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Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, Mai - Juni 1901, 10. Band, Heft 5-6

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Monatshefte

der

Comenius-Gesellschaft.

Herausgegeben von Ludwig Keller.

Zehnter Band.

f ü n f t e s u n d s e c h s t e s H e f t . M ai—Juni 1901.

Berlin 1901.

R . G a e r t n e r s " V e r l a g s b u c h h a n d l u n g H e r m a n n H e y f e l d e r .

SW . Schönebergerstrasse 26.

Der Bezugspreis beträgt im Buchhandel und bei der Post jährlich 10 Mark.

Alle Rechte Vorbehalten.

D ie nächsten Hefte ersch ein en M itte Septem ber.

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I n h a l t

d e s f ü n f t e n u n d s e c h s t e n H e f t e s 1 9 0 1.

A bhandlungen, Seite

J . H a u sm a n n , Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde. Festrede,

am 12. August 1900 g e h a l t e n ... 129 Dr. H e in r ic h R o m u n d t , Der Platonisinus in Kants Kritik der Urteils­

kraft. Zweiter T e i l ...140 L u d w ig K e lle r , Sebastian Francks Aufzeichnungen über Joh. Denck

(f 1527) aus dem Jahre 1 5 3 1 ... 173 B esp rech u n g en und A n zeig en .

K v a C a l a , N eue Beiträge zum B riefw echsel zw ischen D . E . Jablonsky und G. W. L eibinz (L. K .). — C a r l B o n h o f f , Christentum und ch ristlich -soziale Lebensfragen. V ier volkstüm liche H och- schulvorträge (L. K .). — J o h a n n J a k o b B o d m e r , D enkschrift zum 200. Geburtstag (L. K .).

— Der K atechism us des Johann A m os Com enius. E in Sendschreibcn etc. (C. Th. Lion) . . 180

N ach rich ten und B em erk u n gen .

D ie Idee der E rlösung in der Lehre C hristi. — Das A lte T estam ent und seine B edeutung in der Ge­

schichte des C hristentum s. — R echtgläubigkeit und Glaubonszwang seit Errichtung der W elt­

kirche im 4. Jahrli. — D ie V erdrängung der griechischen Sprache durch die lateinische in der christlichen K irche und ihre Bedeutung. — Der D ien st der L iebe und des Schönen in der K ultgcnossenschaft der p latonischen A kadem ie. — Zur G eschichte der N am en H airesis u. Secta.

— B este des Isisk u ltes in der Sym bolik der christlichen K irche. — D ie Glaubensverfolgungon als Ursachen der geheim en G ottesdienste. — E in e Ausgabe alter Lieder der sog. W iedertäufer. — D ie Bedeutung der grossen K analschlachlen des A ugust 1588 für die E ntw icklung des toleranten Protestantism us. — E in Antrag des In stitu t de France auf H erstellung einer Gesam tausgabe von L eibn iz’ Schriften. — D ie B ew illigung von 50000 Mk. für die G eschichte des Schulw esens aus R eichsm itteln . — D ie W iederbelebung der P h ilosop h ie des Thom as von A quino. — D ie A u f­

nahm e von Glaubensflüchtlingen in B randcnbiirg-Preussen in ihrer W irkung auf die B efestigung des D eutschtum s in den Ostmarken. — D ie P hilosop h ie Christian W olffs und ihre Bedeutung für die Geistesgeschich*,e des 18. Jahrhunderts. — D ie Vertreibung der Salzburger Protestanten (1732) und die Ausbreitung des Toleranzgedankens in Europa. — Sebastian Franck und Gott­

hold Ephraim L essin g. — Friedrich N icolai in Berlin giebt einige Schriften sog. W iedertäufer im Jahre 1781 neu heraus. — Graf W ilhelm von Schaum burg-Lippe (1724 — 1777) . . . . 187

Z u sc h r ifte n b it t e n w ir an d e n V o r s itz e n d e n d e r C.-G., G e h e im e n A rch iv- K at D r. L u d w . K e lle r , B e r lin -C h a r lo tte n b u r g , B e r lin e r Str. 22 zu r ic h te n .

Die Monatshefte der C.-G. erscheinen m o n a tlic h (mit Ausnahme des Juli und August). Die Ausgabe von D o p p e lh e ft e n bleibt Vorbehalten. Der Gesamt­

umfang beträgt vorläufig 20—25 Bogen.

Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre J a h r e s b e itr ä g e ; falls die Zahlung der letzteren bis zum 1. J u l i nicht erfolgt ist, ist die Geschäftstelle zur Erhebung durch P o s ta u f t r a g unter Zuschlag von 00 Pf. Postgebühren berechtigt.

Einzelne Hefte kosten 1 Mk. 25 Pf.

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F ür die Schriftleitung verantwortlich: G e h e im e r A rch iv -R a t D r. L u d w . K e lle r.

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Monatshefte

der

Comenius-Gesellschaft.

X. Band. 1901. Heft 5 u. 6.

G r a f Z in z e n d o rf,

d e r S t i f t e r der B r ü d e r g e m e i n d e . Festrede, am 12. August 1900 gehalten von

J. H a u sm a n n ,

Pfarrei1

xu

Schwenda (Harz).

An dem vom grünen Rhein durchströmten Bodensee liegt die altertümliche S tadt Konstanz, berühm t durch ihr Konzil (1415), jene Kirchenversammlung traurigen Andenkens, welche den böh­

mischen Reformator Johann H uss zum Feuertode verurteilte. — Es war am 6. Juli 1415, als ein unheimlicher Zug zum Thore der S tadt hinauszog: M önche, K rieger, H enkersknechte, in ihrer M itte der geisterleuchtete P rager P rediger und Professor in der hohen Ketzerm ütze von Papier, m it Teufelsfratzen bemalt. Bald war der Holzstoss, zu dem „die heilige Einfalt“ eines alten über­

frommen Bäuerleins, wie H uss lächelnd bemerkte, auch ihre Scheit­

lein beigetragen, in Brand gesteckt, und im erstickenden Rauch und in der quälenden G lut der verzehrenden Flam me hauchte psalmensingend der treue Zeuge Christi sein Leben aus. D a ge- schahs, wie der spätere deutsche Sänger gesungen:

Von dem Scheiterhaufen hatten In dem lichten Flammenwagen Engel eine Menschenseele A uf zu ihrem Gott getragen.

Eine Gans liesst ihr zu Kostnitz Auf den Scheiterhaufen gehen.

Doch ein Schwan wird unserm Volke, Ja, ein Schwan wird auf erstehen.*)

Das war der S c h w a n v o n W i t t e n b e r g , der seinen Geg­

nern zum T rotz noch lange nicht sein Schwanenlied anstimmen

*) Stolberg, Ep. Dichtung von F. B o d e. Cassel, G. H . Wigand 1890.

kins der besten Epen der neuen Litteratur. Das Aufleuchten der Vorrefor- ttation im 15. Jahrhundert wird hier poetisch verherrlicht.

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. 9

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130 Hausmann, H e ft 5 u. 6.

wird. In seiner Gefolgschaft erschien dann später auch ein stolzer Adler, der weit hinaus über Land und M eer und hoch hinauf zur Sonne den königlichen F lug genommen h a t: G r a f Z i n z e n d o r f , der S tifter der erneuerten Brüdergemeinde, welcher als einer der Jünger des grossen Dr. L uther zugleich unter den Nachkommen jenes Johann Huss seine W irksam keit und seine W erkzeuge ge­

funden h a t 1).

W underbare Fügungen G ottes! Wo Scheiterhaufen brennen, von m enschlicher M ordgier und rohem Fanatism us entzündet, da stieben und fliegen auch Feuerflammen und Lichtfunken der gött­

lichen W ahrheit, der unbesiegbaren, in die W elt hinaus. Ich meine in diesem Falle nicht die schreckliche Brandfackel der Hussiten­

kriege, die, obwohl in gerechter Abwehr, doch viele Gaue Deutsch­

lands auf beklagenswerte W eise verw üsteten; nein, ich meine die segensreiche, heiFge Flamme evangelischen Glaubens, wie sie in der „ a lt e n b ö h m is c h - m ä h r is c h e n B r ü d e r k i r c h e “, der wahren und echten H ussiten, vor und nach L uther m it hellem Glanze aufleuchtete.

Noch heute singen wir einige ihrer köstlichen L ieder, wie das: „G ott wollen wir loben, der mit edlen Gaben die Kirche, sein heilig S tadt herrlich erbauet hat.“ Noch heute betrauern wir voll W ehm ut ihr unverdientes tragisches Schicksal. Denn auch sie, deren die W elt nicht w ert war, ist nach der Schlacht am weissen Berge und dem Prager Blutgericht unter den Schrecken des 30 jährigen Kriegs bis auf wenige Ü berreste zu Grunde gegangen.

