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ROBERT RDUCH

Verschwinden des Subjekts im thanatologischen Diskurs.

Das Schreibverfahren in Tractatus logico—suicidalt's von Hermann Burger

Der 1988 imFischer Verlag herausgegebene Tractatus logico-suicidalis.

Über die Selbsttötung von Hermann Burger entzieht sich wegen seiner Heterogenität einer einfachen Gattungsklassifikation. In ihm verschmelzen Erzählung, Essay‚ Aphorismus und Parodie einer wissenschaftlichen Abhandlungzu einer neuen literarischen Qualität. Dem eigentlichen Tracta- ms ist eine kurze, die Umstände seiner Veröffentlichung erklärende Einlei- tung vorangestellt, die von einem anonymen Verleger verfaßt wurde. Ein solcher mehrfach strukturierter fiktionaler Raum bestimmt auch den Aufbau des Romans Schilten', in dem der Schulbericht mit dem Nachwort des lnspektors verknüpft wird. In dem einleitenden Text zu Tractatus logico- suicidalis istjedoch die Verschachtelung einzelner Fiktionsebenen um eini- geskomplizierter. Die Gestalt des Herausgebers zieht sich in ihrer narrativen Funktion dermaßen zurück, daß sie sich der auktorialen Erzählperspektive nähert. Lediglich zweimal taucht ein Wir-Subjekt auf, dessen editorische Absichten äußerst bescheiden ausgedrückt werden. Seine stilistische Ent- scheidung, den einleitenden Text in einem gekünstelt auf zwölf Seiten durchgehaltenen Satz niederzuschreiben, lenkt die Aufmerksamkeit des Le- sers auf die Struktur des Erdachten.

DerVerleger—Narretor berichtet von einem Ereignis aus dem Leben des Schriftstellers Hermann Burger, der sich am 13. Januar 1988 im Bahnhofs- hotelinGöschenen, einem der Schauplätze des Romans Die Künstliche Mut- ter2, aufhielt. Sein nächtliches Verschwinden galt mißverständlich als Selbstmordversuch, da in seinem Zimmer zwei Bücher über Suizid aufge- funden wurden: Guy/Le Bonvivants Anleitung zum Selbstmord und der besagte Tractatus. Der Verleger schildert eine von Einheimischen durchge- führte Rettungsaktion, die in einem Treffen mit dem vermeintlich verschol- lenen Schriftsteller beim Frühstück am nächsten Tag gipfelt. Der Vermißte war eben dabei, einen autobiographischen Text zum Tractatus unter dem Titel Die weiße Hölle zu schreiben, aus dem der Verleger am Ende seiner Einleitung die ersten Sätze zitiert:

' Der 1976 im Zürcher Artemis Verlag veröffentlichte Roman Schilten sicherte dem Autor einen festen Platz in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur.

2Hermann Burger: Die Künstliche Mutter. Frankfurt am Main:S.Fischer1982.

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Robert Rduch: Verschwinden des Subjektsimthanamlngisclwn Diskurs... 91 Ich, Amandus Conte Castello Ferrari, so mein Artistennameals Adept der hohen Magie, bin zuerst durch die rote, dann durch die schwarze.

dann durch die weiße Hölle gegangen, ich habe hinter die Kulissen meiner Existenz und vielleicht auch der Menschheit geblickt und will.

so genau, als es mein durch Medikamente ramponiertes Gedächtnis erlaubt,zuProtokoll geben, was ich weiß. (T 18)3

Auf diese Weise entsteht der Eindruck, daß die Äußerungen der neuenfikti—

ven Gestalt Amandus dem darauffolgenden Tractafus zugrunde liegen. Mit dem resoluten Vorhaben, über eigene existentielle Erkenntnissezuberichten.

knüpft er an frühere Erzählfiguren Burgers an. Durch Multiplizierung von Fiktionsebenen (die Einleitung des Verlegers, Die weiße Höllemit dem Ich- Erzähler Amandus Ferrari und der eigentliche Traktat, dessen Ich-Subjekt mit Amandus identischzu sein scheint) wird der Ernst der suizidaltheoreti- schen Arbeit in Frage gestellt. Durch die fiktive Gestalt namens Hermann Burger, der eben die Autorschaft des Tractatus und Die weiße Hölle zuge- schrieben wird, finden alle erfundenen Realitäten zueinander Bezug und zugleich geht auf diesem Wege deren verwirrende FunktioninErfüllung.

