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Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben, Januar 1915, 24. Band, Heft 1

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MONATSSCHRIFTEN D E R CÖMENIU5-GE5ELISCHÄFT

Monatshefte der Gbmenru5=

Gesellschaft

Rir Kultur und Geistesleben

191& Hanuar Heft 1

Herausgegeben von Ludwig Keifer Neue Folge der Monatshefte derCQ.

Der ganzen Reihe 24. Band.

VERLAGVONäüEWDlEDERKHS/ÜENA l ©15

Im Buchhandel und bei der Post beträgt der Preis für die Monatsschriften (jährl. 10 Hefte) M. 12,—, für die Monatshefte der C. G. für Kultur und Geistes­

leben (jährl. 5 Hefte) M. 10,—, für die Monatshefte der C. G. für Volkserziehung (jährl. 5 Hefte) M. 4,—.

Einzelne Hefte der MH f. K. u. G. kosten M. 2,50, einzelne Hefte der MH f. V. M. 1,50.

(2)

Inhalt

Seite

Luise W ie c k

- Dernburg, A n die G e f a lle n e n ... ... 1

Ein Mahnruf an die Freunde der H u m a n it ä t ... 2

Charles Kingsleys Sympathien für D e u t s c h la n d ... 6

Arthur Liebert,

W eltanschauung und E r z ie h u n g ... ...10

August Horneffer,

Probleme der M ystik und ihrer S y m b o l i k

... 21

Neuschöpfungen und E n tw ic k e lu n g e n ... 27

Ein K r ie g s g e b e t... 30

S tr eiflich te r ...31

Die aufbauenden W irkungen des Krieges. — F ra n z S trunz ü b er die biochem ischen Theorien des Comenius. — D er ch ristliche Engelglaube u n d die Lehre von den göttlichen H ilfskräften in den freien K ulten. — Die „Ekklesien" d er „w ahren Israeliten“ bei P au lu s u n d die „Fam ilien" d er Johannesjünger — D er „M agier“ Johannes u n d die „SGhne d e r ‘Witwe“. — Sind die Namen Jannes un d Joannes identisch? — D er K am pf zw ischen Moses und Jannes und die Verschieden* heit d e r m osaischen u n d johanneischen Gottesidee. — Die Alchym ie u n d die Scholastik und ih re wechselseitige Beeinflussung. — „Johannes-B rüderschaften11 als innere Ringe (Kammern) in den Gilden des 14. Ja h rh u n d erts. — Z ur Sym bolik d e r antiken K ultvereine (MH 1914 (März) S. 74 ff.).

Literatur- Berichte (Beiblatt)

Seite J. ü . F ichte, Über Gott und U nsterblichkeit . . 1*

G eo rg F ö rs te r, T a g e b ü c h e r ... 1*

W . G eo rg l, D eutsch-nordisches Jahrbuch . . . 2*

W . Ja m e s, The varieties of religious experience 3* O. K e rn e r, Von d er W eltanschauung zum C h r i s t e n t u m ... 3*

P h . F u n k , Ignatius von L oyola 4* Seite E. L ehm ann, Sören K i e r k e g a a r d ... 4*

H. K och, K onstantin d er G r o f i e ... 5*

A. K ö ste r, Der junge K ant im K am pf um die G e s c h ic h te ...5*

K rieg sd ep e sch en 1 9 1 4 ... .... . 6*

F r. L le n h ard , Das klassische W e im a r ... 6*

Verzeichnis der im Text besprochenen und erwähnten Schriften

Ludw ig K eller, Charles K in g s le y ... N ietzsch e, Also sprach Z a ra th u s tra ... K e sse le r, Das Lebensw erk der großen Pädagogen Ja h n , Sittlichkeit und R e lig io n ... P . N ato rp , W illensfreiheit u n d V erantw ortlichkeit A. R iehl, Z ur E inführung in die Philosophie d er G e g e n w a rt... K ant, Der S treit der F a k u l t ä t e n ... R. M. M eyer, N ietzsch e... 20

Seite F ichte, E rste Einleitung in die W issenschaftslehre 21 M. S ch lesin g er, Geschichte des Sym bols . . . 22

H. S llb e re r, Problem e d er M ystik u n d ih re r S y m b o l i k ... 23

Slgm . F re u d , T ra u m d e u tu n g ... 24

— Z u r N e u ro se n le h re ... 24

R. Sm ith, Die Religion d er S e m ite n ... 27

L. K eller, Der Gottesbegriff der H um anitätslehre 33 — Das johanneische C h r is te n tu m ... 33 Seite

6 11 11 14 18

19 20

Anmeldungen zur C. G. sind zu richten an die Geschäftsstelle B e r l i n - C h a r l o t t e n b u r g , B e r l i n e r S t r a ß e 22. Die Bedingungen der Mitgliedschaft siehe auf der 4. Umschlagseite.

(3)

MONATSHEFTE

DEROOMENIUS-GESELLSCHAFT

FÜR K U L T U R G E I S T E S L E B E N

( ß r -

■*N^ :

S C H R I F T L E I T U N G ^ Ä I ^ ^ BERLINER STRASSE22

DRLÜDW IG K E L L E f C ^ ^ BERLIN'CHARLOTTBG VER1AG EUGEN D1EDEKICHS IN JENA

N. F. Band 7 Januar 1915 H eft 1

Die Monatshefte der C. G., für Kultur und Geistesleben erscheinen Mitte Januar, März, Mai, September und November. Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre Jahresbeiträge. Bezugspreis im Buchhandel und bei der Post M. 10. — Einzelne Hefte M. 2.50. — Nachdruck ohne Erlaubnis untersagt.

AN D I E G E F A L L E N E N

Von L u i s e W i e c k -D ern b u rg

W enn I h r in dunklen, dichtgedrängten Scharen D en beschwerlichen W eg von der sinkenden E rde

Zu jenen höheren Gefilden zurückgelegt, Noch e rm a tte t von den erlittenen Schauern, D an n w erden E uch a n den äußersten P forten Die glänzenden Erzengel, m it gesenkten Schwertern, Als Ihresgleichen empfangen.

E s w erden die Lehrer u n d T röster

M it den heiligen H änd en von E u ren Stirnen D as Grauen, die T rauer un d das B lu t abwischen, U nd der erhabene Geist, d er das Geborenwerden B estim m t un d das W irken u n d Sterben,

W ird E uch zu R uhe u n d zu E rholung I n die himm lischen G ärten laden.

