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Jahrbuch für Soziologie. Eine internationale Sammlung, 1925, Bd. 1

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J A H R B U C H F Ü R S O Z I O L O G I E

Eine internationale Sammlung

Erster Band

H e rau sg e g e b e n von Dr. G. S a lo m o n a. o. Prof. an der Universität Frankfurt a. M.

1 9 2 5

V E R L A G G. B R A U N I N K A R L S R U H E

(6)

Copyright by G. BRAUN

vorm. G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag G. m. b. H.

Karlsruhe i. B.

1925

Druck von G. Braun G. m, b. H. in Karlsruhe

(7)

Inhaltsverzeichnis

V o r r e d e des He r aus g e be r s . , 1

Soz i ol og i e und E rk e n n tn isk ritik .

Von Prof. M A X A D L E R (W ien )...4

W issenschaftsgeschichtliche und erkenntnistheoretische Grundlagen der Soziologie.

Von Prof. C A R L BRIN K M A N N (H e id e lb e r g )...35 D ie p h ilo so p h isch en T e n d e n z e n d er S o z io lo g ie E m ile D ü rkh eim s.

Von Prof. C. BO U G Lfi ( P a r i s ) ... 47 Die Beziehungen der Soziologie zur Sozialpsychologie.

Von Prof. C H A R L E S A. ELLWOOD (Missouri) . . . . 5 3 Soziologie des S taates. Begriff und Methode.

Von Prof. F R A N Z O PPE N H E IM E R (Frankfurt a. M.) . . 64 Soziologische Jurisprudenz in Am erika.

Von Prof. RO SCO E POUND (Harvard) . . 88

Staatsauffassungen. Eine Skizze.

Von Prof. H ERM AN N K A N T O R O W IC Z (Freiburg i. Br.) . 101 Einheit als Geschehen.

Von Prof. K U R T B R E Y S IG (Berlin) . . . . . . 115

D e r sä k u la re R h yth m u s der G e sc h ic h te ,

Von Prof. K A R L J OeL (B a s e l)... 137

R ich tlin ie n für das S tu d iu m des F o rtsc h ritts und d er so zialen E n t­

w ic k lu n g.

Von Prof. FE RD IN A N D TÖNN IES (K ie l) ... 166 Soziologische und geschichtsphilosophische Methode dargestellt am

B e isp ie l v o n L a za ru s und R a tzen h o fer.

Von Prof. L U D W IG STE IN (B e r lin )...222

M aßstäbe der Überlegenheit und des Fortschritts einer Zivilisation.

Von Prof. A L F R E D O N ICEFO RO ( N e a p e l) ... 239 Anthropologie und Geschichtswissenschaft.

Von Prof. H A R R Y E. B A R N E S (New-York) . . 257

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Die soziale Funktion der Kunst.

Von Prof. H A N S T IE T Z E (W ien) . . . . 2 8 0 M aterialien zu einer Soziologie des Fremden.

Von Prof. R O B E R T M IC H E L S (Basel) . . 296 Das A ussterben der adeligen G eschlechter.

Von Prof. F. SA V O R G N A N ( M o d e n a ) ... 320 Soziologie und Sozialpolitik. Kurzgefaßte Bemerkungen über die

Grenzen der Sozialpolitik.

Von Prof. R O B E R T W IL'B R A N D T (Tübingen) . . . . 341 Fourier und die Lohnarbeit.

Von Prof. C H A R L E S GIDE ( P a r i s ) ... 352 Die Lösungen des sozialen Problems und das Eindringen des Sozia­

lismus.

Von Dr. C H R IS T IA N C O R N S L IS S E N (Paris) . . . 3 6 4 Soziale Typen oder soziale K lassen?

Von Prof. G. L. D U PR A T (Genf) . - 378

(9)

Vorrede des Herausgebers

D ie H erau sg ab e d ie se s Ja h rb u c h s h a t la n g e r V o rb e re itu n g e n b e ­ d u rft. P o litisc h e und ökonom ische V e rh ä ltn isse v e rz ö g e rte n d ie V e r ­ öffen tlichung. V ie le A n n ah m en und V e rsp rec h u n g e n h ab e n sich n ich t e rfü llt, und sc h lie ß lic h ist d ie F orm , in d e r es nun ersch e in t, n ich t d ie u rsp rü n g lich g e p la n te . Es h a n d e lte sich m ir d aru m , d ie Iso lie ­ ru n g d e r d eu tsch en W issen sch a ft au fh eb en zu h elfen , in te rn a tio n a le Z u sam m en arb eit w ie d e r zu erm ö g lich en , w ie sie sich in d en N atu r­

w issen sc h aften infolge ä u ß e re r D rin g lich k eit und b e s s e re r O rg an isa­

tio n b e re its an b ah n te.

In d ie S o z ia lw isse n sc h a fte n sp ie lt n a tü rlic h d ie P o litik h in ein . A b e r g e rad e d ie p o litisch en B indungen und B eein flu ssu n gen so llten d urch A u se in an d e rse tz u n g d e r a k tu e lle n und h isto risch en P ro b lem e b ew u ß t und v e rg lic h e n w e rd e n . Es g ilt e in e Z u sam m en arb eit au ch auf dem G e b ie te d e r S o z ia lw isse n sc h a fte n zu erm ö glich en . D er ü b e r­

n a tio n a le G ed an k e e in e r g e istig e n E in h eit, w e lc h e E uro p a und A m e ­ r ik a um faßt, tr itt in d e r w issen sc h aftlic h en Z u sam m en arb eit w ie d e r h e rv o r. D iesem Z w eck e so ll d ie V e ra n sta ltu n g g e g e n se itig e r K en n t­

n isn ah m e und A u ssp ra c h e d ien en . D ie g e istig e Z u sam m en arb eit g le ic h t ein em K onzert, in stru m e n tie rt von d en Stim m en d e r V ö lk er, d as d u rch P ro b en in sein em h arm o n isch -rh yth m isch en Z usam m en­

k la n g g efö rd ert w ird .

G e rad e d as a k tu e lls te G eb iet, d ie So zio lo g ie, sch e in t g eeig n et, d ie E n tgeg en setzu n g en und Z usam m enhänge d e r S o z ia lw isse n sc h a f­

te n in d en v e rsc h ie d e n e n L än d ern d a rz u ste lle n . H ier treffen sich R ec h ts-, S ta a ts -, G esch ich ts- und G eistesw issen sch a ften . H ier is t ein n e u e r S ta n d o rt g egeb en , indem d e r u n sich er g ew o rd en e B oden h e u tig e n p o litisch en und k u ltu re lle n L eb en s in s e in e r P ro b le m atik b e k a n n t und e r k lä r t w ird . W e itg re ife n d e r a ls d as „ Ja h rb u c h für P h ilo so p h ie“, d as vo r dem K rie g e ersch ien , k a n n ein „ Ja h rb u c h für S o z io lo g ie “ sein . Es g en ü gt n ich t, ein en ein z eln en M ita r b e ite r ü b er d ie R ich tu n g en und E rgeb n isse ein es en g eren G eb iets b e ric h te n zu la s s e n . D ie g le ic h - und a n d e rsa rtig e n P ro b lem e tr e te n n u r h erv o r, w en n p ro m in en te V e r tr e te r v e rsc h ie d e n e r V ö lk e r ü b e r d asse lb e T h em a h an d eln . D iesem Z w eck e kö n n en (m. E.) M o n atssc h riften u n ­ v o llk o m m en er d ien en a ls g rö ß e re V erö ffen tlich u n g en . Ich h ab e d aru m v e rsu c h t, d urch K orrespondenz, au f R e ise n und in B e sp re ­ ch un gen e in e Z u sam m en arb eit zu stan d e zu b rin gen und n ach M ög-