Der eigentliche Tractatus besteht aus 1046 numerierten Fragmenten. die

„Totologismen”, „Mortologismen” oder „Suizidalismen" (T 147) genannt werden. Es Wäre verfehlt, sie alle als Aphorismen zu bezeichnenf da die Struktur einzelner Paragraphen sehr unterschiedlich ist und nur manchevon ihnen aphoristische Kompaktheit und Schlüssigkeit erreichen. In vielen

„Totologismen” sind allein Zitate mit Kommentaren des Verfassers oder Erläuterungen zu anderen „Mortologismen” enthalten. Es scheint auchsinn- voll zu sein, über eine Erzählsituation innerhalb des suizidaltheoretischen Aufsatzeszu sprechen, daindem Wissenschaftlichkeit vortäuschenden Text oft auf unpersönliche Ausdrucksweise verzichtet wird. Sowohl der Titel des Tractatus als auch die strenge Einteilung des theoretischen Teils in 1046 Punkte sind auf die bekannte sprachphilosophische Arbeit Ludwig Wittgen- steins Tractatus logico-philosophicus zurückzuführen.Bei Burger weicht je- doch die logische Gedankenführung der Subjektivität seiner Gestalt, so daß der eigentliche Tractatus logico-suicidalis als ein theoretisierender Monolog bezeichnet werden kann, in dem nicht nur ein Ich-, sondern auch ein Wir- Subjekt seinen Platz findet. Amandus Hauptanliegen ist es, seinen Suizid wissenschaftlichzu begründen. Die Wissenschaft jedoch, die den Freitodzu

3Im folgenden wird die Seitenangabe bei Zitatenaus Tractatusin Klammern nach folgendem Muster genannt: (T Seitennummer). Es wird nach folgender Ausgabe zitiert: Hermann Bur- ger: Tractatus logico-suicidalis. Frankfurt am Main:S.Fischer1988.

Vgl. Rudolf Käser: Hermann Burger, in: Walther Killy (Hrsg.): Literaturle.rikon. Autoren und Werke deutscher Sprache... Gütersloh/München: Kindler Verlag 1989. Bd. 2. S. 327:

„1046 Aphorismen umkreisen die Frage: »Gegeben ist der Tod, bitte findenSiedie Lebensur- sache heraus«”; Peter Stocker: Hermann Burgers »échee ultime«?‚in:SchweizerMonatshef—

te,Heft 2/1992,S. 153: „Der «Tractatus logico-suicidalis»von 1988 [...] leitetingut tausend numerierten Aphorismen [...] den Selbstmord her und verhilft überdies der genuin- selbstmörderischen Qualität der Gattung gegen die Sinnspruch-Seligkeitzuihrem Recht.“

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legitimieren hat, istjeglicher Objektivität beraubt, da die Geltung der„Toto—

logie" auf denFall des Schreibenden eingeschränktist:

Wir müssen nicht uns umbringen, sondern unsere Theorien, sagt ein unverbesserlicher Optimist. Der Tractatus logico-suicidalis ist in die- sem strengen Sinn keine Theorie. Eine Theorie ist immer auf andere Fälle übertragbar. Der Tractatus logico-suicidalis ist die einmalige Begründung eines einmaligen Suizids.(T 177)

In der verwirrenden Gedankenführung des Tractatus-Subjekts wimfnelt es von allerlei Fachbegriffen, deren Sinn und Gestalt im Rahmen der gesam- ten Burgerschen Sprachkonzeption zu verstehen sind.5 In dieser Logik zer- fällt die „Totologie” indrei Teilgebiete:in Suizidologie, Thanatologie sowie Thanatosophie, und sie setzt sich zum Ziel, „die Vorherrschaft des Todes über alles Leben” (T34) nachzuweisen. Deshalb kehrt der Burgersche Toto- loge gewohnheitsmäßige Lebenskategorien um und betritt somit den Bereich einer „Todeslogik”, die im Widerspruch zur gängigen (Lebens)logik steht.