A lsdann schauet n ich t hinab, o Ih r Helden, Auf gerungene H ände un d fiebernde Lippen, Die I h r hier im Tale des Elends verlassen, D aß E ure H erzen n ich t von neuem der Jam m er U m das Geschehen ergreife,

1 Monatshefte der C. Gr. 1915

(4)

2 Ein Mahnrnf an die Freunde der Humanität

Heft 1 Sondern das heilige, heilige V o r w ä r t s ,

Das E u ch zu neuen W irkungen herbeschieden,

Senke sich ganz in Euch, auf daß Ih r zum W erkzeug Seiner göttlichen K rä fte w erdet,

D enn es h a t E uch von großen Dingen Zu noch größeren abberufen.

Auf der kalten, lichtlosen E rde

W erden M ü tter m it zittern d en Fingern E u ren Söhnen die blitzenden Sterne weisen U nd ihnen sagen, daß ihre V äter

Ü ber jenen ewigen W elten

Zu den H errschern als ihre D iener geeilt sind, U nd daß den Söhnen befohlen sei, ohne Zaudern Jen en zu folgen auf beschwerlichen W egen, D aß derm aleinst die glänzenden Erzengel

Sie m it gesenkten Schw ertern em pfangen mögen.

EIN MAHNRUF AN DIE FREUNDE DER HUMANITÄT1

it K um m er und Sorge verfolgt m an in D eutschland — u n d gewiß n ich t n u r in D eutschland ! — die L e i d e n d e r G e f a n g e n e n . W er u n ter den W affen steht, der k an n sich v erteid ig en ; em pfängt er W unden, so h a t er auch solche verursacht. Ganz anders verhält es sich m it den Gefangenen: sie sind schütz- u n d wehrlos; ohne eigenen W illen unterliegen sie der Bestim m ung dessen, der Ge­

w alt über sie besitzt. Sie haben sich zu fügen un d abzuw arten, was m it ihnen geschieht. Zwar h a t das internationale R echt in richtiger W ürdigung dieser V erhältnisse bereits Vorsorge über die Behandlung der Gefangenen getroffen, leider aber w urden diese R echtsnorm en in dem wilden V ölkerringen schon zu leicht und zu oft m it F ü ßen getreten, um noch einen w irksam en Schutz zu bieten. D azu kom m t eine Erscheinung, m it der bisher n ich t ge­

rechnet wurde, näm lich die A usdehnung kriegerischer M aßregeln auf n ich t am K am pfe beteiligte Personen. England m it seiner heuchlerischen M oral ist auch hier bahnbrechend vorangegangen.

1 W ir en tn eh m en d iesen W eckruf der „F rankfurter Z eitu n g “ v o m 26. N o ­ vem b er v . J . und b itte n , ihm w eitere V erb reitu n g zu geben.

(5)

1915 Ein Mahnruf an die Freunde der Humanität 3

In seiner blinden A ngst vor frem den Spionen — selbst spioniert es, daß sich die Balken biegen — h a t es sämtliche Angehörige der feindlichen S taaten festzunehm en gesucht, u m sie in K on­

zentrationslagern zu vereinigen. „Die Spionage ist n icht völlig beseitigt“ — so erklärte A squith am 12. N ovem ber im U n ter­

haus —, „wenn n ich t jeder D eutsche in E ngland h in ter Schloß un d Riegel sitz t.“ N ach diesem bru talen G rundsatz h an d elt England. N icht die Spione, sondern die D eutschen ohne U n te r­

schied sind gefangen zu setzen. U nd nach diesem barbarischen Beispiel des rücksichtslosen Volkes v erfäh rt auch F rankreich un d R ußland, so daß schließlich D eutschland widerwillig zu Gegen­

m aßregeln schreiten m ußte. W ir haben also neben den K riegs­

gefangenen noch große Scharen von Zivilgefangenen. N atürlich w ären auf sie die Bestim m ungen der H aager K onvention auszu­

dehnen, aber tatsäch lich sind diese Ä rm sten völlig rechtlos jeder W illkür u n d jeder B edrückung preisgegeben.

Ü ber die B ehandlung der Gefangenen beider A rten durch das Ausland liegen nachgerade M itteilungen in Fülle vor, die einander zum Teil widersprechen, die aber doch — so gern m an sich gegen diesen E indruck wehren m öchte — erkennen lassen, wie vielfach und wie schwer hierbei gegen die einfachsten G rundsätze der M enschlichkeit gefehlt wird. L ä ß t sich einm al eine aktenm äßige Geschichte hierüber schreiben, dan n werden N ationen, die uns zu leicht erkennbaren Zwecken geschäftig der „B arbarei“ bezichtigt haben, vor der K ulturm enschheit am P ran g er stehen und sich der T aten , die sie je tz t begangen haben, schäm en müssen. Man sucht in dem vorliegenden M aterial förmlich nach Beweisen menschlicher Güte, u n d zum Glück fehlt es ja auch an solchen n ic h t; sie leuchten hell wie freundliche Sterne aus der tiefen N acht dieses K apitels auf. Leider aber sind die Schilderungen reicher an dem Gegenteil, wozu ja beitragen mag, daß über die eigentlich selbstverständliche norm ale Behandlung weniger berichtet wird, So sehr m an sich auch dagegen sträuben m öchte, es liegen heute bereits viele M ißhandlungen vor, die leider — u n d das ist das Schlimmste d aran — u n te r Billigung oder M itwirkung von Be­

am ten und selbst von Offizieren geschehen. Solche Fälle sind in

Frankreich wie in R u ß lan d vorgekom m en, wo die Gefangenen zu

einem erheblichen Teil in Ö rtlichkeiten u ntergebracht werden, die

eine Gesundheitsschädigung geradezu als Absicht der leitenden

Stellen erscheinen lassen. D as eine W ort Sibirien ist hier eine

1*

(6)

4 Ein Mahnruf

an

die Freunde der Humanität

Heft 1 flam m ende Anklage, die bei allen K ulturvölkern widerhallen m üßte. Auch in F rankreich h a t m an sich nich t bem üht, die Ge­

fangenen ausreichend zu n äh ren u n d sie auch n u r n o tdürftig gegen die Einflüsse der W itteru ng zu schützen. U n d in E ngland ? Die m erkwürdige „R ev o lte“ in Douglas, die n u r als A k t der V er­

zweiflung aufzufassen ist, besagt m ehr als genug. Allerdings h a t der am erikanische K onsul Swain über D orchester einen sehr günstigen B ericht e rs ta tte t, u n d wir sind nich t berechtigt, an seiner L o y alität zu zweifeln; es wäre aber vielleicht falsch, zu verschweigen, daß der eigenartige T on seines B erichts n icht im stande w ar, die vorliegenden gegenteiligen Schilderungen zu entkräften.