Jahrbuch Soz. I I

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lic h k e it von v e rsc h ie d e n e n S e ite n d a sse lb e T h em a b e a rb e ite n zu la sse n . D ab ei h ab e n sich A b te ilu n g e n e rg e b e n : P sych o lo g ie, J u r is ­ pruden z, H isto rie, Ö konom ik und T h em en w ie : K lasse, F o rtsch ritt, V e rh ä ltn is d e r W isse n sc h a fte n u sw . Ich hoffe, d aß sich m ein P la n in d en sp ä te r e n Ja h rb ü c h e rn v o llk o m m en er v e rw irk lic h e n w ird , indem d ie v e rsc h ie d e n e n A b te ilu n g e n d e r S o z ia lw isse n sc h a fte n d e u tlic h a b ­ g e g re n z t und je d e A b te ilu n g durch ein allg e m e in e s V o rw o rt e in g e ­ le ite t w ird . A u ß e rd e m so llen Ü b e rb lic k e ü b er d ie F o rtsc h ritte d e r G e b ie te in d en v e rsc h ie d e n e n L än d ern e rsc h e in e n und B e iträ g e , d ie d u rch A u sta u sc h auf e in a n d e r ab g estim m t sind, b estim m te T hem en a u ssc h lie ß lic h b eh an d eln . Z unächst w a r es w ic h tig e r, c h a r a k t e r i­

stisch e B e itr ä g e zu b rin g en und d u rch d ie an g efü g ten S c h rifte n v e r­

z e ich n isse allm ä h lic h ein e b e sse re K enntnis d e r L ite r a tu r zu geb en . D as W isse n sc h a ftsg e b ä u d e is t im U m bau b eg riffen . D ie h isto ­ risc h e F ä c h e re in te ilu n g sch e in t n ich t m eh r gan z h a ltb a r. M an ch e G e b ie te w ie G esch ich tsp h ilo so p h ie und K u ltu rg e sc h ich te , R e c h tsp h i­

lo so p h ie und P o litik a ls W isse n sc h a ft sind d u rch d as o ffizielle F ä c h e rw e se n v e rk ü m m e rt. D urch d ie s ta a tlic h e A b z w e c k u n g d es H o ch sch u lu n terrich ts sind v ie le P ro b lem e, d ie ü b er d ie E in z elw issen ­ sch aft h in au sg eh en , P riv a tle u te n , D ille tta n te n und O utsidern, ü b e r­

la sse n w o rd en . D er „G eist d e r Z e it“ is t d aru m in d e r z w e ite n H älfte des 19. Ja h rh u n d e rts zunehm end von ,,fre ie n " S c h riftste lle rn b estim m t. Die H ochschulen w e rd e n ih re n E influß e rs t w ie d e r g e ­ w in n en , w en n sie im S in n e ih r e r B estim m un g d en b ish e r v e rn a c h ­ lä ssig te n G eb ieten m eh r F ü rso rg e an g ed eih e n la s s e n und d ie U n iv e r­

s a litä t, w e lc h e d ie P h ilo so p h ie ein m al b esaß , w ie d e rg e w in n e n . D ie n eu e R ich tu n g , d ie d ie se U n iv e rs a litä t a n stre b t, führt d en N am en

„ S o z io lo gie". D ie P h ilo so p h ie is t ein e sch o lastisc h e W issen sch a ft d e r L o gik und P sych o lo g ie g ew o rd en , ih re e ig e n tlic h e n P ro b lem e sind in d ie E in z elw issen sch a fte n a b g e w a n d e rt. W ir g la u b en d ie G e­

sch ich te, in d e r R e lig io n und M o ral, R e c h t und W irtsc h a ft ein e E in­

h e it b ild en , n ich t m eh r zu b e g re ife n au s ein em tran sz e n d e n te n od er o b je k tiv e n G eist, w ie es d as le tz te gro ße p h ilo so p h isch e S y ste m , d e r H eg elian ism u s, ta t, w ir such en d ie R e a litä t d ie se s G e istes in so zia­

le n P ro z essen und In stitu tio n en . D er „So zio lo gism us", d ie H e rle i­

tung und B egrün d un g d e r g e istig e n S p h ä re au s d e r g e se llsc h aftlic h e n , lö st d en H isto rism us ab und b estim m t d ie W isse n sc h a ftsp ro b le m a tik . D er G egen satz P o sitivism u s und Id ealism u s b estim m te d as 19. J a h r ­ h u n d ert, D ie so zio lo gisch en „ K la ssik e r" : C om te, S p e n c e r und W a r d und ih re E pigonen w a re n P o sitiv iste n . D ie A u se in a n d e r-

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3

Setzung m it dem M arx ism u s bestim m t d ie n eu e S o zio lo g ie se it dem E nde d es 19. Ja h rh u n d e rts : T önnies und S im m el, M a x W e b e r und O ppenheim er, D ürkh eim und S p an n . G e sam tw isse n sch aften w e rd e n durch ein en S tan d p u n k t b estim m t, d e r ein en w e lta n sc h a u lic h e n und z e itg e sc h ic h tlic h e n S in n h at. D eutlich h eb t sich d avo n ab d as en ­ g e re G eb iet e in e r W isse n sc h a ft d e r So zio lo g ie, d ie lo gisch od er p sych o lo gisch U rsa ch en und G esetz e, T yp e n und M itte l, T rie b e und B ezieh u n gen erfo rsc h t und au f ein em b estim m t b eg ren zten G eb iete, g an z en tsp re ch en d d en philo so p h isch en R ich tu n g en d e r Z eit, d as M a te r ia l o rd n et.

Es ist n ich t m ein e A b sic h t, ein e „ re in e " S o zio lo g ie zu b evo rzu g en und d a rü b e r d en Z usam m enhang und d ie Z usam m enfassung d e r S o ­ z ia lw isse n sc h a fte n in d e r S o zio lo g ie zu v e rn a c h lä ssig e n . Es kom m t v ie l­

m ehr d a ra u f an, d en So zio lo gism us zu zeigen , R e c h ts- und G e- sch ich ts-, K u ltu r- und R e lig io n sw isse n sch aft u n te r soziologischem G esich tsp u n k t. D arum w e rd e n B e itr ä g e e rsch e in e n ü b er d ie sozio­

lo g isch e Iu risp ru d en z und d ie A u se in an d e rse tz u n g m it d e r rein en R e c h tsle h re , ü b e r d ie s o z ia llite ra ris c h e M eth o d e und den sozio lo gi­

sch en G eh alt d es M arx ism u s u sw ., w ie es sich au s d e r A n kün d igun g d es z w e ite n Ja h rb u c h s e rseh e n lä ß t. D iesen J a h rb ü c h e rn is t an g e ­ g lie d e rt e in e „ B ib lio th ek d e r S o zio lo g ie und S o z ia lp o litik ” , in d er zu n äch st R o d b e r t u s : „N eue B r ie fe “ und B a z a r d : „ S t. Sim ons L e h re “ ersch e in e n , in V o rb e re itu n g sind a u to ris ie r te Ü b ersetzu n gen von R o s s : „ P rin cip les of so cio lo g y“, E l l w o o d : „ P sych o lo g y of hum an s o c ie ty “, C o m m o n s : „ L eg al foundation of c a p ita lism " , V e b 1 e n : „T h eo ry of th e le is u r e d a s s “, H o b h o u s e : „ S o c ial d ev elo p m e n t“ , M o s c a : „ P o litik a ls W isse n sc h a ft“ , W e r k e von B o u g l e , M o n d o l f o , S m a l l u sw . Es sind p rin z ip ie ll n ur A u to re n g ew ä h lt, d ie c h a ra k te r is tis c h für d ie W issen sch a ft ih res L an d es sind und d e re n W e r k e in und n ach dem K riege, t e il­

w e ise g le ic h z e itig m it d e r au slän d isch e n A u sg a b e ersch ien e n sind und ersch ein en .