Undurchschaubar, von Tautologien durchsetzt, entzieht sich die „totologi- sche” Denkweise dem Ausdruck der Lebenden. Der Totologe versucht trotz- dem seine Lehrezu verbalisieren, da er sich für einen „totologischen Suizid—

anten” (T 36) hält, der den Selbstmord wissenschaftlich begründet, „mit einem Bein in der Logik des Lebens, mit dem anderen in der Logik des Todes” (T59)6stehend. In diesem Zusammenhang ist der Gebrauch der Ich- Formvon besonderer Bedeutung, weil dadurch der Totologe alias Amandus Come Castello Ferrari seine Existenz konkretisiert: „mein Suizidvorhaben”

(T 76), „meine Krankheit” (T 90), „Dieses höchste Leiden, zu sterben, zu morden und ermordetzu werden, habe ich, nur ich bestimmt, kein bösartiger Tumor” (T 92), „lch bin das Bösartige aller Tumore” (T 92).

Für die Verwandlung des Ichinein Wir liefert Amandus einige explizite Erklärungen. An mehreren Stellen identifiziert sich das Ich mit „Totologen”

oder ,.Suizidanten” („Wir Totologen, wir Totologen sind kleinere Heere”, T36; „wir Suizidanten sagen: Wir befinden uns im Zustand von Stalingrad”, T 191)und wirdzueinem der Sterblichen („Wir sind eine Seifenblase,schil—

lern, steigen, schweben, platzen”, T 117). Zum dritten verwandelt sich das Ich zu einem Patienten-Wir, das komplementär zum ärztlichen Pluralis sani- tatis auftritt („Wir stehlen dem Heilkünstler den Pluralis sanitatis - wir schreiten nun zur Gastroskopie etcetera - und bieten ihm patientenseits die

Wir—Form an”, (T 134). In mehreren Fällen dagegen ist die Gestalt des Arti-

5Diese Darstellungsweise wurde von Burgerals ,,Verunsicherungsstrategie” bezeichnet. Eine ausführliche Präsentation dieses Verfahrens lieferte er in seinen Frankfurter Poetikvorlesun- gen. Vgl. Hermann Burger: Die allmähliche VerfertigungderIdee beim Schreiben.Frankfur- ter Puetik-Vorlesung. Frankfurt am Main:S.Fischer1986.

°Eine solche Zusammenstellung der Logik des Todes (Todeslogik) und der Logik des Lebens (Lebenslogik) hat Burger Jean Amery entnommen, auf den er sich im Tractatus mehrmals bezieht.Vgl. JeanAmery: Hand an sich legen. Stuttgart: Klett 1976,S.53f.: „Wie krank bin ich.wennich versuche, mitten im Leben vom Tode mich umfangen zu lassen und die absurde Todeslogik einer nicht weniger absurden Lebenslogik als gleichberechtigt an die Seite zu stel- len?”

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Robert Rduch: Verschwinden des Subjektsimthanatologischen Diskurs... 93

sten um eine übersichtliche Erzählsituation nicht bemüht, und der Gebrauch des Wir-Subjekts wird lediglichals Ausdruck eines spielerischen Umgangs mit sich selbst erläutert:

Wir, um in diesem Tractatus von uns zu sprechen- damit sprengenwir den strengen Rahmen der Form-betrachten die Unsrigenals Ausflüg- lergruppe, die eine Exkursion in unsere Existenz unternommen hat.

und verfügen testamentarisch, daßsie im Falle eines Falles weiterlacht.

(T42)

Die oben exemplifizierte sprachliche Variationslust ist auchein Grund für das Erscheinen beider Erzählperspektiven in ein und demselben Punkt („Unser Körper ist von Chemikalien so sehr verseucht, daßihn nie mehr eine Frauenhand streicheln wird. Ich werde vergewaltigt von der Düne“, T l89) sowie für das Auftreten eines Du in einem anderen („Weshalb, da dein Schicksal schlimmer ist als der Tod, willst du denn noch zum Selbstmörder avancieren? Der Vollständigkeit halber”, T 121).