Ginge es nun nach m anchen H itzköpfen in D eutschland, so w ürde m an die feindlichen G rausam keiten in derselben Münze vergelten; Auge um Auge, Zahn um Zahn, M ißhandlung um M ißhandlung, H unger um H unger — es erscheint nich t wenigen als die w irksam ste W ehr, u nd es fehlt keineswegs an Vorschlägen solcher A rt. Die „N ordd. Allg. Z tg .“ m ahnte erst dieser Tage, m anchem zum V erdruß, als Gebot der Selbstachtung u n d des eigenen Gewissens, zur Ruhe. N atürlich haben wir die m eisten K riegsgefangenen in H änden, u n d eine grausam e W iedervergeltung würde des E indrucks nach außen n ich t entbehren. Indessen wird die Zeit kom men, in der wir froh sein werden, auch in diesen schweren K riegszeiten deutsch geblieben zu sein; wir wollen die E hre des deutschen N am ens höher einschätzen als die Befriedigung eines an sich verständlichen Rachegefühls. A ber k a lt bleiben bei den Leiden unserer Blutsgenossen, das können u n d wollen wir nicht. U nd sollen wir u n tä tig bleiben ? W äre es nich t möglich, M ittel un d W ege zu finden, die vielleicht ebenso sicher auf diesem schm erzlichen Gebiete zu einer W iedereinsetzung der Menschlich­

k eit in den S tand vor dem Kriege führen kö nnten ? Lange genug d a u e rt ja je tz t das fu rch tb are Ringen, u n d es ist n ich t aus­

geschlossen, d aß auch bei unseren Feinden eine E rnüchterung e in tritt. D enn m anche Ausschreitung, die allenfalls noch ver­

ständlich sein konnte, als das fu rchtbare drohende Geschick zu­

e rst sein G orgonenhaupt erhob — jetzt, wo die Völker m it dem K om m enden rechnen gelernt haben, w ird sie zum B randm al der eigenen Schande ! W as könnten wir also zur M ilderung des Loses d er Gefangenen — u n d zw ar aller ! — unternehm en ?

D as W underm ittel der Gegenwart ist die O rganisation. Wo

d er einzelne versagt u n d versagen m uß, verm ag die O rganisation

(7)

1915 Ein Mahnruf an die Freunde der Humanität 5

Großes zu erringen. So viele sich bisher auch schon bem ü ht haben, A uskunft über einzelne Gefangene u n d Festgehaltene im Auslande zu erlangen, es ist den m eisten m ißglückt u n d wenigen n u r nach großen Schwierigkeiten gelungen. Die Ü berm ittelung von Gaben, von Geld u n d Briefen b iete t gleichfalls erhebliche natürliche Schwierigkeiten. M ancherlei V erbindungen sind be­

reits entstanden, u n d das n eutrale A usland h a t, ganz besonders die Schweiz, hier bereits Leistungen erzielt, die wir dankbaren Herzens anerkennen. W enn es gelänge, alle diese B estrebungen zu einer großen einheitlichen O rganisation u n ter M itwirkung der N eutralen zusam m enzuschließen, so w ürde sich ohne Zweifel die M öglichkeit bieten, auch auf das Schicksal der Gefangenen m il­

dernd einzuwirken. Die Beziehungen u n te r den feindlichen R e­

gierungen sind naturgem äß gespannt, u n d d araus ergeben sich starke H em m ungen für ihre T ätigkeit. H ier wäre n u n das Gebiet, auf dem hochherzige M änner aus verschiedenen N ationen durch gemeinsame A rbeit sehr viel zur Linderung der Kriegsfolgen bei­

tragen könnten, wenn sie rasch entschlossen eingreifen. E i n e r i n t e r n a t i o n a l e n , a b e r u n p a r t e i i s c h e n O r g a n i s a t i o n w ü r d e n s i c h d i e W e g e ö f f n e n , u m in den feindlichen L ändern m it den Gefangenenlagern in V erbindung zu treten , Gaben sicher hinzubringen, m aterielle u n d seelische N öte zu mil­

d em u n d auch w ahrheitsgetreue B erichte zu geben. W ie viel Be­

ruhigung sorgender H erzen ließe sich d ad urch schaffen u n d wie w ürde die A ufklärung in ihrer R ückw irkung wieder das Los der Gefangenen bessern ! D enn w üßte m an im A usland, wie wir unsere Gefangenen behandeln, m an m üßte ja zur Selbstbesinnung kom m en ! Eine solche O rganisation k önnte sodann in bestim m ten Fällen an die Regierungen selbst h e ra n tre ten , u n d ihre V or­

stellungen w ürden gewiß des E indru cks n ich t entbehren. Gerade für die Angehörigen n eu traler S taaten wäre es eine schöne Auf­

gabe in dieser Weise dem edelsten M enschentum e zu dienen !

E s sollten sich also M änner u n d F rau en finden, die bereit sind,

opferfrohe A rbeit in den D ienst der bedauernsw erten Gefangenen

zu stellen.

(8)

6 Heft 1

CHARLES KINGSLEYS SYMPATHIEN FÜR DEUTSCHLAND

ir haben in dieser Z eitschrift sowie in den Vor­

trägen u n d A ufsätzen aus der C. G. m ehrfach unserer Sym pathie für Charles K ingsley (f 1875) und fü r die m it ihm u n d in seinem Geiste für die Erziehung des M enschengeschlechts käm pfenden M änner — wir nennen hier n u r F. D. Maurice, Ludlow und Thomas Hughes — A usdruck gegeben u n d betont, wieviel wir den A n­

regungen dieser K äm pfer gerade für die Comenius-Gesellschaft verd ank en1. Um so erfreulicher ist es, feststellen zu können, daß K ingsley auch seinerseits weit m ehr V erständnis un d Sym pathie für das deutsche Volk g eh ab t h a t, als die „D urchschnitts- E n glän d er“ , zu denen er sich (wie er selbst sagt) in der B eurteilung Preußen-D eutschlands im Gegensatz fühlt.

Zum Beweise dieser T atsache drucken wir hier Auszüge aus zwei Briefen ab, die Marie Lorey aus Kingsleys Biographie2 kürz­

lich in der „Christlichen W elt“ (Jahrg. 1914, Nr. 45) von neuem unseren Landsleuten ins G edächtnis gerufen h a t. Die Briefe be­

ziehen sich auf die Ereignisse des Jah res 1870/71, denen gegen­

über die m eisten E ngländer die gleiche E m pfindung hegten, die sie späterhin allen Erfolgen D eutschlands entgegenbrachten. Es ist sehr interessant, daß K ingsley in dem Briefe an seinen eng­

lischen F reu n d Sir Charles B unbury sich bem üht, diesen E m pfindungen entgegenzutreten u n d ihn wie seine Gesinnungs­

genossen über D eutschlands gutes R echt aufzuklären.

