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Hermann der dem Suchenoch verlorenen SchreibenalsTherapie

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Academic year: 2022

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Schreiben als Therapie Auf

der Suche noch dem verlorenen Sinn

Zur Prosa Hermann Burgers

DasVerbinden der Literatur mit therapeutischen Funktionen, sei es für den Schreibenden oder Lesenden, ist keine Erfindung der 80er Jahre unse- res Jahrhunderts. Aristoteles hat den Literaturwissenschaftlem den Begriff

„Katharsis“ geliefert. Sigmund Freud hat den professionellen Interpreten ein psychoanalytisches Instrumentarium in die Hände gegeben.Wenn man noch die Tatsache berücksichtigt, daß viele Dichter sehr schnell den Weg zum Irrenhaus finden, solltees unsnicht wundern,daß dasWort„Literatur“

so oft in Begleitung desWortes „Therapie“ auftaucht. Eine Therapiemuß immer einer Krankheit folgen, und mitdem zweitenWorteröffnet sich eine Vielfalt von Fragen. Wie stark diese Problematik die deutschsprachige Gegenwartsliteratur beschäftigt, kann man dem Buch Gesund oder krank (1989) von Thomas Anz entnehmen. Zwei der dort erwähntenAutoren der deutschsprachi gen Schweiz haben sich Anfangder80er Jahre mitderTherapie im literarischen Schaffen essayistisch auseinandergesetzt. AdolfMuschg hat in dem mit Fragezeichen betitelten Text Literatur als Therapie? (1981) das Problem aus derPerspektive eines Spät-68ers angepackt. Walter Vogt schrieb in seinem Essay Schreiben als Krankheit und als Therapie (1982): „Ich möchte schließlich mein Schreiben weder alsKrankheitnoch als Therapie an- sehen. Im Gegenteil, ich möchte darin so etwas wie den Sinn meines Lebens erblicken, mein Leben schlechthin, meine Entelechie.“l

1 Walter, Vogt: Schreiben alsKrankheit undalsTherapie. Zürich] Frauenfeld 1992,S.278.

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Mit diesem Bekenntnis näherter sich HermannBurger, einem anderen schweizerischenAutor, derin der Arbeitvon Anz auch Erwähnung findet.

Burger hat in der Frankfurter Poetik-Vorlesung1986 auf den therapeuti- schen Faktor seines Schaffens hingewiesen: „Darf ich wiederholen, daß Schreiben bei mir immer eine lebensrettende oder verlängernde Langzeitmaßnahme als Reaktion auf eine höchste Notsituation war und bleibt.“ (V, 73)2 Ich möchteden Spuren des heilenden Schreibensin Bur- gers Prosa folgen.

Der todesbesessene Lehrerin Schilten (1976),dem ersten Roman Bur- gers, versucht sich vom Einfluß eines Friedhofs zu befreien, der ihn bei seiner pädagogischen Arbeit stört.Die Nachbarschaft des Totenackers wird von Peter Stirner, so heißt der kranke Lehrer,als eine der Ursachen seiner psychischen Störung bezeichnet. Nicht ohne Bedeutung für die Entwick- lung des Gemütsleidens war StirnersVereinsamung. So widmet er sich ei- ner Studie,die Funktion einer Selbsttherapie haben sollte, und findet einen fiktiven Adressaten.Im „Bericht zuhanden der Inspektorenkonferenz“ ver- steckt er sich hinter dem Ich-Erzähler namensArmin Schildknecht und bie- tet dem Leser eine literarisch umgestaltete Beschreibung seiner didakti—

schen Tätigkeitin Schiltenan.

Die Geschichte Stirners findet eine Fortsetzungin der Erzählung Der Schuß auf die Kanzel (1988). Die Rolle des Ich—Erzählers im Text übernimmt Ambros Umberer, „Stotterer und Polterer, Hilfstotengräber,Re- servesigrist und Friedhoffaktotum“ (SK, 5). Er verfügt „dank Stirners Schulung über ein streitbares, pasquilläres Abrechnungsschriftdeutsch“

(SK, 121), mit dem er sich gegenden absurden Kirchenbetrieb zur Wehr setzt.Sowohl Stimerals auch Umberer erkrankenander Umgebung,inder sie nicht akzeptiert werden. Stimer sagt: ich bin „so sehr ausge- und verstoßen, daß ich meinen Mund, meine Ohren, meine Augen, meine Nasenlöcher mit Wörtern verstopfen muß [...]“ (SK, 152). Beide stürzenin eine Schreibtherapie, in der sie sich einen Lebensraum erschreiben wollen.