Eineso paradox fundierte Textidentität der Gestalt des Artistenist auf seine endogene Depression zurückzuführen, die „auf der Bestenliste der Suizidal- Leiden einsam an der Spitze” (T 79) steht. Einerseits ruft die Krankheit Selbstmordgefahr hervor, da sie „schlimmer als Tod” (T 79) ist.Andererseits meint der Erzähler unter Berufung auf Adolf Muschg, „an der Krankheitsei etwas Gesundes” (T 179). Dies hat jedoch kaum mit der traditionellen Auf- fassung von Gesundheit zu tun, die das Tractatus-Subjekt als „eine reine Fiktion” (T 117), einen „banalen Geburtstagswunsch” (T 157), „eineForm der Sterilität” (T 157) und vor allem als unproduktiv („Gesundheit bedarf keiner Korrektur durch ein Phantasieprodukt”, (T 83) schmäht. Die hierge- nannte Kategorie der Produktivität ist von fundamentaler Bedeutung für die Kunst und für die Figur des Artisten selbst. Die letztere huldigt nämlich dem Spruch: „die Geburt lohnt sich nur dann, wenn manals Wissenschaftler oder als Künstler zur Welt kommt” (T 69), und entwickelt als „Todesartist"

(T80) und Totologe eine Argumentation, die den Wahrheitsgehalt des Zitierten untermauern soll. Wieder einmal verdrängt Amandus das Lebenan eine weitere Positioninseiner Hierarchie: „Die Kunstist der Schöpfung dar- in überlegen, daß sie die Willkür durch Gesetzgebung aufhebt” (T 165). So gesehen, steht das Gesunde an der Krankheit für die Kreativität, und das Leiden ist im Schaffensprozeß die gewünschte Voraussetzung: „Der Künst- ler besitzt einen Instinkt dafür, das Leidenals Urgrund- imdoppeltenSinn - seines Schaffenszukultivieren” (T 156).

Auf diese Weise bezieht der Verfasser des Tracrarus eine vielen Romantikem eigene ästhetische Position, von der aus das Lebenerst durch die Kunst erträglich wird. Das der Kreation unentbehrliche Leiden soll jedoch sein Maß halten, da eine Überdosis Schmerz zwar durch Suizid gestillt werden kann, mit dessen Radikalität jedoch die Kunst an ihr Ende kommt.So erscheint das Künstler-Sein als eine Balance zwischen Krankheit und Tod, ein Zustand, in dem der Artistik eine Doppelfunktion zukommt.

Sie ist therapeutisch, vermag Schmerzen zu lindern und deren Energien in ein Werk umzusetzen. Wohl deshalb nennt Amandus Conte Castello Ferrari

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umzusetzen. Wohl deshalb nennt Amandus Conte Castello Ferrari die Krankheit „eine höhere Art von Kunst” (T 78), wobei das somatische Syn- drom der gegenständlichen Kunst, das psychische Syndrom aber der abstrak- ten zu entsprechen hat. Da Ferrari ein Sprachartist ist, widmet er sich insei—

ner Arbeit vor allem der Dichtung, in der er „das Leiden in seinem Idiom reden läßt” (T 103). Das Werk als „das Höchste” (T 69) wird von ihm so verabsolutiert, daß das bloße Lebeninden Hintergrund rückt. Er ist von dem Gedanken besessen, „in die Weltliteratur einzugehen” (T 175), um „eine Gehirnfurcheinder Weltgestaltzuhinterlassen” (T69). Nach seiner Theorie leistet das Literaturschaffen sogar dem Thanatos Widerstand, und in Folge dieser Opposition wird der Tod zum Maßstab künstlerischer Qualität. Auf diese Weise äußert die Burgersche Figur ihr Vertrauen zur Sprache. Sie will nicht „ohne ein Zeichen verschwinden” (T 149) so wie „jene, die erfahren haben, daß Worte »nicht hinreichen«” (T 149).