Kingsley schreibt an Max M üller3:

„Em pfange meinen herzlichsten Glückwunsch, mein lieber Max, für Dich und D ein Volk. Der Tag, um den der teure Bunsen4 m it Tränen in den Augen betete, daß er nicht kommen möge, bis das deutsche Volk bereit wäre, ist gekommen, und das deutsche Volk ist bereit. W ahr­

haftig, G ott ist gerecht und regiert auch, was auch immer die Presse

1 V ergl. L u d w ig K eller, Charles K in g sley u nd d ie religiös-sozialen K ä m p fe in E n g la n d im 19. Jah rh u n d ert (V orträge und A u fsä tze au s der C. G.

X I X , 1). J en a , E u gen D ied erichs, 1910. 2 Charles K in gsley. H is L etters and M em ories o f h is L ife. E d ite d b y H is W ife. 3 M ax M üller war

1869— 1876 Professor in O xford; sein N a m e is t ja b ek a n n t genug. 4 B u n sen w ar 1842— 54 G esandter in London.

(9)

1915

Charles Kingsleys Sympathien für Deutschland

7

Gegenteiliges denken mag. Meine einzige Furcht ist, daß die Deutschen an Paris denken könnten, welches sie nichts angehen kann, und ihre Augen von dem abwenden, was sie wirklich angeht, nämlich: die Zurücknahme des Elsaß (das ihnen gehört) und den Franzosen keinen Fußbreit des Rheinufers zu lassen. Daß der Rhein ein W ort werde, welches in Zukunft von den Franzosen nicht mehr erwähnt werden darf, sollte das einzige Ziel kluger Deutscher sein, und das allein.

Auf jeden Fall bin ich der Ihre, ganz erfüllt von Hoffnung für Deutschland.“

F erner schreibt Kingsley an Sir B u n b ury :

. U nd nun ein paar Worte über diesen schrecklichen Krieg. Ich gestehe Dir, daß, wenn ich ein Deutscher wäre, ich es für meine V ater­

landspflicht hielte, meinen letzten Sohn, meinen letzten Shilling und schließlich mich selbst hinauszusenden, dam it das getan werde, was getan werden muß, und so getan, daß man es nie noch einmal tun muß.

Ich bin gewiß, daß ich fähig wäre, die Rache aus meinem Herzen zu entfernen, — alles zu vergessen, was Deutschland während der letzten zwei Jahrhunderte von jener eitlen, gierigen, unruhigen N ation ge­

litten hat. Aber der Durchschnittsdeutsche hat ein R echt zu sagen:

Eigentum, Leben, Freiheit sind zwei Jahrhunderte lang in D eutsch­

land unsicher geblieben, weil Deutschland uneinig war. D ie französi­

schen Könige haben immer versucht, es uneinig zu erhalten, dam it sie aus ihm die Puppe ihres Ehrgeizes machen konnten.

Was den jetzigen Krieg anbetrifft, war er, früher oder später, un­

vermeidlich. Die Franzosen verlangten danach. Sie wollten 1813— 15 rächen, indem sie die Tatsache außer Acht ließen, daß Deutschland damals 1807 rächte. Der jetzige Krieg m ußte kommen. D ie D eu t­

schen wären im Unrecht gewesen, wenn sie ihn angefangen hätten, aber als die Franzosen ihn begannen, wären sie ewig feige gewesen, wenn sie ihn nicht angenommen hätten.

Wenn Jem and Jahre hindurch fortfährt, Dir die Faust vors Gesicht zu strecken, und Dir ankündigt, daß er Dich eines Tages zertrümmern will, und daß Du nicht wagen sollst, ihn zu bekämpfen, — dann wird ein kluger Mann, wie Deutschland, seinen Mund halten, bis er ta t­

sächlich getroffen wird; aber er wird, gleich Deutschland, Sorge tragen, um bereit zu sein für das, was kommen wird. Daß Preußens Kriegs­

bereitschaft eine Art Unrecht gewesen sei, — ein Beweis, daß es be­

absichtige, Frankreich anzugreifen, — ein solches Argument bestätigt nur die grobe, geschichtliche Unwissenheit, besonders in deutscher Ge­

schichte, die ich im Durchschnittsengländer beobachte, auch grobe Unwissenheit oder wissentliches Vergessen alles dessen, was die F ran ­ zosen jahrelang unter der Losung „Richtigstellung ihrer Grenzen“ ge­

droht haben . .

(10)

8 Charles Kingsleys Sympathien für Deutschland

Heft 1 5. September.

„Seit Waterloo ist kein ähnliches Ereignis in Europa gewesen. Ich erwarte mit Grauen und Mitleid die Pariser Nachrichten der kommenden Tage. Was den Kaiser anbetrifft, so scheute ich mich nie auszusprechen, wie sehr ich ihn verachtete, während Andere sich tief vor ihm ver­

neigten. Seine Politik ist jetzt gerichtet und er mit ihr durch eine Tatsache, welche — mit Bacon zu reden — „die in den Dingen ent­

hüllte Stimme Gottes“ ist, und ich werde nie mehr ein hartes Wort über ihn sagen. Laßt die Verdammten in Frieden sterben, wenn dies möglich ist, und er wird, wie ich höre, nicht mehr viele Monate leben, vielleicht nicht mehr viele Tage. Warum sollte er noch leben wollen ? Gerade diese Übergabe mag der nicht unwürdige Lebensabschied eines Menschen sein, der weiß, daß es mit ihm zu Ende geht.“

W ir wollen in diesem Zusam m enhang nich t unterlassen, auf zwei andere englische F reunde Preußen-D eutschlands hinzu weisen, n äm ­ lich auf C a r l y l e , den jeder gebildete D eutsche ken nt, un d auf H o u s t o n S t e w a r t C h a m b e r l a i n , der h eute noch u n ter uns leb t u n d w irkt und der durch den M ut, m it dem er das gute R echt D eutschlands im heutigen W eltkrieg v e rtritt, sich den A nspruch auf unsere w ärm ste D an k b ark eit errungen h a t. W ir m öchten n icht unerw äh nt lassen, daß ein ähnlicher Zug geistiger V erw andt­

schaft, der zwischen der W eltanschauung Kingsleys un d den Zielen unserer Gesellschaft vorhanden war, auch zwischen Cham berlains1 un d unseren G edanken in die Erscheinung getreten ist, die zweifel­

los auf den gleichen Auffassungen von Menschen w ert und M enschen­

u n w ert beruht.

