VON
PEO F. DK. H E R M A N N G U T Z M A N N -B E R L IN
L E IT E R D E S U N IV E R S I T Ä T S - A M B U L A T O R IU M S F Ü R S T IM M - U N D S P R A C H S T Ö R U N G E N .
I N H A L T .
Se ite.
I. Von B e griff und Anwendung der Bezeichnungen: Gewöhnung, Ge
wohnheit, Übung, F e r tig k e it...135 I I . Vom Einflüsse der Gewöhnung und Übung auf Entstehen und Ver
gehen von Stim m - und S p ra c h s tö ru n g e n ... 155
1. V O N B E G R IF F U N D A N W E N D U N G D E R B E Z E IC H N U N G E N : G E W Ö H N U N G , G E W O H N H E IT , Ü B U N G , F E R T IG K E IT .
Eine überaus große Zahl von Patienten, die an sogenannten funktionellen Störungen der Stimme und Sprache leiden, geben uns bei Aufnahme der Anamnese deutliche Hinweise darauf, daß ih r Leiden durch Gewöhnung an fehlerhaften Gebrauch der Stim m - oder Sprech
koordination entstand und nach Erwerbung der fehlerhaften Gewohn
heit schließlich n ic h t mehr w illk ü rlic h verbessert werden konnte.
Solange die Gewohnheit noch n ich t verankert war, solange also noch der Vorgang der Gewöhnung dauerte, hätte die fehlerhafte K oordina tion durch Aufm erksam keit auf den Vorgang und Übung des richtigen Bewegungsablaufes vermieden werden können. Nach Erwerbung der Gewohnheit stand der W illen aber unter ih r ; eine w ill
kürliche K o rre k tu r w ar je tz t n ic h t mehr möglich, ja Willensanstrengung vermehrte häufig das Übel.
Die näheren Umstände, unter denen aus fehlerhafter Gewöhnung Stim m - und Sprechstörungen entstehen — die A rt und Weise, wie sie sich zeigen und o ft schwere sekundäre Schädigungen der Psyche des K ranken hervorrufen — , die auf psychologische Erkenntnis dieser Verhältnisse aufgebaute rationelle Therapie: alles dies soll an dieser Stelle in Kürze dargelegt werden. Denn m ir scheint, daß gerade aus der genaueren Betrachtung dieser Verhältnisse fü r unsere psychologische
Fortschritte, der Psychologie. I I I . H eft. Band I I . 10
Auffassung der Begriffe „G ewöhnung“ und „G ew ohnheit“ , und sodann der parallelen Begriffe „Ü b u n g “ und „F e rtig k e it“ , manches gewonnen werden kann. Erfahrungen, die sich auf ein schier überreiches M aterial stützen, und die in mehr denn 25 Jahren erworben wurden, gäben m ir vielleicht Veranlassung, über manche der bei der kom plizierten K oordina tion der Stimme und Sprache beobachteten psychischen Erscheinungen rein referierend zu berichten und die E rklä ru n g auf die E rfahrung allein zu stützen. D a m it wäre w ohl den Lesern dieser Zeitschrift n ic h t gedient. Aber auch aus anderen Gründen möchte ich m ich bemühen, dieser Versuchung n ich t zu unterliegen und in jedem Falle, der hier an dieser Stelle zur E rörterung kom m t, meine Ansicht psychologisch zu begründen, soweit dies m ir eben möglich ist.
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Von „G ewöhnung“ und „G ew ohnheit“ is t naturgemäß in der psychologischen L ite ra tu r sehr häufig die Rede. Leider werden diese Ausdrücke n ic h t überall in gleichem Sinne angewendet, und die De
fin itio n e n weichen manchmal stark voneinander ab1). M it R echt
*) So id e n tifiz ie rt Ja m e s in seiner sonst so ausgezeichneten Psychologie, die auch durch, o ft nur nebenher eingestreute Sätze vielfache Anregung zum Nachdenken b ietet, Gewohnheit durchaus m it Übung. E r d e fin ie rt die Gewohn
h e it vom psychologischen Standpunkte aus als eine neugebildete Entladungsbahn im Gehirn, durch welche gewisse peripetale Erregungen von nun an im m er sich zu ergießen bestrebt sind. E r geht soweit, die Naturgesetze als unveränderliche Gewohnheiten anzusehen, welche die verschiedenen Elemente der M aterie in ihren gegenseitigen A ktionen und Reaktionen befolgen.
