• Nie Znaleziono Wyników

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, Januar - Februar 1899, 8. Band, Heft 1-2

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Share "Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, Januar - Februar 1899, 8. Band, Heft 1-2"

Copied!
68
0
0

Pełen tekst

(1)

Monatshefte

Comenius-Gesellschaft.

H erau sgegeb en von L u d w ig Keller

( J I M flESKLLSCH A FT.)i

Achter Band.

E r s t e s und z w e i t e s H e f t

Januar — Februar 1899.

Der B e z u g s p r e i s betragt im Buchhandel lind bei der Post jlllirlich 10 M ark.

Alle Rechte Vorbehalten.

(2)

I n h a l t

d e s e r s t e n u n d / w e i t e n H e f t e s 1 8 9 9.

Abhandlungen. Si,,‘

Dr.

Wilh. Tangermann,

V ern u n ft und O ffenbarung. A nthropologisch- philosophische E rörteru n gen . ... . 1

Paul Hohlfeld,

W a s ist B i l d u n g ? ... .15) D r.

Ludw. Keller,

D ie altevangelischen Gemeinden und der H exen glau b e HO D r.

H. Romundt,

Im m anuel K a n t. E ine B esprech un g . . ;><>

Besprechungen und Anzeigen.

E n cy klopiidisches H andbuch der Pädagogik von W . We i n . J!d . III — V (A . Noliel. ■— I'. W . J ) i > i‘ 1 > - f c l d , G esam m elte Schriften K(l. V J 11 ( A. N ebe). Dr. K a t z e r , K an ts Bedeutu ng für den P rotestan tism u s (G. A. W yn ek en ). — (M ir. 1! o t li e n b e r ^ e r , Pestalozzi als Philosoph (W yn ek en ). — A. K I e u t h e r o p u I o s , Die Philosophie als die Ix-bensauffassung dos G riechen­

tum s (W yn ek en ). — Briefe S a m u e l 1’ ti f e n d o r f s an ( Mi r i s t . T h o m a s i u s (W yneken).

K r n s t S c h n i t z e , Ü b er die Umw andlung w illkürlicher Bew egungen in unw illkürliche (W yneken). — Ja h rb ü c h e r der K . A kadem ie gem einnütziger W iss. in E rfu rt. — I l e i n z e l - m a n n , C h ristentu m und m oderne W eltanschauu ng. — I l a n s S c h u l z , M arkgraf Jo h an n G eorg von Brandenburg. — O. G ü n t h e r , Zwei M iscellen zur D anziger B u ch d ru ck er- und

K itteratu rgesch ich te (W yn ek en ) ... 1:5

Nachrichten und Bemerkungen.

Schlagw orte als K am p fm ittel. - - N euere A ngriffe auf das Prinzip der G laubensfreiheit. — Die A k ad e­

mien der e rste n Ja h rh u n d e rte und der G nostizism us. — H exen und W ald en ser. — A lbreclit D ürer und H ans D enck in A ntw erpen 11111 1520. — Die A kadem ie des Palm b au m s und der G rosse K u rfü rst. — Die S ch lach t am Wei.ssen Borgo und ihre Folgen. — A n h än ger der

„ P a n so p h ie “ in H alle um 1700. - - N esem ann s S ch rift „ E in Denkm al des Oom enius in K issa“ .

— W e r h a t zu Beginn des 19. Ja h rh u n d e rts das A ndenken an Com enius e r n e u e rt-.’ — Alis ein er Sch rift des D r. G . Eilers (y 1863). — Ein B rief des anglikanischen B ischofs K. D.

H u ntington vom 10. A ugust 1 8 0 8 ... 54

Zuschriften bitten wir an den Vorsitzenden der C.G., Archiv-Rat Dr. Ludw. Keller, Berlin W.-Charlottenburg, Berliner Str. 22 zu richten.

Die Monatshefte der C. G. erscheinen

monatlich

(mit Ausnahme des Ju li und August). Die Ausgabe von

Doppelheften

bleibt Vorbehalten. Der Ge­

samtumfang beträgt vorläufig 2 0 — 25 Bogen.

Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre

Jahresbeiträge;

falls die Zahlung der letzteren bis zum 1. J u l i nicht erfolgt ist, ist die Geschäftstelle zur Erhebung durch P o s t a u f t r a g unter Zuschlag von 60 Pf. Postgebühren berechtigt. — Einzelne Hefte kosten 1 Mk. 25 Pf.

Ja h re sb e iträ g e , sowie einmalige und ausserordentliche Zuwendungen bitten wir an das

Bankhaus Molenaar

&

Co., Berlin C. 2, Burgstrasse

zu senden.

B este llu n g e n übernehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, die Postämter — Postzeitungsliste Nr. 499G — und die G e s c h ä f t s t e l l e der C o m e n iu s -G e s e lls c h a f t , Charlottenburg, Berliner Str. 22.

Für die Schriftleitung verantwortlich:

Archiv-Rat Dr. Ludw. Keller.

(3)

Monatshefte

der

Comenius-Gesellschaft.

VIII. Band. ^ 1899. Heft 1 u. 2.

Vernunft und Offenbarung.

A n t h ro p o 1o g i s c h - p h i 1o s o p h i s c h e E r ö r t e r u n g e n von Dr. W ilh. T angerm ann in Köln.

„ W e n n n ich t die G ötter selb st das G öttliche enthüllen ,

Magst I)u (las All d u rch sp ä h n , Du w irst es n ich t e rg rü n d e n .“

S o p h o k l e s .

I.

AVer sich angesichts der extremen Richtungen und Strö ­ mungen einer realistisch gesinnten Gegenwart nach Lebensform en gesehnt, denen schöne S itte und edle Geistesbildung ein ideales Gepräge geben und in denen das echte Gold religiöser Gesinnung und humaner G esittung den innerlichen K ern bildet, während die heutige W elt es zu buntem F litte r und gleissendem Schaumgold verarbeitet, der wird sich aus der V ielgeschäftigkeit des äussern Lebens mehr nach innen zu sammeln das Bedürfnis fühlen. N icht unsere ganze K r a ft soll auf den K am pf des Lebens verwendet werden, obwohl die Anforderungen desselben sich masslos gesteigert haben und die G efahr nahe liegt, durch dieselben ganz aufgesogen zu werden. W ir haben in M itte der ewigen Unruhe ein Leben des Friedens, in M itte der rastlosen Thätig keit innerhalb des engeren Berufskreises Stunden der Müsse zu suchen, welche sowohl unserm G eiste eine angemessene Erholung gewähren als auch diesen seinem innern W esen nach weiter entwickeln und zu einer höheren V er- nunfteinsicht führen. „N icht nur durch jene Erfrischung“, sagt ein tiefsinniger D enker der neueren Zeit, „die allerdings schon in der Abwechselung der A rbeit liegt, soll uns die M üsse zu neuer Anstrengung stärken, sondern sie soll uns jene A llseitigkeit der

M onatshefte der C ü m enius-G esellachaft. 1899. 1

(4)

Tanjrermann. H eft 1 u. 2.

Ausbildung unseres ganzen W esens möglich m achen, welche das kämpfende Leben mit seiner unvermeidlichen Teilung der Arbeiten versagt/* Auch die Beschäftigung mit einzelnen W issenschaften bietet dieser Müsse nicht den wahren entsprechenden Inhalt, denn wir werden ja dadurch nur zu bald in die Mühen und Einseitig­

keiten der Einzelforschung verstrickt, wie sie die ausschlicssliche Richtung auf ein bestim m tes in sich begrenztes G ebiet notwendig herbeiführt. W ohl aber bedürfen w ir, um das eigene geistige Dasein zu einem erhöhten Bewusstsein zu bringen, des philoso­

phischen D enkens, worunter wir hier das Sichvertiefen in das innerste W esen des M enschen, die tiefere Erfassung der Idee in ihrer Erscheinung verstehen, also die Erforschung der wichtigsten Fragen des Lebens und der Thatsachen des innern Bew usst­

seins als die eigentlichen Aufgaben betrachten. D ie Philosophie, als U niversalw issenschaft gefasst, kann allerdings den Charakter einer strengen mühsamen G edankenarbeit nicht verleugnen, sie ist in W irklichkeit ihrem eigentlichen W esen gemäss darauf hinge­

wiesen, sich über den beengenden und abgegrenzten G esichtskreis der einzelnen w issenschaftlichen Disziplinen in allumfassender W eise zu erheben. D as philosophische Denken in diesem Sinne ist ver­

allgemeinernd und vereinzelnd zugleich; es konzentriert sich in der W echselbeziehung zwischen Einzelw esen und Gem einschaft, zwischen der freien P ersönlichkeit und der weltumfassenden A ll­

gemeinheit. E s hat seine Lebenswurzel in dem ewigen G ehalt des Allgemeinen und schafft sich aus diesem das charakteristische Gepräge für die eigene persönliche Lebensform . E s entw ickelt die Grundsätze der V ern u n ft, bildet diese aber nach M assgabe und nach dem Bedürfnis der Persönlichkeit gedankenvoll aus, wodurch die Geistesbildung ihre scharf ausgeprägte Eigentüm lich­

keit erlangt, so dass der M ensch im eigentlichen Sinne des W ortes ein M ikrokosmos wird. Niemand kann etwas V ollgültiges, B e ­ deutendes vollbringen, so lange er sich in einer seinem eigenen Wesen fremden Richtung bewegt. D as gilt, wie von ganzen V ö l­

kern und Nationen, so auch von dem einzelnen Menschen. Also auch das philosophische Denken muss sich gewisserrnassen indi­

vidualisieren, wenn es für den persönlichen L ebensberuf fördernd und fruchtbringend sein soll. D ie Ausbildung jener eigentümlichen Anlage, wodurch der Einzelne sich als Persönlichkeit von ändern unterscheidet, ist und bleibt für jedes höhere G eistesstreben das

