LXXXV.4 (1998)
Das Flaviussche Sieb
von
Mats Erik Andersson (Stockholm)
Problemstellung. Es sei F
1= {1, 2, 3, . . .} die Menge der nat¨ urlichen Zahlen. Diese Menge wird gesiebt, indem jedes zweite Element entfernt wird und die ungeraden Zahlen ¨ ubrigbleiben. Der Rest wird mit F
2be- zeichnet. Danach wird jedes dritte Element in F
2weggenommen; so F
3= {1, 3, 7, 9, . . .}. Die Menge F
kentsteht indem man aus der Menge F
k−1jedes k-te Element streicht. Man schreibe nun F
∞= T
∞k=1
F
kund suche die An- zahlfunktion F (n) = |F
∞∩ [1, n]| zu bestimmen.
Diese Fragestellung scheint zum ersten Mal in Nordisk Matematisk Tid- skrift [1] erw¨ahnt worden zu sein und dort hat Viggo Brun eine L¨osung angegeben. Der Name „das Flaviussche Sieb“ stammt von Gardiner u.a. [5], allerdings ohne jede Begr¨ undung. Doch scheint eben dieser „Flavius“ mit einem Ereignis bei Armageddon verkn¨ upft zu sein. Die L¨osungen in [1] geben F (n) ∼
√2π√
n an. Eine Pr¨azisierung stammt von Brun [3]:
F (n) = 2
√ π
√ n + θ(n)n
3/8, |θ(n)| < 1,13, n > 5
8.
In dieser Arbeit werden wir zeigen:
Satz.
F (n) = 2
√ π
√ n + O(n
1/6).
1991 Mathematics Subject Classification: 11B83, 11N35.
Diese Arbeit ist urspr¨ unglich w¨ahrend eines l¨angeren Aufenthaltes in Stuttgart ent- standen. Sie diente als eine Art Abschlußarbeit f¨ ur mein Grundstudium. Die Anregung zum Problemkreis hat der vorzeitig verstorbene Dr. rer. nat. Gerold Wagner geleistet.
Seinem Andenken ist diese Ver¨offentlichung gewidmet. Er ist im M¨arz 1990 bei einem Lawinenunfall ums Leben gekommen. In der kurzen Zeit unserer Freundschaft hat er mich vielf¨altig beeinflußt, sowohl privat als auch wissenschaftlich.
[301]
Einleitung, Hilfss¨ atze Hilfssatz 1. Es sei
B(n) = (2n)!!
(2n + 1)!! = 2
2nn!
2(2n + 1)! . Dann gilt:
(1) B(n) ist streng monoton fallend, und P
nk=1
B(k) = 2(n+1)B(n)−2.
(2) B(n) =
√ π 2 √
n + 1
1 + 1
8(n + 1) + O(n
−2)
.
Bemerkung. Einen sch¨onen Beweis von der Summe in (1) hat Carlitz [4] gefunden.
Es bezeichne fortan [x] die Gauss’sche Klammer, d.h. die gr¨oßte ganze Zahl kleiner oder gleich x. Mehrmals wird aus
ab
= c, wobei a und b ganzzahlig sind, die Folgerung bc ≤ a ≤ bc + (b − 1) angewandt.
Definition. Zu den Mengen {F
k}
∞k=1und zu einem festen n f¨ uhren wir drei Gr¨oßen ein, deren Studium zur Entwicklung des Siebverfahrens f¨ uhrt:
N
k= |F
k∩ [1, n]|, m
k= N
k−1− N
kund h
k= m
k− m
k+1. Ihre Abh¨an- gigkeit von n wird unterdr¨ uckt. Da im k-ten Schritt jedes k-te Element in F
k−1∩ [1, n] unter den N
k−1m¨oglichen Zahlen entfernt wird, ist m
k= [N
k−1/k] einleuchtend.
Beim Fortschreiten des Verfahrens sind zwei „Zeitpunkte“ interessant:
k
0sei der gr¨oßte Index mit m
k> 0 und es bezeichne k
∗= max{k | h
k≥ 2}.
Insbesondere gilt f¨ ur k ∈ {k
∗+ 1, . . . , k
0} entweder m
k+1= m
k− 1 oder m
k+1= m
k. Außerdem ist F (n) = lim
k→∞|F
k∩ [1, n]| = N
k0.
Hilfssatz 2.
(k − 1)N
k−1≤ kN
k≤ (k − 1)N
k−1+ (k − 1), (1)
n ≤ kN
k≤ n +
12k(k − 1), (2)
k
0− 1 ≤ N
k0= F (n) ≤ k
0,
(3) √
n −
12< F (n) < √ 2n.
