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Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, März - April 1901, 10. Band, Heft 3-4

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Monatshefte

der

Comenius-Gesellschaft.

Herausgegeben von Ludwig Keller.

Zehnter Band.

d r i t t e s u n d v i e r t e s H e f t . M ärz—A pril 1901.

Berlin 1901.

R . G a e rtn e rs V e r la g s b u c h h a n d lu n g H e r m a n n H e y f e l d e r .

SW. Schönebergerstrasse 26.

Der Bezugspreis beträgt im Buchhandel und bei der Post jäh rlich 10 Mark.

Alle Rechte Vorbehalten.

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I n h a l t

d e s d r i t t e n u n d v i e r t e n H e f t e s 1 9 0 1 .

A bhandlungen, s.u.-

Prof. Dr. A u g u s t W o lfs tie g , Der Staat bei Christus, Paulus urul den Re­

formatoren. Nach einem V o r t r a g e ... 55 Dr. H e in r ic h B o m u n d t , Der Platonismus in Kants Kritik der Urteils­

kraft. Erster T e i l ... 82 F r ie d r ic h N ip p o ld , Zur Erinnerung an Karl von H a s e ... 99

K le in e r e M itteilu n gen .

Z ur G e s c h ic h te d e s d e u ts c h e n J o u r n a lism u s. Von L u d w ig K e lle r 111 W a ld e n s e r u n d R e fo r m ie r te im 18. J a h r h u n d e r t. Von L u d w ig K e lle r 113

B esp rech u n g en und A n z eig en .

F r . S t e u d e l , Der religiöse- Jugendunterrieht. A uf Grund der neuesten w issensch aftlich en Forschung für die Hand der Lehrer und Schüler säm tlicher evangelischen L ehranstalten bearbeitet etc.

( D r . ( i . W y n e k e n ) ... 115

N ach rich ten und B em erk u n gen .

D ie Idee des R eiches G ottes. - - Ü ber die B edeutung der N am enfrage in der G eschichte der grossen R eligion sgem ein sch aften . — Uber die Sektennainen E nthu siasten und Katharer. — Über d ie Grade und Stufen in den A kadem ien der N euplatoniker. — Über den Grundsatz der

„ R e in h e it der G em ein d e“ und sein e K onsequenzen. — Ü ber die beiden Märtyrer der W al­

denser Job . Drändorf und T’eter Turnau im 15. Jahrhundert. — Friedrich von Iley d ee k , der Förderer der R eform ation in Preussen und die W iedertäufer. — Zur Charakteristik des ch rist­

lichen H u m an ism u s im 18. Jahrhundert. — D ie Betonung Johannes des Täufers und seines V orbildes in den älteren A kad em ien . — D er Grosse Kurfürst und das Florieren der M anufak­

turen in B randcnburg-P rcussen“ . —- Com enius als Herausgeber des Gesangbuchs der B rüder­

gem einde von Kilil. — Über den A usdruck „allgem eine R elig io n “ . — Über d en Gebrauch des N am en s „ P a trio t“ seit dein 17. Jahrhundert in der deutschen L itteratur. — Ü ber Beat L udwig von Muralt (1(>(>5—1749) und sein en V erwandten Beat von Muralt, den Freund J. J.

Bodmei's. — Hin Urteil K. Chr. Fr. K rauses über Platos „ P o litik o s“ . — A d. Harnacks U rteil über das N eue im C h r is t e n t u m ... 119

Z u sc h r ifte n b it t e n w ir an d e n V o r s itz e n d e n d e r C.-G., G e h e im e n A rch iv - R a t D r. L u d w . K e lle r , B e rlin -C h a r lo tte n b u r g , B e r lin e r S tr. 22 zu r ic h te n .

Die Monatshefte der C.-G. erscheinen m o n a tlic h (mit Ausnahme des Juli und August). Die Ausgabe von D o p p e lh e ft e n bleibt Vorbehalten. Der Gesamt­

umfang beträgt vorläufig 20 — 25 Bogen.

Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre J a h r e s b e itr ä g e ; falls die Zahlung der letzteren bis zum 1. J u l i nicht erfolgt ist, ist die Geschäftstelle zur Erhebung durch P o s ta u f t r a g unter Zuschlag von GO Pf. Postgebühren berechtigt.

Einzelne Hefte kosten 1 Mk. 25 Pf.

J a h r e s b e itr ä g e , sowie einmalige und ausserordentliche Zuwendungen bitten wir an das Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse zu senden.

B e s t e llu n g e n übernehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes und die Postämter — Postzeitungsliste Nr. 6655.

F ür die Schriftleitung verantwortlich: G e h e im e r A rc h iv -R a t D r. L u d w . K e lle r .

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Monatshefte

der

Comenius-Gesellschaft.

X. Band. 1901. Heft 3 u. 4.

Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren.

N a c h e in e m V o r tr a g e . Von

Prof. D r. A u g u s t W o lf s t ie g in Berlin.

D er Gegenstand greift an eine sehr schwierige Materie, dessen bin ich mir bewusst; denn das Problem berührt die höchsten Gedanken menschlicher Weisheit, die Grundlagen von M acht und Recht, die Grenzgebiete von religiösem Empfinden und sittlichem Handeln. H ierüber selbst nur die Gedanken A nderer darzustellen, ist eine schwierige Aufgabe. Denn alle Anschauungen werden in der Zeit, nicht nur nach dem Stande der Erkenntnis, sondern auch aus dem W unsche geboren, die historisch gegebenen Zustände in einer ganz bestimmten Richtung weiterzuführen. Und auch in dieser letzteren H insicht gilt es für die grossen Denker, den Zeit­

genossen nicht allein das Ziel vorzuzeigen, zu dem hin sie die Dinge zu führen trachten, sondern auch den K am pf mit dem A lten, m it dem Gewöhnten, dem Liebgewordenen, m it der fest ge wurzelten W eltanschauung aufzunehmen. Da giebt es dann keinerlei Rücksicht auf das vielleicht auch Richtige oder noch Richtige. Es ist die ganze Linie, die bekäm pft werden muss, auch der Tross. Die Rede selbst wird nun zur W affe. U nd der Streit verlangt eine scharfe Spitze, das W ort kehrt seine Schärfe heraus. Das soll man nie vergessen, wenn man die Gedanken eines solchen G ewaltigen, wie Jesus Christus, oder führender Geister wie Paulus, L uther und Calvin darzustellen unternimmt.

Zweierlei bildet daher die Grundlage einer solchen D ar­

stellung der Anschauung vom Staate, wie ich sie zu geben ver-

M onatsliefte der C om en iu s-G esellscbaft. 1901. 5

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6 6 Wolfstieg, H eft 3 u. 4.

suchen will, einmal das Gesam tbild der Zeit, in der der Denker lind Sprecher lebt, und zweitens das Ziel, welches er m it der Aufstellung seines Systems erreichen will.

W enden wir das auf Jesus Christus an.

Christi Gedanken gingen nicht auf eine Erläuterung der sittlichen Gesetze der M enschheit, auch nicht auf ein Umwerten dieser W erte, sondern eher auf ein Erfüllen derselben im Geiste des M enschheitgedankens in seiner Vollkommenheit und Voll­

endung in Gott. „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen.“ Was er treffen will, sind nicht die verrotteten sittlichen Zustände seiner Zeit, sondern vor Allem das Übel selbst, die Sünde. Sein W irken ist H eilands­

wirken, seine Gedankenwelt umfasst das Diesseits und Jenseits zugleich; es gilt das verschrobene und verschobene V erhältnis der Menschenseele m it G ott wieder herzustelleü, es in das verlorene Kindschafts Verhältnis wieder hineinzubringen, von dem sich kaum noch eine Spur vorfand in der antiken jüdischen und griechischen Welt. Das Reich Gottes und sein Kommen zu verkünden, ist seine hohe Aufgabe. W o er auf die rein innerweltlichen sittlichen W erte stösst, wie E he, R echt, S taat u. s. w., giebt er zwar Vor­

schriften zu ihrer Erhaltung, aber er nähert sich ihnen sichtlich ungern. E r selber war nie verheiratet, verbot den Seinen, R echt zu suchen, selbst im Falle eines Angriffes auf Person und Eigen­

tum , und kümmerte sich absolut nicht um die hochgehenden Wogen staatlicher Politik und ihre theoretischen und geschicht­

lichen Grundlagen. Allerdings stösst er einmal auf einzelne in unserem Gebiete liegende Fragen sittlicher Art, dann passt er sie auch seinem tiefen religiösen Em pfinden an, vertieft die in ihrem W esen liegende Id ee, ja vollendet sie im höchsten Sinne des W ortes.

