S p an n u n g gelöst, sein R h yth m u s durchlaufen und zur R u h e g e ­ bracht, der bedingende A u sd ru c k abgew andelt und bis zum W ü n ­ schenden zu rü ckverfolgt, w obei so gar die M ittelstufe des einräu­

menden — „d u seist auch noch so ferne“ — durchschritten wird.

In jedem G edicht, w enn es nur stark g e n u g em pfunden und g e ­ arbeitet ist, werden die gram m atischen K ategorien w ieder auf andere, besondere A r t durchschritten und ineinander übergeführt. S o geh t

— um ein letztes Beispiel zu w ählen — in der geruhsam en Liebes- gew iß h eit und treuen Z u versich t des folgenden V olksliedes der W e g vom irreal w ünschenden B ed in gu n gssatz über den einräum enden oder adversativen zu einem absoluten, der alle E ven tu alität aus­

sch ließt und die U nb ed in gth eit b ed eu tet W u n sch und Sehn such t beruhigen sich hier im G edenken, w ährend in G oethes G ed ich t sich je n e aus diesem erhoben.

Wenn ich ein Vöglein war Bin ich gleich weit von dir, Und auch zwei Flügel hätt, Bin ich doch im Schlaf bei dir Flog ich zu dir; Und red mit dir;

Weils aber nicht kann sein, Wenn ich erwachen tu, Bleib ich allhier. Bin ich allein.

Es geht kein’ Stund in der Nacht, Da nicht mein Herz erwacht Und dein gedenkt,

Daß du mir viel tausendmal Dein Herz geschenkt. —

D ie K ategorien der G ram m atik sind für eine gan ze N ation al­

sprache, ja fü r große G ruppen von h istorisch zusam m enhängenden

Sprachen dieselben. W er die flex ivisch en Form en und syntaktischen

F u n k tion en des lateinischen K o n ju n k tiv s ken nt und begriffen hat,

w ie sie Zusammenhängen, Zusammenarbeiten, w as sie leisten und

w ozu sie dienen, der besitzt von dieser gram m atischen K ategorie

einen Begriff, den er bei B etrachtu ng des fcanzösischen, italienischen

oder spanischen K o n ju n k tivs nich t aufzugeben, nich t zu zerbrechen,

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sondern nur zu bereichern, und zu „en tw ick e ln “ braucht. A ls B egriff bleibt sich die K a te go rie — , ich w ill n ich t sagen gleich, aber treu.

S ie ist nich t starr, aber konstant und beharrlich. A ls konkreter sprachlicher A u sd ru c k ist sie flü ssig und bew egt sich nich t nur in jeder N ationalsprache, sondern in jedes E inzelnen S til und in jedem A u g e n b lick in anderer R ich tu n g, in anderem R hythm us und anderem Sinn. H ier w ird sie in d ivid u ell bestim m t als „dieser“ K o n ­ ju n k tiv , dort generell als „d er“ oder „ein “ K o n ju n k tiv. „D en “ oder

„ein en “ K o n ju n k tiv kann man gebrauchen, vermeiden, anwenden, um gehen, w ählen in der täglich en R ede des U m gangs, aber „diesen“

K o n ju n k tiv als einen ind ivid uell bestimmten, in „diesem “ s e i n e m F lu ß , R hythm us, Zusam m enhang und Sin n m uß man empfinden, erleben, erfühlen, w enn man ihn ausführen, lyrisieren, klingend, singen d machen und zum H erzen w ill sprechen lassen. V o n dieser S eite gesehen, erscheinen die N ationalsprachen in all ihren E in z e l­

heiten w ie in ihrer T o ta litä t und G eschlossenheit als erlebte Sprache, als Stil, als D ich tu n g und als wandelbare, gesch ich tlich bedingte V erw irk lich u n gen der großen und einzigen Sprachgem einschaft des M enschen m it dem W eltall.

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