M it Recht wendet D ü rr in einer dazu geschriebenen Anm erkung ein, daß dieser Satz gerade das ign o rie rt, was dem B e g riff der Gewohnheit unter allen U m ständen bleiben muß, näm lich das E rw o rb e n s e in d e r R e g e lm ä ß ig k e it. Auch unterscheidet D ü rr zwei A rte n der „G ew ohnheit“ , die man sorgfältig ausein
anderhalten müsse. Bei der einen is t die Gewohnheit oder besser, w ie er selbst hinzufügt, Gewöhnung nur die Veränderung eines kausalen Verlaufes bei öfterem Sichabspielen. Dies is t identisch m it dem H e ringschen Begriffe von Gewohnheit und Gedächtnis. In einer zweiten Bedeutung gebraucht man das W o rt „G ewohn
h e it“ nach D ü rr, wenn auf Grund eines zufälligen Zusammentreffens zweier Vorgänge ein Zusammenhang zwischen ihnen sich bildet, also eine Gewohnheit aus Assoziationsbildung. Das Beispiel, das D ü rr selbst zu dieser zweiten A rt der Gewohnheit g ib t, die Einübung einer turnerischen Leistung, zeigt, daß er diesen B e g riff m it dem B e g riff Übung offensichtlich id e n tifiz ie rt. .
M it gutem Grunde fü h rt Ja m e s bei seinen näheren Auseinandersetzungen die schönen Bemerkungen v o n B a in (zur Erwerbung der Gewohnheiten) an. Gerade diese Sätze gaben m ir bei der Lektüre Anlaß zu dem Wunsche, daß sie m it strengerer Scheidung der W orte „G ewöhnung“ und „Ü bung“ , „G ew ohnheit“ und „F e rtig k e it“ geschrieben sein möchten.
weist z. B. H e ilb r o n n e r zunächst darauf hin, daß Gewöhnung und Gewohnheit n ich t dasselbe sei: es wäre eigentlich richtiger, unter
„G ewöhnung“ den V o r g a n g zu verstehen, der zuletzt zu dem Z u s ta n d e der „G ew ohnheit“ geführt hat. Das ist sehr richtig, n u r be- daure ich, daß H e ilb r o n n e r selbst dem Sprachgebrauche, der diese Unterschiede verwischt hat, die Konzession macht, auch seinerseits beide W orte promiscué zu gebrauchen. Solche Sprachgebrauche, welche eine Scheidung der W ortbegriffe verwischen, sollten stets g etilgt werden: sie entstehen bekanntlich aus D enkfaulheit. F ü r die
W eit rich tig e r gebraucht E b b in g h a u s fü r eine große Anzahl von Erschei
nungen, die Jam es unter „G ew ohnheit“ zusammenfaßt, den Ausdruck „Ü bung“*.
E b b in g h a u s versteht darunter eine M ehrheit von Erscheinungen, deren Gemein
sames darin lie g t, daß sie bei häufiger W iederholung der gleichen seelischen Be
tätigung auftreten, sowohl wenn die W iederholungen unm ittelbar, als wenn sie m it mäßig großen Zwischenzeiten aufeinander folgen. Den Sinn der Übung und den E rfo lg der Übung schildert er durchaus entsprechend der D arstellung von D u B o is -R e y m o n d , der den B e g riff der Übung von dem Begriffe „G ew ohnheit“
scharf trennt.