Das antike Staatswesen und vor Allem der im Vordergründe von Christi Gesichtskreis stehende jüdische S taat war ein V olks­

staat, der nur den Volksgenossen als Vollbürger anerkannte und alle anderen Menschen vom Rechte am Staate ausschloss. Das war natürlich, da der S taat nur eine Erw eiterung der Familie, der Sippe und als solcher K ultgem einschaft war und den V erkehr m it dem G otte oder den G öttern vermittelte, die über des Volkes W ohlfahrt wachen. B ürgerrecht ist Teilnahm erecht an dem volks­

tümlichen Gottesdienst, an der Staatsreligion. Das wurde damals

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besonders deutlich, da gerade zu C hristi Zeit das Land, das S taats­

gebiet an sich keinen Abschluss mehr darstellte. N icht nur die Römer, sondern auch die Griechen und vor Allem die Juden waren über den ganzen Erdkreis zerstreut. Was diese Volks­

genossen zusammenhielt war weder das Nationalbewusstsein, noch die Sprache, sondern allein die Kultgemeinschaft. Wer nicht dazu gehörte, war des Landes Feind. Diesen Zusammenhang zwischen Religion, K ult und Staat hat Ranke m it voller Schärfe im V er­

laufe der alten G eschichte aufgewiesen. Dass es eine andere Re­

ligion als eine Staatsreligion, einen ändern Staat als einen nationa­

len geben könne, dämmerte selbst den erleuchtetsten Köpfen des ganzen Altertum s nicht. Auch das römische W eltreich hatte sich über diesen Gedanken in keiner Weise erhoben: nur der civis Romanus war Vollbürger.

D a ging Christus von einer ganz anderen Ideenwelt aus und lehrte zum ersten M ale, dass Religion Sache des Menschen, nicht des Bürgers sei, und zerbrach dam it die Grundlage des antiken Staates in tausend Scherben. Die Individuen, welche natio­

nale, soziale und rechtliche Stellung sie auch einnehmen mochten, beschäftigten ihn eben nur als M enschen, als Seelen in ihrer Beziehung zu G ott, dem V ater, und zu den Nächsten als B rü d ern 1).

Selbstverständlich schloss diese Stellung eine rein weltliche, recht­

liche und soziale Organisation der M enschheit nicht aus, sondern verlangte sie sogar. A ber Christus nahm für alle Organisationen einen ändern Ausgangspunkt als die A ntike: hier war der Staat das Ganze gewesen und der Bürger nur ein Teil desselben; beim H errn war der Mensch das Ganze und der S taat wurde eine unter vielen sittlichen Gruppierungen. M ochten sie also auf diese neue Grundlage einen neuen, einen christlichen S taat aufbauen, seine Lehre widersprach dem wahrlich nicht; nur dass dieser auf der Liebe und den christlichen Freiheitsgedanken, statt auf realer M acht und individuellem Recht, auf der M enschheitsreligion, statt auf der Staatsreligion basieren musste. Das Christentum hat den nationalen Staatsgedanken als Kultgemeinschaft zertrüm m ert und den heutigen K ulturstaat als M enschheitsgemeinschaft in christ­

lichem Sinne erst möglich gemacht.

Indessen hat sich Christus über Form und Inh alt des Staates 1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. (>7

') P a u l s e n , Ethik. 4. Aufl. Bd. 2 S. i>38.

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6 8 Wolf stieg, H eft 3 u. 4.

nie ausgesprochen, er hatte geistig nicht die geringste Beziehung zu diesen weltlichen Fragen. Ihn kümmerte nur das Reich Gottes, das er zu bereiten in die W elt gekommen war. A ls man ihn einmal fangen und seine Parteistellung zur jüdischen nationalen Frage festlegen wollte, betonte er diesen seinen Standpunkt sehr scharf und fertigte die F rager m it schneidender Ironie ab: W essen ist das Bild auf diesem Zinsgroschen? Des Kaisers. N un, Ih r S chlauberger1), was fragt Ih r denn noch lange? G ebt doch dem Kaiser, was sein ist, aber vergesst nicht, dass Ih r G ott Eure Seele schuldet2). Auch seinen eigenen Landesherrn betrachtet Christus lediglich m it den Augen des Heilands, fand ihn offenbar auf der Wage der göttlichen Gerechtigkeit zu leicht und behandelt ihn demgemäss mit m erkwürdig geringem R esp ek t3): „G ehet hin und sagt doch diesem Fuchs“ (Luk. 13, 32). U nd als ihm Herodes, der eine grosse F reude darüber hat, den gewaltigen Rabbi einmal zu sehen und hofft, dass er vor ihm, seinem H errn, Zeichen und W under verrichten werde, eine Reihe von Fragen vorlegt, ant­

w ortet ihm Jesus überhaupt nicht, so dass dem F ürsten schliess­

lich nichts übrig bleibt, als auf die Anklagen der Christus ver­

höhnenden und verlästernden H ohenpriester und Schriftgelehrten zu hören. D a er ihn aber nicht zu richten wagt — die Anklage stand wegen der leicht m issverständlichen Form des Einzuges in Jerusalem und der Besitzergreifung des Tempels als Messias auf A ufruhr und Annahme der Königswürde — schickt er den H errn, symbolisch als König gekleidet, zum römischen P rokurator, der gerade von Cäsarea nach Jerusalem gekommen war (Luk. 13, 7 ff.).

A ber der arme Pilatus kann erst recht nichts m it ihm anfangen:

Christus antw ortet auf all die Anklagen und Fragen, die ihm der P rokurator vorlegt, entweder gar nichts oder nur mit einem ironi­

schen: Du sagst es j a 4). (Matth. 27, 12). Auch bei einer U nter­

redung, die Pilatus im Prätorium mit Jesus gehabt zu haben scheint (Joh. 18, 33 ff.), kam w eiter nichts heraus, als dass der H err seine Heilandsmission der königlichen Bezeugung der W ahrheit betonte und jede weltliche Beziehung zum Staate ablehnte, einen U nter­

J) So übersetzt F. P a u l s e n , Das Ironische in Jesu Stellung und Lehre.

2) Vergl. hierüber die wundervollen Ausführungen in H a r n a c k s Wesen des Christentums S. 65 ff.

8) Das hebt H i l t y hervor im 3 .Bd. seines ,,Glück“, „H eil den Enkeln“.

4) Dass auch diese Stelle ironisch gemeint sei, zeigt P a u ls e n .

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schied, den der in griechischer Schule philosophisch gebildete Römer allerdings nicht verstand. „W as ist denn W ahrheit?“

Dennoch darf man aus dieser selbstbewussten H altung nicht schliessen, dass Jesus R echt und O brigkeit als solche überhaupt nicht anerkannt habe. Das ist leider auch schon von nam hafter Seite behauptet worden. Sowohl Leo Tolstoi und seine N achtreter als auch der deutsche Ju rist Rud. Sohm lehren in allem Ernste, nach Christi Gebot habe O brigkeit und R echtsordnung einfach aufzuhören, weil ihr Vorhandensein Sünde sei. Das ist zweifellos ein M issverständnis; in W ahrheit hat Christus, wie seine V erhaft tungsgeschichte bew eist, die obrigkeitliche Gewalt als zu R echt bestehend und als sittliche Notwendigkeit anerkannt und sich ohne W eiteres unterworfen. Seine Jünger hatten nach dem Abendmahle offenbar genaue N achricht von der bevorstehenden Festnahm e und, während Jesus im heissen G ebet m it seinem G otte rang, sich zum W iderstande auf dem Olberge vorbereitet, um den H errn zu decken1). D a macht dieser selbst dem beginnenden Kam pfe ein Ende und giebt sich gefangen, nicht weil er glaubte, die Position nicht halten zu können, sondern aus A chtung vor der rechtmässigen G ewalt, die hier nur den Willen G ottes, dessen war er sich im Gebete gewiss geworden, vollzieht. „O der meinst D u, ich könnte nicht meinen V ater angehen, dass er mir sogleich m ehr als zwölf Legionen Engel schickte?“ (Matth. 26, 53.)

Eben als sittlicher Institution hat Christus das Wesen auch der obrigkeitlichen Gewalt und aller Rechtsordnung vertieft.

H arnack weist auf eine Stelle hin (Matth. 20, 2 5)2), in der sich Christus über die Richtung der sittlichen Vollendung dieser Dinge ausspricht: „Jesus rief seine Jünger und sprach zu ihnen: Ih r w isset, dass die, welche als H errscher gelten unter den Völkern, Gewalt gegen sie brauchen und die Mächtigen unter ihnen M acht gegen sie üben. So soll es aber nicht bei euch sein; sondern wer unter euch gross werden will, der soll euer D iener sein, und wer unter euch der erste sein will, der soll euer K necht sein“.