A ber wiederum: welche wunderbare Fügungen G ottes! Ahn­

test du es, du frommer Comenius, du grösser L ehrer der M ensch­

heit und Bischof der alten B rüderunität, als du auf der F lucht nach Polen vom letzten der heimatlichen Berge die Neugeburt deiner K irche aus S chutt und Trüm m ern erflehtest; ahntest du

1) Aus der im Vorstehenden benutzten Zinzendorf-Litteratur möchte ich folgende Schriften empfehlen: „ G r a f Z i n z e n d o r f “ von H . Römer.

Gnadau, Unitätsbuchhandlung 1900. Eine vorzügliche populäre Biographie.

„ Z in z e n d o r f s J u g e n d j a h r e “ von W. Goetz, Prediger in Bremen. Leipzig bei Janso 1900. „ Z in z e n d o r f u n d s e in C h r is t e n t u m im Verhältnis zum kirchlichen und religiösen Leben seiner Zeit“ von D. B. Becker. 2. Ausg.

Leipzig, Jansa 1900. Bisher (ausser Schrautenbach) das B este, was über Zinzendorf geschrieben wurde. „ D e r G r a f Z in z e n d o r f u n d d ie B r ü d e r ­ g e m e i n e s e i n e r Z e i t “ von Ludwig Karl Freiherr von Schrautenbach.

2. Aufl. Gnadau 1871. Jos. Th. Müller, „ Z in z e n d o r f a ls E r n e u e r e r d e r a l t e n B r ü d e r k ir c h e .“ Festschrift des theol. Seminars zu Gnadenfeld.

Leipzig, Jansa 1900. D ie einzige Schrift von w i s s e n s c h a f t l i c h e m Wert, welche das Jubiläumsjahr hervorgebracht hat (vgl. die ausführliche Recension Ecks in der Theol. Litt.-Ztg. von A. Harnack, Nr. 4, 16. Febr. 1901). Zum Schluss kann ich im Namen vieler Zinzendorfs Verehrer die Bitte nicht unter­

drücken, dass die hochwürdige Unitätsdirektion in Bethelsdorf doch baldigst

eine kritische G e s a m t a u s g a b e d e r W e r k e Z i n z e n d o r f s , sowie auch

eine p o p u lä r e A u s w a h l s e i n e r b e s t e n S c h r i f t e n in Angriff nehmen

möge — beides thut dringend not. D e r V e r f a s s e r .

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es im prophetischen Geiste, wie bald dein heisses Gebet sich er­

füllen sollte?

Schon 70 Jahre darauf wanderten die letzten Nachkommen jener alten B rüderunität um ihres Glaubens willen aus dem V ater­

lande aus, um auf dem G ute des Grafen Zinzendorf zu Berthels- dorf in der Oberlausitz sich anzusiedeln und hier, freundlich will­

kommen geheissen, eine neue H eim at zu finden.

Am 17. Juni 1722 fällte Christian D avid, der mährische Zimmermann, „der K necht G ottes“, den ersten Baum zum Anbau von H errnhut m it den W orten des Psalm isten: „H ier hat der Vogel sein Haus gefunden und die Schwalbe ihr N est, nämlich deine Altäre, H err Zebaoth, mein König und mein Gott.“

Neue V ertriebene folgten m it W eib und Kind, frischer Zu­

zug kam aus allen Teilen Deutschlands, H aus um H aus entstand in der W ildnis, und in kurzer Zeit war eine „Stadt auf dem B erge“ gegründet, von welcher unter Zinzendorfs Leitung die reichsten Segensströme ausgehen sollten in alle W elt.

W as die Mähren m itbrachten als ihr unveräusserliches Eigen­

tum, das war ihr tapferer Streitersinn und das köstliche Kleinod ihrer brüderischen V erfassung, um die ihre V orfahren schon Dr.

L uther beneidet hatte. Zinzendorf aber gab ihnen, der stets wach­

senden Gemeinde, das Gepräge seines ebenso echt e v a n g e l i s c h e n wie (im guten Sinne) k a t h o l i s c h e n , nämlich aufs Ganze, aufs Allgemeine gerichteten, weltüberwindenden Glaubens.

W ahrlich, ein ausserordentlicher M ann, dieser G raf Zinzen­

dorf! H erder nennt ihn einen der grössten Eroberer im Reiche des G eistes; der scharfsinnige Lessing bezeugt ihm seine auf­

richtige Bewunderung; der junge G oethe1) war nach seinem eigenen Bekenntnis drauf und dran, ein H errnhuter zu werden, so mächtig fesselte ihn, der 10 Jahre nach Zinzendorfs Tode einer B rüder­

synode zu M arienborn beiw ohnte, der Zauberbann dieses Ge­

waltigen im Reiche Gottes.

Und wir sollten heut von ihm schweigen, dessen 200 jährigen Geburtstag die gesamte protestantische Christenheit in diesem Jahre m it seltener Einm ütigkeit gefeiert hat?

In D resden, dem schönen Elbflorenz, ward er als Spröss­

ling eines uralten österreichischen Dynastengeschlechts und einziger Sohn eines sächsischen Staatsm inisters am 26. Mai 1700 geboren

;— in H errnhut, dem V orort seines weltumspannenden Wirkens, lst er am 9. Mai 1760 heimgegangen. Wras aber hier zwischen Wiege und Sarg sich ereignete, das Heldenleben und Streben eines Gottesmannes, der W enige seines Gleichen kennt, das kann man nicht m it kurzen W orten erschöpfend schildern und erzählen.

- ]) Als ein Herr „Jedde“ steht der grosse Dichter in dem betreffenden Diarium verzeichnet.

9*

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132 Hausmann, H eft 5 u. 6.

D r e i W a h l s p r ü c h e aus seinem eigenen M unde und d r e i B i l d e r aus seinem und der Gemeinde Leben und W irken mögen uns genügen.

Man denkt sich in manchen Kreisen die H errnhuter n u r als die „Stillen im Lande“, die ihren G ott fürchten und vorzüg­

lich m it Leinwand handeln, und ihren seltsamen Grafen als Urbild einer weichlichen und überspannten Frömmigkeit. W eit gefehlt!

W ie diese Stillen im Lande ihrer Zeit — freilich ohne es zu wollen — Lärm genug gemacht haben in der weiten W elt, so war Z i n z e n d o r f s W a h ls p r u c h der seines erlauchten Geschlechts von Alters her: „ I c h w e ic h e n i c h t , n i c h t E in e m , a u c h n i c h t A lle n ! “

So tapfer, so standhaft, stets seine eigenste Persönlichkeit bewahrend und behauptend, sehen wir ihn kämpfen und siegen von der Jugend bis ins A lter; es ist die c h r i s t l i c h e T a p f e r ­ k e i t , eins m it der Treue gegen G ott und sich selbst, ein G rund­

zug seines echt männlichen, heroischen Charakters.

„Ein M ensch sein, heisst ein K äm pfer sein!“ dies Goethe­

w ort hat sich an ihm bewahrheitet.

Das früh verwaiste K in d , durch den Tod des frommen V aters beraubt, während die gleichfalls christlich gesinnte, m it dem General von Natzm er in Berlin aufs Neue vermählte M utter sich nur aus der F erne, aber mit treuer Fürsorge um seine E r­

ziehung kümmern konnte, verlebte die ersten 10 Jahre unter der Pflege seiner geliebten Grossmutter, der geistvollen Freifrau von Gersdorf auf Schloss H ennersdorf in der Ober-Lausitz.

Glückselige Tage ungetrübter Kindheit, da die reichen Gaben des W underkindes sich aufs erstaunlichste entfalteten, dem der edle S p e n e r , sein Taufpate, segnend die H and aufs H au pt legte, bis es auf der M utter und des Vormunds (des sächsischen Ge­

neralfeldzeugmeisters von Zinzendorf) W unsch nach H alle gebracht ward, unter des berühmten A. H . F r a n c k e gesegnete Leitung. H ier aber begann der Kampf, der standhafte und energische, des früh­

reifen Knaben und Jünglings gegen die ihn umgebende Welt.

