Theologisches Literaturblatt
U nter M itw irkung
z a h l r e i c h e r V e r t r e t e r d e r t h e o l o g i s c h e n W i s s e n s c h a f t u n d P r a x i s
herau sg eg eb en von
Dr. theol. L u d w ig Ih m els und Dr. theol., jur. et phil. Heinrich Böhmer
L andesbischof in D resden. P ro fesso r d e r Theologie in Leipzig.
Nr. 17. Leipzig, 17. August 1923. XLIV. Jahrgang.
E r s c h e in t v ie rz e h n tä g ig F r e ita g s . — B ez u g sp re is fü r d a s I n l a n d v ie r te ljä h rlic h 4000 Mk. — B ez u g sp re is f ü r d as A n s l a n d v ie r te ljä h rlic h S chw . F r . 6.—; f ü r d as ü b rig e
A u slan d g i l t d e r je w e ilig e U m re c h n u n g ssc h lü sse l d e r A u sse n h an d e lsn e b en ste lle . — A n z e ig e n p re is : d ie z w e ig e s p a lte n e P e titz e ile G ru n d z a h l 10 P f. m a l S c h lü sse lz a h l
des B .-Y. — B e ila g e n n a c h U e b e re in k u n ft. — V e rla g u n d A u s lie f e r u n g : L e ip z ig , K ö n ig s tr. 13. P o s ts c h e c k k o n to L e ip z ig N r. 52873.
J e s c h u h a -n o sri, E in h e b rä isc h e s L eb en J e s u
ein e s m o d e rn e n jü d is c h e n G e le h rte n .
Schmitz, O tto, D r., D as L e b e n sg e fü h l des P a u lu s .
Treitel, L u d w ig , D r., G esam te T h eo lo g ie u n d
P h ilo so p h ie P h ilo ’s v o n A le x a n d ria .
Plantico, D r. O tto , P o m m ersc h e R e fo rm a tio n s
g e sc h ic h te .
Nagel, G. F ., U n se re S te llu n g z u r s o g e n a n n te n
P fin g stb e w e g u n g .
Nägelsbach, F r ie d r ic h , D ., D er N am e G o ttes u n d
J e s u n a c h dem V e rstä n d n is u n d dem S p ra c h
g e b ra u c h d e r H e ilig e n S c h rift.
Llppert, P e te r S. J ., Die S a k ra m e n te C h ris ti.
Füllkrug, G e rh a rd , D ., B re n n e n d e F r a g e n der
E v a n g e lis a tio n u n d des c h ris tlic h e n V o lk s
le b e n s.
Ranft, F r a n z , D ie A n w e n d u n g d e r A r
b e its s c h u lp ra x is im k a th o lis c h e n R e li
g io n s u n te rric h t a n h ö h e re n L e h ra n
s ta l te n .
Wolgert, L eo, I n d e r A p o stelsch u le.
SchöpfT, K a rl u n d Vogel, W a lte r, E i n M enschen
fre u n d .
Strohmeyer, H a n s, Vom G e ist u n d W esen d e r
E r z i e h u n g s k u n s t.
Z u S ta n g e s B esp re c h u n g .
N eu este th e o lo g isch e L i te r a tu r .
Jeschu ha-nosri.
Ein hebräisches Leben Jesu eines modernen jüdischen Gelehrten.
Von Professor D. G e r h a r d K i t t e l in Greifswald.
III.
Anders liegen die Dinge bei dem letzten, achten Kapitel des ganzen W erkes, der D arstellung der L e h r e J e s u . H ier ist das Urteil zwar auch, wie bisher, durch die communis opinio des moder
nen W eltbildes bedingt, das eigentlich primäre Moment der U rteils
bildung aber ist in diesem Kapitel deutlich das Nationaljudentum des Verfassers. H ier erst kommt er zu jener Frage, um die es sich letzten Endes in dem ganzen Buch handelt und für die alles andre im Grunde nur Folie und Vorbereitung ist: „warum Jesu Lehre in der jüdischen Nation, von der er doch ausging, nicht angenommen wurde?“ (S. 395). Die E rörterung dieses Kapitels ist die Krone des ganzen W erkes. Hier steht der des W ertes jüdischer, nationaler und religiöser K ultur bewußte Jude der Lehre Jesu gegenüber, um kritische Musterung zu halten, was für sein Judentum als W ert und was als Unwert sich darstelle. So erhebt sich dieser Abschnitt zu der Höhe einer grundsätzlichen Gegen
überstellung zweier W eltanschauungen, der des Judentums und der des Neuen Testamentes, und aus der scharfen Gegenüber
stellung ergibt sich in der T at eine auch für den Nichtjuden w ert
volle klare Herausarbeitung des inneren Gegensatzes beider W eiten.
