Renata Cieślak
Der Artz als Expressionist : "Die
Ermordung einer Butterblume" von
Alfred Döblin
Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica 4, 165-179
2004
A C T A U N I V E R S I T A T I S L O D Z I E N S I S
FOLIA GERM AN ICA 4, 2004
R en a ta C ieślak
D ER ARZT ALS EXPRESSIO NIST
D IE ERM O RD U N G EIN ER B U TTER B LU M E VON ALFRED DÖBLIN
A lfred D öblin gehört neben G ottfried Benn, F riedrich W olf, Johannes R. Becher, G eorg Büchner, Friedrich Schiller und den A p othekern G eo rg T rak l und T h e o d o r F o n ta n e zu denjenigen Schriftstellern, die M edizin studiert haben. D ie angeführten N am en beweisen, dass die literarisch aktiven M edizi ner keinesfalls ein n u r expressionistisches P h änom en darstelien. W as jedoch die K onsequenzen der doppelten B erufstätigkeit betrifft, so erlangen diese besonders in d er Z eit des Expressionism us präg n an te Bedeutung. D öblins E rzählung Die Ermordung einer Butterblume, in d er der A u to r sein psychiatri sches Wissen und sein schriftsteilerisches K önnen in V erbindung bringt, spielt dabei eine bahnbrechende Rolle. Die Ermordung einer Butterblume m ark iert einen aus den E rfahrungen a u f dem G ebiet d er M edizin resultierenden N euansatz in D öblins literarischem Schaffen. D er in dieser E rzählung vollzo gene D u rch b ru c h zu neuen E rzählform en w äre bei einem N icht-M ediziner kaum vorstellbar. N achdem K u rt H iller den Begriff .Expressionism us1 aus dem G ebiet d er M alerei a u f die L iteratu r üb ertrag en h at, ist D öblins E rzählung das erste literarische W erk, das m it diesem T erm inus bezeichnet wird. D as treffendste U rteil fällt d er berühm te K ritik e r K u rt Pinthus:
Die N ovellensam m lung Döblins zeigt [...] die U m w andlung vom Impressionismus zum Expressionismus. A ußer dieser für unsere neueste L iteratur symptomatischen Bedeutung ist das Buch aber auch wegen seines absoluten künstlerischen W ertes durchaus zu beachten (SCH U STER, BO DE 1973, S. 15).
In den Rezensionen aus dem Erscheinungsjahr der N ovellensam m lung, der Die Ermordung einer Butterblume den Titel geliehen h at, ist nicht zu ü ber sehen, dass d er A u to r ein M ediziner ist. Im H inblick a u f die doppelte Berufstätigkeit D öblins verdienen die Bemerkungen Joseph Adlers die höchste
A ufm erksam keit. A dler behauptet, die Butterblum e-Erzählung enthalte keine E rk läru n g d er dargestellten Psychose. Diesem G edanken folgend stellt er weiterhin fest, d arin bestehe eben d er U nterschied zwischen D öblins E rzäh lung und den W erken von Schnitzler, M arim ee oder W asserm ann. A ußerdem weist er a u f den Einfluss des Film s hin und schätzt die K n ap p h eit der F o rm (SC H U S T E R , B O D E 1973, S. 13-15). Die Sam m lung bringt dem bisher kaum b ekannten D öblin den R a n g eines D ichters ein, was in der A ussage von M ax Jungnickel eindeutigen A usdruck findet: „E in H auch von G rö ß e durchzieht D öblins Buch. [...] M an m uß einen neuen D ichter beg rü ß e n “ (SC H U S T E R , BO D E 1973, S. 7). D ie K ritiker nehm en zw ar in D öblins E rzählungen d u rchaus neue und originelle A nsätze w ahr, konzent rieren sich jedoch, m it A usnahm e Joseph Adlers, a u f die einzigartige P h a n tasie und die plastische Sprache des Schriftstellers. Erst in den Besprechungen nach dem Zw eiten W eltkrieg wird a u f D öblins A rztb eru f und sein Studium der Psychiatrie W ert gelegt. Als K onsequenz der neuen Interpretationsansätze gehen in die deutsche Literaturgeschichte zwei Bezeichnungen der Erzählung ein. D ie erste „exakte Beschreibung einer Psychose“ p räg t W alter M uschg in seinem N achw ort zu den Ausgewählten Erzählungen 1910-1950 (M U SC H G 1962, S. 425). Leo K R E U T Z E R (1970, S. 32) nennt diese E rzählung „eine regelrechte Schizophrenie-Studie“ . D ie T atsache, dass im m er m ehr L iteratu r w issenschaftler die N iederschrift d er E rzählung m it D öblins medizinischer T ätigkeit in Z usam m enhang bringen, bewegt den A u to r dazu, sich über sich selber als D ich terarzt zu äußern:
D aß ich nun als Mediziner mich in den Kliniken herum bewegte und beobachtete, ging es in merkwürdiger Weise zusammen mit meiner literarischen Neigung, mit dem Phantasieren und es ergaben sich d a die ersten besonderen Verschmelzungen (D Ö B LIN in Journal 1952/53, zit. nach: K ÖBEL 1985, S. 49).
D iese E rinnerung liefert einen untrüglichen Beweis dafür, dass der A rzt den D ichter beeinflusst h at. D ie ,besondere V erschm elzung' der E rfahrungen im Bereich der M edizin und der L iteratu r hat zur E ntstehung des ersten expressionistischen P rosastücks in der deutschen L iteratur geführt.