Neckereien, ja Misshandlungen von Kameraden, durch seinen bevorzugten Stand wie durch seine aufrichtige, aber noch schwär­

merische Frömm igkeit hervorgerufen; arge Verkennung von Seiten einiger L ehrer, die seinen vornehmen Sinn und hochstrebenden G eist als schändlichen H ochm ut beurteilten; vor allem die schimpf­

liche Behandlung, die ihm durch einen talentierten, aber heuch­

lerischen Hofm eister lange Jah re zu teil ward: in solcher früh­

zeitiger Trübsalsglut ward das Eisen seines W illens zum biegsamen, elastischen und doch unüberwindlichen Stahl unbeugsamer Willens­

kraft geschmiedet, während zugleich der junge G raf durch seine

glänzenden F ortschritte in den alten und neuen Sprachen wie in

jeglicher W issenschaft eine Zierde des Halleschen Pädagogiums

bildete.

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Stiller, aber nicht m inder standhaft gestaltete sich der un­

aufhörliche K am pf gegen die eigene Fam ilie, die ihn durchaus zum Staatsmann heranbilden wollte. Ihn selbst dagegen verzehrte der D rang, ein Gottesgelehrter, ein Prediger des Evangeliums zu werden.

Gehorsam dem 4. Gebot geht der Jüngling nach W itten­

berg, um dort die R echte zu studieren; aber alle freie Zeit widmet er seinem Lieblingsfach, er lernt die ganze Bibel auswendig und sucht überall christlichen Verkehr. Gleichfalls dem 4. Gebot ge­

horchend, tritt der junge Mann — 1721 m it der gleichgesinnten Lebensgefährtin, der frommen Gräfin E rdm uth Dorothea von Reuss vermählt — in Dresden als Justizrat in sächsischen Staatsdienst;

aber auf die sauren W ochentage des Amtes, der Akten und P ro­

zesse folgen köstliche Sonn- und Sonnentage, wo der kurfürstliche Beamte August des Starken — angesichts des in üppiger Sinn­

lichkeit schwelgenden Hofes — regelmässige öffentliche G ottes­

dienste in seiner W ohnung abhielt und durch seine Schriften, zumal den monatlich erscheinenden „ D r e s d e n e r S o k r a t e s “, tiefgehenden Einfluss ausübt.

E ndlich fallen nach Gottes Leitung die in D em ut getragenen Fesseln des äusseren B erufs; der G raf wird mündig und frei, er entsagt dem drückenden Staatsdienst; mit heiligem Feuereifer widmet sich der G utsherr von B erthelsdorf der Pflege der eben entstandenen H errnhuter Gemeinde als ihr V orsteher und nach­

maliger erster Bischof, wozu er durch J a b l o n s k y , den Enkel des Comenius, den H ofprediger König Friedrich Wilhelms L, die W eihe empfing.

Wiederum harter K am pf, zunächst gegen die Freunde, die Seinen. Von Schwärmern und Sektierern aller A rt heimgesucht, drohte H errnhut ein Sektennest zu w erden; da gab der Graf der Gemeinde ihre Statuten auf G rund der altbrüderischen Verfassung im Geiste der apostolischen Kirche. D er 13. A ugust des Jahres 1727, da nach dem äusserlichen der innerliche Zusammenschluss laut dem Königlichen Gebot der Bruderliebe erfolgte, wird noch heute von den Brüdern als hoher Festtag gefeiert. „W ir lernten lieben!“ so heisst es im B ericht von jenem T age; Lutheraner und R eform ierte, ja frühere Katholiken und bekehrte Juden fanden sich auf dem gemeinsamen Boden des altbrüderischen, echt evan­

gelischen Programm s als ein H erz und eine Seele zusammen:

»In der H auptsache E i n h e i t , in Nebendingen F r e i h e i t , in Allem d ie L i e b e ! “

An der Spitze dieser durch die Feuertaufe von oben ver­

bundenen und geheiligten Gemeinde begann nun des Grafen

Heldenkam pf für Gottes Reich. D a wars, wie wenn einer in ein

W espennest sticht. Schmähungen und Verfolgungen von oben

und unten, von rechts und links, von allen Seiten, D o rt die

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134 Hausmann, H e ft 5 u. 6.

O r t h o d o x e n , die unlutherisch Starrgläubigen, denen Zinzendorf m it seinem G eisteschristentum zu freiheitlich und nicht Buch­

stabenknecht genug w ar; hier die P i e t i s t e n , denen die B rüder­

gemeinde m it ihrer noch so strengen K irchenzucht nicht weltflüchtig und asketisch genug erschien; drittens die u n g l ä u b i g e W e lt, die mit dem „verrückten Grafen und seiner Tollhausgemeinde“

ihren Spass und S pott trieb gleich den Spöttern vom 1. Pfingst- tag : „Sie sind voll süssen W eines“ ; und endlich jene S t u m p f ­ s in n ig e n , G e m e in e n und S c h a d e n f r o h e n , die überall, wo etwas Gutes und Grosses geschieht, weil sie selbst zu dergleichen unfähig sind, es alsbald zu bekritteln und zu vernichten suchen.

K am pf auf allen Seiten, aber unentwegter und endlich siegreicher K am pf, getreu dem gräflichen W ahlspruch: „Ich weiche nicht, nicht Einem, auch nicht Allen“.

A ber Einem ist er doch gewichen von Kindesbeinen an, E iner ist ihm, dem Starken, zu stark geworden, so dass er ihm Stand und H ab und G ut, sein ganzes Leben und Streben ge­

widmet h at: das war s e in H e r r u n d H e i l a n d J e s u s C h r i s t u s . So vernehm t denn des Grafen 2. W ahlspruch, der uns sein innerstes H erz erschliesst: „ I c h h a b e n u r e in e P a s s i o n , d a s i s t E r , n u r E r ! “

D er K n a b e , d er, als er kaum die F eder führen konnte, kindliche Briefe an den H eiland schrieb und in den H enners­

dorf er Schlossgarten warf, in der Meinung, der H e rr Jesus werde sie wohl finden; der S c h ü l e r in H a l l e , der als S tifter des Senfkornordens seine O rdensbrüder verpflichtete, für das Reich Christi und seine A usbreitung zu leben und zu sterben; der j u g e n d l i c h e G r a f auf Reisen, der in Düsseldorf vor dem Ge­

mälde des Dorn engekrönten wie festgebannt stehen blieb und jene U nterschrift nie vergass: „Das th a t ich für D ich! W as thust du für m ich?“ D er g e r e i f t e M a n n , der aus tiefstem Herzen gesungen h at:

„Ich bin durch manche Zeiten, W ohl gar durch Ewigkeiten In meinem Geist gereist.

N ichts hat mir’s Herz genommen, Als da ich angekommen

A u f G o lg a t h a ! Gott sei gepreist!“

E r ist und bleibt uns ein Vorbild der innigsten H eilands­

liebe. Es war, wie er sagt, die „Noblesse des Heilands, sein E r­

barmen gegen die A rm en und Elenden, die ihm, dem Aristokraten, von Jugend an das H erz gewonnen. M it diesem seinem H errn und H eiland verkehrte er wie ein Freund mit dem F reunde; E r war sein täglicher Begleiter in der Jugend wie im A lter, auf Reisen zu Land und See; noch auf dem Sterbebett konnte er dem ütig-trium phierend sprechen: „Mein H eiland ist m it m ir zu­

frieden“.

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E s war die Liebe zum Gekreuzigten wie einst Pauli und L uthers so auch Zinzendorfs felsenfester Glaubensgrund. In hundert und aber hundert S c h r i f t e n hat er m it Flammenworten diesen Glauben, diese Liebe bezeugt; in hundert und aber hundert R e d e n (ich nenne hier nur die „Berliner“, die er, weil alle Kirchen ihm verschlossen waren, auf dem Boden seiner dortigen W ohnung vor H och und Niedrig gehalten und zwar eine W oche lang Tag für T ag, wobei manchmal 40 K utschen vor dem H ause hielten) m it apostolischer Zunge und hinreissender G lut das W ort vom Kreuze verkündigt.

U nd endlich die L i e d e r des frommen Sängers, tausend und aber tausend, in denen sich die ganze inbrünstige Andacht dieses gottgeweihten Christenherzens in L ust und L eid, in Frieden und Streit, in Sturm und Stille, in Sorge und Seligkeit ergossen hat!

