EUROPÄISIERUNGSTENDENZEN IN DEN NATIONALEN RECHTSORDNUNGEN AM BEISPIEL VON DEUTSCHLAND UND POLEN
Schutz des ungeborenen Lebens im polnischen und deutschen Recht
Das Projekt wurde im Rahmen des
Operationellen Programms Humankapital
Maßnahme 4.1.1 realisiert
Mag. Magdalena Debita
Universiät Breslau
Lehrstuhl für Politik und Recht
Vortragsthesen
• In Polen liegt ein restriktives Exempel für den Schutz des ungeborenen Lebens vor, das kommt insbesondere durch den eingeschränkten Katalog der Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines legalen Schwangerschaftsabbruchs zum Ausdruck.
• Die deutschen Rechtsbestimmungen sind in dieser Hinsicht wesentlich liberaler als die polnischen Vorschriften, das wirkt sich auch auf den Umfang des Schutzes des ungeborenen Lebens in beiden Ländern.
• Der Umfang des gesetzlichen Schutzes des ungeborenen Lebens
veränderte sich im Laufe der Zeit sowohl in Polen, als auch in
Deutschland teilweise sehr stark.
Rechtsgrundlage
Verfassung der Republik Polen, Art. 38;
Zivilgesetzbuch;
Strafgesetzbuch;
Gesetz über den Beruf des Arztes und des Zahnarztes;
Gesetz über die Leistungen des mit öffentlichen Mitteln finanzierten Gesundheitswesens;
Gesetz über das Informationssystem im Gesundheitswesen;
Gesetz über Familienplanung, Schutz des menschlichen Embryos und die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs;
Gesetz über die Behandlung der Unfruchtbarkeit.
Verfassung der Republik Polen
• Art. 38 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:
„Die Republik Polen gewährt jedem Menschen den rechtlichen Schutz des Lebens”.
• Im Rechtsdiskurs spielen auch die folgenden Artikel der Verfassung der Republik Polen eine Rolle: Art. 30 - „Würde des Menschen“, Art. 32 und 33 - „Grundsätze der Nichtdiskriminierung“, Art. 38 - „das menschliche Leben“, Art. 47 in Verbindung mit Art. 18 - „Privat- und Familienleben“ sowie „Schutz des Lebens“, Art. 79, Abs. 1 -
„Schutz der Freiheiten und Rechte“.
Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs
1) die Schwangerschaft bedroht das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren, 2) medizinische Untersuchungen bestätigten mit hoher Wahrscheinlichkeit das
Bestehen schwerer und irreversibler Beschädigung oder unheilbare, lebensbedrohende Krankheit des Embryos,
3) Es besteht der begründete Verdacht, dass die Schwangerschaft die Folge einer Straftat ist.
• Für eine kurze Zeit gab es eine vierte Möglichkeit, die Schwangerschaft durfte
abgebrochen werden, wenn sich die Schwangere in einer schwierigen
Lebenslage oder einer schwierigen persönlichen Situation befand. Diese
Voraussetzung wurde jedoch als verfassungswidrig erklärt und aus der
Rechtsordnung entfernt.
Rechtliche Situation des Embryos in Polen auf der Grundlage der Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs
• Art. 446
1Das Kind hat mit der Geburt den Anspruch auf
Schadensersatz für die noch vor der Geburt erlittenen Schäden.