Ich b ra u c h e am S ch lu ß n ich t auf d ie S c h w ie rig k e ite n , v o r allem d e r Ü b ersetzu n g, h in zu w eisen und m öchte n u r F rä u le in Dr. E lse M ü lle r für ih re H ilfe und H errn Dr. F rie d ric h B ran , dem V e rle g e r, für sein E ntgegenkom m en d an k en . D as e rs te und z w e ite Ja h rb u c h sind zusam m en geh ö rig, d a d ie F ü lle d e r B e iträ g e ein e T eilu n g n o t­

w en d ig ersch e in e n lie ß .

G o t t f r i e d S a l o m o n.

i*

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Soziologie und Erkenntniskritik

Einleitung zu einer erkenntniskritischen Grundlegung der Soziologie von M ax A d l e r (W ie n )

L Die W issenschaft, welche sich Soziologie nennt, hat bis jetzt noch kein unbestrittenes Bürgerrecht im Reich der wissenschaftlichen For­

schung. Zumeist tritt die G elehrtenwelt ihr in einer Stimmung entgegen, die man mit den W orten ausdrücken kann: ,,Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube". Und in der T at erscheint das W ort „Sozio­

logie“ mehr das P r o g r a m m e i n e r W i s s e n s c h a f t zu bezeichnen, als deren w irkliche Ausführung. Es gibt wohl auf keinem Gebiete wissen­

schaftlicher A rbeit eine solche U m strittenheit alles dessen, was zu den Ele­

menten einer W issenschaft gehört w ie auf dem der Soziologie. Bestritten ist nicht nur die Methode, nach w elcher hier zu arbeiten ist, ob induktiv oder deduktiv, nicht nur die Gesetzmäßigkeit, welche sie aufzuzeigen hat, ob kausal oder normativ, sondern bestritten ist vor allem s o g a r d e r G e g e n s t a n d d i e s e r W i s s e n s c h a f t . Und dieses letztere ist nicht etw a nur in dem Sinne zu verstehen, daß über den Gegenstand der Soziologie verschiedene Anschauungen bestehen, wonach die einen in ihr eine bloß formale W issenschaft erblicken, die anderen aber ihr aus der synthetischen Bearbeitung der sozialen Einzelwissenschaften einen sach­

lichen Inhalt geben wollen; sondern es wird sogar bestritten, daß hier ü b e r h a u p t e i n G e g e n s t a n d vorliegt, der wissenschaftlicher Be­

arbeitung unterzogen werden könnte, so daß der ganze Problem kreis der Soziologie überhaupt keine eigentliche Grundlage hätte. Denn dieser an­

gebliche Gegenstand der Soziologie, die „Gesellschaft“ — w as ist er?

Eine R ealität oder eine A bstraktion? W enn das erstere, wo ist diese R ealität dann aufzuzeigen? Besteht sie zwischen den Menschen oder über den Menschen und w ie w eit reicht sie? Umfaßt sie alle Menschen auf der Erde oder etw a nur die zivilisierten Völker, oder gibt es nicht nur eine G esellschaft? Solche und noch viele andere Fragen machen den Gesell­

schaftsbegriff höchst problematisch, wenn er eine R ealität bezeichnen soll.

W enn er aber eine bloße A bstraktion darstellt, dann ist es gewiß etw as höchst fragwürdiges, eine Gesellschaftswissenschaft nicht auf jene realen

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Elemente gründen zu wollen, von denen die Abstraktion herstammt, son­

dern auf diese A bstraktion selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn E. G o t h e i n im „Handwörterbuch der Staatsw issenschaften” den Begriff der Gesellschaft als einen „verschwommenen Sammelbegriff“ bezeichnet, der, selbst wenn seine sprachliche U nentbehrlichkeit zugegeben werden müßte, von problematischem wissenschaftlichen W ert sei1. Und einer der temperamentvollsten S treiter auf wissenschaftlichem Boden, Georg v- B e 1 o w , hat vor nicht langer Zeit ein ganzes Büchlein ins Feld ge­

schickt, um der Soziologie als Lehrfach an den U niversitäten jede Existenz­

berechtigung zu bestreiten2.

Wenn auf einem Gebiete der wissenschaftlichen A rbeit ein Streit von der Art herrscht, w ie w ir ihn eben charakterisiert haben, daß also die eine P artei eine besondere W issenschaft vor sich zu haben glaubt, während die andere nicht einmal den Gegenstand derselben zugeben w ill, so ist das inanier ein Zeichen dafür, daß hier nicht etw a bloß verschiedene Ansichten einander gegenüberstehen, sondern daß die S t a n d p u n k t e , von denen diese Ansichten ausgehen, verschieden sein müßten. Diese Erkenntnis ist für den ganzen Streit um die Soziologie entscheidend. Denn man kann m der W issenschaft über Meinungen und Auffassungen nur dann mit Erfolg streiten, wenn man zuvor sich über den Standpunkt geeinigt hat, von dem aus man eine Sache betrachten w ill. Das klingt w ie eine T rivialität, aber leider bew eist die Geschichte der Streitigkeiten in der Philosophie und Wissenschaft, daß bis auf den heutigen Tag diese selbstverständliche For­

derung nicht erfüllt ist. Und dies kommt nicht nur daher, daß die S treit­

teile sich zumeist nicht die Mühe geben, vor allem den Standpunkt des Gegners k lar zu erkennen, sondern w eil sie ebensooft a u c h d e n e i g e ­ n e n S t a n d p u n k t gar nicht bewußt in ihrem Denken und Argumen­

tieren gegenwärtig haben. Auch das wissenschaftliche Denken ist in hohem Maße ein t r a d i t i o n e l l e s Denken; es verläuft für gewöhnlich w. den Formen, welche die wissenschaftliche A rbeit der vergangenen Ge- nerationen erarbeitet hat. Es knüpft an überkommene Begriffe und M e­

thoden an, und die ganze K ritik, die der empirische Forscher gewöhnlich aufwendet, besteht nur darin, die ihm überlieferten Erfahrungen durch seine eigenen neuen zu kontrollieren. Diese K ritik ist also eine imma­

nente, innerhalb der überlieferten W issenschaft verbleibende. Ich möchte saßen, es ist eine loyale, keine revolutionäre Kritik, eine Kritik die nir­

gends den Bestand und die Geltung der von ihr angewendeten Grundan­

schauungen in Zweifel zieht, und daher auch gar keine Veranlassung hat, 1 Hdwb. d. Staatswiss. 3. Auflage, Art. Gesellschaft.

2 G. v. Below, Soziologie als Lehrfach, 1920.

A d le r : So ziolo gie und E rk e n n tn isk ritik 5

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6 A d le r: So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik

sich die Eigenart des Standpunktes der wissenschaftlichen A rbeit bewußt zu machen.