A u f welche Weise der A rzt den D ichter beeinflusst hat, lässt sich am besten am Beispiel d er H au p tfig u r d er E rzählung verfolgen. D öblin setzt sein psychiatrisches W issen so geschickt ein, dass dem Leser in M ichael Fischer u n v erkennbar ein N eurotiker begegnet, obw ohl die F ig u r a n keiner Stelle d er E rzählung als ein Irre r oder als ein psychisch k ran k er M ensch bezeichnet wird. D er P rotagonist wird in dem ersten Satz nicht als ein beliebiger-M ann, sondern als der H err im schwarzen A nzug präsentiert. Die A ufm erksam keit des Lesers wird a u f das Ä ußere der G estalt gelenkt und durch den G ebrauch des bestim m tes A rtikels — „der schw arz gekleidete
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Herr“ (DÖBLIN 1984, S. 7) - an diese konkrete Person gebunden. Herr Michael Fischer geht durch den P ark spazieren und scheint dabei völlig in das Zählen seiner Schritte vertieft zu sein. M erkw ürdig w irkt die M o to rik des H errn, das T aum eln und W iegen in den H üften. D er Erzähler konzentriert sich nicht a u f die G estalt als eine einheitliche G anzheit, sondern a u f die einzelnen K örperteile des M annes. D ies kom m t nicht n u r inhaltlich, sondern auch gram m atisch zum A usdruck, indem die A ugen oder die A rm e den Platz des Satzsubjektes einnehm en: „D ie hellbraunen A ugen sta rrten a u f den E rdboden und die A rm e schlenkerten an den Schultern“ (D Ö B L IN 1984, S. 7). D ie G liedm aßen verselbständigen sich und beginnen unabhängig von dem zentralen Willen zu agieren. N icht d er M an n , sondern die A ugen, der K o p f und die H än d e k ö nnen das Licht der untergehenden Sonne nicht ertragen. B em erkensw ert ist, dass es nicht einm al ,seine1 A ugen sind, das Possessivpronom en fehlt. D as Spazierstöckchen wird ebenfalls zu einem handelnden G egenstand, d er sogar Lustgefühle em pfindet. T ro tz des von der N o rm abw eichenden V erhaltens handelt es sich hier nicht um einen G eisteskranken, sondern um einen Bürger. D er Spazierstock, d er schwarze A nzug sowie die goldene U hrkette und der steife englische H u t gehören näm lich zu den A ttrib u ten eines Bürgers. Zusätzlich wird der M a n n die ganze Zeit als ,H crr‘ tituliert, nu r an einer Stelle wird er ,der D icke1 genannt. Als sein Spazierstock plötzlich am U n k ra u t hängen bleibt, gerät d er bisher ruhig spazierende H e rr in U nruhe. Schon im nächsten Satz w ächst diese A ufregung zum unbegründeten W utausbruch. H err M ichael verliert au f einm al die B eherrschung und schlägt m it dem Spazierstöckchen b ru tal auf die Blum en ein. Lediglich vo r A ngst, jem and k ö n n te ihn sehen, versucht er sich zu beherrschen. D ies gelingt nu r scheinbar, denn er keucht nach wie vor. In diesem M o m e n t erscheint er im doppelten Sinne nicht m eh r als H err. E r ist psychisch nicht m eh r H e rr über sich selbst. Z u dem Bild eines H errn passt ausserdem sein, erst jetzt dem Leser präsentiertes, bartloses G esicht m it süßem M ü ndchen nicht, das zw ar alt doch nicht m ännlich geworden ist.
D ie V erhaltens- u n d Bewegungsweise des M annes verrät Sym ptom e sowohl physischer als auch psychischer Störung. N ach dem V orfall m it den Blumen beginnen sich A nzeichen einer N eurose zu häufen. Es kom m t sogar zum Z erfall seiner W ahrnehm ungsfähigkeit, w as sich in zwei Situationen eindeutig m anifestiert. Erstens zieht der E rdboden u n ter den F ü ß en Fischers fort, zweitens schreiten die Bäum e an ihm vorüber. E r verliert den H a lt im Sehen und ist d ah er nicht m eh r fähig, sich durch A ugenschein über die äußere W elt Gew issheit zu verschaffen. Die G egenstände d er A ußenw elt dienen ihm n ich t m eh r als B ezugspunkt seiner Bewegungen, sondern werden von ihm als agierende O bjekte betrachtet. Fischers Verhältnis zu den Elemen ten d e r äu ß eren W irklichkeit k a n n m a n m it W olfgang IS K R A (1967, S. 54)
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als „die veränderte Z u o rd n u n g des W ahrgenom m enen zum B eobachter“ definieren. Fischers W ahrnehm ung der W elt ähnelt einer visuellen H a l luzination, was als Zeichen einer psychischen S törung gelten kann. Als ein weiteres Signal des W ahnsinns k ö nnen der unerw artete W utausbruch und das Losschlagen a u f das Blumengewächs gelten, zum al dass dies aus einem geringfügigen G ru n d , das Spazierstöckchen blieb an dem spärlichen U n k rau t hängen, passiert. D ie Unangem essenheit von U rsache und folgender W irkung weisen einerseits a u f d as A bsurde, andererseits a u f das K ra n k h a fte hin. Die V erselbständigung der K örperteile, in der M edizin als D epersonalisation bezeichnet, geh ö rt ebenfalls zu den Sym ptom en einer G eisteskrankheit. D a m an jed o ch nicht m it Gewissheit feststellen kann, ob Fischer weiterhin seine H än d e als seine K örperteile em pfindet, scheint es angebrachter zu sein, seine V erhaltensw eise als eine m otorische S törung zu bezeichnen. A nsonsten weist diese D epersonalisation keinen dauerhaften C h a rak ter auf. N ach dem V orkom m nis m it der B utterblum e em pfindet Fischer das G esicht als sein G esicht und die B rust als seine Brust.