(5)

1899. Vernunft und Offenbarung.

würdigste Ziel. Jed er muss seine Eigentüm lichkeit aufsuchen, die störenden fremdartigen Elem ente entfernen und seine ganze Ind i­

vidualität von den die vollständige Entw ickelung hemmenden E in ­ flüssen befreien. Dadurch allein gelangt er zu einer harmonischen Bildung. Das Vernunftgem ässe wahrer Geistesbildung besteht also in einer vollen reichen Entfaltung des rein Persönlichen. Und ebenso besteht die Ausbildung des Individuums in sittlich-religiöser Beziehung nicht in dem Anstreben eines allgemeinen Ideals mit Verwischung jeder Eigentüm lichkeit, sondern in der möglichst reinen ungetrübten Darstellung und Entw ickelung der menschlichen Individualität.

Man hat es der G esellschaft Je su nachrühmen wollen, dass sie in den trüben Zeiten des 17. Jahrhunderts viel für die K u ltur und Geistesbildung gethan habe. Man hat ihre Erziehungsgrund­

sätze und ihre Schulen gerühmt, aber in der gerechten Anerken­

nung des Guten, das sie gewirkt, es nur zu sehr übersehen, dass gerade die Jesu iten die Entw ickelung der deutschen Eigen art ge­

hemmt und zurückgedrängt haben. D ie G eschichte bew eist es, dass ihre W irksam keit in die innere Lebensfülle des deutschen N ationalcharakters sehr düstere Schatten geworfen hat. In dem unfruchtbaren Streben , die G eheim nisse der übersinnlichen W elt den hergebrachten Form eln begriffsm ässigen Denkens zu unter­

werfen und das alte Zerrbild der W ahrheit, das für den P artei­

geist absolutistischer Bestrebungen viel brauchbarer als das richtige U rbild is t, neu zu beleben, haben sie m it den übrigen dienstbe­

flissenen Theologen der damaligen Zeit gew etteifert und dadurch der Sache des wahren Christentums unendlich viel geschadet. In ihren Schulen wurde allerdings eine lateinische R edefertigkeit, eine o-ewisse M eisterschaft im lateinischen Ausdruck erreicht, wie sie

o

heutzutage vielen deutschen G elehrten abgehen mag. A ber das höhere Ziel pädagogischen Strebens und die wahre Aufgabe des Lehrens und Lernens, nämlich die Entw ickelung und Ausbildung des höheren, das R eich der Ideen vermittelnden Denkvermögens, sowie die Veredelung des Herzens durch die P fleg e des Gefühls für alles Gute, W ahre und Schöne, haben sie bei ihrer einseitigen V erstandesrichtung unbeachtet gelassen. D ie deutsche Sprache, so überaus reich und bildungsfähig in ihrer elastisch biegsamen Natur, entartete unter ihren Einwirkungen und in Folge des un­

aufhörlichen Gezänkes über unlösbare Kragen zu einer unsagbaren 1*

(6)

4 Tangoririiinn, Hott 1 u. 2.

Roheit. F ü r die Naturwelt und den Reichtum ihrer G estaltenfülle hatte man wenig Sinn und V erstän d n is; ihre inneren Gesetze wie ihre äussern Formen und Erscheinungen blieben unbeachtet und unverstanden, oder sie wurden zu Zerrbildern gem acht, um den kasuistischen Hirngespinsten als rednerische Figuren und allego­

rische Bilder zu dienen. D ie christliche Sittenlehre zerbröckelte durch das System des Probabilismus in eine R eihe von W ahr­

scheinlichkeiten und blossen M öglichkeiten, zwischen denen die persönliche W illkür nur zu wählen brauchte, um nach P flich t und Gewissen zu handeln. A lle sittlichen Ideen wurden von der sicht­

baren K irche und nach den Regeln einer spitzfindigen K asuistik gemessen, und der absolute Gehorsam gegen die O bern musste das persönliche Gewissen ersetzen, so dass an die Stelle sittlicher L auterkeit die sophistische Deutung einer probablen Meinung, an die Stelle einfacher evangelischer Moralprinzipien die Lüge der reservationes mentales m it ihrer schlauen Berechnung getreten war. D er Je su it Busenbaum, der 1640 die Moral in K öln lehrte und später R ektor des Kollegium s in M ünster wurde, lehrt in seinem Hauptwerk „Medulla theologiae moralis“ w örtlich: „W er auch äusserlich geschworen hat, ohne den W illen zu schwören, ist nicht gebunden “ (Qui exterius tantum juravit, sine animo jurandi, non obligatur.) Angesichts solcher rückhaltslos ausgesprochenen Grundsätze wird man die sittliche Entrüstung des gelehrten B e ­ nediktiners M abillon erklärlich finden, wenn er sich in scharfen Ausdrücken über die dem Evangelium widersprechenden verderb­

lichen . Grundsätze der Jesu iten auslässt und ausdrücklich sagt:

„dass die heidnische Sittenlehre eine solche angeblich christliche Moral beschäm e“. W ie hätte auch ein ganzes Zeitalter immer tiefer in Barbarei und G eistlosigkeit versinken, immer weiter von der ursprünglichen R einheit des Glaubens sich entfern en, die Grundideen des Christentums und der Humanität aus dem Auge verlieren und sich bis zu den Gräueln der Hexenprozesse verirren können, wenn n icht die Verderbnis des kirchlichen Lebens bis zu den tiefsten Grundlagen staatlicher Organisationen gedrungen war?

D er von den Theologen ausgegangene H ass gegen selbständige Gedanken m achte jedes höhere w issenschaftliche Streben wie jede edle humane G esittung unmöglich. So ging z. B . der W iderwille gegen die sich verbreitende kartesianische Philosophie so weit, dass inan die hervorragendsten Anhänger derselben, einen M ale­

(7)

1899. V ern un ft und Offenbarung.

branche, Thomassin, Arnauld, Nicole, Pascal, für Atheisten er­

klärte. Man konnte ja nur in der gewohnten scholastischen W eise denken, und wenn auch das eigentliche M ittelalter m it dem Ende des dreissigjährigen K rieges vollends zu G rabe gegangen war, so wusste man doch an dem überkommenen w issenschaftlichen Stand­

punkt mit unbeugsamer H artnäckigkeit festzuhalten und demselben mit allen Sophismen des Verstandes das W o rt zu reden, wie es trotz des fortschreitenden D enkens einer erweiterten K u ltur auch noch in unsern Tagen geschieht. Und doch — bei allem A u f­

wand von V erstand so wenig V ern u n ft! W oher mag das kommen?

D er V erstand sitzt im U nterhause, die V ern u n ft aber im O ber­

hause, wo auch die Ideen sich heimatlich niedergelassen. K ann wohl, wo diese gänzlich fehlen, von Vernunfterkenntnis die R ede sein und von eigentlicher G eistesbildung? W o die Ideen mangeln, geht die höhere W ürde des Denkens und m it dieser die wahre Bildkraft des G eistes verloren. Darum ist auch der G ottesbegriff der mittelalterlichen Scholastik, weil ohne w irkliches L eb en , für uns so wenig befriedigend. „Deus est mera et simplicissima es- sentia“, heisst es — also ein bestimmungsloses Sein, in welchem Sein und Denken und W ollen sich nicht unterscheiden und die F ülle des biblischen Realismus durch die Abgezogenheit des B e ­ griffs gänzlich verflüchtigt wird. D er strenggläubige Protestantis­

mus wusste diese scholastische M etaphysik durch keine lebens­

warme zu ersetzen, und während man sich über die Stellung der V ernu nft zum Offenbarungsglauben in masslosen Käm pfen und end­

losen Streitigkeiten gegenseitig ermüdete, hatte man den wahren B eg riff der „V ernunft“ entweder verloren oder denselben sich niemals zum V erständnis gebracht. Darin liegt die Q uelle vieler Irrtüm er und M issverständnisse auch für unsere Zeit und wenn wir uns über die verschiedenen Denkrichtungen und ihr V erh ält­

nis zur Religion klar werden wollen, so wird es vor allem darauf ankommen, dass wir uns über den B eg riff „V ernunft“ verständigen;

denn die Frage nach dem W esen und Inbegriff derselben ist der Angelpunkt aller philosophischen Käm pfe und aller Streitfragen zwischen Religion und Philosophie. W ährend die einen behaupten, in Sachen der Religion habe die V ernu nft eine durchaus unter­

geordnete Bedeutung und sie müsse sich unbedingt der G laubens­

autorität unterwerfen, erklären die ändern sie für die einzige Quelle der Religion und für die allein zuständige Kiehterin in Glaubens-

(8)

() Tangf'rmann, Heft 1 u. 2.

sacheu. Beide Richtungen haben zu grossen Einseitigkeiten ge­

führt, weshalb ein tiefsinniger D enker, Ham ann, einst m it R echt gesagt: dass aller Zwiespalt mit der Offenbarung aufhören würde,

„sobald man erst wisse, was V e r n u n f t sei“.