„Art. 446
1bestätigt diese These, indem er dem Kind, beginnend mit seiner Geburt, das Recht auf Wiedergutmachung pränataler Schäden zuspricht. Dabei handelt es sich um selbständige Ansprüche des Kindes, kennzeichnend hierfür ist also die Unabhängigkeit von möglichen Schadensersatzansprüchen der Mutter oder anderer, dem Kind gegenüber unterhaltspflichtiger Personen. Trotz gewisser Schwankungen muss angenommen werden, dass sich die im Art. 446
1genannten pränatalen Schäden auch auf die Schäden am Kind beziehen, die Folge von Ereignissen sind, die noch vor seiner Zeugung stattfanden (z. B. durch ungeeignete Behandlung der Mutter). Ein pränataler Schaden bezieht sich sowohl auf materielle, als auch immaterielle Nachteile. ”
Ciszewski Jerzy (Red.), Zivilgesetzbuch. Kommentar, Verl. II, Warszawa 2014
Rechtliche Situation des Embryos in Polen auf der Grundlage der Bestimmungen des Strafgesetzbuchs
Art. 152. [Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung der Schwangeren] § 1. Wer mit Einwilligung der Schwangeren, jedoch unter Verletzung der gesetzlichen Vorschriften ihre Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bestraft.
§ 2. Ebenso wird bestraft, wer der Schwangeren bei einem gegen die gesetzlichen Vorschriften verstoßenden Abbruch ihrer Schwangerschaft Hilfe leistet oder wer sie zu einem solchen Schwangerschaftsabbruch veranlasst.
§ 3. Wer die Taten im Sinne der §§ 1 oder 2 zu einem Zeitpunkt begeht, in dem das gezeugte Kind bereits die Fähigkeit erlangt hat, ein selbständiges Leben außerhalb des Körpers der Schwangeren zu führen, wird mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 8 Jahren bestraft.
Art. 153. [Erzwungener Schwangerschaftsabbruch] § 1. Wer durch Gewaltanwendung gegen eine Schwangere oder auf andere Weise ohne ihre Einwilligung die Schwangerschaft abbricht oder wer unter Anwendung von Gewalt, rechtswidriger Drohung oder Arglist die Schwangere zum Abbruch der Schwangerschaft veranlasst, wird mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 8 Jahren bestraft.
§ 2. Wer die Taten im Sinne der § 1 oder 2 zu einem Zeitpunkt begeht, in dem das gezeugte Kind bereits die Fähigkeit erlangt hat, ein selbständiges Leben außerhalb des Körpers der Schwangeren zu führen, wird mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren bestraft.
Art. 154. [Tod der Schwangeren in Folge des Schwangerschaftsabbruchs] § 1. Hat die Tat im Sinne des Art. 152 §§ 1 oder 2 den Tod der Schwangeren zur Folge, wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren bestraft.
§ 2. Hat die Tat im Sinne des Art. 152 § 3 oder 153 den Tod der Schwangeren zur Folge, wird der Täter mit Freiheitsstrafe von 2 bis zu 12 Jahren bestraft.
Gesetz vom 25. Juni 2015 über die Behandlung der Unfruchtbarkeit
• Embryo - Gruppe von Keimzellen, die infolge einer extrakorporalen Verbindung der weiblichen mit der männlichen Keimzelle entstanden ist, gilt für den Zustand ab der Beendigung der Verschmelzung der Zellkerne (Karyogamie) bis zur Einnistung in der Gebärmutterschleimhaut;
• Keimzelle - männliche (Samenzelle) oder weibliche (Eizelle) menschliche Keimzelle, die in der medizinisch unterstützten Fortpflanzung genutzt wird;
• Hybride - Zelle oder Gruppe von Zellen, die aus einer Keimzelle und einer
tierischen Keimzelle entstanden ist bzw. sind.
Rechtsprechung
Urteil des Verfassungsgerichts vom 28. Mai 1997, Aktenzeichen K. 26/96, OTK ZU 1997, Nr 2, Pos. 19;
Urteil des Verfassungsgerichts vom 23. März 1999, K 2/98, Amtsblatt 1999, Nr. 26, Pos. 242; Urteil des Verfassungsgerichts vom 8. Oktober 2002, Aktenzeichen K 36/00, Amtsblatt 2002, Nr. 176, Pos. 1457;
Beschluss des Obersten Gerichts vom 22. Februar 2006, III CZP 8/06, OSNC 2006, Nr. 7-8, Pos. 123;
Urteil des Obersten Gerichts vom 6. Mai 2010, II CSK 580/09, OSP 2011, Nr. 2, Pos. 13, S. 81.