D as Losschlagen a u f die Blum en wird als eine aus dem zeitweiligen V erlust d er K o n tro lle ü ber sich selbst resultierende O hnm acht dargestellt. Es stellt sich jedoch heraus, dass ein solches Benehmen dem M a n n gar nicht frem d ist. E r schlägt a u f die Blum en m it den gleichen „wohlgezielten H andbew egungen [...], m it denen er seine Lehrlinge zu ohrfeigen gewohnt war, wenn sie nicht gewand genug die Fliegen im K o n to r fingen und nach der G rö ß e sortiert ihm vorzeigten“ (D Ö B L IN 1984, S. 8). In dem V orkom m nis a u f dem Spaziergang tritt w iederholt die abnorm e N ervosität Fischers zum V orschein, die ihre W urzel höchstw ahrscheinlich in dem G efühl d er Bed ro h u n g seiner M achtposition im B üro hat. D a fü r sprechen nicht n u r die absurden Befehle an die Lehrlinge, sondern vor allem die panische Angst des ,H e rrn 1 von einem seiner G eschäftskollegen gesehen zu w erden. Fischers unangem essene R eaktionen sind a u f den M angel an Selbstsicherheit sowie die U nm öglichkeit, ,H e rr‘ über seine G edanken u n d H an dlungen zu werden, zurückzuführen. A u f das K rankhafte in seiner Psyche weist auch die Tatsache hin, dass d er Spaziergang für ihn keine E ntspannung bedeutet. Fischer sucht näm lich nicht im G enuss der N a tu r, sondern im Z ählen der Schritte n ach H alt und Beruhigung. D ie herrliche A tm o sp h ä re des Fichtenw aldes beim S onnenuntergang spricht den K au fm an n nicht an. M it hastigen Bewe gungen seiner H än d e versucht er sich sogar gegen das A bendlicht zu wehren. D ie N a tu r wird von ihm als etwas Bedrohliches em pfunden, was indirekt zu einem A ggressionsausbruch beiträgt. D er Frevel an den Blum en fü h rt zu einer Steigerung des W ahnsinns, d er sich nun im völligen V erlust des K o n ta k te s zur W irklichkeit m anifestiert. In einfachen, durch zahlreiche K o m m a ta getrennten Sätzen entw irft D öbiin ein Bild dessen, was sich zuvor im W ald begeben h a t und lässt es Fischer wie einen Film sehen. H err
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aJs Expressionist.. 169M ichael sieht also sich selbst, wie er m it seinem Spazierstock die Blume vernichtet. D an ac h tritt der abgeschlagene B lum enkopf vor seine A ugen. In seiner Vision bekom m t die Pflanze m enschliche Züge; sie h a t einen K ö rp er, einen H als und sie blutet, als ob sie ein M ensch wäre. D as weiße Blut fließt in einem so dicken Strom a u f H errn M ichael zu, dass er sich b ed ro h t fühlt. Dieses d u rch die V erkehrung der G rö ß en o rd n u n g erschreckende W ahnbild ist so suggestiv, dass Fischer so reagiert, als ob er sich tatsächlich in G efahr befände. W ie in einem A lptraum versucht er w egzulaufen, bleibt aber trotzdem an die M ordstelle geheftet. D ie D arstellung d er H alluzination wird durch die plötzliche Ä nderung der Erzählerperspektive von der G estalt heraus a u f sie hin a b ru p t unterbrochen. Jetzt sieht der Leser Fischer und h ö rt ihn zu sich selber sprechen: „W as ist geschehen? Ich bin nicht berauscht (DÖBLIN 1984, S. 9). Diese Aussage bedeutet nicht, dass Fischer sich besonnen hat. Im G egenteil, d arin offenbart sich seine w ahnhafte V erw irrung, denn in G edanken beschäftigt er sich nach wie vor m it der Blume. D ie vor kurzem erlebte V ision behält ihren R ealitätscharakter bei. Fischers Feststellung: „Ich erinnere m ich dieser Blum e nicht, ich bin m ir ab so lu t nichts bew ußt“ (D Ö B L IN 1984, S. 9) d rü ck t den Versuch aus, sich von den aufregenden G edanken zu distanzieren. In W irklichkeit verm ag er aber weder seine G edanken noch seine G liedm aßen zu steuern. U m sich zu beherrschen nim m t er die Pose des Chefs an und klam m ert sich an Sprachklischees, die w ah rs cheinlich in seiner F irm a im täglichen G ebrauch sind:
W as steht zu Diensten? In meiner Firm a ist solch Benehmen nicht üblich. H ausdiener, raus m it dem K erl“ (D Ö BLIN 1984, S. 9).
D o ch selbst von dieser Position aus gelingt es ihm nicht, sich zu beschwich tigen. D ie u n ternom m enen V ersuche, sich zu beherrschen und die M a ch t über seine G edanken zurückzugew innen, enden in ihrem Gegenteil; Fischers V erw irrung nim m t zu, und die Signale des einbrechenden W ahnsinns häufen sich. D ie fortschreitende W ahrnehm ungsstörung erreicht ihren H ö h ep u n k t, nachdem in einer Vision das W o rt ,M o rd ‘ fällt und die Bäum e zum G ericht zusam m entreten. D ad u rch w ird der Titel der E rzählung einleuchtender. In der Perspektive des E rzählers wird einer B utterblum e der K o p f abgeschlagen, in der Perspektive der H au p tfig u r wird jed o ch ein M o rd begangen.
D ö b lin bedient sich des Tem puswechsels, um den W irklichkeitsbezug zu signalisieren. Im Präsens d rü ck t er die Visionen Fischers, im epischen P räteritum seine R eak tio n en aus und teilt sie in Sätze ein:
D er R u m p f ragt starr in die Luft, weißes Blut sickert aus dem Hals. H err M ichael streckte leicht abwehrend die H ände vor. Es gerinnt oben ganz dick und klebrig, so daß die Ameisen hängen bleiben (DÖBLIN 1984, S. 10).
D en visuellen schließen sich jetzt Geschm acks- und G eruchshalluzinationen an. Fischer fühlt einen scheußlichen G eschm ack im M unde und sp ü rt den G eruch einer ,Pflanzenleiche1. D ie früher angedeutete V erselbständigung der K örperteile wird nun potenziert:
Die Füße begannen ihn zu grimmen. Auch sie wollten sich zum H erm aufwerfen; ihn em pörte ihr eigenwilliges Vorwärtsdrängen. Diese Pferdchen wollte er bald kirren (D Ö BLIN 1984, S. 11).