II.

G iebt es nun eine reine absolute V ernunfterkenntnis, die der M ensch von Natur in sich selbst besitzt und die er nur durch D enken sich zum Bew usstsein zu bringen h at? O der hat der menschliche G eist nur der Idee nach die W ahrheit als einen keim- artigen In h alt in sich, w elcher erst durch eine höhere Einwirkung von oben geweckt, durch die sich offenbarende Thätig keit G ottes entw ickelt werden m uss? I s t die K ra ft der E rkenntnis unge­

schwächt und ungetrübt, wie sie aus dem schöpferischen U rgeist hervorgegangen, oder ist sie in Folge des sittlichen V erfalls ge­

schwächt oder getrübt worden? I s t die Q uelle der vernünftigen E rkenntnis nur das W issen, sofern der m enschliche G eist dasselbe aus sich oder aus der äussern Natur geschöpft hat, oder ist auch vielleicht der Glaube eine Quelle, woraus der denkende G eist sich höhere W ahrheiten zum Bewusstsein brin gt? Ist die ideale K ra ft der V ernu nft nicht verschieden von der wirklichen empirischen V ernunft, wie wir sie erfahrungsmässig allüberall im Leben finden?

Das sind allerdings w eitgreifende Fragen, deren Beantwortung für uns von der grössten W ichtigk eit sein muss. Nun ist aber alles in diesem Leben sehr relativ und auch der individuell persönliche G eist kann sich des G efühls nicht erwehren, dass er nicht voll­

kommen frei, unabhängig und unbedingt, sondern in seiner ganzen Daseinsweise abhängig, bedingt und endlich ist. Und er ist dieses eben dadurch, dass er in einem ändern unerschaffenen G eist, in G o tt dem Unendlichen wurzelt und nicht wie der absolute G eist der immanente Grund seiner eigenen E xisten z ist. W as ist denn nun die V ernu nft ihrer W irklichkeit nach, soweit die Psychologie, G eschichte und persönliche Erfahrung uns darüber belehren? D ie V ernunft ist ein V erm ögen, eine K ra ft zur Erkenntnis idealer W ahrheiten, eine dem M enschen eingeborne Anlage, das Wahre in göttlichen und menschlichen Dingen zu erkennen, die aber wie jede K r a ft, wie jedes geistige Vermögen der Entwickelung, B il­

dung und Erziehung bedürftig ist. Unsere heutige Vernunft ruht

(9)

1899. Vernunft- und Offenbarung. 7 auf den geistigen Errungenschaften einiger Jahrtausende und ist namentlich unter den Einwirkungen des Christentum es zur E n t­

wickelung gekommen. Obwohl sie als Anlage in ihrem innern W esen immer und überall dieselbe ist, so hat sie sich doch in ihren wirklichen Ergebnissen, wie die G eschichte bezeugt, sehr mannigfach gestaltet. Durch das Bearbeiten der Vorstellungen und B egriffe, die der M ensch bei jed er neu entdeckten Thatsache in der sichtbaren W elt nach dem bereits errungenen Bildungs­

grade sich von den Dingen m achte, kam er zu einer klareren E insicht in die V erhältnisse der W elt und ihre Beziehungen zum Menschen. E r brachte durch seine sich entwickelnde D enkthätig- keit allmählig eine grössere K larh eit in seine Vorstellungen, lernte die harmonische W echselbeziehung in den Erscheinungen der W elt verstehen, indem er Form und G estaltung des Ganzen unterschied und das U rteil in seinen Einzelheiten zum Gegenstände besonne­

ner Prüfung m achte, wodurch seine V ernunfteinsicht sich natur- gemäss erweiterte. Den wirklichen Ergebnissen der G eschichte zufolge hat also die V ernu nft sich sehr verschieden g estaltet, so dass sie der W irklichkeit nach in jedem Zeitabschnitt die Summe der in ihr herrschenden Vorstellungen oder als wahr erkannten B egriffe bezeichnet, was offenbar etwas sehr relatives ist. D ie V ernu nft der Griechen z. B . fand es nicht unvernünftig, an die olympischen G ötter zu glauben und ihnen allerlei menschliche Leidenschaften anzudichten. D ie V ernu nft des 16. und 17. Ja h r­

hunderts meinte nicht unvernünftig zu handeln, wenn sie unter Beobachtung juridischer Form alitäten ihre H exenprozesse führte und in Spanien A u to - d a - F e ’s m it religiösem Scheingepräuge h ielt, um den zum Scheiterhaufen verurteilten K etzern einen V orgeschm ack des höllischen Feuers zu geben. V o r Copernikus war bekanntlich das alte ptolomäische W eltsystem das allgemein anerkannte, und es galt die Vorstellung, dass sich die Sonne um die Erde bewege, für die allein vernünftige. So enthalten allge­

mein verbreitete Meinungen über G egenstände, die über unsere sinnliche Erfahrung hinausgehen, äusserst selten oder nie die ganze W ahrheit. E s scheint sogar, dass auf der noch unvollkommenen Stufe unserer geistigen Entw ickelung die Vernunftw ahrheit nur durch die V erschiedenheit und den W iderstreit der Meinungen sich allmählig herausgestaltet. So ist es z. B . in der P olitik zu einer allgemein verbreiteten Überzeugung geworden, dass eine Partei

(10)

s Tangernmmi, H eft 1 u. 2.

der Ordnung und des Beharrens und eine P artei des Fortschritts oder der Reform für einen gesunden Zustand des politischen Lebens und der sozialen Entw ickelung solange gleich notwendige B estand ­ teile bilden, bis etwa die eine oder andere P artei ihren geistigen G esichtskreis so sehr erw eitert hat, dass sie zugleich die volle W ahrheit des Prinzips der Ordnung wie des F ortsch ritts begreift und zu unterscheiden w eiss, sowohl was Erhaltung verdient, als was beseitigt werden muss. Jed e dieser Anschauungsweisen ent­

lehnt die gereiftere Ein sich t von den Mängeln der ändern und nur ihrem gegenseitigen W iderspruch ist es zu danken, wenn sich eine jede P artei in den Schranken des Vernünftigen und Heilsamen hält und die volle W ahrheit auf naturgemässe W eise sich ent­

wickeln lässt, weil die V ernunfteinsicht auch in solchen Dingen als eine fertige nicht betrachtet werden kann.

D ie V ernu nft ist ferner eine K ra ft, deren V ollkom m enheit oder Unvollkom m enheit durch den organischen Zusammenhang mit den übrigen K räften des M enschen gar sehr bedingt erscheint, indem auch im sittlich-geistigen G ebiete der Satz seine Bedeutung h at: wenn ein Glied leidet, so leiden alle G lied er mit. E s ist eine durch so manche kriminal-psychologische Denkwürdigkeiten der neueren Zeit bestätigte Erfahrung, dass durch die M acht sündhafter Gewohnheiten und sinnlicher L eidenschaften auch das sittliche Bew usstsein, das persönliche U rteil über den sittlichen W ert der H andlungen, über den U nterschied des R echten und U nrechten, des Erlaubten und Unerlaubten, geschädigt und ge­

trübt wird. W ie könnte es auch anders sein? W enn die Indivi­

dualität des M enschen sich im innersten Herzpunkte konzentriert und konsolidiert, wenn das Herz nach einem Ausdruck Jea n Pauls die K nospe des K op fes is t, so muss das Verderbnis des Herzens auch notwendig die Erkenntniskraft beeinträchtigen, wenn auch nicht der A rt, dass die natürlichen D enkgesetze und die logischen Funktionen des V erstandes zerrüttet und die Erkenntnis der natürlichen Dinge dadurch verfälscht wird, so doch in B e ­ ziehung auf metaphysische Dinge, in A bsicht auf diejenige R ich ­ tung des Erkenntnisverm ögens, welche m it dem sittlich-religiösen W esen des M enschen im engsten Zusammenhange steht. Schon darum muss dem aus seinem ursprünglichen V erhältnis zu G ott herausgewichenen, von der allgemeinen V erderbnis der W elt nicht unberührt gebliebenen Menschen die volle G ew issheit, Reinheit

(11)

18W). V ernunft und O ffenbarung. 9 und Vollkom m enheit der Erkenntnis metaphysischer W ahrheiten, welche der reinen und ungetrübten V ernunft möglich sein müsste, iibo-ehen. Auch die grösste Ausbildung des V erstan d es, wenn ihr nicht in gleicher W eise eine gesteigerte Veredelung des H er­

zens zur Seite geht, vermag das ursprüngliche V erhältnis nicht wieder herzustellen. D ie Erscheinungen der Gegenwart können uns dies sattsam beweisen, wenn es überhaupt noch eines Bew eises bedürfte. Wird nicht durch intellektuelle Verkünstelung, durch vorwiegende Ausbildung des V erstandes, durch Anhäufung stoff­

lichen WTissens, die Unschuld jenes innern U rsinnes immer mehr eingebüsst, gleich wie die Unschuld des M enschengeschlechtes ver­

loren gegangen, als grobe Selbstsucht und ungöttliches W esen zuerst die F ru ch t vom Baume der Erkenntnis gebrochen? E r ­ kenntnis und Leben stehen ja doch in der innigsten W ech selbe­

ziehung; wo das Leben aus seinem wahren M ittelpunkt gewiesen, da ist auch die Erkenntnis keine lebensfrische, wahrhaft gesunde mehr, sogar nicht in rein m enschlichen und irdischen Dingen, denn das M enschliche in unserer Natur kann nur durch das G öttliche, das in ihrem tiefsten Innern geheimnisvoll verborgen liegt, zu einer segenbringenden harmonischen Entfaltung kommen.