Eine ganz andere K ritik aber ist es, die nicht mehr in der bloßen Kor­

rektur überlieferter Erfahrungen besteht, sich also nicht mit diesem Rot- anstreichen der Schulhefte der W issenschaft begnügt, sondern auf deren Grundlagen gerichtet ist, auf die logischen und methodologischen Voraus- s e t z u n g e n , die also darauf ausgeht, sich Rechenschaft von dem eigenen theoretischen V erhalten zu geben. Je tz t handelt es sich darum, gleichsam das R e c h t der eigenen W issenschaft zu entwickeln, ein klares Bewußt­

sein davon zu gewinnen, w ie es in unserem Denken zugeht, wenn w ir einem T eile desselben den C harakter der wissenschaftlichen W ahrheit zu­

erkennen, und w ie speziell das Denken dazu kommt, von einer Natur da draußen zu sprechen, die eine N aturgesetzlichkeit habe, welche erforsch­

bar und für jedermann gültig sei. M it einem W orte: das S e l b s t b e ­ w u ß t s e i n d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n A r b e i t findet sich erst in der erkenntniskritischen Besinnung. Und das E rstarken dieser letzteren ist ein Prozeß, der seit D escartes im neuzeitlichen Denken nicht mehr zur Unterbrechung gekommen ist, vielmehr die Eigenart der neuzeitlichen Phi­

losophie ausmacht. Und indem er seit Kant immer mehr sein spekulatives Gewand abgestreift hat, ist er bereits zum methodologischen T eil der Naturwissenschaft selbst geworden. Die moderne Naturwissenschaft ist durch eine immer engere Verbindung ihrer system atischen A rbeit mit er­

kenntniskritischem Denken gekennzeichnet. Und es scheint, als ob sich in unseren Tagen die Zeit erfüllen w ollte, die Schiller zu Lebzeiten Kants mit Recht noch nicht reif für ein Bündnis der Naturforscher und der Transzendentalphilosophen gehalten hat, wenn er damals beiden zurief:

„Feindschaft sei zwischen Euch! Noch kommt das Bündnis zu frühe.

W enn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erst die W ahrheit erkannt."

Die Naturwissenschaft hat aus dem endlich zustandegekommenen Bünd­

nis mit der E rkenntniskritik eine immer größere Klarheit über ihre Begriffe und Methoden gewonnen, sie hat sich dadurch von der Last mancher Scheinprobleme befreit und ist die Vermengung ihrer Aufgabe mit m etaphy­

sischen Anschauungen und Fragestellungen endgültig losgeworden. Da­

gegen scheint mir die beklagensw erte U m strittenheit der Soziologie die Folge davon zu sein, daß auf sozialwissenschaftlichem Gebiete das er­

kenntniskritische Bewußtsein von der Eigenart der hier zu leistenden w is­

senschaftlichen A rbeit noch sehr wenig entw ickelt ist. Wenn man der Soziologie das Existenzrecht zumeist schon deshalb bestreitet, w eil man ihr nicht einmal ihren Gegenstand zugestehen w ill, indem die einen die Gesellschaft als ein metaphysisches W esen, die anderen als eine bloße

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Abstraktion betrachten, so daß also die Soziologie keine erfahrungsmäßige R ealität als Grundlage aufzuweisen hätte, so scheint mir dieser S treit vor allem deshalb so unerquicklich und unentschieden geworden, w eil beide Teile, also auch die V erteidiger der Soziologie, sich gar nicht die erkennt­

niskritische Frage vorgelegt haben, wo die R ealität der Gesellschaft zu suchen w äre. W enn man die R ealität der Gesellschaft auf derselben Ebene suchte w ie die der Naturdinge, und wenn auch die V ertreter des soziologi­

schen Denkens selbst vielfach kein deutliches Bewußtsein dafür hatten, daß man mit der Gesellschaft zw ar immer noch ein Sein vor sich hatte, aber von ganz anderer A rt als das bloße Natursein, dann w ar es nicht ver­

wunderlich, daß die R ealität der Gesellschaft sich gleichsam in nichts auf­

löste und nirgends aufzufinden w ar. Denn in derselben Ebene w ie die Naturdinge, d. h. in Raum und Zeit dinglich abgegrenzt, läßt sich G esell­

schaft niemals aufzeigen.

Diesen letzteren Hinweis haben nun viele Verneiner der Soziologie für esonders kritisch gehalten. Sie glauben, daß sie damit gegenüber dem, Was s*c die Illusionen der Soziologie nennen, eine auf den Boden der Er­

fahrung zurückführende kritische Betrachtungsweise eingeschlagen haben.

Sieht man aber näher zu, so findet sich, daß w ir es hier mit einem durch­

aus nicht kritischen Standpunkt zu tun haben, sondern vielmehr mit der Anschauungsweise eines ganz naiven unkritischen Realismus, welcher nur das als eine R ealität betrachtet, was er unm ittelbar sinnlich wahrneh- men kann. Und da sich die Gesellschaft nirgendswo als eine solche W ahr­

nehmung darbietet, so scheint einem solchen Standpunkte damit ihre Nichtexistenz als erwiesen.

An dieser wesentlich naturalistischen Einstellung zum Problem der Ge­

sellschaft ändert es auch nichts, ja es erschw ert vielmehr die Erkenntnis dieser naturalistischen Fehlrichtung, daß vielfach die V ertreter der soge­

nannten Geisteswissenschaften und vor allem die H istoriker sich energisch ßegen den Vorwurf des Naturalismus verwahren werden. Denn sie meinen damit eigentlich nur, daß sie — und dies mit Recht — die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden für ihre Forschung ablehnen. Sie mei­

nen damit insbesonders, daß es in ihrem Bereiche mehr auf die individuelle Bedeutung der Erscheinungen als auf ihre generellen Zusammenhänge an­

komme, und daß es sich nicht um einen blinden Kausalzusammenhang, son­

dern um ein Spiel und Gegenspiel bewußter Kräfte handle. Aber abge­

sehen hievon stehen auch sie ihrem Gegenstände, dem Geistesleben, genau so gegenüber w ie der Naturforscher dem seinigen. Das heißt: sie glauben keine andere Gegebenheit vor sich zu haben a ls ' eine naturhafte, die also bloß in Raum, Zeit und K ausalität bestimmt ist, w ie dies eben die Be­

A d le r: So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik 7

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8 A d le r; So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik

stimmtheit der Natur ist. Von da aus gibt es auch für sie keine andere Gegebenheit als diese eigentlich naturale, so daß alles, was darüber hinaus liegt, w ie etw a die Gegebenheit eines überindividuellen gesellschaftlichen Zusammenhanges ihnen notwendig als irreal, daher als unwissenschaftlich, ja direkt in die M ystik hinausführend erscheinen muß.

Die Opposition gegen diesen naiven Realismus hat in den letzten Ja h r­

zehnten der wissenschaftlichen A rbeit sich kräftig entw ickelt, und es sind vor allem die von H. R i c k e r t und R. S t a m m l e r geführten Richtun­

gen, welche bestrebt sind, zu zeigen, daß es auch noch eine andere R eali­

tät, also eine andere Erfahrung geben könne als bloß die Naturerfahrung.

Stam mler nennt diese andere Erfahrung die soziale, R ickert die historische.

Von Stam mler w ird später die Rede sein. Bezüglich der historischen Er­

fahrung w ill die R ickert'sche Lehre zeigen, w ie sie nicht schon durch bloße Naturgegebenheit zustande kommt, sondern erst durch eine w ertbezie­

hende A rbeit unseres Denkens, durch welche neben dem w ertfreien Kom­

plex der N a t u r der imanent stets auf W erte bezogene Seinszusammen­

hang der K u l t u r tritt. Und damit scheidet sich auch von der Natur­

wissenschaft jene besondere Form der W issenschaft ab, welche diese W ertbezogenheit des Kulturseins in ihre Methode aufnehmen muß, und so als Kulturwissenschaft mit eigenem logischen C harakter neben die Natur­

wissenschaft tritt.