(4)
B e w e i s. Die Ungleichung (1) folgt aus N
k= N
k−1− m
k= N
k−1− [N
k−1/k] durch Aufl¨osen der Klammer. Das Wiederholen von (1) liefert (2).
Da nach Konstruktion N
k−1≥ N
kgilt, ist offenbar N
k−1/k mit wach- sendem k streng abnehmend. Folglich ist m
k= [N
k−1/k] nicht wachsend.
Dadurch ist auch k
0mittels m
k0≥ 1 und m
k0+1= 0 eindeutig bestimmt.
Die zwei Bedingungen besagen [N
k0−1/k
0] ≥ 1 und [N
k0/(k
0+ 1)] = 0,
d.h. N
k0−1≥ k
0bzw. N
k0< k
0+ 1. Wegen der Ganzzahligkeit ergibt sich
N
k0≤ k
0.
Es ist weiter einleuchtend, daß k
0= k
0(n) mit wachsendem n niemals abnehmen kann. Insbesondere ist f¨ ur n ≥ 5 immer k
0≥ 3. F¨ ur jene n gilt wegen (1) die Beziehung N
k0−1/k
0≤ N
k0/(k
0− 1) ≤ k
0/(k
0− 1) ≤ 3/2, d.h. m
k0= 1. Damit haben wir k
0− 1 ≤ N
k0−1− 1 = N
k0−1− m
k0= N
k0allgemein best¨atigt und (3) ist erledigt f¨ ur n ≥ 5. Nachrechnen mit n = 2, 3 und 4 belegt (3) auch in diesen F¨allen.
Aus (2) mit k = k
0samt (3) folgern wir
n ≤ k
0N
k0≤ N
k0(N
k0+ 1) < N
k0+
122.
Anderseits gilt k
0N
k0≤ n +
12k
0(k
0− 1) ≤ n +
12k
0N
k0, d.h. k
0N
k0≤ 2n, beziehungsweise N
k20
≤ k
0N
k0. Da beim Einsetzen von (3) in der Form k
0− 1 ≤ N
k0bzw. N
k0≤ k
0nicht gleichzeitig Gleichheit in den beiden Beziehungen bestehen kann, folgern wir aus deren Kombination N
k20< 2n.
Wir haben noch einige Beziehungen n¨otig, die wichtige Gr¨oßenverh¨alt- nisse verdeutlichen. Diese sind kaum mehr als zurechtgelegte Formen des eben angef¨ uhrten Hilfssatzes, f¨ ur deren sp¨ateren Einsatz angepasst.
Hilfssatz 3. F¨ur alle k ≥ 2 gelten die Ungleichungen m
k(k − 1) ≤ N
k≤ (m
k+ 1)(k − 1), (5)
(m
k− h
k)(k + 1) ≤ N
k≤ (m
k− h
k)(k + 1) + k, (6)
k(k − 1) m
k−
12≤ n ≤ k(k − 1)(m
k+ 1).
(7)
B e w e i s. Gem¨aß Definition bestehen m
k= [N
k−1/k] = [(m
k+ N
k)/k]
und m
k− h
k= m
k+1= [N
k/(k + 1)], woraus offensichtlich (5) bzw. (6) durch Aufl¨osen der Klammer hervorgehen.
Um (7) zu beweisen, schreibt man zuerst kN
k= m
kk(k − 1) + k{N
k− m
k(k − 1)}. Verm¨oge (5) sieht man N
k− m
k(k − 1) ≤ k − 1 ein. Hieraus folgt nun
kN
k≤ m
kk(k − 1) + k(k − 1).
Anderseits ist nach (2)
n ≥ kN
k−
12k(k − 1) ≥ m
kk(k − 1) −
12k(k − 1) = m
k−
12k(k − 1), wobei in der letzten Ungleichung die Beziehung N
k≥ m
k(k − 1) aus (5) eingesetzt wurde. Der Hilfssatz ist bewiesen.
Die zul¨assigen Kombinationen von (5) und (6) geben (8) m
k(k − 1) ≤ (m
k− h
k)(k + 1) + k bzw.
(m
k− h
k)(k + 1) ≤ (m
k+ 1)(k − 1).
L¨ost man in jeder Ungleichung die Zahl k aus, ergibt sich sofort 2m
k− h
k+ 1
h
k+ 1 ≤ k ≤ 2m
k− h
kh
k− 1 .
Die erste Beziehung in (8) f¨ uhrt auf k ≤ . . . und die zweite auf k ≥ . . . zu.
Infolgedessen finden wir wiederum dank (6), daß N
k≤ k(m
k− h
k+ 1) + m
k− h
k≤ 2m
k− h
kh
k− 1 (m
k− h
k+ 1) + m
k− h
k. Eine einfache Rechnung liefert schließlich
N
k≤ m
k(2m
k− 2h
k+ 1)/(h
k− 1).