Also die Grundlage der staatsrechtlichen Ordnung, wie sie damals bestand, die Macht, und die Form ihrer A usübung, die Gewalt, sind es, die die Missbilligung des H errn hervorrufen; er will an

*) Dass Petrus zufällig und allein von den Jüngern ein Schwert trug, wird Niemand glauben

2) Bei H a r n a c k steht hier in Folge eines Versehens ein falsches Citat.

1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 69

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70 Wolfstieg, H eft 3 u. 4.

ihre Stelle die brüderliche Liebe und den Dienst in derselben setzen. Herrschen heisst ihm dienen.

Aber das halte man unter allen Umständen fest: Christus interessiert nicht der H errscher, sondern nur der Mensch im H errscher, nicht die weltliche Obrigkeit als M achtfaktor und W ahrer des R echts, sondern nur als Organ für die Ausbreitung des Reiches G ottes auf Erden. E s bleibt eben dabei: sein Reich ist nicht von dieser W elt. Also die Rede von der unbedingten Zusammengehörigkeit von Thron und Altar, welche die Rom antiker im Anfänge dieses Jahrhunderts auf b rachten1) und bis zum heutigen Tage festhalten, kann sich keineswegs auf Christus berufen. E her auf P a u lu s . Denn unter den Händen dieses gewaltigsten aller Apostel ging eine merkwürdige Verwandlung vor: er brachte das Evangelium, gleichsam ein anderer Prometheus, vom Himmel auf die Erde. Paulus hat, und das ist sein unsterbliches V erdienst um die A usbreitung des C hristentum s, die goldene Brücke ge­

zimmert, welche das Reich Gottes mit dem Reiche dieser W elt verband. W ir verzichten auf die P rüfung der F ra g e , ob die T hätigkeit des Apostels auf die christlichen Anschauungen selbst lediglich heilsamen Einfluss geübt h at; für uns genügt es, fest­

zustellen, dass er die nachherige Auffassung fast völlig beherrschte.

Man kennt die grossartige W irkung seines Römerbriefes bis auf die heutige Z eit; er ist die Grundlage aller Dogmatik in den K irchen geworden, und g e r a d e h i e r f i n d e t s ic h d ie e r s t e A n d e u tu n g v o n d em Z u s a m m e n h a n g e vo n T h r o n u n d A l t a r , die V erquickung der religiösen Idee des G ottesdienstes m it der sittlichen R echts- und W eltordnung. Paulus spricht den Gedanken aus, dass alle Obrigkeit von G ott sei; auch der Be­

stand der heidnischen O brigkeit in Rom ist G ottes Wille. Darum hat jeder Christ sich derselben zu unterw erfen, Steuern zu ent­

richten, Gehorsam zu leisten um des Gewissens willen. Dies „um des Gewissens willen“ ist das Neue. Also das U nterthanenver- hältnis ist für Paulus nicht das Gesetz einer unabweisbaren sitt­

lichen Forderung, die der Vertiefung bedarf und der Vertiefung fähig ist, sondern ein durch die Religion geheiligtes unveränder­

liches Gebot. W ider die O brigkeit sich auflehnen, heisst sich auflehnen wider Gott.

*) Z i e g l e r , Geistige und soziale Strömungen, S. 52.

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1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 71 Auch die Aufgabe der Obrigkeit ist bei Paulus eine ganz andere, als sie Christus festgestellt hatte. Letzterer hatte den H errscher, indem er ihm ein W irken in christlicher Liebe und im Dienste seiner U nterthanen vorgeschrieben hatte, in der T hat m it einem Tropfen göttlichen Öles gesalbt; im Übrigen waren im Einzelnen der W irksam keit des Staates keinerlei Schranken gesetzt.

Dem H errn schwebte auch hier wohl das Bild der Fam ilie, das Verhältnis zwischen V ater und Kindern als das Ideal eines Bandes zwischen H errscher und Volk vor. Von alle dem findet sich bei Paulus kaum noch eine Spur. Nach ihm hat der S taat eine doppelte Aufgabe: er ist Gottes Gehilfe, um das Individuum zum Guten zu führen, und Gottes Gerichtsvollstrecker fü r den, der Böses th u t; denn sie (die Obrigkeit) träg t das Schwert nicht umsonst (Röm. 13,4). H ier mit dem Gedanken der staatlichen Führung zum Guten beginnt jene Lehre, dass eine wohlwollende Obrigkeit dem U nverständigen und Übelwollenden das G ute, den Glauben, die gute Sitte auch aufdrängen könne, die Lehre von der U nfreiheit der Unterthanen und der unfehlbaren W irkung der Staatsgewalt auf die endliche Erlangung des Reiches Gottes auf Erden. D er Apostel ist an der Ausgestaltung dieser Lehre gewiss unschuldig, aber es ist die Konsequenz seiner Theorie von der staatlichen F ührung zum Guten und der A bstrafung des Bösen durch die O brigkeit im Aufträge Gottes als dessen Gehilfin.

Die Entw icklungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte nach der angedeuteten Richtung hin vollzogen, sind durch das Auftreten L u t h e r s ohne Frage lediglich gefördert worden. W ir verdanken diesem Manne unendlich viel, was wir ihm nie ver­

gessen wollen. E r hat in wahrhaftigem ernsten Ringen m it sich selbst die finstern Gewalten m ittelalterlicher Irrlehren verscheucht, die wissenschaftliche Anknüpfung an die ursprüngliche christliche Idee durchgesetzt, einer neuen modernen Lehre vom Wesen des Christentums Bahn gebrochen und den K am pf m it der mächtigen Organisation der damaligen K irche für weite Gebiete siegreich durchgefochten. Aber L uther war von Augustin erzogen und seiner ganzen Anschauung nach im eigentlichsten Sinne „paulinisch“

gesinnt. Und dazu blieb dieser gewaltige Bauernsohn immer ein

unverkennbares K ind seiner Zeit, die einen mächtigen Einfluss

auf ihn übte. U nd der Zug der Zeit drängte mit Gewalt auf die

endliche Lösung der religiösen F rage, der dann ja auch der R e­

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Wolfstieg, H eft 3 u. 4.

formator sein Leben widmete. Darum tra t bei L uther die Frage nach Inhalt und Organisation der weltlichen Ordnung weit zurück hinter der Reform der christlichen Lehre. Das geängstigte G e­

wissen erheischte die H erstellung des Verhältnisses der irrenden Menschen zu Gott, die Sicherstellung der ewigen Seligkeit. Was galt ihm dagegen das W esen des Staates?

A ber ganz Vorbeigehen konnte L uther an diesen Fragen doch nicht, er kam zu heftig m it dem Staate in B erüh rung 1).

Das zwang ihn, sich auch m it ihm zu beschäftigen. Indessen ist es doch auch eigentlich nicht das W esen des Staates als solches, das sein Interesse erweckt, sondern nur die praktische Seite des­

selben, die seine Lehre und schliesslich die Organisation seiner K irche berührt. E s sind Vorkommnisse des täglichen Lebens, die ihm die F eder in die H and drücken und ihn nötigen, über einzelne Teile des staatlichen Aufbaues oder der staatlichen A uf­

gabe, z. B. über die öffentliche Gewalt (Uberkeit), die Stände, den Adel der deutschen Nation, die Bauern u. s. w. zu sprechen. L uther kommt es bei allen seinen hierher gehörenden Erörterungen immer nur darauf an, zu zeigen, wie sich der wahre C hrist in einzelnen praktischen Fragen zu den bestehenden Institutionen und ihrem Thun zu verhalten hat. E s ist der Christ, nicht der Staatsbürger, den er vor sich sieht und zu dem er spricht, und er schreibt um des Gewissens willen, nicht aber um die öffentliche W ohl­

fahrt oder gar die allgemeine Erkenntnis vom Wesen des Staates zu fördern.

D arum spricht er auch als Theologe, nicht als Rechtskundiger oder als Philosoph. Ihm ist die Quelle, aus der er schöpft, n ich t das bestehende R echt und der lebendige Staatsgedanke, sondern ganz allein das W ort Gottes, das ihn auch über diese Dinge be­

lehren m uss2). H ier findet er in Sprüchen und Beispielen des neuen und des alten Testam entes, wie ein C hrist in dieser oder jener Lage, als Fürst, als Beamter, als U nterthan sich zu verhalten

1) Luthers Schrift von der weltlichen Obrigkeit in der Erlanger Ausgabe 22 S. 61 ff. Vergl. B l u n t s c h l i , Geschichte der Staatswissenschaften; M. L e n z , Berliner Kaisers-Geburtstagsrede 1894. W ard , Darstellung und Würdigung der Ansichten Luthers vom Staat. Jena .1898, in Conrads Sammlung 21.