Und doch scheint m ir, daß auch E b b in g h a u s das, was ich unter Ge
wöhnung verstehe, zum T e il seinem Begriffe „Ü bung“ einreiht, so das Gewöhnen an Straßenlärm und anderes mehr. Das Üben im Auslassen der Apperzeption derartiger Sinneseindrücke is t kein Üben, sondern ein Gewöhnen; die Gewohnheit b rin g t hier Abstum pfung der R eizw irkung m it sich, ein Nichtbem erken solcher Sinnes
eindrücke kann ich unmöglich als Übung auffassen, wenn ich an der A k tiv itä t der Person bei dem Übungsvorgange festhalte, wie h ie r gezeigt werden soll.
Nach W u n d t besteht jede Übung darin, daß eine zuerst w illk ü rlic h aus
geübte Handlung allm ählich reflektorisch und autom atisch w ird.
D u B o is -R e y m o n d g ib t in seinem V ortrag über die Übung, B e rlin 1881, folgende D e fin itio n von der Übung: „U n te r Übung versteht man gewöhnlich das öftere W iederholen einer mehr oder m inder verw ickelten Leistung des Körpers unter M itw irku n g des Geistes oder auch einer solchen des Geistes allein zu dem Zweck, daß sie besser gelinge.“ Besonders interessant is t der Hinw eis darauf, daß die Vervollkom m nung in Leibesübungen o ft fast ebenso in Beseitigung unzweck
mäßiger Mitbewegungen besteht w ie in der Geläufigmaehung der nötigen Be
wegungen, ein Umstand, auf den Jo h a n n e s M ü lle r in seinem Handbuch der Physiologie (1842) aufmerksam machte. D u b o is -R e y m o n d sagt: „V om Mechanis
mus der Hemmung von Mitbewegungen wissen w ir nichts, doch leuchtet ein, daß, wo infolge der Übung Muskeln in Ruhe bleiben, die E rucht der Übung n ich t deren K rä ftig u n g w ar.“ Gerade diese Hemmung der Mitbewegungen, die nur ein Zeichen dafür sind, daß die Übung A n s tre n g u n g kostet, und die unter Umständen bei einer sonst ziem lich gut erlangten F e rtig k e it doch als unbequeme und unschöne Gewohnheiten erhalten bleiben können, finden w ir besonders häufig bei Sprach
störungen, die eine besondere Anstrengung des Patienten m it sich bringen. So is t z. B. beim S tottern das Vorhandensein der Mitbewegungen ein so reguläres, daß man den S totterer durch seine Mitbewegungen bereits von weitem erkennen kann.
Über Gewöhnung und Gewohnheit, Übung und F e rtig ke it etc. 137
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richtige psychologische Erkenntnis ist gerade die Unterscheidung der Gewöhnung von der Gewohnheit von größter Bedeutung und is t übrigens auch von jeher, wenigstens bei vielen Psychologen, geschehen.
Man vergleiche z. B. die D e fin itio n von Gewöhnung und Gewohnheit in dem bekannten K ir c h n e r - M ic h a e lis s c h e n „W ö rte rb u ch der philosophischen Grundbegriffe“ . W ir werden gleich darauf näher eingehen. Wenn w ir den Unterschied der beiden W ortbegriffe kurz ausdrücken wollen, können w ir sagen: G e w o h n h e it is t d a s B e s u lt ä t d e r G e w ö h n u n g .
W ählen w ir unter den vielen D efinitionen des Begriffes von p h ilo sophischer Seite die soeben genannte aus. Es heißt in K ir c h n e r - M ic h a e lis ’ W örterbuch: „G ew ohnheit ist die durch öftere W ieder
holung desselben Vorstellens und Tuns entstandene Neigung und F e rtig keit, unter gleicher Veranlassung dasselbe vorzustellen und zu tun.