Z um w iederholten M al kom m t es hier zu einer Z errüttung der Persönlichkeit; w ährend Fischers F ü ß e die F lu ch t von d er M ordstelle ergreifen, bewegen ihn die Schuldgefühle dazu, um zukehren und den M o rd zu sühnen. Er sucht nach d er Blume und nennt sie plötzlich Ellen. A n dieser Stelle werfen sich m ehrere F ra g en auf; w arum Fischer d er Pflanze einen menschlichen, weiblichen N am en gibt, w arum er eben diesen u n d nicht einen anderen N am en w äh lt,1 ob eine F ra u N am ens Ellen in seinem Leben eine Rolle spielt o der gespielt hat. A u f der Textebene bleiben diese F ragen u n b ean t w ortet. D er E rzähler konzentriert sich, nachdem der W iedergutm achungs versuch m isslungen ist, a u f die Schilderung des geistigen Z u stan d Fischers. D ie innere Spaltung des H errn erreicht n u n ihren H ö h ep u n k t, was sich in der Zerrissenheit zwischen seiner panischen A ngst vor d er Strafe und seiner spöttischen Ü berlegenheit äußert. D er F u rc h t, zur R echenschaft gezogen zu w erden, setzt F ischer die kühne B ehauptung entgegen, es sei sein Recht, Blum en zu töten. V on den Schuldgefühlen verfolgt ergreift er die F lu ch t aus dem W ald. W ährend er im m er schneller rennt, h ö rt er, wie d er W ald auf ihn schim pft, wie die Bäum e um die Blume weinen, er sp ü rt die Schläge der T annen. A ls er letztendlich vor einer kleinen K irche am R an d e des Parks steht, v errä t sein Ä ußeres Spuren eines K am pfes gegen die N a tu r. In seinen H aaren stecken T annennadeln, sein G esicht ist schm utzig und seine Nase blutet. A n dieser Stelle bricht das E rzählen ab.
Im nächsten A bschnitt wird H err Fischer in seiner vertrauten Um gebung, zu H ause und in d er A rbeit, präsentiert. D as erste Bild zeigt ihn in seinem Schlafzim mer. Als Erstes fällt sein schw arzer A nzug auf, den er, obw ohl er a u f der Chaiselongue liegt, an h at. U nübersehbar ist auch seine m otorische U nruhe. E r geht im Zim m er a u f und ab, zieht sich aus und w ieder an. Beim L esen d e r Z eitung gerät er plötzlich in W ut. D ie G ründe für diesen hitzigen A usbruch sind einerseits in seiner N ervosität, andererseits in seiner gedanklichen Beschäftigung m it dem V orkom m nis im W ald zu suchen. D o rt, in dem P ark „w ar etwas geschehen, es war etwas geschehen“ (D Ö BLIN 1984, S. 15) und dies h a t F olgen im gegenwärtigen Leben H e rrn M ichaels, auch
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wenn er einen M om ent glaubt, „dass alles w ohl g eträum t sein m üsse“ (D Ö B L IN 1984, S. 16). Zu den Indizien, die solch eine D eu tu n g zulassen, gehören solche T atsachen, dass die E rzählung erstens am A bend beginnt, und zweitens dass sich Fischer nach dem Vorfall m it d er Blume in seinem Schlafzim m er und nicht etw a in einem W ohnzim m er befindet. E in schlagen der Beweis d afü r, dass sich die E rm ordung der B utterblum e im T raum ereignet hat, bleibt jedoch aus. D agegen wird F ischer erkennen m üssen, dass die Risse an seiner Stirn echt, u n d dass er som it am T od der B utterblu m e schuldig ist. E r sucht einerseits den G edanken, ein M ö rd er zu sein, zu verdrängen, indem er von einer .geheimnisvollen Schuld“ spricht, andererseits denkt er wiederum d a ra n , seine B luttat zu sühnen. D a er von B eruf K a u fm ann ist, glaubt er, seine m oralische Schuld materiell ausgleichen zu können. E r legt ein K o n to für die Butterblum e an und überweist ihr Geld. Fischers m erkantile D enkw eise verursacht eine Ä nderung seines Verhältnisses zu der Blume. N ach gewisser Z eit beginnt er die Blum e wie einen G eschäftskon ku rren ten zu behandeln. E r betrügt sie, indem er sich beispielsweise zu ihrem N achteil verrechnet. A n dem V erhalten H errn M ichaels fällt es auf, dass er die Blume wie ein m enschliches W esen betrachtet. Eines Tages befiehlt er sogar seiner H aushälterin, ein zusätzliches G edeck a u f den Tisch zu stellen, d en n es d rän g t ihn, d er Blum e „von Speise und T ran k zu o p fern “ (D Ö BLIN 1984, S. 16). In seiner Perspektive nimmt die Blume durchaus m ens chliche Züge an. D avon, dass es sich unm öglich um einen M o rd an einer Blum e handelt, zeugen auch die V eränderungen in Fischers Ä ußerem . Er nim m t sichtbar ab, seine A ugen liegen nun tief und sein G esicht durchzieht ein leidender Zug. H inzuzufügen bleibt es nur, dass er eines M orgens „zum ersten M ale seit seiner K in d h eit“ (D Ö B L IN 1984, S. 17) weint. D erartige V eränderungen sow ohl in d er Physiognom ie als auch in d er Psyche evozieren die F rag e, ob die Blum e nicht für eine Person steht. Bejaht m an die Frage, so w erden die R eaktionen Fischers plausibel. Hinweise darauf, dass sich hinter d er Blume eine F ra u versteckt, verm ehren sich, nachdem H err M ichael a u f einem Spaziergang beschließt, eine Blume im P ark auszugraben und zu H ause in einen T o p f zu pflanzen. V erräterisch sind die V erw andtschafts beziehungen, die er dabei aufstellt; D ie ausgegrabene Pflanze bezeichnet er als T o ch ter und N ebenbuhlerin d er von ihm erm ordeten. E r nennt Ellen seine Schw iegerm utter, und nachdem der T o p f m it d er ju n g en Blum e zer brochen w orden ist, fühlt er sich von ihrer T ochter geschieden. O bw ohl das Benehm en Fischers d er Blume gegenüber eindeutig d a ra u f schließen lässt, dass h in ter d er Pflanze ein M ensch steht, so w erden jedoch Zweifel d arü b er a u f der T extebene nicht aufgehoben.