Cham berlain h a t E nde O ktober v. J . eine A nzahl A ufsätze, die er früher in einzelnen deutschen Zeitschriften h a tte drucken lassen, zu einem kleinen Buch u n ter dem T itel „K riegsaufsätze“ erscheinen lassen (F. B ruckm ann, A. G., M ünchen 1914), von dem je tz t bereits die 2. Auflage vorliegt. W ir em pfehlen diese Schrift allen unseren Freunden angelegentlichst, da sie sie, wie wir glauben, m it Befriedigung aus der H an d legen werden. H ier sei zur C h arakteristik des Geistes, in dem das Büchlein geschrieben ist, n u r folgende Stelle an gefü hrt:

„Kein W ort in Carlyles großem Werk verdient mehr Aufmerksam­

keit als sein Lob Preußens im ersten Kapitel des 21. Buches: „Du tapferes Preußen ! Die wahre Seele deines Verdienstes ist, daß du einen solchen König verdient hast, dich anzuführen. Ein zufälliges Verdienst, meinst du, Leser ? Nein, Leser, glaube mir, so verhält es

1 C ham berlain is t lan ge Jah re h indurch M itglied der C. G. gew esen.

(11)

1915

Charles Kingsleys Sympathien für Deutschland

9 sich nicht. Vielmehr, könnten wir in den Büchern des Alles auf­

schreibenden Engels einige Jahrhunderte forschend Zurückschlagen, ich bin überzeugt, nicht ein Tüttelchen Zufall bliebe übrig. Es gibt Völker, wo ein Friedrich möglich ist oder sein kann, und es gibt Völker, wo er nicht möglich ist, noch je sein kann. Wirkliche Ehrfurcht vor Menschenwert und ebensolche Abscheu vor Menschenunwert, das, mein Freund, ist das Endergebnis, zugleich die Zusammenfassung aller Tugenden dieser Welt, handle es sich um einen einzelnen Mann oder um eine Nation von Männern. Nationen, welche diese Eigenschaft verloren oder nie besessen haben, wie können sie hoffen, jemals einen Friedrich besitzen zu können?“

Diese Bemerkung ist äußerst wichtig; denn neben den unflätigen Schmähern Deutschlands gibt es auch eine Fülle falscher Freunde, nach Art des Lord Haldane, welche beteuern, sie liebten Deutschland, das „ideale“ Deutschland, das dichtende und denkende und kom­

ponierende Deutschland, das reiner Wissenschaft hingegebene Deutsch­

land, einzig den Militarismus und dessen Bollwerk Preußen verab­

scheuten sie und möchten sie vertilgt sehen; wogegen wir hier den Mann hören, der die geistige und politische Geschichte Deutschlands wirklich kennt und als organische Einheit erkennt, und dieser spricht unzweideutig; jene Behauptung ist Torheit oder un wahrhaftige Heuchelei; denn ohne Preußen gäbe es heute überhaupt kein Deutsch­

land mehr, und ohne jene große Schule für die Verehrung von wahrem Menschenwert, hämisch „Militarismus“ genannt, gäbe es kein Preußen.

Ein großes Volk bedarf der politischen Größe, und ein edles, geduld­

volles, tiefsinniges, frommes und tüchtiges Volk verdient politische Größe, verdient sein eigener Herr zu sein, verdient, überallhin den ihm von Rechts wegen zukommenden Einfluß im Interesse der Menschheit auszuüben.“

Es ist erfreulich zu sehen, daß es seit den Tagen Carlyles neben den „D urchschnitts - E ng länd ern “ im m er solche M änner gegeben h a t, die dessen Auffassungen über D eutschland teilten.

%

(12)

10 Heft 1

WELTANSCHAUUNG UND ERZIEHUNG

Von Dr. A r t h u r L i e b e r t

ls vor m ehreren J a h re n E llen K ey eine Reihe ungemein geistvoller, ihre weitere B eachtung m it R ech t e r­

zwingende Essays, die sich auf die Fragen einer Reform der Jugendbildung bezogen, u n ter dem Ge­

sa m ttite l: „D as J a h rh u n d e rt des K indes“ veröffent­

lichte, da h a tte sie m it eben diesem Titel eine außerordentlich treffende, schlagw ortartige K ennzeichnung für eine intensive und charakteristische Bewegung in der geistigen K u ltu r der Gegenwart geschaffen. D enn die wirklich ganz gewaltige R egsam keit, von d er das Leben unserer Tage erfüllt ist, findet — so wird m an ohne g ar zu große Ü bertreibung sagen dürfen — ihren beinahe höchsten u n d beinahe geschlossensten A usdruck in den Ström ungen und B estrebungen, die auf eine U m gestaltung des E rziehungs­

wesens hinzielen. I n diesen B estrebungen sind alle A bstufungen reform atorischer A bsicht u n d A rbeit v ertreten , von einem milden, noch zagen u n d respektvollen W eiterführen des V orhandenen und Geltenden an bis zur rücksichtslosen und radikalen Ablehnung dieses G eltenden und zu einer auf völligen N eubau stürm isch gerichteten Gesinnung. Wie viele vortreffliche, selbst im Ü ber­

m aß des Begehrens doch der A nerkennung w erte K rä fte regen sich in leidenschaftlicher B etriebsam keit. R eform durst, M ut zum Neuen, Glauben an ein überw ältigendes Gelingen herrschen auf diesem Gebiete wie vielleicht nie zuvor. U n d diesem D rängen un d Spähen, diesem W ollen u n d F ord ern h a t niem and so stürm isch bewegten, so anfeuernd prophetischen, so kraftvo ll glaubens­

sicheren A usdruck gegeben wie N ietzsche:

„E u rer K i n d e r L a n d sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel — das unentdeckte, im fernsten M eere! N ach ihm heiße ich eure Segel suchen u n d suchen!

An euren K in d ern sollt ih r g u t m a c h e n , daß ihr eurer V äter K inder seid: alles Vergangene sollt ihr erlösen! Diese neue Tafel stelle ich ü ber e u c h ! . . . .

D as Meer s tü rm t: Alles ist im Meere. W ohlan! W ohlauf!

I h r alten Seemanns-Herzen!