Jene Wiederholung heißt Gewöhnung und kann w illk ü rlic h oder u n w illk ü rlic h sein. A u f der durch Gewöhnung erworbenen Gewohnheit, welche die w illkü rlich e n Bewegungen in unw illkürliche, die E n t
schließungen in Triebe um wandelt und die uns zur zweiten N a tu r w ird, beruhen alle leiblichen und geistigen Geschicklichkeiten. D urch G ew ohnheitx) lernen w ir stehen, laufen, turnen, reiten, sprechen, zeichnen, schreiben. Gewohnheitsmäßig gebrauchen w ir gewisse F o r
meln des Grußes usw.“
Das k lin g t zunächst sehr plausibel. Sieht man aber näher zu, so erkennt man, daß hier Dinge zusammengestellt werden, die n ich t zusammen gehören. Die D e fin itio n spricht von F e rtig ke it und Ge
schicklichkeit, als ob diese aus der Gewöhnung oder Gewohnheit ent
sprängen. Allerdings werden zwei A rte n von Gewöhnung u n te r
schieden, die w illkü rlich e und die unw illkürliche. W ir bezeichnen aber meiner Meinung nach die w illkü rlich e Gewöhnung besser und klarer m it dem Ausdrucke „Ü b u n g “ ; R e s u lt a t d e r Ü b u n g i s t sodann d ie F e r t i g k e i t resp. G e s c h ic k lic h k e it . N un w ird aber vielfach wie auch oben Gewöhnung m it Ü bung id e n tifiz ie rt oder auch die Übung nu r als eine U n te ra rt der Gewöhnung angesehen2). M ir scheint
dem-1) Müßte nach der vorhergehenden D e fin itio n „G ewöhnung“ heißen.
2) Demgegenüber kann ich u. a. auf die Darlegungen S tu m p fs hinweisen, die er im ersten Bande seiner T o n p s y o h o lo g ie g ib t. Schon was er über den B e g riff der Übung sagt, deckt sich im wesentlichen m it dem von m ir Ausgeführten.
Insbesondere w eist er darauf hin, daß der Sprachgebrauch unter Übung n ich t nur die erlangte D isposition, sondern auch den Prozeß der Erlangung versteht. E r nennt ihn m it Recht eine Zw eideutigkeit, die man, wo es auf genaue D e fin itio n ankom m t, vermeiden muß.
Über Gewöhnung und Gewohnheit, Übung und F e rtig ke it etc. 139 gegenüber, daß man auf eine Trennung der Begriffe „G ewöhnung“
und „Ü b u n g “ u n d f a s t n o c h m e h r a u f e in e gründliche Scheidung der W orte „G ew ohnheit“ und „F e rtig k e it“ recht großen W ert legen müßte. W o rin besteht denn der wesentliche Unterschied zwischen Gewöh
nung und Übung? H ie r g ib t schon der Sprachgebrauch A uskunft. Da der Sprachgebrauch aber n ic h t n u r die Ausdrücke „Gewöhnung“
und „G ew ohnheit“ promiscué verwendet, sondern auch Übungsvor
gang und Übungsresultat o ft n u r m it dem einem W orte „Ü b u n g “ bezeichnet, so werden die aus dem Sprachgebrauche geschöpften Belege stets sorgsam auf die jeweiligen W ortbegriffe zu sondern sein. T rotz dieser Mängel werden aber gerade die Ausdrücke „G ewöhnung“ und
„Ü b u n g “ im Sprachgebrauche kaum jemals verwechselt. Man versuche nu r in bekannten Redewendungen, Z itaten usw. den einen Ausdruck durch den andern zu ersetzen. Schon der erste Versuch le h rt uns die U nm öglichkeit durch den entstehenden W idersinn. Man ersetze
„G ew ohnheit“ durch „Ü b u n g “ und umgekehrt z. B. in E g m o n ts W o rte n : „Süßes Leben, schöne freundliche Gewohnheit des Daseins“
oder in dem bekannten Z itate aus S c h ille r s W a lle n s t e in : „D e n n aus Gemeinem is t der Mensch gemacht, und die Gewohnheit nennt er seine Am m e“ oder auch umgekehrt im Sprichworte „Ü b u n g m acht den Meister“ oder endlich in irgend einem Vorlesungsanschlag am
„Schwarzen B re tte “ , z. B. „Ü bungen im Mittelhochdeutschen“ ,
„Ü bungen im Psychologischen In s titu t“ .