Die tiefschürfende logische A rbeit R ickerts hat jedenfalls ebenso w ie die Stam m ler'sche das große und bleibende Verdienst, den Dogmatismus des naturalistischen Denkens in der Geschichte und Sozialwissenschaft machtvoll gebrochen zu haben. Aber trotzdem ist das Problem der sozia­

len Erfahrung durch sie nicht wesentlich gefördert worden. J a , im Gegen­

teil, indem die R ickert'sche Lehre beständig zwischen einer Logik der So­

zialwissenschaften (oder Kulturwissenschaften, w ie R ickert sie nennt) und einer Logik bloß der Geschichtswissenschaft schwankt, verrät sie nur ihre eigene U nklarheit in diesem Punkte. Dies kommt übrigens auch äußerlich darin zum Vorschein, daß in dem System der Kulturwissenschaften für die Soziologie gar kein sicherer Raum ist. Das Grundprinzip dieser Lehre, daß es die W ertbezogenheit ist, welche den Unterschied zwischen Natur­

erfahrung und Kulturerfahrung bew irkt, ist eben keineswegs geeignet, die Besonderheit der Sozialerfahrung w irklich zu begründen, da trotz der w ie­

derholten Verwahrung R ickerts der Begriff der objektiven W ertbezogen­

heit von der subjektiven W ertbeziehung nicht streng geschieden ist, und so das ganze System der Kulturwissenschaften stets in Gefahr ist, zuletzt in bloß subjektiven W ertungen begründet zu sein, die zwar noch eine Sozialphilosophie möglich machen, aber sicherlich keine Sozialwissenschaft.

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A d le r : So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik 9 Mit alledem können w ir uns hier nicht näher beschäftigen. W as aber hier in Betracht kommt, ist, daß die R ickert’sche Denkrichtung gezeigt hat, Wie es nicht nur möglich, sondern sogar notwendig ist, gegenüber den Er­

scheinungen des geistig-gesellschaftlichen Lebens noch n a c h e i n e m a n d e r e n S t a n d p u n k t e zu fragen, als der ist, den w ir in der reinen Naturerfahrung einnehmen. Denn dies ist das Entscheidende, worauf es bei der Frage nach dem Existenzrecht der Soziologie ankommt; ob es nicht einen besonderen Standpunkt des Denkens gibt, den wir nicht etw a bloß einnehmen können, sondern den w ir tatsächlich einnehmen, wenn w ir so­

ziale Erfahrung machen, w eil von ihm aus erst sich Gesellschaft als be­

sondere R ealität ergibt. Und so w äre der Fehler in der Nichtanerkennung der Soziologie aus dem Grunde eines ihr mangelnden Gegenstandes eigent­

lich eben darin gelegen, wovon w ir ausgingen, daß dieser Gegenstand in einer Ebene gesucht wird, wo er nicht gefunden werden kann, nämlich in der Ebene des N a t u r seins, während er auf einer anderen Ebene, nämlich des s o z i a l e n Seins, deren Eigenart noch näher zu bestimmen ist, so­

fort deutlich sichtbar wird, wobei diese andere Ebene selbst allerdings der bloß naturalistischen Einstellung unzugänglich bleibt.

Dieses Hinausgehen aus der Naturebene in eine andere stellt sich nun, so ungewöhnlich es auf den ersten Blick ist, bei näherem Zusehen doch als ganz selbstverständlich heraus. Denn es ist von vornherein plausibel, daß, wenn neben der Naturwissenschaft eine besondere Sozialwissenschaft bestehen soll, diese doch irgendwie in ihrem logischen Aufbau verschieden von jener sein muß; sonst w äre doch alle Sozialwissenschaft nur ein Stück Naturwissenschaft. A ber hier, bei dieser Verfolgung der A ndersartigkeit der Sozialwissenschaft, droht eine neue Gefahr, die sofort den Anfang der klaren Besinnung über die Eigenart der Sozialwissenschaft gegenüber der Naturwissenschaft aberm als in eine völlige Verwirrung ausgehen läßt, in welcher zuletzt die Sozialwissenschaft selbst verloren geht. Es ist dies nämlich die Gefahr, daß das Denken, um die A ndersartigkeit des Sozialen zu erfassen, nicht etw a bloß den Standpunkt w echselt, den es bisher dem Naturalen gegenüber mit Recht eingenommen hatte, sondern auch die Rich­

tung, die es bisher in der wissenschaftlichen A rbeit befolgt hatte und die darauf gerichtet w ar, ein S e i n u n d G e s c h e h e n in k a u s a l e r Ge­

setzm äßigkeit zu begreifen. Dies ist es wesentlich, w as den logischen Charakter der Naturwissenschaft ausmacht, daß sie eine kausale Seins- wissenschaft ist. Und ohne uns auf den Streit einzulasen, ob man den Namen „W issenschaft“ nur auf kausale Seinzusammenhänge anwenden darf, oder auch auf normative W ertzusammenhänge, welch letztere ja ta t­

sächlich, sobald sie in ein System gebracht sind, als W issenschaften be­

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IO A d le r: So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik

zeichnet werden, scheint mir das Entscheidende darin zu liegen, s i c h d i e- s e s U n t e r s c h i e d e s b e w u ß t zu sein und mehr noch zu bleiben, also bei allen erkenntniskritischen und methodologischen Erörterungen wohl zu beachten, daß das W ort „W issenschaft“ in einer logisch völlig zw eckwidrigen W eise einmal Seinswissenschaft und ein andere M al Normwissenschaft be­

deutet. Um für unsere Erörterung die aus dieser Zweideutigkeit des W ortes „W issenschaft“ sich ergebenden U nklarheiten zu beseitigen, wähle ich die besondere Terminologie, unter „W issenschaft" bloß d i e s y s t e ­ m a t i s c h e k a u s a l e E r k e n n t n i s v o n S e i n s z u s a m m e n h ä n ­ g e n zu verstehen, und jene System e norm ativer Erkenntnis lieber mit dem Namen einer „Lehre" zu bezeichnen. Die Festhaltung dieser Terminologie würde allein schon viel U nklarheit und viele Streitigkeiten über den Cha­

rak ter der sogenannten Geisteswissenschaften im allgemeinen und der So­

ziologie im besonderen beseitigen.

Namentlich aber entgehen w ir auf diese W eise jener gefährlichen Ent­

gleisung des Denkens, die, indem sie nach der M öglichkeit der Soziologie als W issenschaft sucht und findet, daß diese nur in eine andere E b e n e als die der Naturwissenschaft sich erschließt, sie nun auch sofort in einen anderen R a u m verlegt und die A ndersartigkeit der Sozialwissenschaft dahin bestimmt, daß es sich hier nicht mehr um Seinszusammenhänge, sondern nur um Normbeziehungen handeln kann. Dies w ar der W eg, den R. S t a m m l e r gegangen ist, der aus seinem Begriff des sozialen Lebens, wonach dasselbe äußerlich geregeltes Leben ist, ableitet, daß soziale Er­

kenntnis nicht als Kausalerkenntnis, sondern nur als Normbetrachtung möglich ist. Ich halte auch diese Richtung trotz ihres großen Verdienstes, das erkenntniskritische Problem der Sozialwissenschaft noch mehr als die Rickert'sche A rbeit in den Vordergrund der Aufm erksam keit gestellt zu haben, doch für mehr verw irrend als aufklärend, w eil sie geradezu an die­

sem Problem vorbeigegangen ist. Denn nicht darum handelt es sich, zu zeigen, daß von den sozialen Erscheinungen und Vorgängen neben der Kausalbetrachtung auch noch eine normative möglich ist, und diese aus jener w eder abgeleitet noch durch sie ersetzt werden kann; sondern gerade dies ist die Frage, ob und w ie eine Kausalbetrachtung sozialer Er­

scheinungen möglich ist, die diese nicht naturalistisch, sondern in ihrer sozialen Eigenart als Seinsvorgänge und Kausalbeziehungen verstehen will.