2) „Das sag ich darumb, dass man nicht meine, es sei gnug und

köstlich D in g , wenn man dem geschrieben Rccht oder Juristen Räthen

folget. Es gehört mehr dazu.“ Werke 22, 95.

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hat, und das genügt ihm vollständig. Die griechische und römische W elt mit ihren lebhaften Erörterungen über den S taat von der Höhe philosophischer Überschau herab, jene W elt, in der der jugendliche H um anist L uther gelebt hatte, aber doch nicht auf­

gegangen war, sind nun in einer Versenkung verschwunden und interessieren den R eform ator L uther nicht mehr.

Alle Schriften L uthers über den Staat sind, wie gesagt, Gelegenheits-Schriften, meist sogar Agitationsschriften. Auch das beeinflusst ihre H altung und ihre Denkweise. Die heftige Flug­

schrift von „welltlicher vberkeytt, wie weytt man yhr gehorsam schuldig sei“ ist veranlasst durch das V erbot der lutherischen Ü bersetzung des Neuen Testamentes in einigen deutschen Ländern und durch den Befehl, dass die U nterthanen dieselbe vorkommen­

den Falls der O brigkeit ausliefern sollten1). W ie ein Bauer, dem man sein Eigentum nehmen will, fährt Dr. M artinus mit dem Dreschflegel in den Haufen seiner Gegner hinein: Die O brigkeit hat sich den Teufel um der Seelen Seligkeit zu kümmern. „Das weltlich Regiment hat Gesetz, die sich nicht weiter strecken, denn über Leib und G ut, und was äusserlich ist auf Erden. Denn über die Seele kann und will G ott Niemand lassen regiern, denn sich selbs alleine. Darum b wo weltlich Gew’alt sich ver­

misset, der Seelen Gesetz zu geben, do greift sie G ott in sein Regiment, und verführet und verderbet nur die Seelen.“ (S. 82.) Und dann unter deutlichem Hinweis auf die V erkehrtheit der Ordnung des Reiches in seiner Zeit, wo es Bischöfe und Abte gar weit in der Fürstenskala gebracht hatten und arg verweltlicht w aren, sagt er: „W as sind denn die P riester und Bischoffe?

A ntw ort: Ih r Regiment ist nicht ein U berkeit oder Gewalt, sondern ein D ienst und A m pt; denn sie nicht höher noch besser für ändern Christen sind.“ (S. 93.) Mochten die H erren sich das m erken, dass der schon m ächtig gewordene W ittenberger Mönch dem einen Teile der Reichsfürsten jede A utorität in weltlichen Dingen, dem ändern Teile aber in geistlichen Dingen auf Grund der S chrift absprechen zu können glaubte: „Zum Glauben kann und soll man Niemands zwingen“ (S. 85) und „ob man gleich alle Juden und K etzer m it Gewalt verbrennet, so ist und wird doch keiner dadurch uberwunden und bekehret“ (S. 92).

1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 73

*) Erlanger Ausgabe 22, S. 59,

(12)

n Wolfstieir, H eft 3 u. 4.

L uther war damals noch nicht der V ertreter des Glaubens­

zwanges, der er nachher wurde. Noch weht das Bewusstsein von der Unüberwindlichkeit der Idee durch seine Schrift, und man fühlt einen Hauch von der „Freiheit des Christenmenschen“ in ihr. L uther geht hier von der Teilung der Menschen in ein Reich Gottes und in ein Reich der W elt aus; hätten wir das erstere, das in den Herzen aller wahrhaft Frommen hier auf Erden wohnt, ja das Ziel und die Aufgabe aller Christenheit überhaupt ist, jetzt schon völlig in uns herrschend, wir brauchten wahrlich kein welt­

lich Regiment. „Dem Gerechten ist kein Gesetz geben, sondern dem Ungerechten.“ (S. 67.) A ber da „der Bösen immer viel mehr sind, denn der From men“ (S. 69) und „kein Mensch von N atur Christen oder frumm ist, sondern allzumal Sünder und böse sind, wehret ihnen G ott allen durchs G esetz“ (S. 67); denn wo das nicht wäre . . „würde eins das ander fressen, dass Niemand kunnt Weib und K ind ziehen, sich näheren und G otte dienen, damit die W elt wüste würde. Darum b hat G ott die zwei Regiment ver­

ordnet: das geistliche, wilchs Christen und frumm L eut macht, durch den heiligen G eist unter C hristo; und das weltliche, wilchs den Unchristen und Bösen wehret, dass sie äusserlich müssen Fried halten, und still sein ohn ihren D ank“ (S. 68).

Also der S taat ist nach L uth er eine Organisation, die ledig­

lich der Sünde der Menschen ihr Dasein verdankt und keineswegs sittliche Begründung in sich selber findet. E r ist nur ein Teil der Gottesordnung in der dem Menschen anbefohlenen und zu rechtem Gebrauch unterworfenen Schöpfung. N ur darum ist er göttlichen Rechtes, von Gottes Gnaden, „denn es ist kein Gewalt ohn von Gott. Die Gewalt aber, die allenthalben ist, die ist von G ott verordnet“ (S. 63). Es ist also ganz gleichgültig, wer und welcher A rt die O brigkeit ist, woher sie stammt. Auch der Gross­

sultan ist O brigkeit und ein Christ kann ihm ohne W eiteres dienen, selbst dann dienen, wenn der Türke die C hristenheit und das Evangelium bedrohte. Denn auch diese O brigkeit ist von G ott gewollt und ihr Thun von G ott erlaubt, ja ist selbst G ottes­

dienst. „W enn die Gewalt und das Schwert ein G ottisdienst ist,

so muss auch das Alles G ottesdienst sein, das der Gewalt noth

ist, das Schwert zu führen. Es muss je sein, der die Bösen fähet,

verklagt, würget und um bringt“ (S. 81). Man kann so mit Blut-

vergiessen den Himmel besser verdienen als Andere m it Beten.

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19 0 1 . Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren.

D er U nterthan muss nach L uther der O brigkeit dienen und in weltlichen Dingen unter allen Umständen der gebietenden H errschaft gehorchen, er würde sich sonst gegen G ott und G ottes­

ordnung versündigen. Gehorsam ist der lutherischen Staatsweisheit letzter Schluss; denn „G ott will lieber leiden die O berkeit, so U nrecht th u t, denn den Pöbel, so rechte Sache hat“. Voraus­

setzung ist allerdings immer, dass die Gewalt, die die Obrigkeit ausübt, rechtm ässig ist, d. h. ihr Thun sich auf rein weltliche Dinge erstreckt und dem Bösen wehrt, oder wie man später lehrte, in Glaubenssachen förderlich war. Öffentliche Violentia hebt allerdings alle P flicht zwischen U nterthan und dem Oberherrn a u f1) jure naturae „und es ist kein U nterschied zwischen einem Privatm ann und dem K aiser, so er ausser seinem Am pt unrecht Gewalt vornim m t“. Das unterschrieb L uther gleicherweise m it Jonas, Bucer und M elanchthon in einem G utachten, das sie im Januar 1539 gemeinsam über die Frage abstatteten, ob die O brig­

keit — hier sind die Landesfürsten gemeint, zu denen der P rote­

stantismus seine Zuflucht nahm, nachdem sich K arl V. ihm versagt hatte — schuldig sei, sich und ihre Unterthanen wider Unrechte Gewalt zu schützen, wider gleiche Fürsten und den Kaiser.

Indessen verdanken wir L uthers A uftreten eine Errungen­

schaft für das Staatswesen d o ch : die Erhebung des Staates zu gleichem Range mit der K irche und die Stabilierung der Souve­

ränität der weltlichen O brigkeit in weltlichen Dingen. Bis dahin hatte sich das V erhältnis zwischen Staat und Kirche im Laufe der Geschichte so entwickelt, dass die weltliche Gewalt der geist­

lichen untergeordnet und von ihr vielfach abhängig war. Die Bulle „Unam sanctam“ hatte auch theoretisch die O berherrschaft des Papstes über die Fürsten in klaren W orten ausgesprochen und der gläubigen C hristenheit zum Gesetz gemacht. Dagegen tra t L uther von vornherein ganz im Sinne und in der Richtung seiner übrigen Lehren vom Staate sehr energisch auf; „Drumb sag ich: dieweil weltlich Gewalt von G ott geordnet ist, die Bosen zu

’) Früher war Luther allerdings anderer Ansicht: „Dass kein Fürst wider seinen Uberherrn, als den König und Kaiser, oder sonst seinen Lehen- herm, kriegen soll, sondern lassen nehmen, wer da nimpt. Denn der Über­

le i t soll man nicht widerstehen mit Gewalt, sondern nur mit Erkenntniss der Wahrheit: kehret sie sich dran, ist gut, wo nicht, so bist Du entschul­

diget, und leidest Unrecht umb Gottes willen“ (S. 101).