D as Einpflanzen einer anderen Blume erklärt Fischer zu einer gesetzlichen S ühnetat. E r erin n ert sich eines P arag rap h en über die K o m p en satio n der Schuld u n d schreibt die N um m er dieses P arag rap h en a u f den Boden des
B lum entopfes. D ie durchgeführten S ühneaktionen beruhigen jeweils nur zeitweilig d as Gewissen H errn Michaels. In W irklichkeit ist er nicht imstande, den M o rd an d er Blume und som it auch seine w ahnhaften V orstellungen zu überw inden. Befreit von den Schuldgefühlen sowie den G edanken an die Blume fühlt er sich erst dann, als seine H aushälterin beim R einem achen den T o p f m it d er Blum e zu Boden fallen und zerbrechen lässt. D ieser Vorfall b ringt ihn in E uphorie, denn die Blume ist ohne sein Z u tu n aus der Welt geschafft w orden. „E r h a tte nicht m it dem kleinsten G edanken den T od dieser Blume gew ünscht, nicht die Fingerspitze eines G edanken dazu gebo te n “ (D Ö B L IN 1984, S. 19). M it diesen W orten betont Fischer seine Schuld losigkeit, denn er h a t diesmal nicht einmal in G edanken gesündigt. Dies e rlau b t es ihm , sich rechtlich wie m oralisch von jedw eder B ußpflicht befreit zu fühlen. А л dieser Stelle kom m t es scheinbar zur A uflösung der G es chichte. Scheinbar, weil es sich gleich herausstellen wird, dass m it der Beseitigung des Objektes, um d as herum sich Fischers W ahnvorstellungen entw ickelt haben, seine psychische K ran k h eit gar nicht verschw unden ist. D ie H eiterkeit, die jetzt H errn M ichael ergreift, ist das Gegenteil der früheren M elancholie, genauso wie sein derzeitiges Selbstgefühl in O pposition zur früheren O h nm ach t steht. D abei m uss m an d a ra u f hinweisen, dass Fischers G efühle und R eaktionen jetzt, genauso wie das vorher der F all w ar, ein enorm es A usm aß annehm en und von herrschenden N orm en wesentlich abweichen. Vom m edizinischen S tan d p u n k t aus gesehen ist d er V erlauf seiner Psychose d u rchaus konsequent. D er K au fm an n fühlt sich befreit, weil er zum T o d der zweiten Blume nicht beigetragen hat, befreit aber nicht zu einer w ahnfreien bürgerlichen Existenz, sondern zum neuen M o rd en . Eine neue V ision, in d er d as S pazierstöckchen w iederum ü b er die Blum en schw ingt, setzt ein. D er W ahnsinn ergreift aufs N eue die M a ch t über H errn M ichael. E r läuft weg von seinem Zuhause in den W ald hinein, raus aus dem bürgerlichen Leben in den W ahnsinn hinein. Im K o n tra st zu seiner inneren Z erstö ru n g wird er noch einm al m it allen seinen A ttrib u ten präsen tiert: „D e r dicke, k o rre k t gekleidete K au fm an n H err M ichael F ischer“ (D Ö B L IN 1984, S. 20).
D er Schluss p o in tie rt die ganze G eschichte. D ie erw artete Befreiung vom W ahnsinn vollzieht sich nicht, weil Fischer seine E inbildung, die Blume e rm ordet zu haben, nicht überw unden h a t (vgl. R E U C H L E IN 1992, S. 20).
D ie sich häufenden Indizien dafür, dass sich hinter der B utterblum e eine F ra u verbirgt einerseits und die ausbleibende eindeutige D arlegung des G rundes Fischers N eurose andererseits, eröffnen m ehrere M öglichkeiten, die .E rm ordung“ zu interpretieren. K laus M Ü L L E R -S A L G E T (1988, S. 75) weist als erster a u f die sexuelle Bedeutung, der von D ö b lin eingesetzten Symbolik hin. D ie G rundlage eines solchen Interpretationsansatzes bildet für M üller- Salget die Physiognom ie Fischers. Sein bartloses, ältliches K indergesicht sowie
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sein T änzeln und Wiegen in den H üften deutet der K ritik e r als fehl bzw. unterentw ickelte Sexualität. H andgreiflich ist die sexuelle B edeutung des Spazierstöckchens, das sich m it den Blum en vergnügt und dabei Lustgefühle em pfindet. W eißes Blut, das aus dem H als d er en th au p teten B utterblum e quillt, lässt sich ebenfalls sexuell auslegen. M it diesem Bild kn ü p ft D öblin an eine um die Ja h rh u n d ertw en d e geläufige Bezeichnung des Sam ens als weißes Blut a n (vgl. D U Y T S C H A E V E R 1973, S. 37). W enn m an an diese A ssoziationskette den weiblichen N am en Ellen anfügt, m it dem F i scher die Blum e bezeichnet, erscheint die ,E rm o rd u n g 1 als .V ergew altigung1. D iesen G edanken fortsetzend interpretiert M üller-Salget das Einpflanzen und das N ach-H ause-N ehm en der zweiten Blume als Ehe m it d er T ochter, die als Sühne für die Vergewaltigung der M u tte r erfolgt. Die B estätigung solch einer A uslegung d er .E rm o rd u n g 1 sieht M üller-S alget in einer Ä ußerung D öblins aus dem Ja h re 1955, die R o b e rt M inder überliefert hat. D öblin sagte:
D er biographische K lartext zu der Ermordung einer Butterblume [...] ist das Verhältnis, in das ich zu einem M ädchen gekommen bin, in der letzten Studen tenzeit bekam sie ein Kind: es starb rasch, ich h atte Glück (zit. nach: K ÖBEL 1985, S. 70).