V iel Sand, zumal für unsern geläuterten Geschmack wertlose, wenn auch oft geistreiche Reim ereien; aber dazwischen zahlreiche Perlen von kostbarem , unvergänglichem Glanz, ein Schatz der evangelischen Christenheit und Liederdichtung für alle Z eiten ! W ird nicht in Schloss und H ü tte gesungen: „Jesu, geh voran!“ ? Stimmen nicht K ind und Greis ein in den Hochgesang: „Christi B lut und G erechtigkeit“ ? T önt es nicht von der Unmündigen L ippen: „Ich bin ein kleines Kindelein und meine K ra ft ist schwach; ich möchte gerne selig sein und weiss nicht wie ichs mach.“ ? Ju b elt nicht unsre Seele auf, wenn wir singen: „Christen sind ein göttlich V olk, aus dem G eist des H errn gezeuget.“ ? Trocknen nicht unsere Thränen beim Klange des Lieds, einst auf den Tod seiner G rossm utter gesungen: „Die Christen gehn von O rt zu O rt durch mannigfachen Jam m er.“ ? U nd endlich, wer hat je so innig und gewaltig die Herzensgem einschaft der Christen, wie sie uns heute hier vereinigt, zum A usdruck gebracht als Zinzendorf in seinem wundersamen H ym nus:

„Herz und Herz vereint zusammen Sucht in Gottes Herzen Ruh.

Lasset eure Liebesflammen Lodern auf den Heiland zu.

Er das H aupt und wir die Glieder, Er das Licht und wir der Schein, Er der Meister, wir die Brüder, Er ist unser, wir sind s e in !“

Denn also lautet sein d r i t t e r W a h ls p r u c h :

„ I c h s t a t u i e r e k e in C h r i s t e n t u m ohne Gemeinschaft!44

„Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich m itten unter ihnen,“ dies W ort im Bunde m it dem neuen Königlichen G ebot: „Dass ihr euch unter einander liebet, gleich­

wie ich euch geliebt habe“ — das war das leitende Zwiegestirn

für Zinzendorfs W irksamkeit. Nachdem er in und mit seiner

Gemeinde unter Christi Kreuz sein Glück und H eil für Zeit und

(10)

136 Hausmann, H e ft 5 u. 6.

Ew igkeit gefunden, da suchte er christliche Gemeinschaft in aller W elt: Gemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten, K atholiken und P rotestanten, Sekten und Landeskirchen; an die fernen Kirchen des Morgenlandes, ja an die Juden und Muhame- daner gingen seine Botschaften aus, dam it sie Alle Eins seien, ein H irt und eine Heerde. W er nur m it ihm an den Gekreuzigten glaubte, der sollte sein F reund und B ruder sein.

H a t er zu viel gehofft, hat er zu Hohes erstrebt, ist er wie alle wahrhaft grossen M änner seiner Zeit um Jahrhunderte voran­

geeilt? E s mag sein. A ber eine dauernde Segensfrucht hat sein heiliger E ifer geschaffen, nämlich die H e i d e n m i s s i o n d e r B r ü d e r g e m e i n d e , welche noch heute die anderen meist später entstandenen Schwestergesellschaften durch Zahl der bekehrten H eiden und O pfer Willigkeit der einheimischen Christen überragt.

Dazu, zum treuen Streiterdienst in fernen Heidenländern, waren seine B rüder wie geschaffen. „W illst du morgen nach Grönland gehn?“ fragte Zinzendorf den Einen. „ Ja , wenn ich ein P aar Schuhe bekomme,“ war des Gefragten Antwort, der dann 40 Jahre lang dort in Segen gew irkt hat. Ein A nderer h atte auf der F a h rt nach W estindien Schiffbruch gelitten und sich mit A ngst und Bangen an einer K lippe festgehalten, bis glücklich die R ettung kam. E r antwortete auf Zinzendorfs F rage, was er da auf der K lippe gemacht? „Ich habe Ihren V ers, H err Graf, gesungen:

„Ihr Mauernzerbrecher, wo sieht man euch?

Die Felsen, die Löcher, die wilden Sträuch’, D ie Inseln der Heiden, die tobenden Wellen, Sind eure von Alters verordneten Stellen.“

U nd als Zinzendorf nach W estindien reiste, um die dortigen Missionare zu besuchen, da fragte er kurz vor der A nkunft einen seiner mährischen Begleiter: „W ie, wenn wir nun keinen mehr lebend antreffen?“

„N un, d a n n s in d w ir d a !“ war die frische, freudige A nt­

wort. „Gens aeterna (unverwüstliches Geschlecht), diese M äh ren!“

rief da Zinzendorf aus. W ir dürfen wohl hinzufügen: Genius aeternus, dieser Zinzendorf! —

Nun zum zweiten d r e i B i l d e r aus des Grafen und seiner Gemeinde weltumspannender W irksamkeit.

F olgt m ir nach W e s ti n d i e n , dem blühenden Gottesgarten, einst von dem grossen Columbus entdeckt, wo unter der Sonne scheitelrechten Strahlen die N atur ihre üppigste Vegetation ent­

faltet und die Kaffee- und Zuckerrohrplantagen reiche Erträge liefern.

A ber sind d ie M e n s c h e n g l ü c k l i c h , die dort wohnen, ich meine damals ums Ja h r 1732? U nd zwar auf der Insel S.

T h o m a s , einer der fruchtbarsten und gesegnetsten? O nein! die

armen schwarzen Negersklaven seufzen unter der Peitsche ihrer

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D ränger und Treiber, der europäischen Plantagenbesitzer, die sie mehr als Vieh, denn als Menschen behandeln.

D a erscheinen eines Tages dort zwei W eisse, von ganz anderer, seltsamer Art.

D er Töpfer L e o n h a r d D o b e r , ein Schwabe; der Zimmer­

mann D a v id N i t s c h m a n n , ein Mähre. Wie kommen die hieher?

Ein Neger, Namens A nton, den Zinzendorf in Kopenhagen am Hofe des Königs von Dänemark, seines hohen Gönners, kennen gelernt und m it nach H errnhut genommen hatte, erzählte der dortigen Gemeinde von dem grenzenlosen Elend seiner Volksge­

nossen auf S. Thomas, und sofort fanden sich die beiden Genannten bereit, diesen armen Heiden das Evangelium zu verkündigen.

Am 21. A ugust 1732 in aller H errgottsfrühe fuhren die ersten Missionare der Brüdergemeinde m it dem Grafen nach Bautzen, wo er ihnen segnend die H and aufs H aupt legte, und wanderten dann weiter, jeder einen Dukaten in der Tasche, nach London und von da, sich selbst ihr B rot während der Ü berfahrt ver­

dienend, übers W eltmeer. Und was thun sie in S. Thomas? Sie arbeiten werktäglich in hartem Frohndienst m it den schwarzen B rü d ern ; aber am Feierabend und Feiertag, da erzählen sie ihnen von dem H e rrn Jesus Christus, der für alle Menschen, die Weissen und Schwarzen, am Kreuze gestorben ist. Da wird es warm in den kalten Heidenherzen, da lernen sie sich als Menschen, als teuer erkaufte Christen und K inder G ottes fühlen, es sammelt sich eine Gemeinde von viel hundert Seelen. A ndere Missionare folgen aus der H eim at; etliche erliegen dem F ieber der Tropen, denen Zinzendorf den schönen V ers gesungen:

„Es wurden zehn dahingesät, Als wären sie verloren.

Auf ihren Beeten aber steht:

Das ist die Saat der Mohren!“

Endlich kommt er selbst im Jah re 1739. E r hat die für die damalige Zeit ungeheure Reise nicht gescheut, um seine Mis­

sionare zu trösten und zu stärken. U nd als er ankommt, da sitzen sie im Gefängnis, durch die N iederträchtigkeit der weissen Pflanzer, die die Bekehrung ihrer Sklaven und Sklavinnen aus unlautern, ja unreinen Gründen missbilligten, in K etten gelegt.

Sobald Zinzendorf erscheint, m it Briefen vom dänischen König, da springen die K erkerpforten auf, der G raf küsst seinen treuen B oten, zum Erstaunen des Gouverneurs, die H and und predigt Tag für Tag den Negern das Evangelium. Drei neue M issionsstationen werden gegründet.

Endlich kehrt der Unermüdliche in die H eim at zurück.

A ber wie? Die hohe Gestalt, vor welcher, wo er auch erschien,

die Menschen ehrfurchtsvoll stehen blieben, verfallen; die grossen,

leuchtenden Augen klein gew orden; die gewaltige Stirne tief

(12)

188 Hausmann, H eft 5 u. 6.

gefurcht, aber derselbe unentwegte S treiter und K necht seines Herrn.

U nd W estindien? Heutzutage neben der deutschen, eng­

lischen und amerikanischen die vierte Provinz der evangelischen B rüderkirche, wo die Gemeinden der schwarzen Christen sich selber erhalten und kaum einer U nterstützung mehr bedürfen.