1982 erschien der zweite Roman Burgers unter dem Titel Die Künstliche Mutter. Eine Krankheitsgeschichte stehtim Zentrum diesesTex-

2Zitatenangabe derWerke von Hermann Burger erfolgt in Klammern nach folgenden

Ausgaben:

KM=Die KünstlicheMutter. Frankfurt/M.1982.

B - Blankenburg. Frankfurt/M.1986.

V -Die allmählich: Verfertigung der IdeebeimSchreiben. Frankfurt/M.1986.

T - Tractatus logico-suicidalis. Frankfurt/M.1988.

SK - DerSchuß aufdieKanzel. Frankfurt/M.1991.

BB - Brenner. Brunsleben. Frankfurt/M.1989.

BM=Brenner.Menzenmang. Frankfurt/M.1992.

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tes. Der Ich-ErzählerWolfram Schölk0pf, ein Literaturdozent, hat eben sei- ne Arbeitsstelle verloren und befindet sichtiefin einer psychischen Kata- strophe.Ausdieser wird eine Krankheit. Sein „einmaliges Autorenkollektiv von Körper und Seele konnte diese Krankheit erfinden und mittels spasti- scher Krämpfe beschreiben“ (KM, 191). Er erlebt zwar einen herzattackenähnlichen Anfall undmuß für einigeWochen ins Krankenhaus, jedoch das kardiale Übelbefindenkann man mit seiner eigentlichen Krank- heit nicht vergleichen. Sie wird als „Unterleibsmigräne“ bezeichnet.

Schölk0pf begibt sichzueiner Heilstollenklinikin Göschenen. Dieses Spi- tal hatihm angeboten, seine Krankheit durch die Therapie der Künstlichen Mutterzuheilen.Er wird untersucht. Die Diagnose lautet:„Das Muttermal bedeckt den ganzen Körper“(KM, 47). Er schwitzt, er setzt sich derTun—

nelluft und der Wasser-Ionisation aus, geht spazieren und wartet auf dieri- chtige Therapie der KünstlichenMutter. Der Literaturdozent bekommt aus therapeutischen Gründen einen neuen Vornamen: Armando. Beate Auer—

Aplanalp, die Leiterin der Klinik, gesteht ihm, daß es keine Künstliche Muttergibt. Ermuß selbst die Künstliche-Mutter-Therapie erfinden. Nach einigenWochen wird erin ein unterirdisches Theater eingeladen, wo zwei Szenenaus Goethes Faust und Aischylos‘ Orestie aufgeführt werden, die sich auf Schölk0pfs Mutterprobleme beziehen. Nach der Theatervorstel- lung analysiert erdie Szenen zusammen mit Frau Auer-Aplanalp unter dem Aspekt seiner Krankheit.Sie beschließen zusammen, daß in seiner Thera- pie eine Helena fehlt. Diese Rolle übernimmt Dagmar Dom, Nachrichten- sprecherin des Norddeutschen Rundfunks. Sie leistet einen Beitrag zur Schölk0pfischen Therapie, indem siedenkranken Schweizer als Bruder ad- optiert. Der durch das Treffen mit der nordischen Helena ermunterte Schölk0pf beginnt mit der aktiven Gestaltung seiner Therapie. Er läßt in einer Höhle „ein Zentrum für die Dagmarbestrahlung“(KM, 226) einrich- ten. Dervon der manischen Depression geheilte Dozent verläßt Göschenen in euphorischer Stimmungin RichtungTessin.