Erw in K öbel, der ebenfalls a u f diese A ussage D öblins Bezug nim m t, b et rach tet sie nicht als einen Schlüssel zu r E nthüllung des H intergrundes der E rzählung, denn die D ich tu n g sei seines E rachtens keine A rt Chiffrieren von Erlebnissen. D as B iographische solle jedoch herangezogen w erden, weil es zu besserem V erständnis eines literarischen W erkes führen könne (K Ö B EL 1985, S. 70). K öbel illustriert seine T hese an h an d einer autobiographischen N otiz von D öblin, die ihm dazu verhalf, den Begriff b e la ste te r M en sch 1 plausibel zu m achen. D öblins Bem erkung lautet:
In Freiburg im Breisgau im letzten Studienjahr kam m ir beim Spazieren über den Schloßberg das Them a der Novelle Die Ermordung einer Butterblume, ich wußte nun etwas von Zwangsvorstellungen und anderen geistigen A nom alien. Es liefen d a Jungen über die Wiese und hieben mit ihren Stecken fröhlich die unschuldigen schönen Blüten ab, daß die K öpfe nur so flogen. Ich dachte an die Beklemmungen, die wohl ein feinfühliger oder, wenn m an will, auch belasteter M ensch nach einem solchen M assenm ord empfinden würde (D Ö B LIN in Journal 1953/52, zit. nach: K Ö BEL 1985, S. 70).
A us d er Ü b ertra g u n g dieser Ä ußerung D öblins a u f die H au p tfig u r der E rzählung zieht K öbel die Schlussfolgerung, dass die Bezeichnung .belasteter M ensch' m it .schuldbeladener M ensch' gleichzusetzen ist. W o ra u f die .gehei m nisvolle Schuld' H errn M ichaels beruht, sucht K öbel zu erklären, indem
er die A ussagen des Protagonisten genau analysiert. Beispielsweise deutet er den A usruf Fischers „N ach K anossa gehen wir nicht!“ (DÖBLIN 1984, S. 11) als A blehnung eines H eiratsantrags. D e r K au fm an n h a t nicht vor, sich wie K aiser H einrich IV. d er K irche zu unterw erfen, d.h. er will nicht die M utter seines K indes zum A ltar führen (vgl. K Ö B E L 1985, S. 68-69). E ine H eirats w eigerung k o m m t auch in dem G edanken zum A usdruck: „D ie A lte konnte je tz t fluchen und sagen, was sie wollte“ (D Ö B L IN 1984, S. 19). M it diesem Satz q u ittiert Fischer das Zerbrechen des Blum entopfes m it d er jungen Blume. Seine plötzliche Stim m ungsänderung resultiert wohl daraus, dass er sich nach diesem Vorfall d er H eiratspflicht entbunden fühlt. K Ö B E L (1985, S. 69) gibt d afü r folgende Erklärung:
Das, was eine H eirat als notwendig h at erscheinen lassen, m uß hinfällig geworden, das K ind to t zur Welt gekommen oder gestorben sein.
K öbel versteht die E rm ordung im übertragenen Sinn als W unsch, der das K ind u m gebracht h at. F ischer erm ordet das K ind zw ar nicht wirklich, w ünscht sich aber dessen T o d herbei, so dass sich die E rm o rd u n g in seinen G edanken vollzieht. D a das K in d aber tatsächlich stirbt, fühlt er sich an seinem T o d schuldig. D ie V erkettung von G edanken und T atsache h a t zur Folge, dass er in seinen Z w angsvorstellungen das G eschehene noch einmal erlebt und dabei die Rolle des M örders annim m t.
M it diesen beiden Beispielen ist die Sym bolik der E rm o rd u n g noch nicht ausgeschöpft. T hom as A nz u nternim m t den Versuch, die E rm o rd u n g zu entschlüsseln, indem er das V erhältnis des Bewusstseins eines Individuum s z u r W irklichkeit untersucht. A nz stellt die Frage, was passiert, wenn das Bewusstsein ausgeschaltet wird. Im F alle M ichael Fischers weist er in erster Linie a u f die V erselbständigung der G liedm aßen als erstes Zeichen der U nabhängigkeit des K ö rp ers vom Bewusstsein hin. Die O hnm acht des Bewusstseins m anifestiert sich A N Z (1974, S. 388) zufolge ebenfalls in den ungew ollten G edanken u n d Visionen Fischers. Ihre Bestätigung finden die Thesen von A nz in den E inblendungen des Erzählers, die Fischers Verges senheit bezeugen, z.B. „D ann vergaß er es“ (DÖBLIN 1984, S. 7), und an einer anderen Stelle liefert d er P rotagonist selber Beweise für seine G edächtnis schwäche: „Ich erinnere m ich dieser Blume nicht, ich bin m ir absolut nichts bew ußt“ (D Ö B L IN 1984, S. 9). Setzt m an die V ergessenheit m it der Bewus stlosigkeit gleich, so wird klar, w arum sich Fischer nicht m eh r bew usst ist, wo er sich befindet und wie er sich bewegt. D ie zweite Frage, die sich nun aufw irft, lautet, was die S ouveränität Fischers Bewusstseins begrenzt. Anz lehnt die B ehauptungen von M üller-Salget und R ib b at ab, dass es die N a tu r ist, die die A utonom ie des Ichs einschränkt. Im G egensatz zu diesen zwei In terp reten forscht er nach den U rsachen d er Bewusstseinsbegrenzung nicht
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in d er A ußenw elt, sondern in Fischer selbst. E r stellt die T hese auf, es sei die un k o n tro llierte G ew alt der innerm enschlichen K räfte , welche die A u to nom ie des m enschlichen Bewusstseins begrenze (vgl. A N Z 1974, S. 391) und verbindet sie m it der von M üller-Salget u n d R ib b at überlieferten sexuellen Sym bolik d er E rm ordung. D ie Verschm elzung dieser zwei A nsätze verführt A nz dazu, die ,innerm enschlichen K rä fte “ als sexuelle T riebkräfte auszulegen. D ie inneren, sexuellen T rieb k räfte w erden in D öblins E rzählung d u rch das Spazierstöckchen sym bolisiert, das L ustgefühle em pfindet und an der Blume im A ugenblick der O hnm acht des Bewusstseins hängen bleibt. N ach den Gesetzen der bürgerlichen M o ral heißt es aber, seine G eschlechtstriebe zu bezähm en. D ah er bestraft Fischer die Blum e d afü r, dass sie ihn aufgehalten h at, sobald er m erk t, dass er gegen die gesellschaftlichen Regeln verstoßen hat. Seine E rw ägungen über die Erzählung schließt A nz m it der Feststellung, die E rm o rd u n g der B utterblum e „m uß symbolisch als bestrafung seiner (Fischers R C ) triebkräfte gelesen w erden“ (A N Z 1974, S. 391).