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1915 Liebert, Weltanschauung und Erziehung

11 W as V aterland! D o r t h i n will unser Steuer, wo unser K inder-L and ist! D o rt hinaus, stürm ischer als das Meer, s tü rm t unsre große Sehnsucht!“ 1 —

Unsere Zeit h a t pädagogische Pläne u n d Versuche gezeitigt, die jeden Anschluß an das auf dem Gebiete der E rziehung bis­

her Geleistete und Erreichte, die jede Berücksichtigung und D uldung desselben verschm ähen, die durch eine unbedingte N eugestaltung jenes ganzen Gebietes den jah rh u n d erte alten m ach t­

vollen Zusam m enhang der pädagogischen Id een zerreißen wollen.

Sollten jene Versuche glücken, was ja bei ihrer uferlos radikalen Tendenz unmöglich ist, so wäre d a m it die innere E in h eit des Geisteslebens an einem der w ichtigsten P u n k te in Frage gestellt.

Aber wie alles in der W elt, sei es im physischen Dasein, sei es in der W elt des Geistes, sich nu r entw ickeln kann, wenn es den Zusam m enhang, dem es sachlich zugehört, nich t verleugnet, wenn es sich gesetzlich anfügt an die K e tte von Bedingungen und V erhältnissen, in denen es seiner N a tu r nach wurzelt, so ist auch fruchtbare W eiterarbeit in der pädagogischen K u ltu r an die B eachtung jenes gesetzlichen Zusam m enhanges gebunden, in dem alle Erziehungstheorien un d alle Erziehungsarbeit e n t­

standen sind, und in dem sie sich e n tfa lte t haben. E s bedarf keines begründenden Nachweises dafür, daß auch der schöpfe­

rischste pädagogische Geist sich orientieren m uß a n der V er­

gangenheit, an der Entw ickelung, die sein besonderes A rbeits­

feld zurückgelegt h a t. Zu wirklich förderlichen E rrungenschaften wird er n u r gelangen, wenn er sich den großen, m it im m anenter Folgerichtigkait errichteten B au der pädagogischen Ideen un d der erzieherischen Leistungen energisch vergegenw ärtigt, und wenn er es versteh t, sich diesem B au m it seinen E ntw ü rfen ein- und anzureihen.

Von diesen G esichtspunkten aus darf m an die jüngste V eröffent­

lichung K u r t K e s s e l e r s entschieden willkom men heißen2.

Es ist ein glücklicher Gedanke von ihm gewesen, u n te r V erzicht auf alle Einzelheiten und N ebensächlichkeiten einm al in einer großen Linienführung, gleichsam in einer Freskozeichnung, die G rundideen darzustellen, die sich seit den Tagen der R enaissance un d der R e ­ form ation als die bestim m enden u n d tragenden L eitgedanken für

1 N i e t z s c h e , A lso sprach Z arathustra. W erke V I , 297, 311.

2 K u r t K e s s e l e r , D a s L ebensw erk der großen P ä d a g o g e n ; L eipzig, J u liu s K lin k h a rd t, 1913. V I u. 137 S.

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12 Liebert

Heft 1 alle pädagogischen Theorien u n d System e herausgebildet haben, u n d die im Anschluß d a ra n von der gew altigsten B edeutung für die erzieherische T ätigk eit wurden. D enn es b esteh t in der T a t ein einheitlicher, klar geschlossener, von e i n e r Tendenz erfüllter Zusam m enhang u n te r den pädagogischen Id e e n ; un d die H erausstellung, die H erausm eißelung dieses Zusam m enhanges aus der Fülle des M aterials zeigt die bew underungsw ürdige Ordnung, in der sich im Laufe d er Ja h rh u n d e rte und bei aller gelegent­

lichen M ißgunst der äußeren V erhältnisse die großen Erziehungs- gedanken zu einer E in h eit von im posanter Fügung anein ander­

gereiht haben. Auch über dem Gebiete der Erziehungslehre leu ch tet ein großer, um fassender Gedanke. Zwar die einzelnen V er­

tre te r erfassen ihn m it verschiedener B estim m th eit; sie können ihn n ich t alle m it der gleichen Energie un d Tiefe zum A usdruck b rin g en ; überall aber ist er im H intergründe ihrer Lehrm einungen u n d A usführungen w irksam , u n d er ist es, der alle Einzelnen, so groß auch in besonderen P u n k te n ihre Abweichung von ein­

ander sein mag, zu Gliedern einer Reihe, einer Gemeinde v e r­

bindet. W ill m an fü r diesen G edanken eine kurze, orientierende Form ulierung haben, so w ird m an sagen können: I n allen w a h r­

h a ft großen u n d w ah rhaft fördernden Pädagogen ist die Ü ber­

zeugung lebendig, daß die Aufgabe der E rziehung in erster Linie d arin b esteht, die geistig-sittlichen K räfte des Zöglings zu wecken u n d sie tauglich zu m achen zu rüstiger, tä tig e r A nteilnahm e an d er K u ltu ra rb e it der M enschheit, den Zögling zu befähigen zu den großen Leistungen, die von jedem M enschen als sittlichem W esen zu fordern sind, u n d durch die allererst der Mensch sein R ech t aus weist, als Vollbürger im Reiche sittlich-vernünftiger G em einschaftsarbeit zu gelten. E s ist im letzten G runde d i e I d e e d e r E r z i e h u n g z u r H u m a n i t ä t d u r c h H u m a n i t ä t , es ist der Sifin der klassisch-idealistischen E r ­ ziehungslehre, d er m it jener Form ulierung um schrieben und bezeichnet ist. U n d indem die einzelnen Pädagogen diese Idee erfassen u n d v e rtrete n u n d n u r dadurch, daß sie sie erfassen u n d v ertreten , reihen sie sich ein in die Gemeinde der ewig gültigen Erzieher der M enschheit, w erden sie zu den großen L ehrern u n d M eistern der K u ltu r. D arin b esteh t ihr R ech tsau s­

weis, darau f b e ru h t ihre w eltgeschichtliche B edeutung und Größe.