VonAnfangan fällt der Wechsel der Erzählperspektive von einem Ich aufein Erauf. Es ist ein schlauer Griff,aus dem erzählenden Ich, also aus sich selbst, ein leidendes Er zu kreieren. Dieses Erzählen über sich selbst in der dritten Person, diese Selbstheation, hebt den Erzähler auf ein höheres Niveau.Es ist eine Art Therapie. Das Erbrechen und die Herzpro- bleme im ersten Kapitel sind etwas Sekundäres. Die primäre Krankheit tut sich „durch einen elektrischen Schlagim Gemächte“(KM, 40) kund oder wird als Genitalkrämpfe beschrieben. Sie ist für den Autor eines literari- schen Textes sehr produktiv: „das Stichwort, das ich erfand —— alles muß manja selber leisten, die chronischen Maläste austragen und ihnen noch einen Namen geben ‘—-, war Unterleibsmigräne, eine Frauenkrankheit“

(KM, 41). DerErzähler bedenkt sich selbst reichlich mitNamen: Omnipa-

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tient, Somatopsychopat, Doktor Infaustus, Penispatient, Malefizenz, Pa- tientissimus,Rumpfmensch, Halbwesen, Doppelfreak, Equilibristund Kon- torsionist, Signor Privatissimo oder der infausteste Helvetopatient. Die Quelle der „schmerzhaften Impotenz“ (KM, 44) hat eine gute literarische Grundlage, was austextstrategischenGründen fürden sichtherapierendenAutorvonBe- deutung ist. Die christlicheMoral, besonders im Bereich des sexuellen Le- bens, unddie damit verbundene gestörte Mutterbeziehung werden als Ursa- chen seines Gebrechens präsentiert. Er hatte „seiner Mutter anseinemzwan- zigsten Geburtstag am Krankenbett hoch und heilig in die Hand versprechen miissen, nie, da es sie bisins Grab beleidigen würde, mit eineranderen als der angetrauten Frau zu koitieren -— auch nichtzu onanieren, denn Selbstbe- friedigung sei Kommunismus“ (KM, 25).

Die immer genauere Beschreibung der Krankheitsgeschichte führt den Erzähler dazu, literarische Parallelenzukonstruieren. SchoninGesprächen mit seiner Geliebten Flavia Soguel hat er Kafka zitiert und versuchte mit Kafkas Aussagen seine Beziehungzu Frauen zu bestimmen. Flavia lehnt derartige Erklärungenabund erwartet nichts anderesals eine durch die Li- teratur und Schölkopfs Mutter nicht gestörte Liebe. Diese Liebe endet aber tragisch, und der Privatdozent fällt noch tieferindie mütterlich-literarische Abhängigkeit.Die Darstellung dieser krankhaften Mutterbeziehung gipfelt im „Briefan die Mutter”, einem Pendantzu Kafkas Brief anden Vater: Im Brief werden sowohl die Mutter als auch die Schwester,an die der Brief gerichtet ist, angeklagt. Beide habenden armenWolfram imStich gelassen.

Die Kreation einer leidenden Gestalt wird im Brief nicht aufgegeben:

„Was Wolfram Schölkopfs Maleskript betrifft,kann ich nur übersetzen, was meine Organe schwören: Die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. [...]

ich gehöre als Chronischkranker und Malefizenz zujenem Teil der Men- schheit, der in seiner Qual verstummt“(KM, 141). Er verstummt in seiner an Hypochondrie grenzenden Krankheitso sehr, „daßin der oberen Etage die Rotationsmaschinen auf Hochtouren laufen und Druckreifes ausspuk- ken, während das Kellergeschoßin den Silen liegt“(KM, 167). Sowie bei Kafka wird auch der Brief nicht abgeschickt. Der Brief ist fürden Erzähler nur eine weitere Möglichkeit, den Text zu produzieren. Etymologische Kommentare und Ausführungen über die Freak-Forschung können die Schreibsucht des Privatdozenten befriedigen. Seine Unfähigkeit der„Welt- weiblichkeit“ gegeniiber kann er nur durch seinen „Kurbericht zuhanden der Außenwelt“(KM, 214) ersetzen.

Ein anderes Stück der literarischen Tradition regt den Erzähleran, die Therapie der Küflstlichen Mutterzu entwickeln. Schon auf den erstenSei- ten des Romans bezeichnet sich der Erzählerals „das absolut Infausteste, was es auf dem akademischen Pflaster gibt“ (KM, 11). Das Adjektiv „in- faust“ wird in der Medizin gebraucht und heißt: ungünstiginbezug auf den

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angenommenenVerlaufeiner Krankheit. Bedeutender sind aber Assoziatio- nen, die dieses Wort hervorruft, besonders dann, wenn sich der Privatdo- zent „Doktor Infaustus“ nennt. Die Anspielung auf Faust, die allein durch dieses Adjektiv zustandekommt, mag eine therapeutische Wirkung auf den literaturbesessenen Erzähler ausüben. Er greift auf den zweiten Teil der Fausttragödie zurück, um die Konzeption seiner Therapie auszudenken.