Der Versuch einer Vertauschung der beiden Ausdrücke weist uns ferner ungezwungen auf die eigentliche Grundeigenschaft der ent
sprechenden Begriffe hin. Es ist auffallend genug und hat schon viele A utoren beunruhigt (z. B. noch kürzlich H e ilb r o n n e r ) , daß die Gewohnheit im Sprachgebrauch s ittlic h vie l niedriger bewertet w ird als die Übung. So kom m t es, daß Gewohnheit sehr o ft m it dem Sinne
„schlechte Gewohnheit“ bedacht ist, fast niemals aber die Ü bung;
so hat zwar „gew öhnlich“ öfter einen tadelnden Nebensinn, niemals aber das parallel gebildete W o rt „ü b lic h “
-1)-Der Grund der s ittlic h höheren W ertung der Übung gegenüber der Gewöhnung liegt meines Erachtens lediglich in dem V e r h a lt e n d e r P e r s ö n lic h k e it g e g e n ü b e r d e m V o rg ä n g e d e r G e w ö h n u n g re s p . d e r Ü b u n g . B e i d e r Ü b u n g v e r h ä lt s ic h d e r M e n s c h
1) A u f eine F e rtig k e it sind w ir stolz, auf eine Gewohnheit nur recht selten, im Gegenteil, w ir empfinden sie sehr o ft als lästig. W ird, wie in dem gleich folgenden Beispiel aus der F e rtig ke it, auf die der Knabe stolz war, ein Zwang, so fo lg t dem
Stolze tie fe Depression.
im w e s e n tlic h e n a k t i v , b e i d e r G e w ö h n u n g d a g e g e n v o r w ie g e n d p a s s iv x). Ich möchte in diesem Satze das W o rt „V organg“
noch besonders betonen, denn gerade in der Werdezeit einer Gewohnheit oder einer F e rtig ke it t r i t t der Unterschied des aktiven resp. passiven Verhaltens der Persönlichkeit besonders stark hervor. Is t das E ndresulta t: die Gewohnheit resp. die F e rtig ke it erreicht, so ist ebenfalls das gleiche Verhältnis vorhanden. D ie G e w o h n h e i t , m a g sie g u t o d e r s c h l e c h t s e in , b e h e r r s c h e n w i r n ie , m e i s t b e h e r r s c h t sie l in s ; d ie F e r t i g k e i t d a g e g e n b e h e r r s c h e n w i r * 2). Aber Gewöhnung sowohl wie Ü bung fü h rt zu A u t o m a t i s m e n . So erhalten sie beide in ihren Endresultaten eine gewisse Verwandtschaft und gelegentlich k a n n s o g a r d ie Ü b u n g z u r G e w o h n h e i t f ü h r e n , w e n n es an H e m m u n g e n f e h l t .
Gerade hierfür sind Beispiele aus dem pathologischen Gebiete der Sprache sehr beachtenswert. Mehrfach habe ich es erlebt, daß K inder, die sich in der Nachahmung eines stotternden Schulkameraden übten und bei ihren Produktionen großen B e ifa ll ernteten, durch den B eifall angefeuert die Übung im nachahmenden S tottern so lange f o r t
setzten, bis die Gewohnheit als Rächerin des Verspotteten ihre H e rr
schaft über den Spötter antrat. Solange es n u r Übung resp. F e rtig ke it war, stand die Nachahmungsproduktion unter dem W illen des Spötters. Als die F e rtig ke it jedoch zur Gewohnheit wurde, stand sie über seinem W illen, er konnte das S tottern n ic h t mehr unterdrücken und wurde selbst ein richtiger Stotterer. N ich t selten t r i t t eine der
b Auch die doch stets vorwiegend passive A d a p tio n an V e rh ä ltn is s e , die A k k lim a tis a tio n , die A b h ä rtu n g , die G e w ö h n u n g an gew isse In - fe k tio n s g if te und vieles andere mehr müssen w ir demnach zu den Gewöhnungen resp. Gewohnheiten rechnen; sie sind zweckentsprechende, gute Gewohnheiten.