I n geschickter un d historisch verlaufender D arstellung zeigt

uns nun Kesseler, wie in jedem der führenden Pädagogen die

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1915 Weltanschauung und Erziehung 13

oben bezeichnete Idee der M enschheitsbildung zu eigentüm licher und eindrucksvoller A usprägung gelangt, un d in welcher Weise eine jede dieser großen Persönlichkeiten an der Verwirklichung jener Idee beteiligt ist. D enn große, bedeutende M enschen sind sie alle, Persönlichkeiten m it freiem, weitem Blick, m it klarem V erstand, m it lebendigem u n d tiefem E m pfinden: eine Galerie von C harakteren. Als H a u p tträ g e r der idealistischen E ntw icklung der Erziehungswissenschaft tre te n zunächst die ersten H um anisten u n d die M änner der R eform ation vor uns h in ; ihnen schließt sich der geniale Vives an, dan n R a tk e u n d der m it spekulativem Tiefsinn u n d dabei doch m it offenen Augen für die W irklichkeit begabte Comenius; es erscheinen die P ietisten , Rousseau, die P hilanth rop en; als V ertreter des N euhum anism us folgt H erder, d an n setzt sich die R eihe fo rt über Pestalozzi, F ich te un d Schleiermacher hin zu Froebel, Diesterweg, um schließlich m it H e rb a rt zu endigen. I n diesen kurzen Einzelschilderungen, für die doch der einheitliche, durch die pädagogische Grundidee gesicherte G edankenfaden stets wegweisend b leibt, en trollt sich vo r uns das W erden der pädagogischen K u ltu r der N euzeit, ih r K am pf u n d ihr allmähliches D urchdringen zur A nerkennung u n d zur Beeinflussung der erzieherischen Praxis. Besonders interessan t ist es, an der Geschichte der preußischen Schulerlasse u n d der preußischen Schuleinrichtungen diese Entw ickelung der p ä d a ­ gogischen K u ltu r zu verfolgen.

N un erw ähnt der Verfasser allerdings ausdrücklich in dem Vorwort, daß seine Schrift keine Bereicherung unserer historischen E rken ntn is auf dem Gebiete der Erziehungsw issenschaft bedeuten, daß sie vielm ehr lediglich die wesentlichen E ta p p en auf dem Wege dieser Lehre hervorheben wolle. Doch selbst «bei dieser E inschränkung h ä tte die Auswahl vollständiger sein können.

W iederholt b em erkt m an, daß eine Stufe von grundsätzlicher

B edeutung für die E ntw icklung der m odernen Pädagogik außer

ach t geblieben ist. So v erm ißt m an ungern die eingehendere

B eachtung des fü r die Frage der Erziehung der M enschheit zur

H u m a n itä t doch sehr entscheidungsvollen Lessing ; m an verm ißt

eine ausführlichere Berücksichtigung K a n ts, dessen grundlegende

B edeutung auch fü r die Pädagogik die L ite ra tu r der Gegenwart

im m er m ehr einsieht un d anerkennt. Die gelegentlichen H in ­

weise auf ihn bilden keinen ausreichenden E rsatz. D an n fehlt

in der Reihe der charakteristischen Pädagogen besonders Schiller,

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14 Liebert

Heft 1 zw ar kein Pädagoge im fachw issenschaftlichen Sinne, wohl aber einer der größten und tiefgreifendsten M enschheitserzieher aller Zeiten. U nd bei Schiller denke ich an den gleichfalls nich t herangezogenen W ilhelm von H um boldt. F erner wäre ein E in ­ gehen auf die tiefschürfenden u n d gar nich t einflußlosen p ä d a ­ gogischen G edanken Hegels — ein sehr interessantes K apitel — n ich t zweckwidrig und unergiebig gewesen. U nd en d lic h : K a n n m an N ietzsche so ganz übergehen ? Das alte U rteil, das in ihm n u r einen V erführer un d V erderber der Ju g en d sah, k an n nicht m ehr aufrecht erhalten werden. Man ist nunm ehr zu einer einsichtsvolleren, positiven W ürdigung des auf jeden Fall u n ­ vergleichlich anregenden un d fru chtb aren Denkers durchgedrungen.

M an erkennt, daß er keineswegs n u r zu negieren, n u r abzusprechen, n u r zu zertrüm m ern verstan d , sondern daß auch der aufbauenden

G edanken n ich t wenige in ihm am W erke sind.

D er gewaltige weltgeschichtliche Prozeß, in dem sich auf dem G ebiete des Erziehungswesens und der Erziehungsw issenschaft die K ristallisation und V erwirklichung der H um anitätsidee vollzieht, h ä tte durch die B eachtung jener M omente eine noch intensivere B eleuchtung erfahren, er wäre in seiner kraftvollen Geschlossenheit und in seiner zwingenden Einw irkung auf die Schul- und U n te r­

richtspraxis noch energischer hervorgetreten. Das aber wäre ganz besonders der F all gewesen, wenn nu n noch auf den berühm ten E rlaß, durch den Friedrich W ilhelm I I I . im J a h re 1798 das W öllner’sche Religionsedikt aufhob, verwiesen oder wenn dieser E rlaß im Auszuge abgedruckt worden wäre. Dieser E rlaß a tm e t ebenso den Geist d er Toleranz un d H u m a n itä t, wie eine E rklärung des B erliner K onsistorium s (1799), die ich ebenso wie jenen E rlaß in dem schönen Buche von M a x J a h n : „ S ittlich k eit und R e ­ ligion“ finde (S. 313), und in der es heißt, der R eligionsunterricht m öchte in den Schulen auf die allgemeinen W ahrheiten in der Religion un d auf eine allen kirchlichen P arteien gemeinschaftliche sittliche Lehre eingeschränkt werden.

Aber diese Einw endungen in historischer H insicht sind ja schließ­

lich nich t allzu belangvoll. Sie berühren n icht die Q ualität, nicht den inneren W ert, nich t das Prinzip des D argebotenen, sie b e­

ziehen sich n icht auf die Gesinnung, aus der heraus die vorliegende

Schrift v erfaßt ist, un d die nach des Verfassers Überzeugung

auch schlechthin unentbehrlich ist fü r eine ergiebige theoretische

u nd praktische B etätigung auf dem Felde der Erziehung. D am it

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1915 Weltanschauung und Erziehung

15 aber kom m en wir zu dem N erv unserer Schrift, zugleich aber zu dem H a u p t- u n d M ittelpu n kt des ganzen Erziehungsproblem s.

U nd ich freue mich, in diesem grundsätzlichen P u n k t unserem Verfasser voll u n d ganz zustim m en zu können. W ie die Schrift selber auf dem Boden einer festen, charakteristischen, von Eucken entscheidend bestim m ten Lebens- u n d W eltanschauung ru h t u n d auf diesem Boden erwachsen ist, so b e to n t auch Kesseler, daß n u r eine wirkliche Lebens- u n d W eltanschauung die Voraussetzung einer wesensechten Pädagogik u n d die innere B edingung ü b e rh a u p t fü r eine gedeihliche, wertvolle E rziehungstätigkeit ausm achen könne. I n der T a t: so ist es. N icht die Masse des W issens, nich t die durch so und so viele Zeugnisse u n d Diplome bestätig te G elehrtheit m acht den großen Erzieher. H e rb a rt bem erkt einm al gelegentlich: „E in bloßes B uch k ann n ich t erziehen“ 1. M an sieht es ja alle Tage, daß ein M ann, der ganze F rach tladungen an W issen in sich aufgespeichert h a t, der m it allen möglichen p ä d a ­ gogischen Theorien v e rtra u t ist, doch den einfachsten Aufgaben der pädagogischen P raxis oft in bem itleidensw erter Hilfslosigkeit gegenüberstehen kann. W o eine g u t begründete, fest um rissene W eltanschauung fehlt, d a fehlt die innere Vorbedingung für einen gesunden A ufbau der pädagogischen Überzeugungen und für eine klare, zielbewußte, gegen Schwankungen und L aunen gefeite E in ­ wirkung auf die Zöglinge.