E ine weitere M öglichkeit, die E rm o rd u n g zu deuten, bezieht sich a u f das V erhältnis Fischers zur N atu r. Am Beispiel von H e rrn M ichael wird ein unsensibler S tädter dargestellt, der seine natürliche U m gebung in W ut vernichtet. In diesem Sinne ist die E rm o rd u n g d er Blume als ihre Vernich tung zu verstehen und der W ahnsinn Fischers als R ache der N a tu r für ihren sinnlosen M ißbrauch.
D ö b lin s D arstellungsw eise des W ahnsinns in der Ermordung einer B utter blume sucht u n te r den W erken anderer D ichterärzte um sonst nach ihresg leichen. D ie O riginalität der E rzählung m anifestiert sich jedoch nicht nur darin, wie ein Irre geschildert wird, sondern vielmehr in d er E rzählform schlechthin. D ie T atsache, dass die N iederschrift der E rzählung zeitlich m it der E ntsteh u n g d e r D issertation D öblins über G edächtnisstörungen bei d er K orsakoffschen Psychose einher geht, regt zu einem direkten Vergleich des F alls M ichael Fischers m it den in d er wissenschaftlichen A rbeit dargestellten G eisteskranken an. D ie Suche nach Ä hnlichkeiten in der D arstellung der Psychose in dem literarischen W erk und in d er D issertation erweist sich kaum erfolgreich, die U nterschiede w erden dagegen a u f den ersten Blick handgreiflich. In d er medizinischen Studie berichtet ein A rzt sachlich und distanziert über die K ran k en , die für ihn lediglich bestim m te K rankheitsfälle darstellen. Seine Bem erkungen schreibt er auf, ohne sie in Sätze zu fo r m ulieren, m eistens in F o rm einer A ufzählung von Stichw orten oder Sym ptom en. D ie H au p tfig u r der E rzählung dagegen wird nicht als Patient in einer Irre n a n sta lt präsentiert, sondern als ein Bürger in seiner gew ohnten U m gebung. D ie Sym ptom e seines W ahnsinns w erden nicht b enannt. D er Schriftsteller D ö b lin kreiert aber M ichael Fischer so, dass der Leser aus seinem H an d eln und V erhalten a u f seine psychische Störung schließen kann. Dies fällt dem Leser leicht, weil Fischers Verhaltensw eise eindeutig solche
Phänom ene wie m otorische Erregung, V erfolgungswahn, H alluzinationen und A ffektanom alien verrät. D öblin konzentriert sich also a u f die typischen Sym ptom e einer G eisteskrankheit, die nicht nu r für einen A rzt eine deutliche Sprache sprechen. D er Vergleich von D öblins D issertation m it der Ermordung einer B utter blume fü h rt zu d er Schlussfolgerung, dass beide A rbeiten ihre A utonom ie als w issenschaftliche Studie u n d literarisches W erk bewahren. D ie K onsequenzen des Einflusses des A rztes a u f den Schriftsteller werden e rst d a n n sichtbar, wenn m an den Stil genauer analysiert. Zwischen der Studie und der E rzählung besteht näm lich eine A ffinität, die in der Be schränkung a u f bloßes N otieren der A bläufe und Bewegungen zum A usdruck kom m t. E ine solches P o stu lat realisierende Erzählweise bezeichnet D öblin in seinem A ufsatz A n Romanautoren und ihre K ritiker als psychiatrischen Erzählstil. D as in die Literaturgeschichte unter dem Titel Berliner Programm eingegangene ästhetische M anifest erschien nach d er N iederschrift der Er mordung einer Butterblume, im Ja h re 1913. D öblins m edizinisches Wissen und seine bisherigen Schreiberfahrungen verschmelzen in diesem Program m zur F o rd e ru n g nach einer psychiatrischen Erzählweise. D öblin setzt die psychiatrische Erzählweise d er psychologischen entgegen und ü b erträg t somit die wissenschaftliche A usdifferenzierung von Psychiatrie und Psychologie a u f die L iteratur. Die psychologische Schreibweise lehnt er ab, weil sie den A b lau f einer wirklichen Psychose verfehlt. Die psychoanalytische M ethode kom m t an keine W urzel, weil sie die einer N eurose zugrunde liegenden M otive nicht erkennt. D öblins K ritik an der R om anpsychologie erreicht ihren H ö h e p u n k t in d er Feststellung, „Psychologie ist ein d ile tta n tis c h e s V erm uten, scholastisches G erede, spintisierender Bom bast, verhehlte, ver- heuchelte L yrik“ (D Ö B L IN 1980, S. 120). Seine K ritik richtet sich jedoch nicht gegen Psychologie als W issenschaft, sondern gegen die Verschmelzung von Psychologie und D ichtung. In seinem Berliner Programm p ropagiert der D ich terarzt daher eine neue A rt der V erbindung von M edizin und L iteratur:
M an lerne von der Psychiatrie, der einzigen Wissenschaft, die sich m it dem seelischen ganzen M enschen befasst; sie h a t das Naive der Psychologie längst erkannt, beschränkt sich au f die N otierung der Abläufe, Bewegungen, mit einem K opfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ,W arum 1 und ,Wie‘ (DÖB LIN 1980, S. 120-121).