Selbst die Gewöhnung an das Vorhandensein und die T ä tig ke it der anderen Menschen is t mehr oder weniger passiv; man is t sogar so w e it gegangen, daß man Gewöhnung und Anpassung in diesem Sinne als die Grundlagen jeder sozialen Entw ickelung bezeichnete. In der T a t is t in gewisser Beziehung auch die Gewohnheit in ihrem sozialen Charakter altruistisch, aber sie is t, w ie sich ohne weiteres ergibt, mehr passiv-altruistisch.
2) A u f den Unterschied im V erhältnis der Person zum Vorgang, die A k tiv itä t bei der Übung, die P assivität bei der Gewöhnung, lege ich den Hauptnachdruck in allem Folgenden. Man sollte bei dem Gebrauch der W orte im m er an diesen Kardinalunterschied denken. A n sta tt z. B. zu sagen: „e r hat die Gewohnheit . . . . “ , würde man in unserem Sinne rich tig e r sagen: „Ih n hat die Gewohnheit . . . . “ . Gerade die schon erwähnte W ü rd ig u n g von Gewohnheit und F e rtig k e it e rklä rt sich am leichtesten, wenn man an die Beziehung der A c tiv ita s und Passivitas (K a n t sagt „S p o n ta n e itä t“ und „R e z e p tiv itä t“ ) zur C harakterbildung und Selbst
zucht denkt.
Über Gewöhnung und Gewohnheit, Übung und F e rtig ke it ete. 141 artige Übertragung durch Nachahmung und schnelle Um wandlung der Gewöhnung in die Gewohnheit gerade beim S tottern auf. O ft in so auffallender und plötzlicher Weise, daß der Vergleich m it einer Ansteckung, einer In fe k tio n sehr nahe liegt. In der T a t haben fra n zösische Mediziner die „ansteckende“ W irkung eines stotternden Vorbildes meist als eine häufige Ätiologie des Stotterns angesehen.
Sie sprechen von einer „contagion morale“ .
Vergleicht man aber die Gelegenheit, die so viele K in d e r in der Schule haben, durch Nachahmung eventuell auch ein Stotterer zu werden, und demgegenüber die geringe Zahl der Stotterer, so liegt es nahe, danach zu fragen, warum das eine K in d durch „contagion morale“ Stotterer wurde u iid die vielen anderen n icht, warum in diesem einen Palle eine anfängliche Übung schnell in Gewöhnung und dann in Gewohnheit überging. Es bleibt zur E rklärung nichts übrig, als eine gewisse Anlage, eine Prädisposition bei dem betreffenden K inde als Grundlage und eigentliche prim a causa movens anzunehmen.
Daß aus einer durch Ü bung erlangten F ertigkeit, die w ir beherrschen, eine uns beherrschende Gew'ohnheit w ird, is t also n ic h t als normale Erscheinung, wenigstens n ic h t in dem genannten Beispiele anzusehen.
W ir werden später noch ausführlicher auf diese Umstände eingehen müssen und uns genauer darüber zu orientieren haben, warum ein so unerwünschter E ffe k t einer Übung zustande kom m t.