Von Goethe wird die Idee des Gangeszu den Müttern übernommen. Der Erzähler istvon dem Willen beherrscht, die verlorenen Urbilder des Lebens wiederzugewinnen. In der naiven Nachahmung Fausts meint er„den richti- genWeg zur Heilung seiner Psyche gefundenzu haben. Durch ein kurzes Gespräch und einen einseitigen Femsehkontakt mit der Nachrichtenspre- cherin will erdas reale Leben rekonstruieren.

Das Ergebnis dieser Behandlung ist fragwürdig. Schölkopf gibtan, ge- heilt wordenzu sein. In Wirklichkeit wurde ereher_von der schönen Dag- mar, einemTeil der „Weltweiblichkeit“,deren Prinzip lautet: „Wir machen scharfdoch keiner darf!“(KM, 152),sexuell aufgeladen. Der schizophrene Zustand, in dem er Lugano erreicht, stellt die Niederlage der Künstlichen Mutter bloß. Es bleibt dem Erzähler nichts anderes übrig, als sich in ver- schiedenen Textspielereien auszutoben. Sprachliche Spielmöglichkeiten werden durch einen erhöhten Einsatz von Fremdwörtern erweitert:

„Können wir überhaupt Italienisch? Lohntessich für den neuen Lebensab- schnitt, eine vierte Landessprache zu lernen? Nur die nötigsten Brocken, Armando,um an uns zu raffen,wasder ferragosto, die Collina, und Lugano noch zu bieten haben. Als Feuerwerksidiom.“(KM, 245) Schreiben weist seine therapeutische Funktionen nicht nur auf der Inhalts-, sondern auch auf der Formebeneauf: „Eine Sprache fürs Lebenzu lernen genügt nicht, man muß sicheinseparates vocabolario anlegen für Lebensgenüsse: far l’a- more, innamorato, Armandoil prime amoroso.“(KM, 249)

Armando empfindetseinen schizophrenen Zustand als eine Begünstigung.

Aufdiese Weise kann man die vertane Zeit bessernachholen: „Unsere du- biose Gesundheit, der Kurerfolg besteht darin,daß wiraus derEller—ollér—

-Haft entlassen und in den Tanto-quanto—Aggregatzustand eingetreten sind.“

(KM, 253)3 Doch mit der Verdoppelung des Erzählers kommt auch seine Unentschiedenheit,weil die Tanto-quanto-Versionim Text nicht realisiert wird. Seine sexuellen Errungenschaften und damit die Handlung des gan- zen Textes werdenin Frage gestellt: „Muß es denn sein, Armando,se non

3Die WortspieleindiesemSatz enthalteneine Anspielung auf Kierkegaards WerkEn- twederOder, dessen OriginaltitelimDänischenEnten eller verändert wurde. „Eller

-— oller“ könnteman als „oder niemals“ins Deutsche übersetzen. Das italienische „Tante quanto“ heißtimDeutschen„sowohl als auch“.

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e' vero,é molto ben trovato?“(KM, 251).4In der letztenim Buch beschrie- benen Nacht kommtes also zum Tod des Erzählers. Der Verzicht auf das menschliche Leben, begleitet von einigen aphoristischen Anspielungen auf Existentialismus, führtzu einer Ding-Existenz: „Nur Dinge haben eine ma- kellose Gesundheit. Und Dinge, das haben wir nochzu Lebzeitenin allen Schulen gelernt, von der Häfeli- bis zur Hochschule, sind nicht tot.“

(KM, 259) Derzuzwei Dingen erstarrte Erzähler wendet sich kurz vordem Ende desTextes noch einmal an die Leser, um ihnen mitzuteilen, daß die von ihm geschaffene Fiktion genausozu einer Existenz berechtigt ist wie die Leser selbst: „Spielt nur schön miteinander: Kaufen und Verkaufen, Lieben undHasen, Gebären und Bestatten, Lachen und Weinen. Nur glaubt ja nicht, es sei dies auch nur von entferntester Relevanz, geschweige denn Evidenz. Oft, wenn ihr ein Buch aus der Hand legt, fragt ihr euch

—— und bildet euch obendrein noch was ein aufeuren Scharfsinn —: Mußte es denn geschrieben werden? Ihr habteuch kaum überlegt, daß auch das Buch zufragen das Recht hat:Mußte der Leser gelebt haben?Die Antwort lautet beide Male: Nichts Seiendesmuß müssen. Das Leben beginnt affirmativ, toi-toi-toi, und endet mit dem dreifachen Terminato-terminato-terminato.