D er Philosoph nun, so lange er den Offenbarungsglauben ganz unberücksichtigt lässt, betrachtet die V ernu nft als das reine Vermögen der E rk en ntnis, als das eigentliche Realprinzip des philosophischen Denkens und Forschens, wobei er meistens von ihrem wirklichen Zustande, von ihrer gehemmten oder geförderten K raftbethätigung zu sehr absieht. In dieser Abstraktion und im Vertrauen auf ihre intellektuelle und spekulative S e lb stb e tä tig u n g mag es sogar im Denken geübten Männern begegnen, dass sie in mancherlei Irrtüm er geraten und o ft, ohne es zu bem erken, die einfachsten B egriffe verfälschen. Sobald jedoch die philosophie­

rende V ernunft sich von der Einbildung befreit, durch spekulative Forschung Alles aus sich herausgestalten und dialektisch ausein­

anderlegen zu können; sobald sie sich nach allen Richtungen bis zu einem entsprechenden Grade ausgebildet und sich ans dieser Durchbildung mitten in die Natur und G eschichte hineingestellt, um auf diese W eise ihre Forschungen zu beginnen und die E r ­ kenntnis idealer W ahrheiten zu erstreben: wird auch ihr Streben nach W ahrheit und Erkenntnis ohne Zweifel zu ganz ändern E r ­ gebnissen führen. D as recht verstandene christliche Prinzip führt

(12)

10 Tangerm ann, H eft 1 u. '2.

ums gegenüber jedem einseitigen, unberechtigten Idealismus ins w irkliche L eb e n ; es fasst die V ernu nft nicht im abstrakt idea­

listischen Sinne, sondern in ihrem w irklichen Zustande und trägt den Gegensatz von Natur und G nade, von sittlicher Verirrung und Erlösung auch auf die Erkenntnisseite über. E s verlangt nicht die Herabsetzung, die Entw ertung der V ernu n ft, wie viele meinen, wohl aber hat es ihre geschwächte und getrübte W irk ­ samkeit zur Voraussetzung. Es erkennt die Notwendigkeit der belebenden und erleuchtenden G nade, welche das geoffenbarte W ort uns verm ittelt, um der V ernunftthätigkeit in Beziehung auf göttliche Dinge die rechten Leitsterne zu zeigen. D ie V ernunft an sich steht also nicht mit der G otteserkenntnis in irgend einem W iderspruch, aber sie bedarf einer erneuerten Gnadenverbindung mit G o tt, der innern Belebung des U rsinnes für das G öttliche, weil ohne dieselbe die Anschliessungspunkte für die übernatür­

lichen W ahrheiten fehlen. So ist z. B. der B e g riff einer ersten Ursache der V ernu nft so zu sagen angeboren, so dass er sich mit Notwendigkeit aus ihr entw ickelt. Nun ist es aber dennoch ein grösser U nterschied, ob dieser B e g riff durch das blosse Denken, abgesehen von der christlichen Offenbarung, zu einer allgemeinen

„W eltseele“, zu einer „absoluten Id ee“, zum B eg riffe einer abso­

luten V ernunft ohne Persönlichkeit vergeistigt, oder zu der höheren Id ee eines lebendigen, selbstbewussten persönlichen G ottes nach christlicher Anschauung verklärt wird.

In unsern Tagen zeigt sich bei nicht wenigen G elehrten die Geistesdürre einer alles Ü bersinnliche leugnenden Weltanschauung.

W illi. Bender behauptet in seinem Buche „Das W esen der R eligion“

(Bonn 1886): „Die G ottheit könne nur vorgestellt werden als das einheitliche, aus G eist und S to ff gewissermasscn zusammengesetzte universelle Lebensprinzip, welches die einheitliche W elt emaniert.“

Nach seiner Darstellung hat „die W issenschaft über das W elt­

system heute ganz andere Gedanken, als sie Christus, clie Apostel und die grossen K irchenlehrer des Altertums haben konnten“. D ie

„obere W elt“ ist ihm nichts R eales, sondern „lediglich ein E r­

zeugnis der Phantasie, welche dieselbe in {len unendlichen Weltraum projiziert, fixiert und lokalisiert“. Solche Ansichten kennzeich­

nen eine D enkrichtung, für welche übersinnliche Vorstellungen zu den überwundenen Standpunkten gehören. Das Christentum aber beruht auf solchen Ideen und übernatürlichen Thatsaehen

(13)

l s w t . V ernunft und O ffenbarung.

__ steht und fällt mit diesen. — In den rationalistischen D enk­

richtungen sind dennoch verschiedene Formen wesentlich zu unter­

scheiden. E s giebt einen niedern Rationalism us, für den schon der Gegensatz zwischen Himmel und E rd e , zwischen D iesseits und Jen seits ein unlösbares R ätsel is t; der nur die W ahrheit des Endlichen, des in Raum und Zeit Gegebenen anerkennt und alles was darüber hinausgeht verwirft. E s giebt aber auch einen höhe­

ren Rationalismus von edlerer N atur; dieser ehrt die ewigen W ahr­

heiten, die sich in der V ernu nft und dem Gewissen offenbaren, und das ursprüngliche göttliche L ich t, das alle M enschen erleuchtet, die demselben das innere Auge des G eistes öffnen. D er Glaube und das V ertrauen an die W ahrheit dieser im Innern des M en­

schen sich kundgebenden allgemeinen O ffenbarung ist ja die B e ­ dingung, unter welcher eine historische Offenbarung aufgenommen werden kann.

„W ar’ nicht das Auge ,sonnenhaft, W ie könnten wir das Licht erblicken?

L ebt’ nicht in uns des Gottes eigne K raft, W ie könnt’ uns Göttliches entzücken?“

Haben doch selbst die Grundlehren des Christentums und die grössten seiner Geheimnisse manche Seiten , von welchen sie der V ernunfterkenntnis bis auf einen gewissen G rad einigermassen einleuchtend werden und an innere Bedürfnisse des G eistes und Herzens sich anschliessen. D er erste zuversichtliche Glaube an die G öttlich keit des Christentum s, worauf beruht er anders — abgesehen von der mehr mystischen Begründung und Bewährung durch innere Herzenserfahrung — als darauf, dass der prüfende und forschende G eist durch vernünftiges und besonnenes N ach­

denken über die Gründe desselben, durch Betrachtung und Zusammenfassung der geschichtlichen U m stände, durch gewisse Forderungen und Ideen einer sittlichen W eltordnung und durch positive Nötigung des W ahrheitsgefühls sich gedrungen sieht, das Christentum als ein besonderes W erk göttlicher W eisheit und Gnade anzuerkennen ? Indem wir der göttlichen Offenbarung glauben und zu der ewigen W ahrheit der christlichen Religion uns mit voller Überzeugung bekennen, glauben wir zugleich dem zustimmenden Bekenntnis unseres erhellten geistigen Bew usstseins

— mit einer ethischen Notwendigkeit. D ie Rationalisten, unfähig, den Glauben in seiner Eigentüm lichkeit zu erkennen, verflüchtigen ihn und lassen an seine Stelle moralische Gemeinplätze treten.

(14)

12 Tanirm nniin, H eft 1 u. 2.

I I I .