(14)

70 Wolfstieg, H eft 3 u. 4.

strafen, und die Frummen zu schützen, so soll man ihr A m pt lassen frei gehen und unvorhindert durch den ganzen K örper der Christenheit, niemands angesehen, sie treff Papst, Bischof, Pfaffen, M unch, Nonnen oder was es ist“ . . . . „Denn also sagt St. Paul allen C h risten : ein igliche Seele (ich halt des Papsts auch) soll unterthan sein der U birkeit“ *). U nd daran hat L uther und der Protestantism us überhaupt festgehalten. Aber wie die Bewegung nun weiter verlief, blieb doch eine weite K lu ft zwischen der ur­

sprünglichen Idee, den S taat unabhängig von der K irche zu stellen, lind der Ausführung derselben; man gelangte bekanntlich schliess­

lich zu einer völligen U nterordnung der K irche unter den S taat und des geistig-religiösen Lebens in der Gemeinde unter das politisch- soziale Wirken der Obrigkeit. Allerdings soll man anerkennen, dass damals der Protestantism us keine W ahl hatte; er musste sich unter den Schutz des Schwertes stellen und durfte hoffen, dass der religiöse Gedanke stark genug sein werde, die Idee rein wieder­

herzustellen, was sich freilich als Irrtum erwies.

Im Gegensatz sowohl zum asketischen Katholizismus wie zum Luthertum ruft der C a l v i n i s m u s 2) den Menschen zur energischen Thätigkeit auf und verlangt, dass der G ottesdienst die A rbeit eines thätigen Lebens sein soll: Religiosität muss sich in die Sittlichkeit des täglichen Lebens umsetzen. A ber da Cal­

vin und seine Anhänger auf das alte Testam ent zurückgingen, so erhält die T hätigkeit selbst einen strengen und düstern Charakter und verliert die sonnige Fröhlichkeit, die sie bei Zwingli und bei L uther noch besitzt. Das zeigt sich auch in Calvins Staatstheorie.

In Allem erscheint es dem grossen Reformator besser, dass die O brigkeit in ihrem Am t zu strenge als zu milde verfahre3). M it furchtbarer Gewalt handhabte er selber die Strafgesetze. N icht nur Diebstahl und M ord fiel ihm unter den B egriff des V er­

brechens, sondern auch U nzucht, E hebruch, Trunkenheit und

*) An den Christlichen Adel deutscher Nation. Werke Erlanger Ausg.

21 S. 284.

2) E u c k e n , Lebensanschauungen der grossen Denker; E l s t e r , Calvin als Staatsmann, Gesetzgeber und Nationalökonom in Conrads Jahrbücher 31 p. 163. 1878. S t ä h e l i n in Herzogs Encyclop. 3. Aufl. Bd. 3. Dann S t ä h e - l i n , Calvin im „Leben der Väter und Begründer“. Bd. 1. S. 320 ff.

3) Tnstit. IV , 20. 10. Dagegen Luther Werke 22 S. 100: „Wer nicht

kann durch die Finger sehen, der kann nicht regieren.“

(15)

Schmähungen des göttlichen Namens. Das Leben wird in Calvins H and zu einem K am pfe zur E hre G ottes, die Triebfeder alles Handelns ist allein die Pflicht. „Diese Religiosität unterscheidet sich, sagt Dilthey, von der Luthers durcli die rauhen Pflichten des in einem strengen D ienst stehenden K riegers G ottes, welche jeden Lebensmoment ausfüllen. Sie unterscheidet sich von der katholischen Fröm m igkeit durch die in ihr entbundene K ra ft der selbständigen Aktion.“ Man erkennt den Einfluss dieser ver­

schiedenen W eltanschauungen an den drei grossen Feldherrn, die wenn auch verschiedenen A lters, doch Zeitgenossen waren: an Tilly, G ustav Adolph und F riedrich H einrich von Oranien. D er Bayer war nichts als ein Landsknecht seiner Kirche, trotz seiner Bigotterie selbst entm enscht wie seine Soldateska. Dagegen war der Schwedenkönig eine liebenswürdige N atur und in seinem Denken und Handeln weniger streng als gemütvoll. Gustav Adolph konnte, den Degen in der Faust, vor seinem H eere m it Inbrunst beten uqd fromme Choräle in tiefster Andacht singen und nach der Schlacht dann in seinem Zelte gar wacker zechen und wie ein Troubadour zur Laute singen, G ott zur E h r und seinem Liebchen zur Freude. Ihm fehlte, wie weiland dem Dr. M artinus, die helle L ust am Leben bei aller Tiefe der Fröm m igkeit nicht.

Das Alles war dem Pflichtgefühl des grossen Oraniers fremd, so sehr auch ihm die F reude am Dasein aus den Augen lachte.

F riedrich H einrich lag wider seine Feinde im dumpfen Gefühle der ganzen Schwere der persönlichen V erantw ortlichkeit G ott gegenüber und begründete die stolze H ärte gegen sie mit der religiösen P flicht wider die Feinde Gottes, für die er seine Gegner natürlich ansah. Es gab keine F reude in seinem Feldlager, und als dann der junge K urprinz von B randenburg, der nachmalige Grosse K urfürst, sich aus einem K reise junger Cavaliere und ihren verführerischen Gelagen im H aag losriss und zu ihm in die Trancheen vor Breda eilte, erkannte Friedrich H einrich Geist von seinem G eiste in dem standhaften Jünglinge: „Ihr habt eine grössere T h at gethan, als wenn ich Breda nähme“. E s gab nur eins für den eifrigen und gottesfürchtigen O ranier: Pflicht, P flicht und wieder Pflicht. E s ist in W ahrheit oranische Erziehung auf der Grundlage calvinistischer W eltanschauung, die im Zollern- Greschlecht seither haftet; hier haben sie gelernt zu schaffen „für G ott und fürs V olk“.

1901. De1' Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 77

(16)

78 Wolfstieg, H eft 3 u. 4.

Dennoch ist dem Calvinismus die Idee der „L ibertät“ keines­

wegs fremd. Das klingt zwar paradox, ist aber nichtsdestoweniger richtig. Die calvinistische Lehre hat zuerst in H olland, dann durch O liver Cromwell und die Seinen in England und schliess­

lich nach einigen romantischen Verirrungen in das G ebiet des

„beschränkten U nterthanenverstandes“ auch in Preussen die poli­

tische Freiheit gezeitigt. Diese musste unter dem lutherischen Gedanken der U nfreiheit des AVillens und des unbedingten Ge­

horsams gegen die O brigkeit notgedrungen erbarmungslos ver­

küm m ern; Calvins Staatslehre ist dagegen dadurch eine mächtige Triebkraft zur religiösen und bürgerlichen F reih eit geworden, dass sie Pflicht und Gewissen zur Grundlage auch des poli­

tischen H andelns machte. D er Genfer Reformator legte von vornherein auf die F reiheit selbst sehr hohen W ert. „Gerne bekenne ich,“ ru ft er aus, „dass es keine glücklichere Regierungs­

form giebt, denn diejenige, wo die F reiheit sich in den Grenzen einer richtigen Beschränkung bew egt; trägt doch auch eine solche die Bürgschaft der D auer in sich. Ich meine aber gleichfalls, dass diejenigen, die unter einer solchen H errschaft stehen, sehr glücklich sind, und ich behaupte, dass die M agistratspersonen ihre P flicht vernachlässigen, ja zu V errätern werden, welche nicht Alles daran setzen, die F reiheit standhaft und tapfer zu bewachen und zu verteidigen.“ *) E s schreibt sich auch wohl aus dieser Anschauung her, dass Calvin die Monarchie verwarf, weil er ihre A usschreitungen fürchtete. Seinem ganzen Wfesen nach neigte er zur aristokratischen Republik, da ihm auch das Majorisieren der urteilslosen Menge verhasst war. A ber an sich hatte er auch gegen die monarchische Regierungsform und gegen die Demokratie nichts einzuwenden, und er stand nicht an, auch gegen diese von seinen Gläubigen strengsten Gehorsam zu fordern. Denn auch Calvin ist wie L uther (S. 20) Gehorsam selbst gegen eine tyran­

nische Regierung vornehmste P flicht der Unterthanen. A ber Calvin machte von diesem Satze die A usnahm e, dass, wenn sich die O brigkeit in Gegensatz stellt zu den Befehlen G ottes, dann solle man G ott unter allen Umständen mehr gehorchen als den Menschen, und der W iderstand gegen die gottlose O brigkeit wird Pflicht. Man begreift, wie diese Ausnahme die ganze Theorie zu

') Pol. II I, 4, 7.