Die Stam m ler’sche Auffassung verläßt nicht nur die naturalistische Ebene der Betrachtung, sondern auch den Naturraum der Vorgänge. Daher spricht sie nicht mehr von einem Sein, sondern von einem Sollen und handelt nicht mehr von K ausalität, sondern von Normalität. W ir dagegen meinen, daß die eigentliche erkenntniskritische Frage zunächst die nach

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A d le r : So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik

der M öglichkeit des sozialen S e i n s u n d G e s c h e h e n s sein muß, daß wir also nicht, w eil w ir die naturalistische Betrachtung verwerfen, auch aus der Natur herausgehen müßten. Indem w ir uns nur auf eine andere Ebene der Betrachtung stellen, kann diese noch immer im selben Natur- raum liegen. Und so ergibt sich für die E rkenntniskritik die Frage, o b e s n u r e i n e r l e i S e i n g i b t , das naturale, oder nicht vielleicht noch eine b e s o n d e r e A r t d e s S e i n s , d a s s o z i a l e ; und im w eiteren V er­

laufe, ob es nur einerlei K ausalität gibt, N aturkausalität, und nicht v iel­

leicht noch eine besondere Form derselben, die soziale K ausalität. Und diese Fragen leiten sofort zu einem richtunggebenden neuen Gedanken.

Da nämlich das naturale Sein und die naturale K ausalität, w ie uns die Er­

kenntniskritik gelehrt hat, gegründet sind in besonderen Denkformen, so entsteht schließlich die Grundfrage soziologischer Erkenntniskritik, o b e s n i c h t e i n e b e s o n d e r e D e n k f o r m ist, in der zuletzt das soziale Sein verankert ist. Und so würde schon durch die G esetzlichkeit unseres Denkens selbst, durch die Formen unseres Bewußtseins, Gesellschaft eben­

so konstituiert sein w ie Natur, sich also ebenso eine soziale Erfahrung in apriorischer Eigenart aufweisen lassen w ie eine naturale Erfahrung. Und der Unterschied von Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft w äre auf diese W eise schon in den Erfahrungsbedingungen des Bewußtseins begrün­

det. Mit diesem Nachweise w äre dann auch das Existenzrecht der Sozio­

logie ein für allem al gew ährleistet, wenn ihr die Aufgabe zufiele, die W issenschaft von den allgemeinen Formen und Gesetzen des sozialen Seins und Geschehens zu sein.

So tritt also an den Anfang der soziologischen A rbeit ganz notwendig die erkenntniskritische Untersuchung, welche hier nicht nur deren Mög­

lichkeit im gleichen Sinne darzulegen hat, w ie die Kant sehe K ritik der M öglichkeit der Naturwissenschaft. Denn bei dieser letzteren w ar ja ihre Existenz selbst gar nicht bestritten und es sollte nur gezeigt werden, wie sie möglich sei. Hier aber hat die E rkenntniskritik die M öglichkeit der Soziologie sogar in dem Sinne darzulegen, daß sie durch Aufzeigung ihres Gegenstandes sie überhaupt erst möglich macht. Die F rage: „Wie ist Sozialwissenschaft m öglich?“ kann daher gar nicht an eine vorhandene un­

bestrittene soziale Theorie anknüpfen, sondern sie muß vor allem zeigen, daß cs einen besonderen Gegenstand des W issens gibt, das s o z i a l e S e i n , an welches dann die soziale Theorie anzuknüpfen haben wird. Er­

kenntniskritik ist also hier nicht ein Anbau oder ein Überbau der Sozio­

logie, sondern sie büdet tatsächlich das Fundament einer jeden Soziologie, die als eine W issenschaft von Sein und Geschehen des sozialen Lebens wird auftreten wollen.

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12 A d le r ; So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik

II. Trotz der U m strittenheit des Gegenstandes und der Methode der Soziologie, von der w ir im vorigen K apitel sprachen, mag es vielleicht doch vielen sonderbar erscheinen, daß w ir diesen M angel nicht durch ge­

nauere Untersuchung und Bearbeitung des Stoffes der G esellschaftswissen­

schaft selbst zu beheben versuchen, sondern mit einer erkenntniskritischen Erörterung beginnen wollen. Eine solche Erörterung, wird man vielleicht sagen, mag wohl den Philosophen und den Logiker interessieren, ja gewiß auch den Soziologen, soweit auch er ein philosophisches oder logisches Nebeninteresse hat. A ber ist w irklich zu erw arten, daß die erkenntnis­

kritische A rbeit hier vor aller soziologischen Orientierung ein Resultat er­

geben kann, das für die Soziologie verwendbar sein, ja sogar ihre Grund­

lagen liefern soll? Überall sonst sehen w ir, daß die E rkenntniskritik außer­

halb der eigentlichen Spezialarbeit der W issenschaft fällt, ja daß sie ihrem eigenen Programm zufolge stets erst post festum auftritt, d. h. eine gewisse Vollendung der W issenschaft voraussetzt, auf die sie sich dann als ihr Pro­

blem bezieht. Hier dagegen soll E rkenntniskritik ja eigentlich geradezu als das erste grundlegende K apitel der Soziologie auftreten? Das gibt es doch nirgends sonst in der W issenschaft. Der Physiker z. B. erforscht seinen Gegenstand mit Experiment, Beobachtung und mathematischem Kalkül und kümmert sich nicht im mindesten um die erkenntniskritische Seite seiner wissenschaftlichen Arbeit.

Hierauf ist zunächst zu sagen, daß die allerdings sehr verbreitete An­

sicht, wonach die naturwissenschaftliche A rbeit in völliger Unberührtheit und Unabhängigkeit von der E rkenntniskritik vor sich gehe, nichts ande­

res ist als ein großes M ißverständnis, w ie es freilich einem m aterialisti­

schen oder einem naiv-realistischen Standpunkte eigen ist, auf dem nicht wenige Naturforscher auch heute noch stehen. A llein w ir haben schon im vorigen K apitel darauf hingewiesen, w ie der gew altige Fortschritt der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, der seit den Tagen Newtons sta tt­

gefunden hat, nicht bloß neuen Entdeckungen und Erfahrungen, sondern insbesonders der zugleich damit einhergehenden Umwandlung und k riti­

schen Bearbeitung der Grundanschauungen der logischen Voraussetzungen zu danken ist. Und wenn auch sicherlich diese A rbeit der Naturwissen­

schaft zumeist keine bewußt erkenntniskritische ist, obgleich auch dies für eine ganze Reihe epochemachender naturwissenschaftlicher Denker nicht zutrifft, die w ie z. B. Mach, Poincare oder Einstein nur freilich ihren eigenen, nicht bis zur transzendentalen Methode vervollkommneten Be­

griff von der Erkenntnistheorie haben, so ist doch kein Zweifel, daß diese so außerordentliche Bewegung der zeitgenössischen Naturwissenschaft erst in einer klarbewußten und ihrer eigenen Methodik sicheren Erkenntnis­

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kritik ihren w irklichen Nutzen für die Naturwissenschaft w ird entfalten können. Denn nur durch eine nicht bloß methodologische, sondern e r­

kenntniskritische Durcharbeitung der neuen naturwissenschaftlichen B e­

griffe und Anschauungen — man denke nur an die „Gleichstellung“ der Zeit- mit der Raumanschauung in der Einstein'schen R elativitätstheorie, oder an ihre Auflösung des Massebegriffes — wird erst jene notwendige Begrenzung dieser neuen Denkmittel verständlich, in welcher sie sich nicht mehr anmaßen, über ihre Geltung als Arbeitshypothesen der W issenschaft hinaus die lebendige aktuelle Erfahrung der W irklichkeit durch ihre ab­

strakte Bearbeitung zu ersetzen.