Die besondere Wahl k = k
∗, M = m
k∗+1= m
k∗−h
k∗f¨ uhrt zu (man beachte h
k∗≥ 2)
k
∗≤ 2M + 2, N
k∗≤ (M + 2)(2M + 1).
Damit ergibt sich n ≤ k
∗N
k∗≤ (2M + 2)(2M + 1)(M + 2) < 4 M +
763und wir haben den folgenden Satz bewiesen.
Satz 4. Es gilt die Ungleichung m
k∗+1>
n 4
1/3− 7 6 .
Die Filteridentit¨ at und ihre Folgerungen. Die Effektivit¨at der hiesi- gen Methode basiert auf dem Zusammenf¨ uhren aller Schritte, deren entspre- chenden h
kdenselben Wert annehmen. Die so entstehende Beziehung nen- nen wir die Filteridentit¨at:
Satz 5. Es sei n ≥ 5. F¨ur 2 ≤ k ≤ k
0besteht die nachstehende Identit¨at:
(2m
k−h
k)(k
0−k) = (N
k−km
k)+(k
0−N
k0)+(m
k−1)k
0+
k
X
0−1 l=k+1h
l(k
0−l).
B e w e i s. Gem¨aß Definition gilt N
l−1− N
l= m
l{l − (l − 1)}, so daß eine Summation von k + 1 nach κ gibt
N
k− N
κ= X
κ l=k+1lm
l−
κ−1
X
l=k
lm
l+1= κm
κ+1− km
k+1+ X
κ l=k+1lh
l. Diese Identit¨at kann man so umschreiben:
(m
k+ m
k+1)(κ − k) = (N
k− km
k) + (κm
κ− N
κ)
+ (m
k+ m
k+1− m
κ− m
κ+1)κ − X
κ l=k+1lh
l.
Dank P
κl=k+1
h
l= P
κl=k+1
(m
l− m
l+1) = m
k+1− m
κ+1finden wir (2m
k−h
k)(κ−k) = (N
k−km
k)+(κm
κ−N
κ)+(m
k−m
κ)κ+
κ−1
X
l=k+1
h
l(κ−l),
wobei auch m
k+m
k+1= 2m
k−h
kangewandt wurde. Mit κ = k
0und m
k0= 1 (wegen n ≥ 5, vgl. den Beweis von Hilfssatz 2) folgt die Behauptung.
Satz 6. F¨ur alle k mit h
k= 1 und k
∗< k ≤ k
0gilt die Absch¨atzung (9) |k − B(m
k− 1)k
0| < 1.
B e w e i s. Wir werden eine Induktion durchf¨ uhren, die auf der nachste- henden Umformung basiert:
(10) |(k
0− l) − {1 − B(m
l− 1)}k
0| < 1 wenn h
l> 0, k
∗< l ≤ k
0. Diese Aussage ist trivial im Falle l = k
0, da die linke Seite gleich Null ist.
Die Annahme k
∗< l f¨ uhrt dazu, daß h
l= 0 oder 1 ist. Folglich ist jedes m = 1, . . . , m
lunter den Zahlen m
l, . . . , m
k0zu finden, sobald k
∗< l ≤ k
0. Außerdem stehen die Zahlen j mit l ≤ j ≤ k
0und h
j= 1 durch j 7→ m
jin ein-ein-deutigem Verh¨altnis zu der Menge {1, . . . , m
l}, wenn nur h
l= 1 gilt.
Es sei nun (10) g¨ ultig f¨ ur diejenige l = k + 1, . . . , k
0, die h
l= 1 erf¨ ullen, dabei darf ohne Einschr¨ankung h
k= 1 angenommen werden. Der K¨ urze halber sei im Folgenden R
k= {N
k− km
k} + k
0− N
k0gesetzt. Die Filter- identit¨at (Satz 5) und die Induktionsannahme beweisen nun
(2m
k− 1)(k
0− k) = R
k+ (m
k− 1)k
0+
k
X
0−1 l=k+1h
l(k
0− l)
< R
k+ (m
k− 2) + (2m
k− 3)k
0−
k
X
0−1 l=k+1h
lB(m
l− 1)k
0= R
k+ (m
k− 2) + (2m
k− 1)k
0− (2m
k− 1)B(m
k− 1)k
0. Man setze hier P
k0−1l=k+1
h
l= m
k+1− m
k0= m
k− 2 ein, da h
k= m
k0= 1 ist. Dabei ergibt sich die letzte Gleichheit hier oben aus Hilfssatz 1 und dem Sachverhalt P
l
h
lB(m
l− 1) = P
mkm=2