(17)

Schanden macht. Oliver Cromwell und seine puritanischen G ottes­

streiter haben unter Berufung auf diese Lehre das Schwert gegen ihren König ergriffen, die englische F reiheit erfochten kraft des Gebotes ihres Gewissens. W underbar genug: L uther ging einst in jungen Jahren von dem fruchtbarsten Prinzip staatlichen Lebens, der Freiheit des Christenm enschen, aus, während Calvin seinen Ausgangspunkt von der Abhängigkeit des Individuum s von der Gemeinschaft nahm; aber der W ittenberger entgleiste auf dem W ege zur politischen F reiheit, während der Genfer mutig zur Freiheit des guten Gewissens auch im staatlichen Leben fort- schritt.

M erkwürdig ist auch, dass Calvin der erste war, welcher die vollständige Trennung von S taat und K irche verlangt hat.

Calvin forderte die Selbständigkeit und Gleichheit beider In ­ stitutionen auf G rund der Trennung der vollständig verschiedenen und an sich gleichwertigen Arbeitsgebiete derselben am K örper der christlichen M enschheit. Denn K irche und S taat haben zwar denselben Zweck, die „V erherrlichung Gottes durch die Heiligung seiner Bekenner“, aber jener fällt die A rbeit an der Seele, diesem die Förderung des Leibes und des äusseren Lebens zu. Die K irche entfaltet demgemäss ihre T hätigkeit auf den drei Gebieten der christlichen L ehre, der Seelsorge und der sittlichen Zucht, und hier steht ihr Gewalt und souveränes R echt zu, das von der Kirchengem einde, in welcher Form es auch immer sei, ausgeübt

■wird. D er hauptsächlichste Zweck der staatlichen Organisation ist dagegen d er, „den äussern D ienst G ottes zu nähren und zu erhalten, die reine Lehre und Religion zu schützen, uns zu bilden zu Jeglichem, was lieblich und ehrbar ist und das rechte Zu­

sammenleben der Menschen fördern kann“ x). Man sah in Calvins theokratischem Staate in Genf häufig genug M agistrat und Geist­

liche Zusammenwirken, weiss allerdings heute auch ganz genau, dass in praxi doch der geistliche Einfluss in den ersten Gene­

rationen der Reformation hier stark überwog, und der S taat sich in seiner Unabhängigkeit in W ahrheit nicht behaupten konnte.

W elchem A rbeitsgebiete die Schule zugehörte, darüber hätte man m it F ug und R echt damals nicht streiten können, sie war überall wie hier in den H änden der K irche; aber auch die G erichtsbar­

1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 79

*) Instit. IV , 20.

(18)

80 Wolfstieg, H e ft 3 u. 4

.

keit war in Genf fast vollständig in der Gewalt der die Zucht streng ausübenden G eistlichkeit übergegangen, was Zwingli wieder ein Greuel war: „Alles so der geistlich Staat im zugehören rechtes und rechtes schirm halb furgibt, gehöret den weltlichen zu, ob sy Christen syn wellind“ 1).

M it Zwingli protestierte gegen solche Zustände auch ein Häuflein evangelischer C hristen, die überhaupt m it keiner der unter einander hadernden K irchen ihre Überzeugung in Einklang zu bringen verm ochten: ich meine die sogenannten W ied ertäufer2).

Schlimm, dass diese frommen und friedfertigen Leute durch die M iinsterische und Münzersche Bewegung, die sie selber als Sünde bezeichneten und m it allen Zeichen des Abscheus verurteilten, unrettbar kom prom ittiert sind. Sie erklärten einmütig, dass sie einen Einfluss der weltlichen O brigkeit auf die religiöse Ü ber­

zeugung und das christliche Leben nicht gestatten könnten, und verwarfen den Gebrauch des Schwertes, der ebensowenig nach der Lehre des H errn erlaubt sei, wie der mit seiner Führung verbundene H ass und Zorn. Niemandem, auch der Obrigkeit nicht, steht das Recht zu, einen V erbrecher mit dem Schwerte zu richten.

Nach Paulinismus schmeckte ihre Überzeugung, wie man sieht, nicht. Sie legten, wenn ich diese M änner recht verstehe, über­

haupt den H auptton auf die Erziehung, die ja an einem Gerich­

teten unmöglich ist. Die Täufer erlaubten es daher auch nicht, dass einer der Ihrigen ein obrigkeitliches A m t übernahm, da m it diesem, wie die Dinge nun einmal standen, die F ührung des Schwertes notwendig verbunden war. D er Staat, sofern er Gewalt­

herrschaft und Zwang übt, war ihnen ein notwendiges Übel, wel­

ches nur solange erträglich scheint, als es neben Gläubigen und Gerechten auch Ungläubige und Ungerechte giebt. Im Übrigen forderten sie ihre A nhänger dringend zum Gehorsam gegen die einmal bestehende O brigkeit auf und litten Verfolgung und Gewalt um ihres Glaubens willen gern. Das Streben nach der Nachfolge Christi und der H erstellung des Reiches G ottes auf Erden, dessen Kommen sie nahe wähnten, macht diese frommen Menschen be­

sonders interessant, und man kann nicht läugnen, dass gerade die J) Thes. 36.

2) L u d w ig K e l le r , Geschichte der Wiedertäufer zu Münster (Mün­

ster 1880). ' Derselbe, Enr Apostel der Wiedertäufer (Hans Denck) (Leipzig,

S. Hirzel 1882).

(19)

1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 81 Täufer, namentlich solche erleuchteten K öpfe wie Denck, ihrer Zeit um ein Beträchtliches voraus waren. W ir wissen oft nicht, wie viel von dem, was uns heute in Fleisch und B lut übergegangen ist, eine alte, vielbestrittene Forderung der T äufer war.

Das wird eine künftige Zeit noch des Näheren feststellen müssen; ihr Staatsideal ist jedenfalls damals unrettbar gescheitert und verloren gegangen, und wird erst heute wieder, aber aus ganz ändern Motiven, hie und da aufgenommen und verteidigt. W eder Bertha v. Suttner mit ihren „W affen nieder“, noch Max Stirners N achtreter m it ihrem ausgeprägten individualistischen Nihilismus, noch auch K rapotkins und Reclus’ Anarchismus kann sich mit ihnen an Reinheit und Tiefe der Gesinnung irgendwie messen.

W ir sind am Ende. Die Skizzen, so lückenhaft sie auch sind, werden gezeigt haben, wie unendlich schwer es ist, die hohen Ideale, die uns Jesus Christus in unvergänglicher Schrift vor­

gezeichnet hat, m it dem praktischen Leben dauernd und fest zu verknüpfen. Das Ziel ist zu hoch, die Schneide, auf der man zu ihm vorwärts schreiten muss, ist zu schmal, als dass Mensch und Menschenwerk nicht verderben sollte auf dem Wege dahin.

W elches Bild vom Staatsleben man aber als das dem gewollten ähnlichste auch wählen mag, immer muss es, wenn es dauern soll, einen Spruch als U m schrift und vornehmsten Befehl enthalten:

A n’s Vaterland, an’s teure, schliess D ich an, Das halte fest mit Deinem ganzen Herzen.

-Monatshefte (W C om enius-G oscllschaft. lÖOi.

(

j

(20)

Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft.

Von

Dr. H ein rich R o m u n d t in Dresden-Blasewitz.

E r s t e r T e i l .

Der Platonismus in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft.

1. Kapitel.

B e im U r t e i l ü b e r S c h ö n h e i t g i e b t s ic h e in B e s t a n d t e i l d e r E r k e n n t n i s v o n p l a t o n i s c h e r A r t k u n d .

Die M onatshefte der Comenius-Gesellschaft, Bd. IX . (1900) S. 129— 145, enthalten einen Aufsatz über „K ants schiedsrichter­

liche Stellung zwischen Plato und E pik ur“. Den Anlass zu dem­

selben gab das Buch von Friedrich Paulsen, „Immanuel K ant. Sein Leben und seine Lehre. S tuttgart 1898.“

In diesem Buche ist zwar durchaus nicht zum ersten Male, aber doch m it einem Nachdruck wie vielleicht nie zuvor auf die V erw andtschaft K ants mit Plato hingewiesen und dam it zugleich der Versuch gemacht, eine bis dahin herrschende gerade entgegen­

gesetzte Auffassung der K antischen Philosophie vom M arkte zu verdrängen. Diese letztere, die den Anfang der erneuten B e­

schäftigung m it K ant in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts machte und von Männern wie Fr. Alb. Lange, dem V erfasser der Geschichte des M aterialism us, und seinen F reun ­ den, den N eukantianern, vertreten wurde, sah in K ant nur den N aturforscher und Erfahrungsphilosophen, der die W issenschaft auf die blosse E rfahrung habe einschränken wollen, k u rz : den Epikuräer und Humisten.