Das erwähnte Beispiel aus der Sprachpathologie hat aber noch eine weitere Bedeutung fü r uns, denn es fü h rt uns zugleich zu der Frage nach der V e r a n l a s s u n g , w e l c h e z u r G e w ö h n u n g resp. z u r Ü b u n g f ü h r t e . Auch hier zeigen sich Kardinalunterschiede und gerade hier setzen sehr häufig die D efinitionen von Gewöhnung und Ü bung ein. W ir erwähnten ja oben bereits, daß in der zitierten D e fin itio n jenes Wörterbuches w illkü rlich e und u nw illkürliche Ge
wöhnung resp. Gewohnheit unterschieden wurde. Noch schärfer m acht diesen Unterschied bereits B i r a n , der in seinem Werke „S u r l ’habitude“ , das m ir zwar n ich t vorlag und das ich nach E i s l e r s Lexikon zitiere, geradezu eine a k t i v e u n d p a s s iv e G e w o h n h e i t unterscheidet. Diese Ausdrücke würden unseren D efinitionen von Gewöhnung und Ü bung resp. von Gewohnheit und F e rtig ke it durchaus entsprechen. Die Betonung des A k t i v e n gegenüber dem P a s s i v e n weist aber auch gleich auf die Veranlassungen hin, aus denen Ge
wöhnung resp. Übung entsteht. Bei der Gewöhnung ist die eigentliche Ursache in dem gegebenen Beispiel zu suchen oder in dem M ilieu und anderen Dingen, die mehr oder weniger in der A r t von Beizen
oder Anreizen w irken. Die Gewöhnung besteht dann in der mehr gezwungenen (passiven) B e a k t i o n des I n d i v i d u u m s a u f de n B e i z , d e m es s ic h n i c h t zu e n t z i e h e n v e r m a g . Bei der Übung liegt die eigentliche causa movens in der Persönlichkeit selbst, in ihrem W illen, von dem die Übung u n m itte lb a r abhängt. Dementsprechend w ird man auch Gewöhnung und Übung in der Erziehung in ihrer pädagogischen W ertung sehr sorgsam unterscheiden müssen.
G e w ö h n u n g u n d G e w o h n h e i t e r g i b t s ic h f ü r das K i n d i n e r s t e r L i n i e aus d e m M i l i e u , in dem es nun einmal aufwächst, aus dem zwingenden E influß , den dieses M ilieu auf das K in d selbst aus
übt, aus seiner „U m w e lt“ , um m it Ü x k ü l l zu reden. Die Übung ist davon aber gewöhnlich ganz unabhängig, wenn es sich n ich t gerade um die Erwerbung von schlechten F ertigkeiten handelt, bei der soziale Lage und Anlage der Person selbst eine Bolle spielten. Denn auch der Taschendiebstahl oder besser die Fähigkeit, diesen Diebstahl geschickt zu begehen, is t eine durch Übung erlangte F ertigkeit. Die Neigung, dagegen solchen Diebstahl zu begehen, und der fortwährende B ü c k f a ll des Taschendiebes in seine verbrecherische T ä tig ke it ist eine Gewohnheit, eine durch Neigung entstandene Gewohnheit. T rotz der besten V o r
sätze vermag er dem Beize einer gegebenen Gelegenheit, einen Taschen
diebstahl auszuführen, n ic h t zu widerstehen, er is t eben Gewohnheits
dieb geworden J). Wäre es ihm möglich und läge es ihm daran, dem Anreize, den die Gelegenheit gib t, eine Hemmung durch seinen W illen entgegenzusetzen, so würde er bei genügend häufiger Betätigung dieser Hemmung, d. h. durch Ü b e n d e r H e m m u n g imstande sein, seine fehlerhafte Gewohnheit zu überwinden. Übung kann also die Gewohnheit auslöschen, näm lich durch Ü bung im Hemmen der Ge
wohnheit. Ü b u n g i s t g e r a d e z u d e r W i d e r p a r t d e r G e w ö h n u n g u n d G e w o h n h e i t : ein Satz, der n ic h t n u r in pädagogischer Beziehung, sondern fü r den Mediziner in therapeutischer H insicht
wohnheit. Ü b u n g i s t g e r a d e z u d e r W i d e r p a r t d e r G e w ö h n u n g u n d G e w o h n h e i t : ein Satz, der n ic h t n u r in pädagogischer Beziehung, sondern fü r den Mediziner in therapeutischer H insicht