Und man glaube ja nicht, daß es sich hierbei nur um gleichsam neben­

sächliche Fragen der Naturwissenschaft handelt, die sie etw a bloß an ihrer Peripherie berühren und gleichsam nur ihr philosophisches F eiertagskleid ausmachen. Im Gegenteil: alle diese Probleme sind nicht von außen in sie hineingetragen, sondern von ihren größten Denkern selbst inmitten ihrer Facharbeit aufgeworfen worden, und gehören so recht eigentlich zum W erktag ihres Schaffens. Man braucht nur Namen w ie Helmholtz, Mach, Hertz, Planck, Poincare, Ostwald, Einstein zu nennen, um sofort zu erken- nen, einen w ie großen Raum diese teils direkt erkenntniskritische, teils zur Erkenntniskritik hinstrebende A rbeit in der modernen Naturwissenschaft beansprucht, ja, w ie sie es erst ist, in der die so viel bewunderte E xaktheit der mathematischen Naturwissenschaft sich vollendet. Die Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit, von Kraft und M asse, von K ausalität und Zwecksetzung, von Substanz und Funktion beherrschen die ganze natur­

wissenschaftliche A rbeit der Gegenwart und haben unser naturales W elt­

bild selbst bereits w esentlich geändert.

Überhaupt ist es ein Irrtum des naiven Realismus, zu meinen, daß der Gegenstand der Naturwissenschaft, die Natur, im Gegensatz zu dem der Sozialwissenschaft, der Gesellschaft, von allen Wandlungen des Denkens unberührt und unverändert bleibe, da es sich doch in der Natur um die objektive, vom Menschen unabhängige Gegebenheit der Naturkräfte und ihrer Gesetze handle, so daß also Natur die eine und gleiche sei für alle Generationen der forschenden Menschengehirne. Diese Anschauung über­

sieht vor allem, daß der Begriff der Natur als eines starren, dem Menschen fremd gegenüberstehenden unpersönlichen Zusammenhanges notwendigen Geschehens ein noch sehr junger Begriff ist, der erst im neuzeitlichen Den­

ken zur Entwicklung gekommen ist und sowohl dem M ittelalter w ie ins- be sonders der Antike ganz fremd w ar3. Aber auch abgesehen davon, w ie

3 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: „Zur Geschichte des soziologischen Denkens" in der Festschrift zum 70. Geburtstage Kautskys, Wien, Volksbuchhandlung 1924.

A d le r: So ziolo gie und E rk en n tn isk ritik 1 3

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14 A d le r: Soziologie und E rk en n tn isk ritik

ganz anders w ar die Natur eines D escartes beschaffen und die eines Gior- dano Bruno: dort die bew egte Substanz, hier das beseelte All. Und w ieder­

um w ie anders bei G alilei und Newton, die in die Natur gleichsam w ie in eine innere Ordnung blickten, in eine von einer höchsten Intelligenz ge­

schaffenen Maschine, und bei Kant, der sie als die Selbstgesetzgebung des Bewußtseins ansah. W ie anders erscheint w eiter die Natur in der klap ­ pernden Atom istik eines Büchner und Moleschott, oder in der w irkungs­

frohen Energetik eines Ostwald, oder in der empfindungsreichen Elemen- tenlehre Machs. Und endlich wiederum ganz verändert, ja bis zur be- stürzenden Fremdheit ihrer Anschauungen und A usblicke, in den grund­

stürzenden reinen Funktionszusammenhängen der modernen R elativitäts­

theorie. Überall aber — und das ist das Entscheidende, worauf man viel zu wenig achtet — wechseln mit diesen Grundansichten nicht etw a bloße Hypothesen über das W esen der Natur, sondern d i e s e N a t u r s e l b s t w i r d i n i h n e n e i n e a n d e r e . Noch deutlicher kommt dies zum Vor­

schein, wenn man erst neben dem W echsel in der Gesamtauffassung des W eltganzen an den W andel der Einzelauffassungen in der Natur denkt. Von der Auffassung der Schwere als einer rätselhaften Eigenschaft der M aterie bis zu ihrer Auflösung in gegenseitige Massenanziehung, von der Phlogi- stonlehre bis zur dynamischen W ärm elehre, von der Emanationstheorie des Lichtes, von den magnetischen und elektrischen Fluiden bis zum Tanz der Ionen und Elektronen w aren keine bloßen Wandlungen der Theorien der Physik, die etw a nur die wissenschaftliche Vorstellung von der Natur be­

trafen. Es liegt vielmehr bloß an dem beklagensw erten Zustand der Volks­

bildung in unserer Zeit, die immer noch die wissenschaftliche Erkenntnis zu einem Vorrecht einer kleinen Schicht des Volkes macht, während sie die große M asse in einer A rt Volksküche der Schulbildung zu notdürfti­

ger Massenabspeisung bringt, wozu noch kommt, daß dieser Schulunter­

richt meist eine Generation hinter dem erreichten Stande des W issens zurückliegt — es liegt nur an diesem verhängnisvollen Kulturdefekt un­

serer Zeit, daß die Erkenntnisse und Grundanschauungen der W issenschaft nicht ebenso in das Allgem einbewußtsein eindringen, w ie sie bereits zum Bewußtsein der B earbeiter der W issenschaft gehören. A llein einmal w ar auch der kopernikanische Standpunkt ein Bestandteil bloß des w issen­

schaftlichen Bewußtseins W eniger und erschien der M asse als eine Gelehr­

tenhypothese, von der die „W irklichkeit” w eit entfernt w ar. Für das auf­

geklärte Bewußtsein w andelt sich aber notwendig mit seinem Denken von der W elt auch diese selbst: sie i s t so, w ie sie wissenschaftlich gedacht w erden muß, und darin besteht ja der eigentliche Erkenntniswert der W issenschaft.

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A d le r : Soziologie und E rk en n tn isk ritik 15

Aber freilich, um sich diesen W ert zu sichern, müssen w ir die Gewiß­

heit haben, daß w ir die W elt richtig denken können, d. h. w ir müssen wis- sen, woher diese m erkwürdige Übereinstimmung von W elt und Denken rührt, und unter welchen Bedingungen das Denken diesen seelischen W ert im Gegensatz zu bloßem Meinen und Fabulieren hat. Und so wird Kritik des Denkens, Erkenntniskritik, mit der auf ihr begründeten Methodenlehre auch immer mehr ein Anfangskapitel der Naturwissenschaft.

Umso mehr muß dies aber gelten von einer W issenschaft, die von An­

fang an ihren Gegenstand nicht in jener wenigstens geglaubten Selbst­

verständlichkeit vor sich hat, w ie die Naturwissenschaft. Der Ausgangs­

punkt dieser letzteren ist ja mit unserer täglichen Erfahrung ohne w eiteres gegeben. Mit Recht hat bereits August C o m t e und nach ihm besonders nachdrücklich Ernst M a c h darauf verwiesen, daß die wissenschaftliche Erfahrung nichts anderes ist und sein w ill als nur geordnetere, ökonomische Erfahrung des täglichen Lebens. Dasselbe, was einem jeden seine W elt der Dinge und Vorgänge ausmacht, sobald er die Augen auf schlägt, das ist auch trotz aller ihrer weltfremd scheinenden Formeln die W elt der Natur­

wissenschaft. Und es w äre ihr Stolz, ja es ist ihr Ideal, aus ihren ab­

strakten Formeln, aus dieser dem gewöhnlichen M enschenverstände unzu- gänglichen mathematischen Geheimsprache, jederzeit bis auf die haus­

backenen Vorgänge des A lltages herabsteigen zu können.

Dagegen — wo findet die Sozialwissenschaft eine solche selbstverständ­

liche Gegebenheit ihres Stoffes? Ist es der handelnde Mensch — w o

^ e ib t die G esellschaft? Und ist es diese — wo ist sie zu fassen? W enn sie nicht mit dem Staate identifiziert wird, wo hat sie ihre Grenzen, oder ist sie am Ende ganz wesenlos, eine bloße Abstraktion oder eine ethische Idee? Ist die Gesellschaft ein Naturkörper oder eine Rechtsschöpfung?