Ihr dürft ein paar Sekunden lang staunen, das ist alles.“ (KM, 262) Das Bewußtmachen der Vorläufigkeit des menschlichen Seins wird auch zugleich durch das Aufheben des Fiktiven verstärkt. Die Handlung und der Erzähler sind keine konstantenWerte. Die fiktiveWelt geht unter,um hin- ter ihrem Untergangden Autor erscheinen zu lassen, der mit dieser Welt gespielt hat. DieStimme, die nachdem Sinn der Existenz des Lesers fragt, gehörtzum Autor, denman jedoch mit Hermann Burger nicht gleichsetzen darf. Dieser Autor ist eine fiktive GestaltinBurgersText. Die Aufdeckung des Autors läßt sich mitdem Ausgang des ersten Romans von Burger ver- gleichen. Der Bericht des Schulmeisters Schildknecht entpuppt sich als ei—

ne Fiktion von Peter Stimer,der aus therapeutischen Gründen einen litera- rischen Bericht verfaßt. In Schilten wird die Enthüllung des Autors sehr stark akzentuiert und erfolgt im „Nachwort des Inspektors“. In Der Künstlichen Mutter dagegen kommt diese Enthüllung des Autors nicht so deutlichzum Ausdruck.

1986 erscheint Blankenburg. Zustandsbericht eines Leselosen. Die Erzählung besteht aus 7 Briefen und einem Postscriptum. Ein Kranker schreibt an eine Gräfin und erhofft sich, daß sie ihn heilt. Die Gräfin ist zwar keine Ärztin, aber auch die Krankheitwäre in keinem medizinischen Lexikonzu finden. Der Autor der Korrespondenz ist an der Leselosigkeit

4 „senonévera,émolto ben trovato?“ heißt auf deutsch„wenn nichtwahr, ist aber sehr gut erfunden?“

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erkrankt. Er wurde durch einen Morbus Lexis angesteckt und hat seine Lesefähigkeit verloren.Im Textstößtman auf vieleVersuche des Erzählers, die Krankheitzudefinieren:es ist„eine synaptische Lautverschiebungim Körper“ (B, 32), „die De-profundis Legasthenie“(B, 32), „ein Baum- und Büchersterben im Kopf“ (B, 35), „eine impak_tierte Lesemorbidität“

(B, 80), „ein synaptischer Spalt“ (B, 76). Sie wird auch als eine „Buch- schneeblindheit“(B, 34) und eine „Naturtaubheit“(B, 34) bezeichnet. Die Leselosigkeit hat ihren Ursprungim Lesen selbst. Einezugroße DosisLe- sestoff verursacht einenSchaden: „Man liest sich den Morbus Lexisan,das istdas Ekelerregende, und wahrscheinlich sindes gerade die Gipfel derLi- teratur, an denen wiruns den Gehirnmagen verderben haben.“(B, 77) Der Kranke wendet sichanGräfin Fraukevon Fürstenfeldt, die das Lesen per- fekt beherrscht und die ihre Lebensweise auf diese Tätigkeit einzustellen weiß. In Blankenburg, ihrem Landsitz, hat sie eine Bibliothek mit Leseräumen eingerichtet.Die Gräfin hatden Leselosen nach Blankenburg eingeladen. Er soll „das kosmische Energiepotential der Weltliteratur“

(B, 136) in der Schloßbibliothek auf sich wirken lassen. Der Kranke kann leider der Einladung nicht folgen. Er muß gesund werden, und erst dann kann er sich der Blankenburgischen Kur unterziehen. Deshalb verläßt er sich auf einen brieflichen Kontaktmit der Gräfin. Er schreibt, sie liest. In dieser Schreibe-Lese-Beziehungentwickelt sich seine Therapie. „LesenSie mich heraus!“ (B, 50) bittet er die Gräfin.