Nach dem H ervortreten der dieser ersten gerade entgegen­

gesetzten Auffassung bei Paulsen scheint nunm ehr der Zeitpunkt gekommen zu sein, um das V erständnis des Kantischen W erkes über alle bisherigen Einseitigkeiten hinauszuführen und dieses W erk in seiner Ganzheit und wirklichen Eigentüm lichkeit im Geiste, wenn auch nicht im Buchstaben seines Urhebers zu erneuern.

Diese A rbeit ist von dem V erfasser dieser Zeilen zwar schon

einmal vor bald zwanzig Jahren im Jubeljahre des Erscheinens

der K ritik der reinen V ernunft 1881 in „Antäus. Neuer Aufbau

(21)

1901. r>er Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 83 der Lehre K ants über Seele, F reiheit und Gott.“ Leipzig, V eit u. Komp., in Angriff genommen, aber vielleicht, wie jetzt zu ver­

muten, vor der Zeit, sofern damals die zweite Einseitigkeit der Auffassung, die platonisierende, ausser etwa in einer gänzlich ver­

alteten F orm , noch keine energische öffentliche V ertretung ge­

funden hatte. Die jetzt in dieser H insicht veränderte Lage zu­

sammen m it anderen Umständen scheint für die W iederholung des Unternehmens im gegenwärtigen Zeitpunkte Hoffnung auf besseren Erfolg zu geben.

D er Anfang dieser zweiten Erneuerung aber ist dem P ubli­

kum bereits in dem Eingangs erwähnten Aufsatze dieser Zeitschrift vorgelegt worden. W as nun in der genannten Abhandlung für K ants K ritiken von 1781 und 1788, für die K ritik der reinen V ernunft und die K ritik der praktischen V ernunft, dargelegt ist, das soll heute für das W erk von 1790, die K ritik der U rteilskraft, unternommen werden. Diese kündigt schon durch ihren Namen ihre G leichartigkeit m it den K ritiken von 1781 und 1788 an: dass nämlich auch sie ein Schiedsgericht enthält oder dass, anders ausgedrückt, auch in ihr ein G erichtshof errichtet ist für den S treit zweier P arteien, eben der Platoniker und der Epikuräer.

F ü r E pikuräer mag jedoch auch hier wegen der Übeln Bedeutung, die sich an dieses W ort seit Alters angehängt hat, lieber gesagt werden: der Humisten.

Sowohl in der K ritik der reinen wie in derjenigen der prak­

tischen V ernunft fanden wir K an t dam it beschäftigt, einen Be­

standteil der menschlichen Erkenntnis von platonischer A rt oder ein ideelles M oment darzuthun, was aber, da auch ein völlig anders­

artiges, entgegengesetztes, sensuelles oder materielles Elem ent zwar mehr vorausgesetzt und hingenommen als ausführlich nachgewiesen wird, offenbar keineswegs gleichbedeutend m it blossem Platonismus ist. Einen Bestandteil gleicher platonischer, ideeller A rt haben wir nun danach auch als Gegenstand der dritten Kantischen K ritik zu erwarten. U nd K ant verhehlt nicht, dass er nach einem solchen geradezu gesucht hat, und ebensowenig, aus welchem Grunde er danach gesucht hat.

Es m acht sich nämlich zwischen der nach der Analytik der K ritik der reinen V ernunft uns zuzumutenden und m it Entw icke­

lung der W issenschaften mehr und mehr wirklich zugemuteten un­

bedingten U nterwerfung der Geistes vermögen unter das zu Gebende zum Behuf der Erkenntnis oder dem durch diese Erkenntnis zu gewinnenden W a h r e n und andererseits der reinen rücksichtslosen Bestimmung des inneren und äusseren V erhaltens nach dem Gesetz der Exem plarität oder dem durch dieses V erhalten zu wirkenden G ru te n eine K lu ft bemerklich. I s t es doch ein Gegensatz wie zwischen Nehmen und Geben. Zwischen dem leidenden Nehmen und dem thätigen Geben würde aber etwa verm itteln das lin d e n

6*

(22)

84 Roinundt, H eft 3 u. 4.

eines Gesuchten oder die Erfüllung eines Wunsches. Beim Sachen nun nach einer Brücke, die diesem letzteren entspräche, zwischen dem auf N aturerkenntnis gerichteten und durch E rfahrungsbestäti­

gung zu befriedigenden Geiste einerseits und dem sich von aller Erfahrung losreissenden und dieser selbst entgegenarbeitenden reinen Wollen andererseits fand K ant, dass wir uns eines Momentes, das über das blosse kalte Erkennen z. B. eines Palastes hinausführt, bew usst werden, wenn wir ruhiger verweilender B etrachtung Kaum gebend ein solches Gebäude noch zu beurteilen oder zu empfinden und zu schmecken versuchen. Dann nämlich werden wir eines Verhältnisses der gegebenen Vorstellung solches Gegenstandes nicht etwa nur zu irgend welchen vorzustellenden G ebrauchs­

zwecken, wie z.B . zum Wohnen, inne, sondern vielmehr zu unseren Auffassungsvermögen selbst, die bei der Erkenntnis desselben in Anwendung kommen, und zu Forderungen, wie etwa der Einfach­

heit, Fasslichkeit und wiederum der M annigfaltigkeit, die in deren N atur begründet sind. D er Gegenstand aber, der Palast, heisst uns, je nachdem ein durch die Vorstellung desselben veranlasstes wohlgefälliges Spiel dieser E rkenntniskräfte, eine stärkende A n­

regung, deren Andauern zu wünschen wir nicht unterlassen kön­

nen, oder auch das Gegenteil uns ins Bewusstsein tritt, in K ants Sprache: eine subjektive Zweckmässigkeit oder auch Unzweck­

mässigkeit, schön oder hässlich.

F ü r die einzelnen Merkmale dieses Gefallens, beziehungsweise Missfallens, gestatte man dem V erfasser, der Kürze wegen auf die ausführliche möglichst fassliche Darlegung derselben in seiner S chrift „Eine Gesellschaft auf dem Lande. U nterhaltungen über Schönheit und K unst m it besonderer Beziehung auf K ant.“ Leipzig, bei C. G. Naumann 1897, S. 13—36 zu verweisen. H ier werde nur das besonders Bedeutsame erwähnt, dass das von uns empfundene Gefallen oder Missfallen an der Vorstellung des Gegenstandes als ein notwendiges und allgemeingültiges jedem anderen Menschen gleichfalls von uns zugemutet oder angesonnen wird. In dieser H insicht besteht eine bemerkenswerte Verschiedenheit dieses Em ­ pfindens oder Schmeckens der Schönheit oder H ässlichkeit eines Palastes von dem Zungengeschmack. Niemand m asst sich an, den­

jenigen, dem junge Erbsen zu essen eine Qual ist, zu meistern, da über den Geschmack nicht zu streiten sei. Bei der zwar in W irk­

lichkeit vielleicht nicht geringeren Uneinigkeit über Schönheit von Gemälden, Statuen, H äusern aber ist man nicht zu der gleichen D uldsam keit geneigt. D ieser A nspruch auf Allgemeingültigkeit meines subjektiven individuellen Schmeckens kann nun nach Menschenermessen begründet sein nur, sofern ich mich bei meiner Beurteilung von besonderen individuellen subjektiven Befangen­

heiten des U rteils völlig frei nicht nur meine, sondern weiss. Dann aber wären — und darauf läuft K ants Deduktion oder Recht­

fertigung dieses Anspruchs auf Allgem eingültigkeit des geistigen

(23)

1901. Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 85 Geschmacks hinaus — einzig und allein die der Erfahrung ent­

gegenzutragenden zur gemeinen und gemeingültigen Erkenntnis dienenden Vermögen des Verstandes und der Einbildungskraft in Thätigkeit getreten als dasjenige Apriorische, an dem die Gegen­

stände, die uns etwa Vorkommen, sich zu messen haben. Deren Übereinstim m ung aber bei allen Menschen ist schon Voraussetzung aller M itteilbarkeit von Erkenntnis.

2. Kapitel.

D a s U n p l a t o n i s c h e in d e r F a s s u n g d e s p l a t o n i s c h e n M o m e n ts d u r c h K a n t.