Die Richter des Verfassungsgerichts vertraten im Jahr 1999 die Meinung, dass der im Art. 38 der Verfassung der Republik Polen enthaltene Schutz des menschlichen Lebens auch auf die Phase der embryonalen Entwicklung auszuweiten ist, obwohl dem genannten Schutz keine absolute Geltung verliehen wurde. Der Standpunkt der Richter des Verfassungsgerichts bezog sich insbesondere auf die Stärkung des rechtlichen Verbots der Manipulation mit Embryonen im Zusammenhang mit der steigenden Bedeutung von pränatalen Untersuchungen und der künstlichen Befruchtung.
Die Richter des Obersten Gerichts haben mit dem Urteil vom 22. Februar 2006 entschieden, dass es sich bei der Geburt eines Kindes um eine gesellschaftlich wertvolle Maßnahme handelt, auch wenn die Schwangere daran gehindert wurde, eine infolge einer Straftat entstandene Schwangerschaft abzubrechen. Die Tatsache dieser Geburt befreit weder die Frau noch die Eltern von ihrer Pflicht, für den Unterhalt des Kindes aufzukommen und es zu erziehen.
Statistiken über legal in Polen in den Jahren 2002-2014 durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche
EINZELNE JAHRE ANZAHL DER LEGAL DURCHGEFÜHRTEN, GEMELDETEN SCHWANGERSCHAFTSABBRÜCHE
2002 159
2003 174
2004 193
2005 225
2006 339
2007 326
2008 499
2009 538
2010 641
2011 669
2012 752
2013 1 354
2014 1 812
Tabelle 1. Statistiken über legal in den Jahren 2002-2014 durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche in Polen
Quelle: Eigene Bearbeitung anhand: Erfahrungen der Polinnen mit Schwangerschaftsabbrüchen, CBOS, Warszawa 2013, S.
3; In Polen wächst die Zahl der legal durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche. (Anti)Effekt des Hr. Chazan, verfügbar auf der Website: http://polska.newsweek.pl/aborcja-w-polsce-ile-dokonuje-sie-zabiegow-aborcja-legalna,artykuly,360388, 1.html (vom: 13.04.2016).
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Artikel 1, Absatz 1
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Artikel 2 Absatz 2
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf
nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (1871)
§. 218.
Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.
§. 219.
Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren,
welche ihre Frucht abgetrieben oder getötet hat, gegen Entgelt die Mittel
hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.
Gesetzgebung in den Jahren 1990 -1995
Im deutschen Rechtssystem wurde zu Beginn der 90 Jahre eine lex
imperfecta-Rechtsnorm formuliert, also ein Gesetz dessen Verletzung mit
keinerlei Strafsanktionen bedroht ist. Ab dem Jahr 1995 trat ein neues
Gesetz in Kraft, die Schwangeren durften den Schwangerschaftsabbruch
auch dann vornehmen lassen, wenn er im ersten Drittel der
Schwangerschaft erfolgte. Grundlegende Voraussetzung dafür war, dass
sich die Schwangere hat vorher ärztlich beraten lassen und der Abbruch
von einem Arzt vorgenommen wurde, weiter mussten nach dem
Beratungsgespräch mindestens 3 Tage verstreichen, bevor die
Behandlung durchgeführt werden durfte. Gleichzeitig enthielt § 218 StGB
eine Strafsanktion, der illegale Schwangerschaftsabbruch war mit max. 3
Jahren Freiheitsentzug oder Geldstrafe bedroht. Für besonders schwere
Fälle war Freiheitsentzug von 6 Monaten bis zu 5 Jahren vorgesehen.