W ir versetzen uns weiter nach N o r d a m e r i k a m it seinen U rwäldern und Prärien, wo damals noch in ungeschwächter K ra ft das V olk der Indianer hauste. Zum zweiten Male ist Zinzendorf übers W eltmeer gesegelt und im November 1741 in New-York gelandet. In Philadelphia, der H auptstadt von Pennsylvanien, hat er für seine „Pilgergemeine“ von 17 Personen (darunter seine lieb­

liche Tochter Benigna) ein H aus gem ietet, worin er täglich vor Christen der verschiedensten Richtungen predigt und von wo er drei gefahrvolle Reisen zu den Indianern unternimmt, unter denen bereits seine B rüder in gesegneter A rbeit standen. Das W eih­

nachtsfest feierte er in einem stallähnlichen Gebäude, woraus dann durch allmähliche Ansiedelung B e t l e h e m sich erhob, heute eine blühende Stadt, woselbst 2000 M itglieder der Brüder-Gem einde wohnen. D ort entstand sein schönes W eihnachtslied: „Glückseliger ist uns doch keine Nacht, als die uns das W underkind hat ge­

bracht.“ A n den H äuptling der Kirikisen, eines Indianerstammes, der seine B rüder freundlich aufgenommen, hatte er einen Brief geschrieben, des Inhalts: „W eiser Mann! Lieber König! Ich höre, D u suchst W eisheit; die W eisheit, die D u suchst, hast D u ; denn das ist die grösste W eisheit, w e n n m an w e is s , d a s s m a n n i c h t s w e is s. W eisst D u aber, was dir fe h lt? “ U nd nun m alt er ihm den Gekreuzigten vor Augen, der allein die Menschen glücklich und selig macht. „Glaube dieses, lieber König! und lass Dich taufen in Jesu Tod. Ich schreibe aus Liebe an Dich. Dein K necht Zinzendorf.“

A uf der zweiten Reise tra f er m it den Oberhäuptern der Irokesen zusammen, des mächtigsten Indianerstammes. E r liess ihnen durch seinen D olm etscher sagen, dass er G ottes W ort an sie und ihre V ölker hätte. Sie luden ihn ein, zu kommen. Nach indianischem Brauch wurden Schnüre von M uscheln zur Besiege­

lung der Freundschaft ausgetauscht. Das war der Anfang der Irokesenmission. D er „Indianerapostel“ D avid Zeissberger hat Jahrzehnte hindurch hier seine berühm te W irksamkeit entfaltet, gleichwie Christian H einrich Rauch unter den Mohikanern. D ort bewohnte Zinzendorf m it seiner T ochter im Indianerdorf Scheko- meko eine H ü tte aus Baumrinde, wovon er schreibt: Das war mir das lieblichste Haus, welches ich noch bewohnt habe.“

U nd nun zum Schluss. Soll ich erzählen von der B rüder­

mission im K apland, wo der bekannte Georg Schm idt ein volles

M enschenalter unter den H ottentotten gew irkt h at, um dann im

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heimatlichen Niesky (Ober-Lausitz), weil er auch im A lter nicht müssig gehen wollte, seine Tage als einfacher Tagelöhner zu be- schliessen ?

Soll ich euch führen nach Suriname, wo heut über 100 000 H eidenchristen unter der Pflege der B rüder stehn? O der auf die höchsten Berge der E rd e, des Himalayagebirges, wo treue Send­

boten seit einem halben Jahrhundert m it den Lehren des Buddhis­

mus käm pfen? O der nach D eutsch-O stafrika, wo am Nyassasee Urenkel jener mährischen Streiter sich angesiedelt haben?

Ich denke: Ih r folgt mir zum Schluss nach H e r r n h u t , dem stillen Friedensort am Abhang des Hutbergs.

Es ist das Ja h r 1760, es ist die Frühe des Ostermorgens.

Heilige Sabbathruhe über dem sonst so gewerbfleissigen Ort. D a zieht die Gemeinde, nach „Chören“ geordnet, wie alljährlich noch heute unter den Klängen der Posaunen auf den Gottesacker hin­

aus, und d o rt wird Zinzendorfs sinnige und stimmungsvolle O ster­

litanei an den Gräbern der Entschlafenen gesungen und gebetet, während der Osten sich rot und röter färbt und endlich die O ster­

sonne in strahlendem Glanze aufgeht.

Etw a einen M onat später, da geht durch H errnhuts Gassen ein anderer, viel grösserer Zug; voran die Frauen und Mädchen in weissen K leidern (denn die Brüdergemeinde kennt keine Trauer­

farbe), aber ein Trauerzug. Zinzendorf war am 9. Mai heimge­

gangen; nicht wie H uss den M ärtyrertod erleidend, nein, sanft im Glauben an seinen H eiland entschlummernd, und doch ein M ärtyrer sein Leben lang: das F euer der Liebe, die sein H erz erfüllte, der Liebe zu G ott und den Brüdern hatte ihn verzehrt.

Zweiunddreissig Geistliche der B rüderkirche trugen abwech­

selnd den Sarg; ein Kommando kaiserlicher Grenadiere aus Zittau (es war ja der 7jährige Krieg) hielt die Ordnung aufrecht; denn viele Tausende von Nah und Fern waren zu diesem Begräbnis herbeigeströmt.

Nun ru h t er dort auf dem H utberg in M itten seiner beiden Gemahlinnen: Erdm uth Dorothea von Reuss, die ihm vier Jahre zuvor vorangegangen, und Anna Nitschmann, der Mährin, die ihm ein halbes Jah r später nachgefolgt ist. Auf dem würdig-einfachen G rabsteine liest man die Inschrift: „E r war gesetzt, F ruch t zu bringen, eine F ru ch t, die da bleibet.“ N un hat sich an ihm er­

füllt, was über seinem Schlossthor zu Bertlielsdorf geschrieben s ta n d :

„Wir übernachten hier als Gäste.

Drum ist dies Haus nicht schön noch feste.

Gottlob! Wir haben noch ein Haus!

Im Himmel, da siehts besser aus.“

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Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft.

Von

Dr. H ein rich R o m u n d t in Dresden-Blasewitz.

Z w e ite r T e il.

Der Plutonismus in der Kritik der teleologischen Urteilskraft.

1. Kapitel.

E in d em S c h ö n e n v e r w a n d t e r B e g r i f f p l a t o n i s c h e r A r t g i e b t s ic h k u n d im U r t e i l ü b e r l e b e n d i g e N a tu r .

K ants K ritik der U rteilskraft besteht nicht nur aus einer Lehre vom Schönen und vom Erhabenen, welche letztere wir in unserer gegenwärtigen Abhandlung ganz beiseite lassen durften, sondern noch aus einem zweiten H auptteil, der hinter dem ersten ästhetischen nur wenig an Umfang zurückbleibt, im Inhalte aber auf den ersten Blick von jenem so stark abweicht, dass man an der Verbindung beider zu einem Ganzen und zu einem Buche öfter Anstoss genommen hat. Ob m it R echt, ist zwar noch in diesem Kapitel, jedoch erst am Schlüsse desselben zu entscheiden.

Nach dem vorangehenden ersten Teil dieser Abhandlung nicht nur, sondern auch bereits nach unserer darin erwähnten B etrachtung der beiden ersten K ritiken K ants ist nun auch in K ants K ritik der teleologischen U rteilskraft ein platonisches M oment der Erkenntnis zu erwarten. Dieses aber ist hier ein B egriff, der uns durch das Nachdenken über die Entstehung gewisser Erfahrungsgegenstände von besonderer Art, nämlich der Pflanzen und T iere, zugeführt wird. Denn solche Erfahrung hat schon Plato stutzig gemacht. D ieser muss nach der von Sokrates im „Gastmahl“ berichteten Rede der Diotima, Kap. 26, erkannt haben, dass ein Mensch zwar von Kindesbeinen an bis zum Greisenalter immer derselbe genannt wird, aber doch nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und das Alte ver­

liert an H aaren, Fleisch, K nochen, B lut und am ganzen Leibe.

E s bleibe also in W ahrheit nur immer, m eint die weise F rau aus M antinea (im W achstum und in der Erhaltung eines tierischen K örpers ganz ähnlich wie bei der Zeugung) ein anderes Junges statt des Alten zurück.