Mit alledem wird auch eine Forderung an den dichterischen Ausdruck gestellt. Er muß über eine Intensität verfügen, die über die Existenz des Schreibenden hinaus wirksamist: „Schriftsteller sein, heißt Sprache haben über den Tod hinaus” (T 175). Dabei ist der literarischen Kreation eine the- rapeutische Funktion zu bescheinigen, weil sie immer „die zurücknehmbare Variante” (T 135),einen Ersatz des nicht Realisierten oder nicht Realisierba- ren, erlaubt. Dies findet sich in der Erklärung von Doktor Anselm Maria Ruch-Soglioinder Einleitung zum Tractatus bestätigt:

wer sichso ausführlich über die Selbsttötung auslasse, kaum mehr in derLage oder ganz einfach nicht willens sei, die verruchte Tat zuvoll- ziehen; bringe sichja, durch das Geschriebene tausendfach um, entleibe und entselbste sich durch das Wort.(T 13)

Eine literarische Fiktion kann den Suizid abwenden. Selbst wenn unter diesen Umständen der Freitod unausweichlich ist, spendet sie dem Schrei- benden das Versprechen einer Existenz in der Welt der Literatur. Sollte ein solcher Trost bedenklich sein, bleibt die Möglichkeit, den Suizid selbst als

„Artefakt” (T 165) zu betrachten und ihn zu „dem übergeordneten Werk”

(T 946) werdenzu lassen. Das Tractatus-Subjekt erklärt, daß der Schriftstel- ler in diesem Falle nicht nachgibt, sondern das letzte Wort „im Reich der Nicht-Worte” (T162) behält und „formgewordenen Sinn hinterläßt” (T109).

Obwohl der Tractatus logico-suicidalis auf den ersten Blick wegen der ru- dimentären Erzählstruktur eine neue Qualität darstellt, knüpft dieses Werk an mehreren Stellen an Burgers frühere Texte an, aus denen gewisse Motive sowie die Wortspieltechnik und die Neigung des Erzählers zur Auseinander- setzungmit anderen Autoren übernommen wurden. Die Brief-Poetik wird im Tractatus fortgesetzt und in radikal-reduzierter Form beibehalten. Den Erfordernissen der Brief-Poetik geht lediglich derinder Einleitung skizzierte Text „Die weiße Hölle” nach, da in ihm eine Ich—Gestaltauftaucht, die mit ihrem Vorhaben, über die eigene Existenz zu berichten, aufeinen gemein-

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samen Nenner mit Schildknechfl Diabelli8 und dem Leselosen° gebracht werden kann. Ob dieser Plan in der totologischen Abhandlung erfüllt wird, bleibt wegen der überraschend geringen Präsenz der Ich-Gestaltim eigentli- chen Tractatus ungewiß. Was dagegen mit aller Deutlichkeit aus der frühen Prosa Burgers übernommen wird, sind Magie, Scheintod und Verschollen- heit, die hier wieder einmal detailliert behandelt werden. Seit Diabelli fun- giert das Zaubern bei Burger10 als eine Metapher des Illusionistischen, das seinen Gestalten unter anderem ermöglicht, todesähnliche Zuständezu simu- lieren.

Scheintod, Verschollenheit und Eskamotieren sind Formen des Ver- schwindens der Figuren, sie tragen jedoch nicht einmal im geringstendazu bei, den Tod zu begreifen, und die Figuren werden durch dessen „Nichtdar- stellbarkeit als stärkste Herausforderung an die ästhetische Vernunft"ll zum „totologischen” Schreiben angeregt. In all den genannten Formendes Verschwindens sind Burgers Figuren

in

der Lage, den Tod als Unbegreifli- cheszu projizieren und sichinder Imagination für eine momentaneZeitdau—

er des Existenzverlusteszubemächtigen: „Jeder eskamotierte Gegenstandist ein Stück Tod, jeder herbeigezauberte ein Stück Leben” (T ! l7). Dies kommt zustande, da die Figuren ihre Existenzin eine Fiktion versetzen,um dort ein riskantes Spielzuführen.