D ie ältere protestantische Theologie, durch die pelagianische Verflachung des christlichen L ehrbegriffs auf katholischer Seite zu einer entgegengesetzten Auffassung gedrängt, hat dieses ursprüng­

liche L ich t im menschlichen G eist bekanntlich nicht anerkennen wollen. Als aber die H itze der Parteikäm pfe vorüber war, wurde man besonnener und hat auch diese E in seitig keit auf das rechte Mass zurückgebracht. In gleicher W eise ist auch der einseitige Rationalismus der spätem Periode ein überwundener Standpunkt geworden, und es haben denkende M änner von beiden Seiten die V ernunft allmählig wieder zu Ehren gebracht und ihr diejenige Stelle zuerkannt, welche ihr unzweifelhaft gebührt. W o man aber durch tieferes Eindringen in die Natur und B eschaffenheit des w irklichen M enschen zu einer erleuchteten E in sich t gelangt, da bekennt man sich — so sehr auch sonst die Richtungen ausein­

andergehen mögen — doch zu der gemeinsamen Überzeugung:

dass es, um das G öttliche wahrhaft zu erkennen und m it seelen­

voller L iebe zu erfassen, einer geistigen W iedergeburt, d. h. eines neuen göttlichen Lebensprinzips bedarf, wodurch der ganze M ensch in seinem Denken, Fühlen und W ollen erneuert, veredelt und um­

gestaltet wird. J e inniger und wahlverwandtschaftlicher nun die Beziehung ist, worin gewisse Strebungen des menschlichen G eistes und einzelne Funktionen des Erkenntnisverm ögens zu den gött­

lichen Dingen stehen, so dass es von ihrer richtigen oder ver­

kehrten Bethätigung abhängt, ob und wieweit wir zur Erkenntnis göttlicher W ahrheit gelangen, um so bem erklicher und augenfälliger wird auch der Einfluss m enschlicher Trübung und Verdunkelung sein.

Und wenn nun schon A ristoteles die „W eisheit“ (aofpia) auf das Ew ige und G öttliche bezog, werden wir da jene D enker, die mit ihrer W eisheit sich in die empirischen Erscheinungen des Naturlebens hineingebannt haben und nicht darüber hinauszukommen vermögen, noch wahrhaft massgebend nennen? D as höhere G eistige ist dem natürlichen, von sinnlich-egoistischen Neigungen und Strebungen, oder von einer trügerischen Scheinw eisheit eingenommenen M en­

schen eine T h o rh eit; er kann es nicht fassen, wie der Apostel sagt. W er aber einen frischen B lick in W elt und Leben sich bewahrt und in jener glücklichen M ischung von V erstandesschärfe und Genmtswänne noch einige ideale Ohnrakterziige besitzt, der

(15)

1 8 9 9 . Vernunft, und O ffenbarung. 18 wird sich von den sichtbaren Erscheinungsform en zu den höheren Ideen hindurchringen, denn alles Irdische ist nur ein Gleichnis.

Trügen wir das reine U rbild der W ahrheit in uns, so könnten wir dasselbe allerdings als M assstab an die göttliche O ffenbarung legen und sie darnach beurteilen. I s t dasselbe aber in uns ge­

trübt und verdunkelt, wie es die G eschichte der M enschheit und unsere eigene Erfahrung bezeugt, so muss es eben durch die Verm ittelung eines höheren L ich tes erhellt und erneuert werden.

Dann wird sich die Übereinstimmung des Christentums mit unsern tiefern Anlagen und Bedürfnissen deutlich herausstellen und das bekannte W ort Tertu llian s: „anima naturaliter est christi ana“ sich bestätigen.

So ist denn die w irkliche V ernu nft ein relatives Vermögen, eine der Entw ickelung und Vervollkom mnung fähige und bedürf­

tige, in ihrer Richtung und Thätigkeitsäusserung mehr oder weniger beschränkte K r a ft, welche m ittelst ihres natürlichen L ich tes die sichern Leitsterne nicht zu finden vermag. W o immer aber sie sich selbst klar geworden und der geheimnisvolle Zug des Herzens nach G o tt und E w igkeit ihm zum Bewusstsein gekommen, da lernt sie das Innerlichste und T iefste der Menschennatur verstehen und erkennt in der geoffenbarten W ahrheit des Logos das göttliche Lebensprinzip für die eigene sittlich-religiöse Durchbildung. Man sagt nun zwar mit Hinweisung auf L essin g : was in der V ernunft als K eim , als Anlage liegt, das wird und muss sich auch m it einer gewissen Notwendigkeit allmählig aus ihr entwickeln. A ber wie viele K eim e geistiger Strebekraft werden von allerlei Schling­

gewächsen und Unkraut überwuchert, so dass sie entweder un- entfaltet zu Grunde gehen oder sich nur auf kümmerliche W eise entwickeln ! M it schmerzlicher AVehmut blick t mancher edel­

denkende M ensch in die verborgenen Gründe seines Herzens, wo einzelne dunkle Pünktchen — unscheinbar und kaum beachtet — die reine volle Entfaltung des L ichtes der Erkenntnis und L iebe trüben und verdunkeln. W er zählt die störenden Einwirkungen von aussen, die leidenschaftlichen Regungen im Innern, die sünd­

haften Neigungen und Phantasmagorien irregeleiteter Einbildungs­

k raft, wodurch die Entw ickelung der reinen V ernu nft gehemmt w ird? Wenn also auch, wie man behauptet, das eigentlich V e r ­ dienstvolle der göttlichen O ffenbarung nur darin bestände, dass sie die Vernunftentwickelung beschleunigt, die R esultate gereiften

(16)

14 Tangcrmaiin, Heft 1 u. 2.

Denkens rascher herbeifü hrt: so läge darin schon ein hinlänglicher Grund, die bloss natürliche V ernu nft nicht für die sicherste Quelle der P^rkenntnis zu halten. Nach der Lehre K ants, des nüchtern­

sten aller Vernunftphilosophen, ist die M etaphysik die Vollendung der menschlichen V ernunft. Aber diese metaphysische Vollendung ist eben nicht durch die scharfsinnigsten Operationen des V e r­

standes zu erreichen, wie K a n t es an sich selbst erfahren, indem er sich für die höchsten V ernunftideen: G o t t , F r e i h e i t und U n ­ s t e r b l i c h k e i t , die in konsequenter W eise aus seinem System nicht zu entwickeln sind, auf sein sittliches B ekenntnis berief.

Friedr. Heinr. Ja c o b i, der Philosoph von Pem pelfort, fühlte das Ungenügende und Beengende der K antschen Spekulation. Sein philosophischer B lick , von einer idealen G em ütskraft getragen, richtete sich stets „nach dem Angelstern der jenseitigen W elt, nach den göttlichen D ingen“. Ihm war deshalb die V ernunft etwas ganz anderes, als ein rein formales, logisches Reflexionsverm ögen und er wusste das Moment der U nm ittelbarkeit in den Stadien des Denkprozesses energisch hervorzuheben und geltend zu machen.

„Gleichwie unser Sinn ein Verm ögen ist, das für uns Vorhandene unm ittelbar wahrzunehmen im B ereiche der K örperlichkeit, so ist auch die V ernunft ein Sinn, ein Vermögen, u n m i t t e l b a r wahr­

zunehmen, was im übersinnlichen G ebiete des G eistes für uns da ist.“

A ber sind es etwa nur die der V ernu nft wesentlichen Ideen von G o tt, F reih eit und U nsterblichkeit, sowie die Grundlehren der Moral, welche die christliche O ffenbarung uns zu einem klaren V erständnis bringen soll? U nd darf etwa die V ernu nft nur das­

jenige für wahr halten, was sie möglicherweise aus sich selbst zu entwickeln im Stande is t, so dass sie alles Ü brige, worüber das Christentum uns Aufschluss g ieb t, als etwas unwesentliches auf sich beruhen lassen kann, oder es für untergeordnete Zeitvorstel­

lungen erklärt, welche eine erleuchtete und aufgeklärte V ernunft abzustreifen berechtigt is t? D iese Fragen haben allerdings einen Zusammenhang mit w eitverbreiteten irrigen Ansichten, welche uns zu einer weitern F rage über den ethischen W ert des Übervernünf­

tigen und Unbegreiflichen im Christentum führen. W ie hat sich die denkende V ernunft in Beziehung darauf zu verhalten ? D ie Unterscheidung zwischen dem „Übervernünftigen“ und dem „W ider- vernünftigen“ hat einst Leibniz zu einer interessanten Erörterung

(17)

I 890. Vernunft, und Offenbarung. 15 Veranlassung gegeben, die auch für den Standpunkt der heutigen W issenschaft noch zutreffend ist. W i d e r v e r n ü n f t i g i s t , w as d e r V e r n u n f t a ls s o l c h e r w id e r s p r i c h t . Ü b e r v e r n ü n f t i g i s t , w as d ie b e s c h r ä n k t e m e n s c h li c h e V e r n u n f t ü b e r ­ s t e ig t . D ie V ernu nft als solche in ihrer reinen Fassung hat es mit absoluten W ahrheiten zu thun, von denen das Gegenteil nie möglich ist. Die beschränkte V ernunft bewegt sich in W ahr­

heiten, die nur bedingungsweise g elten ; von ihnen ist auch das Gegenteil denkbar. Eine unbedingte Notwendigkeit gilt von allen V ernunftw ahrheiten, die auf dem Satze der Id entität beruhen;

eine bedingte Notwendigkeit von allen Erfahrungswahrheiten, die auf dem Satze des zureichenden Grundes beruhen und deshalb nur eine relative und unvollständige G ültigkeit haben, weil die Gründe einer Thatsache niemals ganz erschöpft werden können.