Daß hinter der K ritik ein Mann steht, der die Dinge ganz von seinem jüdischen Standpunkt aus sieht, macht sie naturgemäß ein
seitig (besonders kraß ist die Darstellung des Gottesbegriffes Jesu, S. 411 ff.). Auch bleiben exegetische Mißverständnisse und Ver
zerrungen nicht aus, weder im Ganzen noch im Einzelnen. Doch sei dem Verfasser zugestanden, daß er auch hier sich bemüht, sachlich zu bleiben, und daß seine Rede nicht unehrerbietig und sein Buch nicht zur Schmähung wird.
Nach vier verschiedenen Gesichtspunkten w ird die Stellung Jesu in ihrem Verhältnis zu den Anschauungen des Judentums untersucht: Stellung zum Ritualismus; Gottesbegriff; E thik;
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Eschatologie. Jedesmal ist das Ergebnis, daß seine Lehre eine Umbiegung des Judentums und eine Gefahr für dessen Bestand bedeutete, und daß darum für das Judentum die Annahme der Lehre Jesu unmöglich war. An sich war Jesus Jude, fühlte sich ganz als Jude und wollte nichts anderes sein. Jeder Gedanke, tjjfi Prophet für die Heiden zu sein, lag ihm völlig fern. Im Gegenteil, manche Züge in den Evangelien zeigen (z. B. Matth. 15, 21 ff.) gradezu ein chauvinistisches, extrem separatistisches Judentum.
Auch seine Polemik gegen die Pharisäer, an der manches berechtigt w ar (S. 399 oben), meinte zunächst nicht das von ihnen vertretene Judentum, sondern wollte nur rügen, daß sie so wenig dem, was sie vortrugen, nachlebten. Auch daß die Urgemeinde nicht daran dachte, sich vom Judentum zu trennen, beweist, wie wenig Nötigung in dieser Richtung sie von Jesus empfangen hatte, wie sehr Jesus bis zu seinem letzten Atemzuge Jude war und blieb (S. 3 9 7 — 401).
Aber: in seiner Lehre waren Ansätze, die über das Judentum hinaus- und von ihm fortführten.
Dem Ritualismus (S. 4 0 2 — 410) stand Jesus mit der Freiheit gegenüber, die ihm sein Messiasbewußtsein gab. Der Pharisäer, der nur Hausverwalter war, hatte nicht die Vollmacht, etwas von dem Überkommenen zu beseitigen. Jesus dagegen, als König des messianischen Reiches, trennte Altes und Neues und warf das Alte fort, Matth. 9, 16. Nicht daß er prinzipiell, auf Grund theoretischer Erwägung, die rituellen Gebote abschaffte; diese letzte Konsequenz aus seinen W orten zog er nicht. Wohl aber ließ er sie als so nebensächlich erscheinen, daß sie in W irklich
keit so gut wie abgeschafft waren. Damit aber konnte das Judentum sich nicht abfinden. „Das Gesetz w ar für Israel mehr als eine Religion allein und mehr als eine E thik allein. Es w ar für Israel der W eg des Lebens. Die praktische Religion verkör
pert die religiösen Ideen und umgibt das tägliche Leben mit den Wolken der Herrlichkeit der Religion.“ Indem Jesus das Gesetz abschaffte, ohne ein neues an seine Stelle zu setzen, vernichtete er das Leben der Nation. Gewiß hatten die Rabbinen die Zeremonial-
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