Warum aber geben wir jenem von K ant im ersten Teil der K rit. d. Urt., d. i. in der K ritik der ästhetischen U rteilskraft, auf­

gestellten, sorgfältig auseinandergelegten und eingehend beschrieb benen Apriori die Bezeichnung platonisch? Dies geschieht nicht nur, weil es ein der Erfahrung schon entgegenkommendes und nicht allererst aus ihr zu gewinnendes Moment ist. Eine weitere, genauere Begründung findet diese Benennung noch darin, dass jenes Apriori K ants den K enner Platos geradezu an eine Stelle in der von Sokrates im platonischen „Gastmahl“ berichteten Rede der weisen Diotima erinnert, eine Stelle, welche nicht undeutlich als der Gipfel von deren W eisheit bezeichnet wird. Diotima spricht nämlich hier als von einem Letzten und Höchsten von einem gestaltlosen Schönen, „nicht wie ein G esicht oder H ände oder sonst etwas, was der Leib an sich hat“, sondern „an dem alles andere Schöne auf irgend eine solche Weise Anteil hat, dass, wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgend einen Gewinn oder Schaden davon hat noch ihm sonst etwas begegnet“. Gastmahl, Kap. 29.

W er dies liest, wird uns zugeben, dass P lato hier wenigstens auf dem Wege zu der von K ant aufgedeckten und auseinander­

gelegten Voraussetzung für die Erfahrung des Schönen einzelner sinnlicher und auch nicht sinnlicher Gegenstände in der mensch­

lichen N atur war. Diese Voraussetzung kann ja ebenfalls mit G esichtern und H änden keine Ähnlichkeit haben. Ob mehr als bloss auf dem W ege, dürfte aus den weiteren Darlegungen der Diotima erhellen. In diesen erklärt sie für das richtige V erfah­

ren, von dem einzelnen Schönen begiunend, also z. B. von einem schönen Jünglingskörper, jenes e in e n Schönen wegen immer höher hinaufzusteigen, gleichsam stufenweise, von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Gestalten und von den schönen Ge­

stalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen und von den

schönen Sitten zu den schönen K enntnissen, bis man von den

Kenntnissen endlich zu jener K enntnis gelange, welche von nichts

Anderem als eben von jenem Schönen selbst die K enntnis ist,

und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne. Scheint

(24)

86 Romundt, H eft 3 u. 4.

nun nicht hiernach Plato eine Reihe angenommen zu haben, die m it dem einzelnen schönen K örper beginnt und mit dem Schönen an sich selbst endet? Das aber wäre durchaus nicht dasselbe wie bei K ant. Denn bei diesem steht das bei Plato zuletzt Ge­

nannte nicht m it jenen anderen Erfahrungsgegenständen in einer Reihe, sondern vielmehr ihnen allen insgesamt gegenüber.

Übrigens bietet sich hier eine Gelegenheit, um ein für alle M al zu bemerken, dass, wenn wir in dieser Abhandlung wie schon in dem vorher erwähnten Aufsatz der M.H. der G.G. und vielleicht auch in Zukunft von einem platonischen Bestandteil in K ants kritischer Philosophie sprechen, niemals an eine historische A b ­ hängigkeit K ants von Plato zu denken ist. W ir dürfen vielmehr einzig auf eine der platonischen verwandte G eistesart und G eistes­

richtung schliessen, die unseren Landsm ann auf eben dasselbe wie den grossen Denker des A ltertum s achten liess. A ber die Fassung ist bei dem Nachlebenden schon wegen des fortgeschrittenen Standes der W issenschaften und des Denkens notwendig eine andere, eine wahrere als bei seinem grossen Vorgänger.

In dem vorliegenden Falle nun unterscheidet K an t das­

jenige, was man nach den W orten der M antineischen Fremden an Sokrates m it köstlichem G erät oder Schmuck oder m it schönen Knaben und Jünglingen, kurz: m it einzelnen schönen Objekten nicht wird vergleichen wollen, als blosse Voraussetzung der E r­

fahrung des Schönen zunächst allein im menschlichen Gemüte oder im Subjekte klar und scharf von allem einzelnen Schönen als Gegenständen der Erfahrung und Beurteilung. Dies schliesst nicht aus, dass in den geheimnisvollen W orten Platos noch weit m ehr und Höheres enthalten sein mag, als K an t daraus zunächst in der A nalytik der K ritik der ästhetischen U rteilskraft einer ge­

nauen eingehenden und erschöpfenden „Exposition“ unterw arf und dadurch für die allgemeine E rkenntnis und Benutzung barg. Denn sollte Plato nach seiner A rt nicht auch hier unter geringerer Be­

achtung eines N ächsten, M ittleren auf das H öchste losgegangen sein? In diesem Falle würden wir noch einmal m it K an t auf diesen platonischen Bestandteil der Erfahrung des Schönen zurück­

kommen müssen. Zunächst aber wollen wir nicht unterlassen, uns zu vergegenwärtigen, was schon mit dem ersten F ortsch ritt an K lärung der Einsicht bei K ant gewonnen ist.

D adurch, dass K a n t das platonische Moment nicht wie Plato

als ein gestaltloses Schönes, sondern als eine blosse Voraussetzung

von E rfahrung im menschlichen Gemüte auffasst, entzieht er sich

einer Gefahr, der Plato trotz allem nicht entgangen ist und nicht

wohl entgehen konnte. W ir zielen hierm it auf eine Verdoppelung

der W elt m it Bevorzugung des übersinnlichen Urbildes, die Plato

schon von Aristoteles vorgeworfen ist und die verführen musste,

die W elt der gestalteten D inge, das einzige objektiv Schöne, zu

fliehen, um bloss in einem W ölkenkuckucksheim herumzuschwär­

(25)

1901. Der Platonismus in Kants K ritik der Urteilskraft. 87 men. K ant dagegen kann nur meinen, durch seinen Hinweis auf die Ursachen und Vermögen, die im menschlichen Subjekt liegen, das Verständnis der Erfahrung des Schönen dieser W elt gefördert zu haben. Diese Beschränkung auf die bescheidenere Aufgabe hat aber die weitere wichtige Folge, dass K ant anders als der w elt­

flüchtige Plato auch für sehr andersartige Bemühungen um eben dieselbe Erfahrung des Schönen offen und empfänglich bleibt.

So, wie § 34 der K rit. d. Ürt. beweist, für das Streben eines Lessing, der sich auf das Objektive der Schönheit beschränkt und durch mannigfache Vergleichung der Objekte unter einander unter­

scheidende Merkmale des Schönen zu gewinnen sucht.

Ebenso hat K ant bereits, hierin ein V orläufer unserer M oder­

nen, aber ohne deren Einseitigkeit, ein sehr unplatonisches, viel­

mehr humesches oder epikurisches Elem ent in der Betrachtung schöner K unst, nämlich die von Gegenständen dieser zu fordernde Naturwahrheit, zu würdigen vermocht.

W ir denken hier an den goldenen Satz K ants in dem A n­

hang „von der Methodenlehre des Geschmacks“ § 60: „W as das W issenschaftliche in jeder K unst anlangt, welches auf W ahrheit in der D arstellung ihres Objekts geht, so ist dieses zwar die un­

umgängliche Bedingung der schönen Kunst, aber diese nicht selber.“

W ie ist mit dieser Einbeziehung eines neuen Moments, des wissen­

schaftlichen, doch zugleich eine im Schlepptau blosser W issenschaft laufende Kunst, diese grosse Gefahr überwiegend wissenschaftlicher Zeitalter, sofort für immer abgefertigt!

A uf die im O bjekt liegenden Ursachen der Schönheit tiefer einzugehen, konnte nun K ant freilich nicht für seine Aufgabe halten.

Das unter Verweisung auf die entsprechenden Abschnitte der K ritik von 1790 von uns über K ant Bemerkte dürfte genügen, um darzuthun, dass, wenn K ant sich in Bezug auf das Schöne auf eine bestimmte bis dahin vernachlässigte Aufgabe einschränkte, er doch für andere Beschäftigungen m it dem Gegenstände und für deren Bedeutung sich ein offenes Auge bewahrte.

3. Kapitel.

W o r a u f d ie U m ä n d e r u n g d e s e r w ä h n t e n p l a t o n i s c h e n B e s t a n d t e i l s b e r u h t u n d w ie d a s n e u G e f a s s t e in s e i n e r

E i g e n t ü m l i c h k e i t g e s i c h e r t w ird .

Es drängt sich die Frage auf, wodurch die so völlig andere Passung eines M oments, das offenbar schon Plato vorschwebte, bei K an t verursacht ist. Dass der neuere Denker eben dasselbe sofort so ganz anders gesehen hat als sein V orläufer im A lter­

tum , dafür finden wir die Ursache in einer Einsicht, die in den

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