W erden wir nicht in der T h at, ohne dass wir natürlich

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(vgl. I, Kap. 2) irgend an Entlehnung zu denken berechtigt sind, an diese wahre B etrachtung Platos erinnert, wenn K a n t § 64 m eint, W achstum eines Baumes sei in W ahrheit fortgesetzte Selbstzeugung desselben als eines Individuums und der Ausdruck Zeugung also eigentlich nicht m it dem gewöhnlichen Sprach­

gebrauch auf H ervorbringung eines anderen Baumes derselben G attung zu beschränken ? H iernach wäre vielmehr der Baum, der etwa gegenwärtig vor uns steht, als eine W irkung von sich selbst als früherem Baum zu verstehen, dasselbe W irkung von demselben als Ursache. K a n t begründet die Gleichsetzung des blossen W achstum s in diesem besonderen Falle m it Zeugung durch den Hinweis darauf, dass die Grössenzunahme, die im W achstum eines Baumes sich zeigt, von einer jeden anderen nach mechanischen Gesetzen — man denke z. B. an diejenige einer rollenden Schnee­

lawine — gänzlich unterschieden sei. Denn die Materie, die der Baum zu sich hinzusetze, verarbeite dieses Gewächs vorher zu spezifisch eigentümlicher Q ualität, welche der Naturmechanismus ausser ihm nicht liefern könne, und bilde sich selbst weiter aus verm ittelst eines Stoffes, der seiner M ischung nach sein eigenes P rod u k t sei.

So nun etwa, als W irkung von sich selbst als Ursache, er­

fahren wir ja aber auch ein H aus in der W irklichkeit, nämlich als eine W irkung der ihm entsprechenden gleichen V o r s t e l l u n g im K opfe seines Erbauers, aufgenommen in dessen W illen und danach von diesem m it Benutzung alles zu Gebote Stehenden zur Verwirklichung gebracht. Dieses ist in der T hat das einzige in unserer Erfahrung sich bietende V erhältnis, an dem wir uns die A rt der Entstehung und E rhaltung einer Pflanze, eines Tieres bis soweit, dass kein R est von Dunkelheit zurückbleibt, verständ­

lich und fasslich machen können. Eins müssen wir freilich bei Benutzung dieser Analogie sofort bemerken: dass in der N atur nicht ein solcher verstand- und willensbegabter Baumeister organi­

sierter K örper angetroffen, sondern auf einen solchen einzig und allein geschlossen wird.

Demgemäss wendet K an t gegen die Zusammenstellung der N atur und ihres Vermögens in organisierten Produkten m it mensch­

licher K unst, wo man sich den K ünstler (ein vernünftiges Wesen)

ausser dieser denke, § 65 ein, sie, die N atur, organisiere sich

vielmehr selbst und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte,

zwar nach einerlei Exem plar im Ganzen, aber doch auch mit

schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den

Umständen erfordert. G eht man dem weiter nach, so wird man

wohl m it K ant, der m it so inniger liebevoller Hingebung bei der

Beobachtung der N atur und ihres Lebens verweilte, ebendort in

allerdings schroffem, aber wohl begründetem Gegensätze zu dem,

was soeben über die Analogie der baumeisterlichen W irksam keit

bem erkt wurde, vielmehr sagen, dass die Organisation der Natur,

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142 Romundt, H eft 5 u. 6.

genau zu reden, nichts Analogisches habe m it irgend einer Cau- salität, die wir kennen. Selbst die Vergleichung m it der K unst des Genies, wie diese uns etwa in dem Schaffen des jungen Goethe entgegentritt und die allerdings am meisten das Dunkel dieses Naturgeheimnisses für uns aufzuhellen dienen mag, will K an t anders, als Paulsen in seinem K antbuch 1. Aufl. S. 271 von ihm anzunehmen scheint, nicht als völlig angemessene A na­

logie gelten lassen. D er G rund ist, dass wir ja „selbst zur N atur im weitesten Sinne gehören“. W enn wir nun meinten, durch das Schaffen des Genies schon das W alten der N atur vollständig erklären zu können, würde das nicht allzusehr dem W ahne gleichen, wir könnten die verborgene grosse U rsache schon durch eine einzelne A rt von W irkungen ausschöpfen? Das W eltm eer m it einem Fingerhut?

Diese Anzweiflung der V ergleichbarkeit jedwelcher A rt von sonst bekannter Causalität, kurz völlige N euheit und Rätselhaftig­

keit überhebt aber natürlich nicht im Geringsten der Pflicht, eine ganz andere A rt von Ursachen, als die Vorgänge der unorganischen Natur, wie z. B. Regen und W ind, zur Erklärung ihres Entstehens fordern, für das W erden von Pflanzen und Tieren anzunehmen, wenn solche zum V erständnis dieses unentbehrlich sind. U nd schon danach, wie wir K an t in unserem ersten Teile kennen ge­

lernt haben, ist zu erwarten, dass er selbst rückhaltlos bereit sein wird, jene Notwendigkeit, wenn wirklich vorhanden, anzuerkennen und auch einen in Dunkel und Geheimnis tief eingehüllten Begriff nach Möglichkeit für die Erforschung der organischen K örper zu verwenden. Diese Erw artung wird auch nicht getäuscht.

Nach allem Vorangehenden ist es eine neue A rt von N atu r­

ursachen, die in der K ritik der teleologischen U rteilskraft zu den mechanischen, die in der K ritik der reinen V ernunft als dem Organon der allgemeinen N aturw issenschaft allein in B etracht gezogen wurden, hinzutritt. Sie heisst auch im U nterschiede von diesen die der teleologischen Ursachen. D er deutsche Name dafür ist derjenige der Endursachen, als welche das Ende ihrer W irk­

samkeit in sich schon vorausnehmen, wie z. B. der Baumeister das zu bauende Haus. Die mechanischen U rsachen aber heissen deutsch bloss wirkende wie z. B. der Stoss gegen eine dadurch ins Rollen gebrachte K ugel oder auch die zur Verwirklichung jenes baumeisterlichen H ausgedankens führende und dienende Zueinanderbewegung von Steinen ganz für sich und abgesehen von der Leitung, die auch in ihr sich äussert, eine zwar schwer vollziehbare Abstraktion. Am treffendsten und besten aber, auch nach K ant, werden jene ideale, diese bloss reale Ursachen genannt, weil aus dieser Bezeichnung zugleich erhellt, dass ausser diesen beiden K lassen von U rsachen keine dritte A rt zu denken ist.

D er Leser unseres ersten Teils aber wird fragen, ob sich

nicht auch diesem neuen platonischen M oment der Erkenntnis

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gegenüber die K an t m it Hum e und dessen Vorläufern gemeinsame Besinnung geltend mache. In der T hat konnte K an t nicht mehr gleich P lato in dem Menschen, der von Kindesbeinen an bis zum Greisenalter immer derselbe genannt wird, aber doch nie dasselbe an sich behält, sofort schon etwa ein fortgesetztes Teilnehmen von dessen sich erneuerndem Leibe und ganzer Person an einem und demselben Überschwänglichen oder Übersinnlichen jenseits aller erkannten N atur, sagen wir: an einem an sich seienden Urbilde dieses Menschen, annehmen. Vielm ehr auch dieses platonische Jenseits gehört als ein von Menschen Erschlossenes und Gedach­

tes zunächst völlig nur dem Bereiche menschlicher Erkenntnis und ihrer Voraussetzungen im Gemüte an. So wird denn auch hier durch die brittische Besinnung ein platonisch Transscendentes in ein zunächst bloss Transscendentales umgeändert, d. h. aber in ein sich uns auf drängendes unentbehrliches M ittel und Werkzeug, um der Naturgegenstände, die sich uns darbieten, in Forschung und Erkenntnis m ehr und mehr H e rr zu werden.

D urch Erfahrungsgegenstände besonderer Art, durch Pflanzen und Tiere, durch W ahrnehm ung von deren W erden und Wachsen wird uns der B egriff von idealen Ursachen zuerst aufgenötigt.

I s t uns aber so an der gegebenen N atur einmal ein Vermögen offenbar geworden, Produkte hervorzubringen, deren Möglichkeit ohne Anwendung des Begriffs von Endursachen von uns nicht verstanden werden kann, so wäre es nicht Bescheidenheit, sondern blosse W illkür, nicht auch die Anwendung dieses Begriffs auf solche Gebiete der N atur zu versuchen, die ihn an sich wie die leblosen unorganischen Naturgegenstände, z. B. Steine oder atmo­

sphärische Vorgänge, nicht herausfordern. Ja, es ist unerlässlich, diesen V ersuch auch auf das Naturganze auszudehnen.