In diesem Zusammenhang deutet der Erzähler auf den berühmtenZau- berkünstler Houdini als ein Ideal des Todesartisten hin und widmet der Kunst des „Handschellenkönigs” mehrere Punkte seiner Abhandlung. Hou—

dini begibt sich in Lebensgefahr; mit Handschellen und gefesselten Füßen läßt er sich unter Wasser in einer Truhe einsperren, um seine ihn rettende Kunst triumphieren zu lassen. Versagt sein artistisches Geschick, ertrinkt er auf der Bühne. Ein ähnliches Risiko geht das Tractatus-Subjekt ein, den Hauptfiguren aus Schilten, Diabelli, Die Künstliche Mutter und Blankenburg folgend. Es überträgt seine Existenzinden literarischen Text, läßtsie in die- sem verschwinden und stellenweise hinter der dargestellten Figur sichtbar werden. Dabei kommt dem Konstruieren einer literarischen Welt therapeuth sche Funktion zu. Die Autorfigur namens Hermann Burger aus der Einlei- tung zum Tractatus versucht, den Selbstmord abzuwehren, indem sie den Artisten Amandus Ferrari ihren eigenen Lebenskampf in der totologischen

7So heißt die Hauptfigur in dem Roman Schilten.

8Diabelli ist die Hauptfigur in der Erzählung Diabelli.Vgl. Hermann Burger: Diabelli. Frank- furt am Main: Fischer1979.

9Der Leselose ist die Hauptfigurinder Erzählung Blankenburg.Vgl. Hemiann Burger:Blun- kenburg. Frankurt am Main: Fischer1986.

10 Vgl. Adolf Muschg: Warum schreibt Hermann Burger? Nachwort. in: Hermann Burger:

DerPuek.Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1989, S. 91: „InWirklichkeit sind Zaubereiund Lite-

ratur für Burger ein Tun: sie potenzieren den Schein, in der utopischen Hoffnung. daßsich dieser dabei selbst aufhebe in einemKunst—Stückdoppelter Negation."

" Christiaan L. Hart Nibbrig: Ästhetikder letzten Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 9.

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Abhandlung austragen läßt. Ihr Ziel ist es, eine derartige Struktur aufzubau- en, hinter der der Verfasser unsichtbar bleibt. Auf diese Weise verfolgt die Autor-Gestalt das Ziel der großen Magier: „Zu verschwinden, als ob sie nicht verschwunden wären, dies bleibt den großen Illusionisten im Bereich der Disparitations-Magie vorbehalten” (T 137). So läßt sich der paradoxe Vorsatz Ferraris, Selbstmord zu begehen und zugleich am Lebenzu bleiben, nur im Text durchführen. Das Schreibexperiment bringt jedoch eine Gefahr mit sich: Der fiktive Text kann in einen faktengetreuen Bericht abgleiten.

Eine solche Eventualität vermutend versucht Ferrari, mit einer Äußerung Jean Pauls die Fiktionalität des Autobiographischen an der Brief-Form zu belegen: „Der Brief ist seiner Natur nach poetisch, sagt Jean Paul, oft um vieles verschlüsselter als das Werk. So wie der Nackte nicht unbekleidet ist, er trägt das ihm fremdeste Gewand: Die Haut” (T 171). Das herangefiihrte Fragment kommt umso bedeutender vor, als mehrere Erzähler-Gestalten aus früheren Texten Burgers sich des Briefes bedienen, und so kann das Zitat zugleichalsBurgers autoreferentieller Kommentarzuseiner Prosa betrachtet werden.

Die Verwendung fremder Texte als Bausteine für die eigene literarische Konstruktionistein fester Bestandteil der Burgerschen Poetik, dem im Trac- tatus eine völlig neue Funktion beigemessen wird. Während intertextuelle Bezüge seit dem Gedichtband Rauchsignale mehr oder weniger verschlei- ertinHandlung, Schauplatz und Figurenkonstellation der einzelnen Werke eingebaut werden und somitzu ihrer Kohärenz beitragen, wirkt sich die Zita- tentechnik aus dem Tractatus auf die Struktur der totologischen Abhandlung zersetzend aus. Die über den Selbstmord reflektierende Erzähler-Gestalt bezieht sich auf über 80 Autoren, die entweder wörtlich zitiert oder nur per Namen genannt werden. Die Intenextualität erweist sich jedoch nicht als ein den Text integrierendes Element, da sieinihrem Umfang den Leser verwirrt.