Was nun den Vernunftwahrheiten und deren metaphysischer oder logischer Notwendigkeit (die erstere hat ein unleugbares Kriterium in dem tiefsten und innersten Zeugnis des G eistes, die andere in dem U rteils- und Schlussverrnögen der denkenden Vernunft) widerspricht, das ist offenbar w idervernünftig; was über die V e r­

nunft- und Erfahrungswahrheiten und deren logische und physika­

lische Notwendigkeit hinausgeht, das ist übervernünftig. Nun kann aber offenbar gar manches sowohl den G esichtskreis menschlicher Erfahrung, als die Grenzen natürlicher Vernunfterkenntnis über­

steigen, ohne deshalb ungereimt und im W iderspruche mit den Vernunftprinzipien zu sein. Is t nicht ungeachtet einer bewunderns­

würdigen Erw eiterung der naturw issenschaftlichen G ebiete der G esichtskreis unserer Erfahrungsw issen schaft immer noch ein be­

schränkter zu nennen ? „Das Schwierige bei der N atur“, sagt G oethe, „ist: das G esetz auch da zu sehen, wo es sich uns ver­

birgt, und sich nicht durch Erscheinungen irre machen zu lassen, die unsern Sinnen widersprechen. Denn es widerspricht in der Natur manches den Sinnen, und ist doch wahr.“ D ass die Sonne still stehe, dass sie nicht auf- und untergehe, sondern dass die Erde sich täglich in wunderbarer, unserer V ernunft unbegreiflicher Geschwindigkeit herumwälze, steht mit unserer sinnlichen E rfah ­ rung und Beobachtung offenbar im grössten W iderspruch; den­

noch zweifelt kein U nterrichteter, dass es so sei. Ebenso finden sich auch im Pflanzenreiche mancherlei widersprechende E rsch ei­

nungen, wobei man sehr auf seiner H ut sein muss, sich nicht auf

(18)

16 Tango rniann, H eft 1 11. 2.

falsche W ege durch sie leiten zu lassen. E s giebt also noch immer ein Jen seits der Erfahrung und jede neue Entdeckung in der Chemie oder Physik lässt uns wieder neue, der jetzigen E r ­ fahrung und Erforschung unzugänglich gebliebene W ahrheiten ahnen. D iese können als neue Thatsachen nur ganz ändern B e ­ dingungen folgen, als diejenigen sind, welche uns in der Natur als bekannt gegeben; niemals aber können diese Thatsachen den G esetzen der L ogik und M athematik w iderstreiten, die ihrem W esen nach ewig und unveränderlich sind. Das U bervernünftige ist möglich und wir nennen es nur deshalb unbegreiflich, weil es auf unserer jetzigen Stu fe der Erkenntnis nicht begriffen werden kann. D as W ider vernünftige ist unmöglich und zugleich unbe­

greiflich, weil es überhaupt nicht begriffen werden kann. Jen es ist göttlich; dieses ungereimt. U nd so hat denn der Leibnizsche S a tz : „Das Ubervernünftige ist nicht widervernünftig“, seine volle Berechtigung.

W as also in dem U nbegreiflichen widersinnig ist, das kann auch niemals Glaubenssache sein, und was darin nicht unvernünftig oder undenkbar is t, das kann als über vernünftig gelten und darf nicht nach den Regeln unserer beschränkten V ernunfterkenntnis verurteilt werden. D as U bervernünftige, durch göttliche O ffen­

barung uns V erm ittelte, ohne weiteres abzuweisen, wäre nicht vernunftgemäss, während wir andererseits immer verpflichtet sind, das Unvernünftige entschieden zu verwerfen. Das ist die R ich t­

schnur, nach welcher das V erhältnis der christlichen Religion zu der fortgeschrittenen K u ltur unserer Zeit zu beurteilen ist. Das Christentum m it seinen übernatürlichen W ahrheiten wird getragen von der göttlichen V ernu n ft, die entweder m it der menschlichen V ernu nft übereinstimmt oder dieselbe übersteigt, aber ihr niemals zuwiderläuft. W ollten wir alles Ü bernatürliche in der christlichen Religion rationell machen, so würde das W esen der Religion sich verflüchtigen. D as wessen auch diejenigen recht gut, welche heut­

zutage mit allen erdenklichen W affen die M etaphysik des C hristen­

tums bekämpfen und grade auf dem G ebiete der reinsten und erhabensten Idee reinen T isch machen möchten. A lle neuzeitlichen Angriffe, so verschieden auch in ihrer A rt und W eise, gehen von demselben Punkte aus und trachten nach demselben Z ie le : die Verneinung des Ü bernatürlichen in den G eschicken der M en­

schen, die Verneinung der göttlichen Vorsehung in den grossen

(19)

1 890. Vo rnunft und Offenbarung. 17 Angelegenheiten der W elt, die Aufhebung des übernatürlichen Elem entes in der christlichen Religion wie in jed er Religion über­

haupt. Je d e Religion aber, wie die G eschichte es bezeugt, stützt sich auf einen natürlichen Glauben an das Ü bernatürliche, auf eine verborgene Sehnsucht des menschlichen Herzens nach dem Unendlichen. Soll das Christentum jem als im wahren Sinne des W ortes, gemäss seiner universalen Bedeutung, eine W eltreligion werden, eine prak tisch -m ächtig e, thätig eingreifende und geistig neugestaltende R eligion, so kann dieses nur durch die ihm ein­

wohnende, Zeit und E w igkeit verbindende übernatürliche Lebens­

k raft geschehen. Genau gesprochen giebt es auch eigentlich gar keine natürliche R eligion, denn wenn man das Übernatürliche hinwegnimmt, so verschwindet die Religion und sinkt zu einem leeren B eg riff herab.

Eine der verdienstlichsten W irkungen des Christentums ist es nun unleugbar, dass die wesentlichen dem M enschen einge- bornen Ideen durch dasselbe zur Entw ickelung gekommen und zu allgemeiner Anerkennung gebracht worden. A ber weshalb soll die christliche O ffenbarung uns nicht auch mit neuen Ideen be­

reichern, unser geistiges Bew usstsein mit einem helleren L ich te durchstrahlen und den menschlichen G esichtskreis erweitern kön­

nen? H at denn nur dasjenige den A nspruch, für W ahrheit zu gelten, was die V ernu nft aus sich selbst entwickeln und ableiten kann? Dann wäre es offenbar m it allen W ahrheiten, die wir als Ergebnisse em pirischer Forschung zu betrachten haben, schlimm bestellt. Jed e neue E rfahrung, die uns m it einer bis dahin un­

bekannten E rkenntnis bereichert, ist ein neues G lied in der K e tte menschlicher W’ahrheiten, welche die V ernu nft nicht aus sich selbst ableiten konnte, und die wahre Theorie muss sich in ihren Lehrbestim m ungs- und Begriffsform eln immer nach der Erfahrung richten. So ist auch das ganze Christentum nicht etwa nur als Lehre, als In begriff von G laubens- und Denkbestimmungen über G ott und sein V erhältnis zur W elt zu betrachten; es ist zugleich eine Sache lebendiger Erfahrung. E s enthält Thatsachen, die nie­

mals historisch geworden sind und die keine m enschliche V e r­

nunft zum voraus aus sich ableiten konnte, die wir aber jetzt __

mit dem Glaubensauge einer erleuchteten V ern u nft sie betrach­

tend — in ihrer W ahrheit und Zw eckm ässigkeit begreifen können.

Sobald wir uns nämlich der inncrn Anknüpfungspunkte für das

M onatshefte der Conieuius-G esellsehaft. 189!). 0

(20)

1 8 Tangerm ann, V ern un ft und Offenbarung. H e f t 1 1 1. 2 .

G öttliche bewusst geworden und in das getrübte und geschwächte Wesen des natürlichen nicht wiedergebornen M enschen einen tie- fern B lick gew orfen, erfahren wir es, wie unser eigener G eist dem G eiste G ottes Zeugnis giebt und jene W ahrheit beglaubigt.

Das Christentum enthält Lehren und Unterw eisungen, sittliche V orschriften und Lebensregeln, in denen der oberflächliche V e r­

stand nicht selten die grössten W idersprüche entdeckt. W er aber mit L iebe nach der W ahrheit forscht und nicht in eitler Selbst­

überhebung sich höherer W eisheit rühm t, dem hilft sogar die D unkelheit, den hellschimmernden P fad des L ich tes desto deut­

licher zu erkennen. D ie tiefere W ahrheit verbirgt zuweilen ihren Schwerpunkt in dunkler R ed e; diesen richtig herauszufühlen und klar und fest ins Auge zu fassen, dazu bedarf es allerdings einer höheren Geistesbildung, einer hellblickenden K lugheit, wie sie nur in der Schule des Einen ewig W eisen erlangt wird, ln dem stillen Leuchten seines G eistes verwandelt sich der Buchstabe der S ch rift, der an sich to t ist wie jeder andere L eib ohne G eist, in das lebendige, Leben schaffende W ort und wir überzeugen uns, dass wir jene Wahrheiten zwar nicht aus unserer eigenen D enk­

kraft ableiten können, dass sie aber dennoch unserm innern geistigen W esen gemäss sind und einem Bedürfnis unseres Herzens ent­

sprechen. Und so wird selbst die Form , die mitunter dunkle Bildersprache der S ch rift für die denkende Betrachtung gleichsam zu einem Fernrohr, das unser inneres Auge zur Entdeckung neuer Welten bewaffnet. Das Fernrohr ist freilich ohne das klare lich t­

volle Auge von keiner Bedeutung, aber ohne dasselbe würde auch das noch so scharfblickende Auge nicht jene fernen W elten ent­

decken.