Freilich ist und bleibt die Endursache ein blosser V ersuchs­

begriff. W ird dieser Begriff uns ja doch erst durch Reflexion und besonderes Nachdenken über die E ntstehung bestimmter Naturdinge, von Pflanzen und T ieren, aufgedrängt. D adurch unterscheidet er sich wesentlich von den in die Erfahrung selbst eingemischten Begriffen (z. B. von demjenigen einer notwendigen V erknüpfung von Vorgängen), m it deren Zusammenfassen zu einem Ganzen, E rörterung und Rechtfertigung nach vorangehendem Aus­

lesen solcher Begriffe aus der E rfahrung sich die Analytik der K ritik der reinen V ernunft zu beschäftigen hätte. So als blossen Versuchsbegriff konnte den Gedanken idealer Naturursachen frei­

lich noch nicht Plato verstehen. Bei diesem gleicht er vielmehr

noch einer Bildsäule, die m it allen anderen ideellen Momenten

der E rkenntnis zusammen in einem W ölkenkuckucksheim steif

und starr dasteht. Um ihn zugleich menschlicher und richtiger

zu fassen, dazu musste erst die m it der Entwickelung ernster

N aturerforschung zusammenhängende brittische Grundbesinnung

Aufkommen und erstarken, die nun zuletzt auch diesen altgriechi-

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144 Romundt, H e ft 5 u. 6.

sehen Standbildern überweltlichen C harakters gleichsam die Glieder löst und sie beweglich macht.

W ir deuteten an, dass in der Analytik der K ritik der teleo­

logischen U rteilskraft eine Ergänzung des entsprechenden A b­

schnittes der K ritik von 1781 enthalten ist. Zunächst aber wird durch sie offenbar die K ritik der ästhetischen U rteilskraft er­

weitert. Vergleichen wir den Begriff idealer Ursachen von N atur­

vorgängen, der nun auftaucht, m it dem dort erörterten Begriff der Schönheit!

In der letzteren erkannten wir eine Angepasstheit bloss an das auffassende menschliche Subjekt und seine Verm ögen, also an uns selbst. Zu dieser subjektiven Zweckmässigkeit sehen wir nun in dem neuen F all der idealen Ursache den keinem Menschen­

kinde fremden Begriff einer Anpassung von Gegenständen der Erfahrung wie an ein aussermenschliches, jedoch menschenähnliches Subjekt und dessen der Entstehung solcher Gegenstände zu Grunde liegende Vermögen und Ideen hinzukommen. M it K ants W orten:

„eine objektive Zweckmässigkeit“, eine für uns gleichsam objektive Zweckmässigkeit. Dam it aber ist der Begriff eines M asses, das im M enschen für sich darbietende N atur gelegen ist, an dem diese zu messen und so zu erproben wir nicht unterlassen können, voll­

ständig erschöpft.

W ir haben hier den doch wohl zureichenden G rund an­

gegeben, weshalb K an t die Begriffe der Schönheit und der Zweck­

mässigkeit der N atur, die zunächst freilich sehr verschiedenartig erscheinen, m it einander in einem Buche vereinigt hat. An dieser V erbindung hat man, wie schon erwähnt, öfter Anstoss genommen.

So hat Schopenhauer in seiner K ritik der Kantischen Philosophie diese Vereinigung barock genannt.

2. Kapitel.

E i n e a u s A n la s s d e s n e u e n B e g r i f f s v o n Z w e c k g e m ä s s - h e i t d e r N a t u r n o tw e n d ig e V o r ü b e r le g u n g .

W ir erwähnten K ants unbefangenes Hinnehm en und An­

erkennen des durch Thatsachen der Erfahrung zugeführten neuen platonischen Moments der Erkenntnis. H ierin aber hat K an t einen Vorgänger schon an Plato, dem allerdings solche Unbefangenheit von anderem abgesehen schon dadurch sehr erleichtert wurde, dass er im vierten Jahrhundert vor Christus noch nicht auf so viel W iderspruch gegen den Begriff idealer Ursachen, S treit und V erw irrung infolge des daraus entstehenden Kampfes wie der deutsche D enker am E nde des 18. Jahrhunderts nach Christus zurücksah. Dem griechischen Denker im Jünglingsalter der Philo­

sophie lag auch schon darum weniger nahe dasjenige, wodurch

sich nun K a n t ein dauerndes V erdienst um wahre W issenschaft

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und Philosophie erworben hat: nämlich eine eingehende E rörte­

rung des Begriffs idealer Ursachen im Verhältnis zu dem Begriffe realer U rsachen, eine, wie sich zeigen wird, nicht entbehrliche Vorüberlegung vor jedem künftigen Gebrauch. Bei dieser V or­

erwägung konnte aber unserem K ant auch hier nicht die Gefahr eines W iderstreites entgehen, in den das sinnliche dogmatische Denken des Menschen diesen beim Gebrauche der beiden A rten von Ursachen m it einer gewissen U nentrinnbarkeit verwickelt, eines W iderstreits einer jeden M enschenvernunft innerlich m it sich selbst und dann auch der Parteigänger der einen Klasse von Ursachen im Vorzüge vor der anderen äusserlich m it einander.

E s war ja nicht das erste Mal, dass K an t eine solche A nti­

nomie der gemeinen V ernunft gewahr wurde, und ohne Zweifel hatte er 1790 längst als Aufgabe seiner K ritik und der von ihm zu begründenden kritischen Philosophie erkannt, was er 1796 in der „V erkündigung des nahen Abschlusses eines T raktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ aussprach. H ier bezeichnet er die kritische Philosophie als einen immer gegen die, welche verkehrterweise Erscheinungen mit Sachen an sich selbst ver­

wechseln, bewaffneten, eben dadurch auch die V ernunftthätigkeit unaufhörlich begleitenden Zustand.

W as aber wird unter dem Einfluss der Übertreibung eines sinnlichen Denkens, die überall gleichmässig der eben von K an t erwähnten Verwechselung zu Grunde liegt, aus dem so proble­

matischen Begriff von idealen oder Zweckursachen? Zunächst wird von der natürlichen Beziehung dieses Begriffs zu unserem Erkenntnisvermögen, zur menschlichen V ernunft abgesehen. Infolge dieses Zurücktretens, ja völligen Schwindens der subjektiven Be­

dingtheit aus dem Bewusstsein aber verwandelt sich das feinere, zartere „gleichsam“, das „als ob“, das in K ants neuer Fassung so deutlich hervortreten konnte und musste (vgl. I I , Kap. 1), für uns unverm erkt in ein gröberes „dass“, etwa in der Art, wie uns die idealen Ursachen des W erdens und W achsens bei Plato, der sich noch unbefangen dem Zuge des natürlichen Denkens über- liess, naiv entgegentreten.

Diese vergröbernde Umwandlung aber besagt nichts Anderes als, dass der bloss, wenn auch mit Notwendigkeit, aus der E r­

fahrung herausvernünftelte V ersuchsbegriff den in die Erfahrung selbst eingewebten Verstandesbegriffen wie z. B. demjenigen einer notwendigen V erknüpfung, den unentbehrlichen Handhaben, ohne die nach der Analytik der K ritik der reinen V ernunft Erfahrungs­

gegenstände als solche für uns überhaupt nicht möglich sind, völlig gleichgesetzt wird. U nd nun heisst es: Einige Produkte der materiellen N atur sind (nur) durch Endursachen und nicht nach bloss mechanischen Gesetzen möglich. Befreien wir das eingeklammerte „nur“ von seiner Klammer, so haben wir K ants Form ulierung der B ehauptung, die sich nun ergiebt, in § 70.

M on atshefte der C om cn iu s-G esellschaft. 1901.

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146 Romundt, H eft 5 u. 6.

W eiter hat K an t das V erfahren der natürlichen Denkweise hier nicht verfolgt, also nicht bis zu dem Schluss, zu dem das Denken, das einmal die zarten Grenzlinien strenger Naturwahrheit überschritten hat, leicht weiter eilt. W ir meinen den Schluss auf ein letztes Subjekt solcher als objektiv vorhanden angenommener N aturzwecke, kurz: auf ein aussermenschliches, aber menschen­

ähnliches W esen als U rheber der Zweckmässigkeit organisierter N aturkörper und dann notwendig weiter aller N aturdinge über­

haupt, der N atur insgesamt. Zu diesem Schluss ist man im Abendlande besonders in den Jahrhunderten seit Aufkommen der christlichen K irche und durch M issverstehen von deren religiösen Bedürfnissen gern weitergegangen.

Das Ergebnis ist also eine Theologie, die dem Anschein nach auf zuverlässige D ata bloss der äusseren materiellen N atur sich gründet, eine eigentlich so zu nennende Naturtheologie, und zwar eine Physikotheologie, die sich mit W ahrnehmungsthatsachen nicht viel m ehr zu befassen braucht, nachdem sie diese einmal als Sprungbrett benutzt und dann hinter sich gelassen hat.