W as D öblin m it solch einem Postulat m eint, lässt sich am Beispiel der Ermordung einer Butterblume hervorragend untersuchen. D ie H au p tfig u r der E rzählung w ird in verschiedenen Situationen dargestellt, ihr V erhalten aber an keiner Stelle psychologisch erklärt. D ie Frage, w arum er a u f die Blumen losschlägt, bleibt im T ext unbeantw ortet. D er A u to r nim m t keine Stellung zum V erhalten H e rrn M ichaels, denn nicht er, sondern der Leser „in voller
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U nabhängigkeit, einem gestalteten A b lau f gegenübergesteilt, m ag urteilen.“ (D Ö B L IN 1980, S. 121). D er Schriftsteller soll die dargestellte W irklichkeit nicht interpretieren, um dadurch die Urteilsfähigkeit des Lesers nicht einzus chränken (vgl. D Ö B L IN 1980, S. 122). W enn d er A u to r dieser F o rd e ru n g D öblins folgt, so h a t dies, wie das auch bei der Ermordung einer Butterblume der F all ist, m ehrere Interpretationsm öglichkeiten des Textes zur Folge. Ein literarisches W erk, postuliert D öblin weiterhin, soll nicht erzählt, sondern gebaut w erden. „D e r Erzählerschlendrian h a t im R om an keinen P latz [...], denn die dargestellten A bläufe sollen wie vorhanden, nicht wie gesprochen, erscheinen“ (D Ö B L IN 1980, S. 122). F ü r solch eine D arstellungsw eise eignet sich besonders der K inostil. Wie aber m anche Passagen in d er Ermordung einer Butterblume zeigen, handelt es sich dabei nicht so sehr um die Bilder, diese sollen sogar verm ieden w erden, sondern vielmehr um Ereignisse und V orgänge. Im A llgem einen kan n m an sagen, dass D öblin der statischen D ich tk u n st eine kinetische entgegensetzt. Die D ynam ik erreicht der Schrifts teller durch die D arstellung von rapiden A bläufen und die W iedergabe des Inhalts in Stichw orten, oder wie m an das in d er B utterblum e-Erzählung beobachten kann, durch den ständigen Wechsel der Perspektive vom E rzähler zum P rotagonisten. D er M o n o to n ie des Erzählens w irkt in D öblins E rzäh lung ebenfalls die A nreihung von A bsätzen, die sich nach der L änge und dem T em po voneinander unterscheiden entgegen. Schließlich ru ft D öblin die A u to ren d azu auf, sich dem Reichtum des Lebens hinzuw enden, um die T h em atik ihrer W erke zu bereichern. Im H inblick a u f D öblins A rztb eru f kom m t diesem P o stu lat eine besondere Bedeutung zu. A m Beispiel M ichael Fischers zeigt er näm lich, dass W ahnsinn zum m enschlichen Leben gehört und m ach t ihn som it literaturfähig.
M it seinen frühen E rzählungen und dem Berliner Programm träg t D öblin un m ittelb ar dazu bei, dass das P hänom en W ahnsinn in der Z eit des E xpres sionism us zu einem M ode-T hem a wird. Die A useinandersetzung m it Geis teskranken, Irre n u n d W ahnvorstellungen wird in Prosatexten, G edichten und D ram en them atisiert. D er W ahnsinn als T hem a gibt den D ichtern eine besonders provokative M öglichkeit, K ritik an der E poche zu äußern sowie sich gegen veraltete N o rm en und V orstellungen zu richten. M it der Figur eines Irre n wird ein G egentyp zu dem verhassten Bürger und seiner M oral geschaffen. Sozial-kritische T endenz k o m m t auch in der Ermordung einer Butterblume deutlich zum Vorschein. Im L aufe des Geschehens verw andelt sich d er anfangs nette, harm lose Bürger in einen bösartigen Verbrecher. H err M ichael wird als ein a u f gesellschaftliches A nsehen und W ah ru n g des äußeren Scheins bedachter Spießer entlarvt. D öblins Ironie gilt jedoch lediglich dem K au fm an n , dem W ahnsinnigen stellt er sich wie der A rzt dem P atienten gegenüber. D er Spießer m ach t sich lächerlich, indem er sich au f die E rd e legt u n d im G ras w ühlt, wenn m an aber dabei bedenkt, dass er
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k ra n k ist, erscheint diese S ituation nicht m ehr kom isch, sondern eher furchterregend. D er W ahnsinn nim m t die Züge einer D ekonstruktionsm acht an, die den B ürger psychisch zerstört. Solch eine D arstellung d er H auptfigur entspricht d er gesellschaftskritischen T endenz des Expressionism us, d er sich als eine antibürgerliche Bewegung definiert.
Zusam m enfassend kan n m an feststellen, dass sich die ästhetischen K o n sequenzen D öblins do p p elter Berufstätigkeit grundsätzlich in einer Bereiche ru n g d er T h em atik der literarischen W erke beobachten lassen. D er Beruf des A rztes liefert dem nach neuen Them en und M otiven suchenden E xpres sionism us zunächst den Stoff. D an n , nachdem das Bedürfnis nach einer starken A nregung von A ußen nicht m eh r so nötig zu sein scheint, beeinflusst der A rz tb e ru f auch die F o rm u n d die Erzählweise der expressionistischen L iteratu r. D öblins Ermordung einer Butterblume stellt ein Paradebeispiel der V erschm elzung dieser Einflüsse in/zu einem W erk dar. D e r schlagartige E rfolg dieser E rzählung verhilft einer neuen Schreibweise zum D urchbruch und leitet eine neue Phase in d er deutschen L iteratur ein.
LITERATURVERZEICHNIS
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SCHUSTER I., BODE I. (Hrsg.), (1973), Alfred Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, Francke, Bem.
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Renata Cieślak
ALFRED DÖBLIN - LEKARZ EKSPRESJONISTA (Streszczenie)
Początki twórczości literackiej Alfreda Döblina, znanego przede wszystkim z monumental nych modernistycznych oraz historycznych powieści, przypadają na okres studiów. Spośród powstałych w tym czasie opowiadań Die Ermordung einer Butterblume wyróżnia się oryginal nością formy i sposobem narracji. O szczególnym charakterze tego utworu zdecydowało połączenie w integralną całość talentu pisarskiego z doświadczeniem lekarza. Uwzględnienie wiedzy z zakresu psychiatrii w kreacji postaci Michaela Fischera umożliwiło Dóblinowi stwo rzenie dzieła, które jako pierwsze w historii literatury niemieckiej nazwano ekspresjonistycznym. Zawarta w tym tomie analiza opowiadania Die Ermordung einer Butterblume odpowiada na pytania, w jakim stopniu lekarz wpłynął na pisarza i w jaki sposób pisarz wykorzystał fachową wiedzę z medycyny oraz pokazuje typowe cechy prozy okresu ekspresjonizmu.