(21)

Was ist Bildung?

Von

Paul Hohlfeld

in Dresden.

Als der Grundgegensatz unter den M enschen gilt vielen jetzt der Gegensatz von arm und reich und folglich die Aufhebung oder wenigstens Milderung desselben als die Lösung der sogenannten sozialen Frage. Andere aber finden den Grundgegensatz in dem U nterschied von gebildet und ungebildet und suchen demgemäss das H eil der M enschheit in der Förderung der Bildung. D iesen löblichen Absichten kommt auch das Bildungsstreben immer w eite­

rer K re ise , immer breiterer Schichten entgegen. A ber wundern muss man sich , wie wenig K larh eit über den B e g riff „Bildung“

herrscht, wie ausserordentlich die Ansichten darüber auseinander­

gehen. Deshalb muss die F rage „W as ist Bildung?“ als eine grund­

wichtige und dabei ganz zeitgemässe bezeichnet werden.

D as Hauptwort „Bildung“ ist von dem Zeitworte „bilden“, dieses wieder von dem Hauptworte „Bild“ abgeleitet. D er U r­

sprung des letzteren ist streitig. Bilden ist ziemlich dasselbe wie gestalten oder form en, nur dass man bei jenem mehr an den G ehalt oder Inhalt, an das, was gebildet werden soll, bei diesem mehr an die Begrenzung denkt, an das, wodurch ein G ehalt ge­

staltet werden muss. In einem engeren Sinne wird „bilden“ von lebenden W esen gebraucht, als das G estalten des Lebens derselben.

„Bildung“ hat einmal die Bedeutung einer T h ätig keit = das B il­

den, das andere M al die des Ergebnisses jener T h ätig k eit, das G ebildetsein.

Bildung ist zunächst nicht etwas Selbständiges, für sich B e ­ stehendes, nicht ein W esen wie der M ensch oder ein W esenteil wie der L eib eines M enschen, sondern etwas an einem anderen, die E igenschaft oder W esenheit eines anderen. Also is t das Hauptwort „Bildung“ ein Abstraktum , nicht ein Konkretum . D as­

jenige nun, woran die Bildung sich fin d et, ist unm ittelbar das 2 *

(22)

20 iTohlfcld, FT oft 1 ü. 2.

Leben, dieses aber muss an einem W esen, einem lebenden Wesen, haften. N icht jedes lebende W esen ist gebildet: manches ist noch nicht gebildet, wohl aber bildungsfähig. Andere sind wohl einiger- massen gebildet worden, indes ohne den rechten E rfolg, oder sind wenigstens später rückfällig, in höherem oder minderen M asse roh geworden.

Bildung = G ebildetsein ist nicht eine T h at, eine Handlung, auch nicht eine Hervorbringung von K unstw erken, ferner nicht etwas Augenblickliches (Momentanes) oder doch schnell V orüber­

gehendes, sondern etw as, für eine gewisse Zeit mindestens, B le i­

bendes, Dauerndes. Bildung ist ein reales oder lebendiges V e r­

mögen, im Gegensätze zu dem ganz abstrakten, zeitlosen oder, im philosophischen Sinne ewigen, unwirksamen Verm ögen, eine durch lange, vielfache Übung erw'orbene F ertig keit, ein treues Festhalten des einmal E rfassten und Aufgenommenen, ein G edächtnis im weitesten Sinne, das sich weit über das im W orte angedeutete Denken und das damit verwandte Erkennen erstreckt, eine durch öfter wiederholte, kaum mehr ausdrücklich bewusste und gewollte Selbstnachahmung angenommene Gewohnheit. K urz, B il d u n g ist ein Zustand, und zwar d e r d u r c h K u n s t a l l m ä h l i c h b e w i r k t e Z u s ta n d d e r r e c h t e n L e b e n d i g k e i t v o l l e n d e t - e n d l i c h e r W e s e n o d e r W e s e n g e s e l l s c h a f t e n ( V e r e i n w e s e n ) 1).

Vollendet-endliche W esen, z .B . M enschen, endliche G eister, bilden den unteren Gegensatz zu den in ihrer A rt unendlichen W esen, der N atur, dem allgemeinen oder objektiven G eiste und der einen M enschheit des W eltalls, und zu dem unendlich-unend­

lichen W esen oder G ott. B ei diesen Wesen spricht man nicht von Bildung, auch wenn man ihr Leben anerkennt: dasselbe muss als ein zeitstetig, ohne Anfang und Ende, auf gleicher Höhe weiter- ') Der Vergleichung wegen führen wir die Begriffsbestimmungen von Hauber, Curtmann und eines Ungenannten an. Bildung ist: 1. „die Aus­

gestaltung des innern Menschen zu einer in sich harmonischen Lebenser­

scheinung“ ; 2. „der Inbegriff der Vorstellungen und Gewöhnungen, welche sich, weil sie bereits als wertvoll gelten, ein Mensch bis zur freien Verfügung aneignet“ ; 3. „die mit Überwindung der natürlichen Roheit erreichte, im Leben sich kundgebende Angemessenheit des Denkens und Wissens, E m ­ pfindens, Wollens und Thuns zu den Forderungen, welche der Geist der Zeit an den einzelnen stellt“ . S. S c h m i d , Encyklopädie des gesamten E r- ziehungs- und Unterrichtswesens. 1. Bd. Gotha, Besser 1859, S. 6(>5 Text und Anmerkung und S. 685.

(23)

1899. W as ist Bildung ? 21 schreitendes gedacht werden, nicht als ein erst aufsteigendes und dann wieder absteigendes. Bildung jedoch bezeichnet immer einen o-ewissen Höhepunkt aufsteigender Entw ickelung in der Nähe des xUters der R eife oder in diesem selbst. Ein er auf- und absteigen­

den Entw ickelung aber sind ihrer W esenheit gemäss nur vollendet­

endliche W esen fähig.

U nter der in unserer Begriffsbestim m ung erwähnten K u nst ist die Bildungskunst oder, um das erst zu erklärende W o rt:

Bildung zu vermeiden, die K unst, das Leben zu einem bleibenden lebendigen Kunstw erke zu gestalten, zu verstehen. D ie L eben s­

kunst im weitesten Sinne umfasst ausser der eben erwähnten K u nst auch noch die kunstreiche Lebensführung selbst, die Lebenskunst im engeren Sinne, einschliesslich der einzelnen Thaten und K u n st­

schöpfungen. D ie Bildung ist also ein W erk der Lebenskunst im weitesten Sinne, aber eine untere Grundlage der Lebenskunst im engeren Sinne.

D ie Bildunirskunst lieisst auch W esenbildungskunst im G egen­

satz zu der W erke (im gewöhnlichen Sinne) bildenden K u n st, zu welcher die sogenannten schönen K ünste, z. B . D ichtkunst, Musik, Malerei, gehören, oder auch Kulturkunst. K u ltu r wurde ehedem ungefähr in dem Sinne von Bildung, sogar in dem Doppelsinne einer Th ätig keit und des Ergebnisses dieser Thätigkeit, gebraucht.

Je tz t braucht man „K ultur“ ausser von Pflanzen und Tieren namentlich von umfassenderen menschlichen G em einschaften, von Stämmen und V ölkern. D ie K ulturgeschichte im Unterschied von der politischen G eschichte handelt von den vergleichsw eise dauernden Lebens- oder Bildungszuständen ganzer V ö lk er und längerer Z eitabschnitte, nicht von den einzelnen allaugenblicklich sich verändernden Ereignissen oder Thaten.

Die Bildungskunst ist der Gegenstand einer besonderen Kunsttheorie oder K u nstlehre: bis jetzt ist die eine H älfte der ersteren, die K u n st, noch unmündige W esen zu bilden, die E r ­ ziehungskunst, bei weitem öfter, ausführlicher und gründlicher be­

handelt worden, als die andere, gleichwürdige und gleichnützliche H älfte, die K u n st, mündige, reifere W esen zu bilden, die F o r t­

bildungkunst.

W ahre Bildung kann nicht blosses Ergebnis der Erziehung sein, sondern ist stets ein gemeinsames W erk der Erziehung und der Fortbildung.

(24)

2 2 K ohlfeld, H e f t 1 u. 2 .

Nach einer anderen H insicht, nach der Beziehung (der Einerlei- heit oder V erschiedenheit) des bildenden und des zu bildenden W esens oder des Bildners und des Bildlings unterscheidet man zwischen Selbstbildung und Anderbildung, worunter Thätigkeiten zu verstehen sind. D ie Bildung ist immer das W erk beider: es ist rein unmöglich, dass ein W esen ganz wider seinen W illen, ohne seine Zustimmung und teilw eise Mitwirkung Bildung erlange.

W enn die Anderbildung gelingen soll, setzt sie jederzeit eine zur Seite gehende, mindestens unbewusste und unwillkürliche Selbst­

bildung voraus.