Durch solchen Schluss, den keine Erfahrung bestätigt, aber auch schon durch die sinnliche Ü bertreibung des feineren „als ob“ in ein plumpes „dass“, die ihm zu Grunde liegt, und durch die darauf gegründete Behauptung der Ausschliesslichkeit des Prinzips der idealen Ursachen für die Erklärung einiger Erzeugung wird aber die Opposition des reinen V erstandes und seiner Freunde herausgefordert. Köpfe, die auf eine praktische Erforschung der Naturvorgänge gerichtet sind, können nicht anders als sich durch jene „Idealisten“ arg beeinträchtigt fühlen und werden dann leicht im Interesse solcher Forschung ebenso einseitig die mechanischen wirkenden Ursachen für allgenugsam erklären, zumal sie dam it die Sache des unentbehrlichen grundlegenden V erstandes und nicht bloss die einer vernünftelnden U rteilskraft zu vertreten meinen dürfen. So wird denn in ihrem Satze, den K an t in § 70 so form uliert: „Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloss mechanischen Gesetzen möglich,“ auf eine trotzige Naturtheologie m it einer ebenso trotzigen Ausschliessung von allen und jeden idealen Ursachen in jeder H insicht geantwortet.

In diesem Kampfe fehlt es selbst nicht an Versuchen von Parteigängern der Physik, den Ausgangspunkt der Naturtheologen, die Zweckmässigkeitsauffassung der organischen K örper, zu einer blossen Einbildung, die aus W ünschen, W ollen und Wähnen des unwissenden selbstsüchtigen Menschen bloss psychologisch zu er­

klären sei, hinabzusetzen. Spinoza ist es, der in einem längeren Anhang zum ersten Buche seiner „E thik“, der aber wenig tief eindringt und wenigstens in intellektueller H insicht sehr m it U n­

recht berühm t ist, diese Abschätzung der idealen Ursachen zu einem blossen Schein, einem „modus tantummodo imaginandi“, ver­

tritt. Die Erzeugung nach bloss mechanischen Gesetzen dagegen

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gilt ihm für eine ewige W ahrheit. D er in Bezug auf Teleologie demnach wohl als Subjektivist zu bezeichnende dogmatische Denker des 17. Jahrhunderts steht aber trotzdem, was schon sein Verhalten zum Mechanismus der N atur beweist, m it seinen Gegenfüsslern, den Naturtheologen, den, so zu sagen, extremen Objektivisten, auf einem und demselben Boden, nämlich auf demjenigen eines natürlichen, darum jedoch noch nicht richtigen, absoluten Denkens.

Dass es auch in der Frage der Ursachen des W erdens und W achsens der Pflanzen und Tiere nicht an Aufforderung zur Einsetzung eines Gerichtshofes fehlt, der nach K ants W orten von 1787 der G e w a lttä tig k e it, welche Bürger von Bürgern zu be­

sorgen haben, einen Riegel vorschiebe, damit ein jeder seine A n­

gelegenheit ruhig und sicher treiben könne, wird man nach unseren Darlegungen schwerlich leugnen. Dass aber gerade K ant im Be­

sitze der entscheidenden Einsicht war, um auch diesen S treit end­

gültig zu schlichten, wird der Leser gleichfalls schon aus den früheren A bschnitten dieser Abhandlung entnehmen können.

E s ist wiederum die brittische Grundbesinnung, welche die sinnliche Ü bertreibung und Rechthaberei einer jeden der beiden Parteien, die einander ausschliessen, in die Schranken der N atur und Besonnenheit zurückweist und ihre Transscendenzen wiederum, damit wir uns eines wohl nicht mehr missverständlichen kurzen Ausdrucks bedienen, in blosse Transscendentalismen umwandelt.

Dies sind aber blosse Voraussetzungen von Erkenntnis für zu er­

wartende Naturgegenstände im menschlichen Gemüte oder, anders ausgedrückt, Waffen zur Eroberung der N atur durch die mensch­

liche V ernunft, sei es für das W issen, sei es auch über dieses hinaus für einen nicht willkürlichen, sondern allgemeingültigen unparteiischen Glauben.

In ihrer berichtigten G estalt nun schliessen die Grundsätze der Physiker und der Theologen sich nicht mehr wie vorher gegenseitig aus, sondern können ohne alle Schwierigkeit m it ein­

ander vereinigt werden. O der was für ein W iderspruch wäre zwischen dem Satz jund dem Gegensatz, wie sie K an t zu An­

fang des bereits erwähnten § 70 form uliert? D a lautet der Satz des P h y sik e rs: „Alle Erzeugung m aterieller Dinge und ihrer Form en muss als nach bloss mechanischen Gesetzen möglich b e u r t e i l t w e rd e n .“ D er Gegensatz aber heisst: „Einige P ro ­ dukte der materiellen N atur können nicht als nach bloss mecha­

nischen Gesetzen möglich b e u r t e i l t w e rd e n . (Ihre Beurteilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der K ausalität, nämlich das der Endursachen.)“

K ants K ritik stellt so durch ihre Besinnung die Beziehung zum menschlichen Erkenntnisverm ögen, die unverm erkt aus dem Bewusstsein des Menschen leicht schwindet, in der T h at aber doch immer gleich sehr vorhanden ist und bleibt, m it dem er­

forderlichen Nachdruck wieder her. Dadurch aber ist nun unserem

10*

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148 Romundt, H e ft 5 u. 6.

Geschlechte die E infalt der Natur, v.on der wir jedoch nicht sagen dürfen, dass sie zu Zeiten von Menschengedenken je geherrscht habe, gleichsam zurückerworben. Es ist das menschlich beschei­

dene „als ob“ statt des natürlicheren, aber trotzdem vermessenen

„dass“ für die Zweckmässigkeitsauffassung der organischen N atur und für die auf sie sich gründende Naturtheologie, das K an t mit der angegebenen Begründung für immer auf den Platz zurück­

führt, der ihm von Rechtswegen zukommt. Dies geschieht nach erfolgter Auflösung der Antinomie am Schlüsse des § 75, dessen Ü berschrift schon dahin weist: „D er Begriff einer objektiven Zweckmässigkeit der N atur ist ein kritisches Prinzip der V ernunft für die reflektierende U rteilskraft.“

A ber diese W iederherstellung der einfältigen N atur ist hier wie anderswo in der K ritik keineswegs der einzige Gewinn aus der glücklichen Auflösung der Antinomie. Durch die zum Behuf dieser Auflösung erforderliche Erinnerung an die völlige Sinnen­

bedingtheit gegebener N atur ist Raum geschaffen für Dinge an sich selbst, dam it aber auch für eine noch ganz andere V ereini­

gung der beiden möglichen A rten von U rsachen, der realen und der idealen, als sie sich im A ltertum etwa ein Aristoteles, der von seines Lehrers Plato vorwiegendem Idealismus für sein stärkeres Interesse an N aturerforschung m it R echt nicht befriedigt war, als wirkliche O rdnung der N atur gedacht haben mag. Nach A risto­

teles sollten wirkende oder Bewegungsursachen, denen zwar auch er in jenen Kindheitstagen der abendländischen W issenschaft noch nicht völlig gerecht zu werden vermochte, im Dienste von idealen Zweckursachen stehen ungefähr so, wie M aurer und deren Zu­

pfleger unter der Leitung des Baumeisters.

F ü r eine noch ganz andere A rt von Vereinigung sei Raum geschaffen, sagten wir soeben, durch die U nterscheidung der Dinge an sich selbst von den Dingen für uns, den Sinnendingen. Diese Vereinigung wird von K an t nach Auflösung der Antinomie in zwei Paragraphen vorbereitet. Von diesen ist der letzte, § 77, m it der Ü berschrift „Von der Eigentüm lichkeit des menschlichen V erstandes, wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich w ird“, von Schopenhauer in einer Notiz gelegentlich seiner L ek­

türe desselben „sehr tiefsinnig, aber höchst dunkel“ genannt, eine Bezeichnung, die für die vorhergehende Anmerkung, durch die er vorbereitet wird, nicht weniger zutreffen dürfte.

H ier wird von K a n t dasjenige, was bereits in seiner Inan­

spruchnahme des Versuchsbegriffs idealer Ursachen und ihnen entsprechender W irkungen als blosser Voraussetzungen und W erk­

zeuge für Erkenntnis im menschlichen Gemüte gelegen ist, weiter entwickelt und zur Geltung gebracht. Dies aber nicht ohne Be­

rücksichtigung auch der analogen A rt, wie die geistige Form einer

notwendigen V erknüpfung von Bewegungsursachen im Begriffe

des Mechanismus bereits in der K ritik der reinen V ernunft ge­

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