*la schließlich, wenn Naturwissenschaft die Lehre von den Naturvorgängen und deren Gesetzen ist, und die Sozialwissenschaft ebenso eine Lehre von den Sozialvorgängen und ihren Gesetzen sein w ill w as ist ein Sozial­

vorgang? Man sieht, in der Naturwissenschaft w ar das Denken nur am W erke, seinen Gegenstand ständig zu bearbeiten und dadurch zu modifi­

zieren; in der Sozialwissenschaft sucht es ihn vor allem erst zu finden.

Man könnte hier jedoch fragen: ja, ist denn so etw as überhaupt mog- lich? Ist es denkbar, daß eine W issenschaft ihren Inhalt sucht? Eine jede W issenschaft entsteht doch erst dann, wenn ein Interesse da ist, etwas zu wissen. Ein solches Interesse kann sich aber doch nur an einem bestimm­

ten Inhalt entzünden. Also müssen w ir doch, wenn w ir überhaupt von Sozialwissenschaft auch nur eine Vorstellung haben wollen, doch bereits

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i 6 A d le r : So ziolo gie und E rk e n n tn isk ritik

«in bestimmtes W issensinteresse, also einen bestimmten Gegenstand als W ecker desselben im Auge haben.

Das ist richtig; ein solches Interesse haben w ir, nämlich, von dem W esen menschlichen Zusammenseins und Zusammenwirkens etw as zu w is­

sen. Aber diese Bestimmtheit unseres Interesses bezeichnet doch mehr nur den Ort, wo w ir seine Befriedigung zu suchen haben, als die Kenntnis des Gegenstandes selbst, die erst dem Interesse seine Befriedigung ver­

schafft. Durch diese Ortsbeziehung unseres Interesses ist noch kein an­

deres Verhältnis unseres W issenstrebens zu seinem Gegenstände gesetzt, als etw a desjenigen, der einen Schatz in der Tiefe des M eeres an einer be­

stimmten Stelle liegen weiß, also zw ar in Kenntnis ist, wo er ihn suchen soll, aber w eder weiß, w ie er beschaffen ist, noch w ie er ihn heben soll.

Hier also setzt die eigenartige Hilfe der Erkenntniskritik entscheidend ein.

Sie hat hier mehr zu leisten, als bloß die wissenschaftliche A rbeit auf ihre Erkenntnisbedingungen hin zu untersuchen. Hier hat sie vor allem erst die A r t zu bestimmen, auf welche sozialwissenschaftliche Erkenntnis über­

haupt möglich ist. Um in dem vorigen Gleichnis zu bleiben, sie hat die M ittel anzugeben, mit denen in der Tiefe der Erfahrung der Schatz des sozialen W issens zu finden und zu heben ist. V ielleicht arbeiten w ir ganz vergebens, wenn w ie uns mühen, ihn an der Kette der K ausalität ans Licht zu bringen, vielleicht ist er nur mit dem Netz der Normen einzufangen.

Hier entfaltet sich also e r s t d u r c h E r k e n n t n i s k r i t i k das W esen und die Eigenart des G e g e n s t a n d e s der Sozialwissenschaft selbst. J a , wenn w ir sagen dürfen, daß das Objekt der Naturwissenschaft die Natur-

« r f a h r u n g ist, von der sie auszugehen hat, demnach auch die Sozial­

wissenschaft eine Sozialerfahrung als notwendigen Ausgangspunkt haben müßte, so zeigt sich nun, daß die Frage, o b e s n e b e n d e r N a t u r ­ e r f a h r u n g ü b e r h a u p t e i n e S o z i a l e r f a h r u n g g i b t , die also irgend etw as anderes sein müßte, als w ir bisher unter Natur verstanden haben, sich vor den Anfang aller sozialwissenschaftlichen A rbeit legt und dringend Antwort erheischt. Und diese Antwort kann nur die K ritik der sozialen Erfahrung, also E rkenntniskritik geben.

A ber w ir können uns hierbei doch nicht beruhigen. Dieser Unterschied der Naturwissenschaft und der Sozialwissenschaft im Verhältnis ihres Ge­

genstandes zur E rkenntniskritik ist doch höchst verwunderlich. W arum soll uns der Gegenstand der Naturforschung gleichsam von selbst gegeben sein, während w ir jenen der Sozialforschung erst auf dem W ege der k riti­

schen Selbstbesinnung — nichts anderes ist im Grunde Erkenntniskritik — uns erarbeiten müßten? Dies erscheint umso sonderbarer, als die Natur uns doch eigentlich w ie ein ewig Äußerliches gegenübersteht und daher

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A d le r: Soziologie und E rk en n tn isk ritik 17

unserem Sein eigentlich viel fremder ist 'w ie unser gesellschaftliches Da­

sein, während w ir dieses doch jederzeit selbst fühlend erleben und denkend w ie wollend gestalten! Diese Frage führt zu einem neuen Blickpunkt auf die Schw ierigkeit unseres Problems vom Gegenstände der Sozialw issen­

schaft.

III. Gerade das nämlich, w as die größere Lebensnähe des Sozialen aus­

macht« daß w ir selbst es sind, deren Tun und Leiden sich hier abspielt, be­

w irkt eine eigentümliche Erschwerung seiner wissenschaftlichen Erfassung.

Der Gegenstand des Naturerkennens, das Naturale, w ie w ir es nennen wollen, und der des Sozialerkennens, das Soziale, liegen für den theoreti­

schen Blick nicht sofort auf derselben Ebene. Das Naturale erscheint dem naiven theoretischen Bewußtsein als das Selbstverständliche, w eil un­

m ittelbar Gegebene; es macht ja eben vor allem den Inhalt seines unm ittel­

baren Bewußtseins aus, den Gegenstand seiner täglichen A rbeit, seiner stündlichen Sorgen und Freuden. Dagegen ist das Soziale in diesem Sinne dem naiven Bewußtsein — und dazu gehört das Bewußtsein von uns allen, also auch des Theoretikers, solange w ir uns nicht kritisch verhalten — ü b e r h a u p t n i c h t g e g e b e n . W as hier unm ittelbar gegeben scheint, das ist allein eine V ielheit handelnder, sich verschieden mit und gegen einander betätigender Menschen, die w ir sämtlich nach unserem Vorbilde a l s I n d i v i d u e n auffassen. G e g e b e n s c h e i n t a l s o e i g e n t ­ l i c h b l o ß d a s I n d i v i d u a l e . W ir werden noch sehen, daß das falsch ist, w eil auf kritischer Stufe gerade das Individuale nicht gegeben ist, wenigstens nicht in jener Isoliertheit, welche die gewöhnliche Auffas­

sung annimmt. A ber das eröffnet sich eben erst einer sehr schwierigen kritischen A nalyse unserer Erfahrung. Dem ersten Anblick stellt sich die W elt, die w ir auch erst spät als soziale W elt kennen gelernt haben, dar als ein Gewirr ineinander und gegeneinander greifender Betätigungen und V er­

haltungsweisen vereinzelter Menschen, die selbst dann noch begrifflich ver­

einzelt bleiben, wenn sie in großer Zahl dasselbe wollen und einheitlich handeln. Es ist dann entweder der überragende Einzelmensch, der Führer, der Herrsche^, der Heros, der diese Einheit herstellt, oder es ist das Her­

kommen, die Sitte, die Nachahmung, der Trieb — alles nur andere W orte für ein bestimmtes Verhalten von Einzelmenschen, das im Effekt zu einer Zusammenstimmung der an sich vereinzelt bleibenden Individuen führt*.

4 W ie wenig insbesondere der sog. soziale Trieb die begriffliche Vereinzeltheit der Menschen aufhebt, hat schon Thomas H o b b e s sehr genau gewußt,. Er spricht sich gegen den aristotelischen Satz aus, daß der Mensch ein von Natur zur G esell­

schaft geeignetes W esen sei, aber nicht in dem Sinne, daß er in Abrede stellen

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