W ir sag ten : Bildung ist der Zustand der rechten Lebendig­

keit. D as Eigenschaftsw ort „lebendig“ wird teils in einem weiteren, mehr oberflächlichen Sinne = lebend, teils in einem engeren und tieferen Sinne gebraucht. M anches lebende W esen ist nicht recht oder zu wenig lebendig. A ber auch umgekehrt kann ein W esen zu lebendig, zu unruhig, „das reine Q uecksilber“ sein. D as alte W ort „queck“ (wovon Q uecke und erquicken) heisst übrigens

„lebendig“. D er Sinn des Hauptwortes „Lebendigkeit“ entspricht ausschliesslich der zweiten Bedeutung des Eigenschaftsw ortes.

Zur L ebendigkeit gehört das Zeitmass oder Tem po, die G e­

schwindigkeit oder Langsam keit der einzelnen Veränderungen, fer­

ner das K raftm ass oder die Intensität, die Stärke oder Schwäche der aufgewendeten K r a ft = der G rösse der T hätigkeit, endlich die Innigkeit, d. h. die grössere oder geringere Teilnahm e, welche das lebende W esen als ganzes an den von ihm bewirkten oder von aussen veranlassten Veränderungen nimmt.

D er U nterschied der sogenannten vier Tem peram ente beruht auf dem vereinten Einteilungsgrunde der L ebendigkeit nach Zeit­

mass und Inn igk eit: cholerisch = tiefschnell; melancholisch = tief­

langsam ; sanguinisch = flachschnell; phlegmatisch = flachlang­

sam. D er wahrhaft G ebildete wird das angeborene Tem peram ent selbst „temperieren“, d. h. mässigen, und sich gewöhnen, im ein­

zelnen F alle das entsprechende Zeitmass und vor allem die ent­

sprechende Innigkeit anzuwenden, das Bedeutende schwer und das Unbedeutende leich t, nicht etwa alles ohne Unterschied schwer oder alles leicht, oder gar verkehrterw eise das Bedeutende leicht und das Unbedeutende schw er zu nehmen.

W ir brauchten den A usdruck: „rechte“ Lebendigkeit. W ir hätten dafür auch „vernünftige, vernunftgeinässe, musterhafte“ oder

(25)

1899. W as ist Bildu ng?

„die so ist, wie sie sein soll“ sagen können. Dies setzt ein Ideal der Lebendigkeit oder ein Bildungsideal voraus. D ie schwierige F rage über den Ursprung und die Berechtigung der Id eale über­

haupt brauchen wir hier nicht zu erörtern, geschweige zu er­

schöpfen: genug, sie sind vorhanden und machen den Anspruch auf G iltigkeit im L eben , einerlei ob der einzelne sie willig oder widerwillig anerkennt, ob und inwieweit er sich in seinem H an­

deln nach ihnen richtet. A ber nicht umgehen dürfen wir hier die F ra g e : lässt sich ein Ideal erreichen? Is t es unmöglich, ein Ideal zu erreichen, dann ist es müssig und thöricht, sich deshalb anzustrengen. Auch die R ede kann nicht genügen: „wir vermögen das Ideal zwar nicht ganz zu erreichen, aber doch, ihm immer näher zu kommen“. Das ist und bleibt ein N ichterreichen und das Streben darnach „verlorne Liebesm üh’“. U nseres Erachtens lässt sich die aufgeworfene Frage sofort beantw orten, wenn nur zwischen den verschiedenen Bedeutungen des W ortes „Ideal“ recht unterschieden wird. Ideal heisst einmal reines U rbild , d. h. ein Phantasiegebilde, welches den Zweck hat, eine reine Idee oder einen U rbegriff zu verdeutlichen. E in solches U rbild lässt sich nicht erreichen, auch nicht, mit einer anderen sprachlichen W en ­ dung, verw irklichen, und zwar einfach darum n ich t, weil es zu abstrakt, zu unbestimmt, die W irklichkeit aber vollendet bestimmt oder individuell ist. Ideal hat aber auch den S in n : angewandtes (d. h. auf das Leben oder die Erfahrung angewandtes) Ideal oder Musterbild, die Vereinigung von U rbild und Erfahrungsbild. Das M usterbild kann unter günstigen Um ständen bei hinreichender Anstrengung in jedem Zeitpunkte w irklich erreicht werden. Aber freilich schon der nächste A ugenblick fordert ein neues, wenigstens teilweise anders bestimmtes M usterbild, und die A rbeit beginnt von neuem, aber auch die M öglichkeit der Erreichung oder der Verw irklichung.

W as folgt daraus für das Bildungsideal? In dem einen, all­

umfassenden Bildungsideale ist ein ganzer Gliedbau von einzelnen Idealen (Urbildern und M usterbildern) enthalten. D erselbe ent­

spricht zuerst dem Gliedbau der Wesen. W ir denken zunächst an den einzelnen M enschen. D ie F ra g e : W as ist Bildung? hat dann den S in n : „W as ist menschliche Bildung? W elcher M ensch ist gebildet? W as muss von einem gebildeten M enschen als solchem unbedingt verlangt werden?“

(26)

24 K ohlfeld, H eft 1 u. 2.

D ie m enschliche Bildung gliedert sich nach den Bestand­

teilen des M enschen in eine geistige, eine leibliche und eine ver­

einte,^eigentümlich menschliche (geistigleibliche und leiblichgeistige), und nach der Stellung des M enschen im W esengliedbau in eine Bildung hinsichtlich seines V ereinlebens m it anderen M enschen, m it M enschengesellschaften, mit der ganzen M enschheit, m it der Natur, m it dem einen G eiste und G eisterreiche, zuhöchst mit G ott.

D ie geistige Bildung gliedert sich wieder in eine Bildung der E rk en n tn is, des G efühls und des W illens und eine harmo­

nische Bildung dieser vereinten Grundkräfte.

D ie Bildung der Erkenntnis wird auch w issenschaftliche B il­

dung genannt: W issenschaft ist das Ganze oder der Gliedbau des Wissens, der sicher wahren Erkenntnis. E s ist verkehrt, Bildung überhaupt mit W issen oder gar mit G elehrsam keit, welche in der K enntnis geschichtlicher Einzelheiten besteht, zu verwechseln. D ie wissenschaftliche Bildung besteht in einem Ü berblick über das ganze G ebiet des W issens, einem Grundstöcke von selbsterarbeite­

ten und immer zu G ebote stehenden erstw esentlichen E rk en n t­

nissen, einer festen Grundüberzeugung in Bezug auf alle Haupt­

fragen des Lebens und endlich in der F ertig k e it, zu denken, zu lernen, und sich m it verhältnismässig geringer Anstrengung in einem bestim mten G ebiete des W issens heimisch zu machen. Nach den Erkenntnisquellen der W issenschaft ist die w issenschaftliche Bildung eine rationale, spekulative, philosophische und mathema­

tische (die reine M athem atik ist ein T eil der reinen V ernu nft­

wissenschaft, also eigentlich ein T eil der Philosophie), ferner eine geschichtliche (historische) und erfahrungsmässige (empirische), end­

lich eine vereinte, angewandt philosophische und philosophisch durchdrungene geschichtliche. D iese letztere steht der Praxis, dem Leben und der Lebenskunst, am nächsten. W eish eit beruht immer auf der rechten Anwendung der Ideen auf die gegebenen Einzelverhältnisse. E in selbständiges W erturteil über jede einzelne Erscheinung ist das K ennzeichen der w issenschaftlichen Bildung.

D ie Bildung des G efühls besteht in der Fertig keit, sachge- mäss, tief und zart zu fühlen, und bei gegebenem Anlass in die rechte Stimmung zu kommen und darin zu bleiben. Sachgemäss ist es z. B ., sich über alles G ute zu freuen, und sich über alles Schlcch te zu betrüben; verkehrt ist es dagegen, über das Gute Schmerz zu em pfinden, wie. der Neidische und der Missgünstige,

Cytaty

Powiązane dokumenty

halten werden. Erasmus ist es, wenigstens in Deutschland, seitdem Luther ihn zurückgewiesen hatte, ebenso ergangen, wie Meister Eckart, seitdem seine Lehren

Valentin Andreaes Anteil an geheimen

heiten alle Verschiedenheit der Meinungen und die Verschiedenheit des susjektiven Wissens sich zu einer reinen Objektivität des Erkennens immer mehr erheben und

und Entwicklung der menschlichen Seele, sie soll vor allem aus den verworrenen Motiven und den kämpfenden Begierden des unentwickelten Lebens eine bewußte Hingabe

keit vergiftet, hat die moderne Gottentfremdung sich bereits bis zur Leugnung des freien selbstbewussten Geistes fortgebildet, so dass für den ursprünglichen Adel

Also ist dem Menschen im Grunde nur eines nötig: dass er seine Arbeit findet und thun kann. Zu ihr soll die Organisation anleiten und, wenn nötig,

In acht Büchern, hauptsächlich wohl auf Damis’ in Hierapolis wiederentdeckter Schrift aufbauend, aber oft genug mit reichlichen Redefloskeln und Einstreuung

Die Mathematik hilft scharf und die Ästhetik hilft schön denken, sie können aber beides nicht lehren, wenn einem der Sinn für Nachdenken und Schönheit versagt ist