In der Abhandlung herrscht die „Todeslogik”, die jegliche textkonstitutiven Vorsätze und die Logik des Schließens ausklammert. So erweckt die Abhandlung an mehreren Stellen den Eindruck eines Notizbuches, in dem Kommentare zur Lektüre mit Zitatbeispielen zum Thema Suizid aneinander gereiht sind. Der Tractatus wird zwar mit einer Pointe abgeschlossen, die sichals Endziel einer Beweisfiihrung gibt („Ich sterbe, also bin ich”, T 195;

„Was zu beweisen war”, T 195; „Finis” T 195), dadurch entsteht jedoch nicht die angestrebte wissenschaftlich fundierte Verbindung zwischen den einzelnen Punkten. Deshalb soll das Fragment 1044 nicht logisch, sondern

„totologisch”, also absurd, gelesen werden. Die Absicht des schreibenden Subjekts, seine Existenz unter Beweis zu stellen, wird im literarischen Text autoreferentiell realisiert. In ihm kann die erzählende Figur, auf mehreren fiktiven Ebenen abgesichert, den eigenen Freitod simulieren. Die Versprach- lichung liefert dem Schreibenden einen Beweis für eine Existenz, bei dem er zugleich sterben und am Leben bleiben kann, um die Folgen seines Experi- ments beobachtenzukönnen.

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Robert Rduch: Verschwindendes Subjektsimthanatologischen Diskurs... 97

Literatur

Burger, Hermann: Diabelli. Frankfurt am Main: Fischer 1979.

Burger, Hermann: Die Künstliche Mutter. Frankfurt am Main: S. Fischer 1982.

Burger, Hermann: Blankenburg. Frankurt am Main: Fischer 1986.

Burger, Hermann: Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben.

Frankfurter Poetik-Vorlesung. Frankfurt am Main:S. Fischer 1986.

Burger, Hermann: Tractatus logico-suicidalis. Frankfurt am Main:S.Fischer 1988.

***

Amery, Jean:Handan sich legen. Stuttgart: Klett 1976.

Käser, Rudolf: Hermann Burger, in:Walther Killy (Hrsg.): Literaturlexikon.

Autoren und Werke deutscher Sprache... Gütersloh/München: Kindler Verlag 1989.

Muschg, Adolf: Warum schreibt Hermann Burger? Nachwort, in: Hermann Burger:DerPack. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1989.

Nibbrig, ChristiaanL. Hart: Ästhetikderletzten Dinge. Frankfurtam Main:

Suhrkamp1989.

Stocker, Peter: Hermann Burgers »échec ultime«?, in: Schweizer Monats- hefte, Heft 2/1992.

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ACADEMIC PAPERS

OF COLLEGE OF FOREIGN LANGUAGES WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE DER HOCHSCHULE FÜR FREMDSPRACHEN

Vol.

2

LITERATUR UND LINGUISTIK

GERMANISTISCHE STUDIEN

Herausgegeben von

Zygmunt Mielczarek,

Zenon Weigt

unter Mitwirkung von

Dariusz Pindel

Czestochowa 2003

(10)

Rezensenten:

Christoph Schatte,Zbigniew Swiatlowski

Wissenschaftlicher Beirat:

Janusz Arabski, Piotr Kakietek,Wojciech Kalaga,

Zygmunt Mielczarek, RomanSadziriski, ZenonWeigt, Maria Wysocka

Copyright© 2003

by Wydawnictwo Wyiszej Szkoly LingwistycznejWCzestochowie All rights reserved

ISBN83-917152—1-3

WydanieI. Ark. Wyd. 16,2. Ark. Druk 16.

Printedby: SIGMA, Czestochowa,tel. 034 3221802

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