Den Kern der Therapie bildet jedoch das Schreiben. Das Lesen wird sekundär. Der Schöpferdes Textes mußexistieren. Auf den Leser kann man verzichten, oderman kann sich ihn ausdenken. Auf die letzte Möglichkeit weistder Autor der Briefehin: „Schriebich zuerst Ihnen oderSie mir? Ist Blankenburgmeine oder Schruns-GrächenIhre Erfindung?“ (B, 87). Die Existenz der Adressatin wird also in Frage gestellt. Der Erzähler gewinnt seine Lesefähigkeit zurück, indem er in der Fiktion eine lesefreundliche Gestalt in einer lesefreundlichen Umgebung konstruiert. Das Vollenden dieser Konstruktion bedeutet Ankunftinder bibliophilenBurg: „StellenSie sich Blankenburgzu Ende vor und dann kommen Sie“ (B, 148), so lautet eine Empfehlung der Gräfin.Am Anfang der Erzählung erfahren wir,daß der Schreibende „selber einmal Buchstabe war“ (B, 29). Am Ende des fünften Briefes äußert er den Wunsch, ein Text zu werden und in dieser Form‘„in die Schloßbibliothek einzuzuziehen“ (B, 120). Diesem Wunsch gemäßist auch die Einladung der Gräfinzu verstehen: „Es ist ein eigent- licher Ruf, der an mich ergeht, Frauke von Fürstenfeld: sei, Buchstabe, werde Wort und finde zurück zur Schrift, aufdaß du nicht ausgetilgt wer- dest aus demBuch des Lebens“(B, 35). DasTextwerde_n des Leselosen be- deutet in diesem Zusammenhang also Gesundwerden.An dieser Stelleer- weitert sich der metaphorische“Begriff des Textes auf dieganze Welt, ins-

7 Nach den Zürcher Unruchen...

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besondere aufdenMenschen. Durch einenText wird einSinn gegeben.Sei—

nen eigenen Text aufbauen, heißt sich selbst schaffen, der eigenen Existenz eine Ordnung geben. Lesen würde dann bedeuten: Texte erkennen und ihren Sinn erschließen, oder anders formuliert, Menschen und die Natur verstehen. „Wir Umwelt—Legastheniker verlieren die Kraft und die Lust zum Wie-Sagen.“(B, 32) Mit diesenWorten bekennt sich der Leselose da- zu, daß seine Wahrnehmung der Natur gestört ist. Nur mit einer reichen Sprache kannman der Vielfalt der Natur beikommen.Wer die Umgebung bis auf die winzigsten Feinheiten benennenkann, eröffnet sichden Weg zu einer großen Lektüre. Deshalb.wird in der Therapie das komplette Grim- mische Wörterbuch mit Erfolg eingesetzt.

Eine therapeutische Geschichte geht der selbstmörderischen Aphoris- mensammlungBurgers voran. Der einleitendeText zu Tractatus logico-sui- cidalis (1988) ist eines großenTeiles der Fiktion beraubt, weildie Haupt- gestalt, der Schriftsteller, Hermann Burger heißt. Damites keine Zweifel gibt, um wen es geht, werden sogar Angabenaus dem Paß zitiert. Fiktiv und höchst literarisch bleibt das Arrangementder Situation,inderman den Schreibenden vorfindet. Er hielt sichim Bahnhofshotelin Göschenen auf, einem der Schauplätze des Romans Die Künstliche Mutter. Eines Abends ist er aus seinem Zimmer verschwunden. Auf seinem Kissen hat man Guy/Le Bonvivants Anleitungzum Selbstmord gefunden. Einheimischeha- ben gleich die Polizei alarmiert, weil sie sich vorstellten, daß Hermann Burgerden Freitod gewählt habe. Die Polizei hat mit der Suche nach der Leiche begonnen.Am nächstenMorgen hatman überraschenderweiseden Schriftstellerim Bahnhofsbuffet getroffen.Erhatdie NachtimZimmer der Serviertochter verbracht und war eben dabei, den nächtlichen Tumult um die eigene Person zu beschreiben. Die besorgten Einheimischen haben in seinem Zimmer auchden ßactatus logico-suicidalis gefunden. DieserText bestärkte sie in ihrer Überzeugung,daß der Schriftsteller Selbstmordbe- gangen habe. Ein psychiatrischer Berater war demgegenüber jedoch der Meinung, daß „wer sich so ausführlich überdie Selbsttötung auslassc, kaum mehrin derLage oderganz einfach nicht willens sei, die verruchteTat zu vollziehen;denn er bringe sichja [...] durchdas Geschriebene tausendfach um, entleibe und entselbste sich durch das Wort [...]“ (T, 13) Schreiben wirdzu einemVentil derzum Selbstmord drängendenDepres8ion.