Gesetz zum Schutz von Embryonen
§ § 1-2 des Gesetzes sieht für die gesetzwidrige Tat in Form des Transfers von nicht befruchteten Eizellen mit dem Ziel der Befruchtung, des unbefugten Eingreifens in die Entwicklung des Embryos vor dem Einsetzen dieses Embryos in die Gebärmutter der Frau, aber auch für dem Verkauf eines Embryos, eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor, die gleiche Strafe gilt beim Versuch, eine dieser Taten zu begehen.
§ 3 des Gesetzes sieht für sämtliche Maßnahmen, die der künstlichen Eingreifen in
das Chromosomensystem der Eizellen für die Wahl des Geschlechts oder der
Eigenschaften eines Kindes dienen, eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder
Geldstrafe vor, ausgenommen davon sind die Eingriffe in die Auswahl von Zellen,
die von einem Arzt bei dem Verdacht auf schwere genetische Krankheiten oder
Muskeldistrophie vorgenommen werden.
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
• Urteil des BVerfG vom 25. Februar 1975, BVerfGE T. 39, S. 1 und nachfolgende
• Urteil des BVerfG vom Freitag, 28. Mai 1993, BVerfGE T. 88, S. 203 und nachfolgende
„Der Umfang des Schutzes des ungeborenen menschlichen Lebens ist einerseits
unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung und der Angemessenheit für den Schutz
eines rechtlichen Interesses, andererseits mit Berücksichtigung der damit
kollidierenden anderen rechtlichen Interessen zu bestimmen. Dabei handelt es sich
um solche rechtlichen Interessen, wie das Recht einer Schwangeren auf Schutz und
Achtung ihrer menschlichen Würde. (...) Demnach muss es [Situationen] geben, in
denen die eigenen Werte im Leben in einem Umfang geopfert werden müssten, der
von der Frau nicht erwartet werden kann.“
Statistiken über legal in Deutschland in den Jahren 2002-2014 durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche
EINZELNE JAHRE ANZAHL DER LEGAL DRUCHGEFÜHRTEN, GEMELDETEN
SCHWANGERSCHAFTSABBRÜCHE
2002 130 387
2003 129 300
2004 129 650
2005 124 023
2006 119 710
2007 116 871
2008 114 484
2009 110 694
2010 110 431
2011 108 867
2012 106 815
2013 102 802
2014 99 715
Tabelle 2. Statistiken über legal in den Jahren 2002-2014 durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland
Quelle: Eigene Bearbeitung anhand: R. Johnston, Historical abortion statistics, FR Germany, verfügbar auf der Website: http://www.johnstonsarchive.net/policy/abortion/ab-frgermany.html (vom: 13.04.2016).
Vergleich der Voraussetzungen für den
Schwangerschaftsabbruch in Polen und in Deutschland
POLEN DEUTSCHLAND
1. Die Schwangerschaft ist eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren
1. Die Schwangerschaft ist eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren
2. Es wurden eine hohe medizinische Wahrscheinlichkeit für eine schwere und irreversible Behinderung des Embryos oder eine unheilbare Krankheit, die das Leben des Embryos bedroht, festgestellt
2. Objektive medizinische Feststellung einer schweren Beschädigung des Embryos
3. Es besteht der begründete Verdacht, dass es zu der Schwangerschaft aufgrund einer Straftat gekommen ist
3. Es besteht der begründete Verdacht, dass es zu der Schwangerschaft aufgrund einer Straftat gekommen ist
4. „Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen”
einer Schwangeren bis zur 12
Schwangerschaftswoche, sofern die Schwangere eine entsprechende Willenserklärung abgegeben und vorher die medizinische Beratung in
Anspruch genommen hat, der Abbruch darf nur von einem Frauenarzt nicht früher als 3 Tage nach der medizinischen Beratung vorgenommen werden
Tabelle 3. Voraussetzungen für den legalen Schwangerschaftsabbruch in Polen und Deutschland – Gegenüberstellung
Quelle: Eigene Bearbeitung auf der Basis zuvor vorgestellten Analysen der polnischen und deutschen Rechtsbestimmungen.