Der „Tractatus“ wirdauch aufden Seiten des letzten großen Prosa-Pro- jekts Burgers unterdem Titel Brenner erwähnt. 1989erscheint Brunsleben, der erste Band des als Tetralogie geplantenRomanes. 1992 folgt Menzen- mang, ein ausdem Nachlaß veröffentlichtes Fragment des zweiten Bandes.

Der Hauptheld und ErzählerindiesemText heißt Hermann Arbogast Bren- ner und ist „ein Abkömmling der berühmten Cigarren-Dynastie Brenner Söhne AG im Aargauischen Stumpenland“(BB, 7). Er informiert den Le-

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ser, daß er seit mehreren Jahren an einer schweren Krankheit leidet. Sie wirdals „endogene Depression“ (EB, 95) bezeichnet. Die Quelle des Lei- dens befindet sich alsoin ihm selbst.Die Krankheit hindertihn daran, sich im Leben einzurichten. „Eine minime Lautverschiebung des Gehirns, ein biochemischer Druckfehler der geistigen Persönlichkeit verwandelt die ganze Lebensfreudein eine Ewigkeit des farblosen Nichtens“ (BB, 25), so erklärt er seinen Zustand, indem er sich einer neuen Prägung bedient. Das Hauptthema des Textes bildet jedoch nicht die Depression, sondern die Kindheit des Erzählers, deren Bilder sich beim Cigarrenrauchen kristalli- sieren. „Kann in aller Muße die edelsten Blätter rauchen, kann meiner Kindheit im Stumpenland nachhängen, wissend,daß der Mensch nur ein- malinseinem Leben ernsthaftdie Suche nach der verlorenen Zeit betreibt, dann, wenn seine Stunde unabänderlich geschlagen hat.“(BB, 231) so stellt Hermann Arbogast sein Anliegendar,und weist auf die Rolle des nahenden Todes in der Entstehung seiner Tabakblätter hin (als Tabakblätter bezeich- net Brenner seinen Text). Die kurze Lebenszeit, die ihm zur Verfügung steht, beeinflußt den Aufbau des Textes. Klittem heißt das Prinzip des Schreibenden. Der Roman wirdaus Gesprächen Brenners mit seinen bele- senen Freunden, Kindheitserinnerungen und sachbuchartigen Vorträgen zusammengestückelt. Der Erzähler hat keine Zeit für eine feinere Form.

Die therapeutische Funktion der Arbeit am Text für den Schreibenden ist nicht mehrsoeindeutigwie in früheren Prosawerken Burgers. Brenner gibt an, daß er seine Erinnerungsbilder nicderschreibt, „um sich kurz vor dem Ende [...] zu vergewissern, wer er war [...]“(BB, 114). Er betont, daß er mit seinem Klittem auf keine Heilung abzielt: „Die Auseinandersetzung mitden Erlebnissen, Ängsten und Träumen der ersten Jahre ist keinVerar- beitenim therapeutischenSinn. Sie muß eher als eine spezifische Form des Genußrauchens bezeichnet werden [...]“ (BB, 318). Brenner lehnt die Ge- sundheit als einen erstrebenswerten Zustand ab: „Freilich kann nur, wer auch gelitten hat, deklarieren, die Gesundheitsei der Güter höchstes nicht.“

(EB, 320) Das Bewußtsein,daß derTodunheilbar ist, zerstört jeden Grund des weiteren Lebens.Es heißt beiihm, „jede Stunde werde erdauert, indem man von einem Horror vacuiin den anderen falle.“ (BB, 55) Ein Arztun—

ternimmt jedoch eine Probe, den Geisteskranken mit Hilfe einer Schreib—

therapie zu retten: „Versuchen Sie sich IhrSyndrom dergestalt vonder Seele zu scheuchen,daß Sie mitzunehmender Ansprechbarkeitalleerdenklichen Details von der Zentralgarderobe mit den Krankenschwestemtrachten bis zur katholischen Sakristei, vonden technischen Vertiklasschächten bis zur Diätkiiche, von Reanimations —Kabäuschen bis zu den Kühlwassertanks sine ira et studio und selbstverständlich die Intensivstation wie die Prosek- tur inventarisierend in Ihrem Gehirn protokollieren. Als Endeffekt stellen wir uns nichts Geringeres als eine Public-relations-Schrift gegen denTod

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vor[...] Erschöpftvon soviel therapeutischer Innovation fielich ins Kissen zurück, aberim langsam sich enttrübenden Geist wollteich bereits wissen, was stapelt sich im Zentralmagazin, wie funktioniert die Sterilisations—

sabteilung, wie pharmakokulinarisch ist die Apotheke bestückt [...]“

(BM, 79) Eine Inventur derUmgebung unddas FesthaltenanDetails schei- nen der richtige Weg zu sein, den Kranken aus einer Orientierungskrise herauszuführen, wovondas Bedürfnisdes Wie-Sagembei Brenner zeugt.

Die Not des Schreibendenist ein Stimulus, der Schaffensprozeß eine Verteidigung, dasWerkistdas Ergebnis einesKampfes. Die Therapie kann aufzwei Ebenen verlaufen.Die erste Ebene,die man alsprimär bezeichnen kann, befindetsich in der Biographiedes Schreibenden.Die sekundäre bil- det das Reich der Fiktion. Der reale Prozeß hat sein Abbildim Text. Der von einer Krankheit befallene Schreibende findet seine Heilmethode im Schreiben.Das Schreibenist also einVersuch, sichvon einem Übel zu be- freien. Das Schema der autotherapeutischen Texte wurde zu einer Form Burgers, die mit verschiedenen Inhalten ausgefülltwird. Seine Gestalten äußern sich zu so verschiedenen Themen wie Pädagogik, Militär- und Hoch- schulwesen, Architektur, Geschichte, Rauchen, Medizin und vermissen dabei etwas, worauf sie sich verlassenkönnten. Es gibt keinen Gott, keinen Menschen, keinen Sinn, der eine Grundlage für ihre Existenz schaffen könnte. Das Einzige, worauf sie sich verlassen können, ist der Text, den sie selbst verfassen.Sie wehrensich auf dieseWeise gegendas Nichtsim Himmel und das Chaos aufder Erde. Ihre Texte sind ein Anker, mit dem sie am Leben festgemachtsind. Ihrer schriftstellerischen Tätigkeit liegt der faustischeGang zu den Mütternzugrunde. Sie begeben sich auf die Suche nachdenverlorenen Urbilderndes Lebens. Die BedeutungdesWerkes wur- de von Burger in einem Aphorismus verabsolutiert: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht: das Höchsteist das Werk, weil es die Zufälligkeiten der Existenzim Hegelschen Sinne aufhebt und überdauert.“(T, 69)

RobertRduch

Pisaniejako terapia——‘w posiukiwaniu zagubionego sensu

0 prozie Hermanna Burgen

Streszczenie

Autor artykulu wskazujenaautentyzmjako wainy element struktury tekst6wHerman—

naBurgera,dla ktöregoakt twörczy tomechanizmterapeutycznyok:eélajqcypostacie, pro- wadzace narracje.W tym ujeciu tekst literacki jest pröba wypelnieniä egzystencjalnej pu- stki, jakiej doéwiadcza narrator.

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Robert Rduch

Writing as atherapylookingforthe lost sense On Hermann Burger’s prose

Summary

The author of the article emphasises the autothemetic quality of Hermann Burger’s books, forwhom thecreativeact is atherapeutic mechanism that determinesthe characters that carryout the narration.From this point ofview, the literary textis an attempt of fill the existential void experienced bythe narrator.

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Nach den Zürcher Unruhen

Deutschsprachige Schweizer Literatur seit Anfang der achtziger Jahre

Konferenzbeitröge

Herausgegeben von

Zygmunt Mielczarek

Wydawnictwo Uniwersytetu Slqsklego

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i Katowice 1996

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