E s ist das ein P u n k t, der sehr oft bei der E rö rteru n g von Erziehungsfragen nicht die ihm gebührende B eachtung findet, und der doch eben von geradezu zentraler W ichtigkeit sowohl für die pädagogische E rk enntn is als für die pädagogische T ätig­

keit ist. Also der angehende L ehrer und Erzieher soll sich nicht n u r eine K en n tn is der verschiedenen W eltanschauungen erwerben, er sollte auch unbedingt selber eine W eltanschauung, eine bestim m te Form von Gedanken über das W esen und den Zusam m enhang der Dinge v ertreten u nd betätigen. Ohne den festen Besitz und ohne die energische V ertretu ng einer W elt­

anschauung ist niem and eine Persönlichkeit, und ohne Persönlich­

k eit ist niem and im höherem Sinne Lehrer und Erzieher, ist niem and ein M enschheitsbildner, ist niem and m ehr als n u r ein Ü ber m itteler von K enntnissen. Gelehrtes W issen aber bleibt stum m und to t ohne den H in terg ru n d einer einheitlichen und

1 V gl. d ie vortrefflich e A usgabe: „B riefe v o n u nd an H erb a rt“ , b esorgt von Theodor F ritzsch , B d . I , S. 286.

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Liebert

Heft 1 sicher begründeten A nschauung über W ert und Ziel der W elt un d des Lebens.

M it dieser E insicht jedoch ist n u n die große Frage nahegelegt, ob denn wohl fü r die A ufgaben und Zwecke der Erziehung alle die Form en von W eltanschauungen, die in m annigfaltiger Aus­

prägung innerhalb der geschichtlichen K u ltu r hervorgetreten sind un d oft wechselseitig in einem keineswegs glim pflichen K am pfe liegen, n u n auch einander gleichzeitig und gleich verw endbar sind. Auf keinen F all w ird m an diese F rage bejahen können, solange eben das Bew ußtsein dafü r lebendig ist, daß es sich hier um das B edeutungsverhältnis zwischen W eltanschauung einerseits un d Erziehung andererseits handelt, daß wir eine E ntscheidung über den W ert treffen wollen, den eine W eltanschauung gerade fü r die Beschäftigung m it pädagogischen D ingen besitzt. Seine A ntw ort auf diese bedeutungsvolle F rage d e u te t der Verfasser m ehr an, als daß er sie in ausführlicher und begründender Form entw ickelte und in ihrer ganzen Tiefe un d Tragw eite erörterte.

Aber abgesehen von der kurzen ausdrücklichen Angabe, die tro tz aller K ürze doch in logischer u nd term inologischer Beziehung bestim m ter und schärfer h ä tte gefaßt w erden können, so schim m ert die A ntw ort überall zwischen den Zeilen h in d u rc h ; sie beherrscht die ganze H altu n g der Schrift, und sie ist es, die diese zu einem erfreulichen Zeugnis einer kräftigen, ja begeisterten idealistischen Gesinnung m acht. D enn ein stark er, aus K a n t, F ich te und Schiller, un d w eiterhin besonders aus E ucken entscheidend g en ährter I d e a l i s m u s ist es, der ebenso wie er für Kesselers eigene Auffassung u n d D arstellung der Erziehungsfragen m aß ­ gebend ist, so auch nach seiner, in seinen anderen Schriften gleichfalls zum A usdruck kom m enden Überzeugung einzig und allein den d auernden u n d fru ch tb aren G rund für eine gesunde Pädagogik abzugeben verm ag.

K ein Zweifel, daß er d a m it das R ichtige getroffen h at.

V on dem Boden des N aturalism us oder M aterialism us aus ist es unmöglich, sowohl eine Erziehungslehre theoretisch zu entw ickeln als auf M enschen bildend, fördernd, em porführend einzu wirken.

D as lä ß t sich auf begrifflichem Wege leicht zeigen. D enn wenn

alles Sein n u r M aterie, alles Geschehen n u r kausalm echanische

B ew egungsübertragung ist, d an n k an n von Entw ickelung im

Sinne der H öherbildung, d er Förderung, der Bereicherung, der

E rschaffung von K u ltu rw erten keine R ede sein, d an n ist die

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1915 Weltanschauung und Erziehung 17

W elt n u r eine Maschine, und die Menschen — n u n es sind eben gar keine M enschen; kein Leben, keine spontane, keine schöpfe­

rische W irksam keit ist in ih n e n ; sie sind w eiter nichts als blind arbeitende, passiv vorw ärtsgetriebene Atom e, sie sind weiter nichts als seelen-, willen-, gefühllose Teile a n der W eltm aschinerie.

Alles geht u n d h a t zu gehen, wie es eben g e h t; jede H andlung, jede Regung ist sklavisch gebunden durch die ebenso allm ächtige u n d unerbittliche als dum pfe N otw endigkeit des Mechanismus.

M an m üß te alles treiben lassen, wie es n u n einm al tre ib t, u n d bei der resignierten A nerkennung dieser schrankenlosen, aber eben auch sinnlosen N aturm aschienerie m ü ß te es eben sein B e­

w enden haben.

Doch nun mache m an sich einm al die Folgen deutlich, zu denen die naturalistische W eltanschauung gerade bei der B eantw ortung von Erziehungsfragen m it N otw endigkeit fü hrt. Diese Folgen können, wenn die V ertreter jener W eltanschauung n u r selber das deutlich verständen, was sie lehren, keine anderen als fata li­

stische und im Anschluß d aran pessimistische Ü berzeugungen sein.

W o und wie sollte auch das V ertrauen an eine Ü berw indung der Hemmnisse, die durch die N a tu r gesetzt sind, P la tz greifen können, wenn die mechanische A rbeit der N a tu r, w enn die kausale Gesetzlichkeit zur A llm acht erhoben wird % Auf dem B oden des N aturalism us fehlt dem Glauben an die Z ukunft, fehlt der H offnung auf sittlich-vernünftige G estaltung des W erdenden jegliche V or­

aussetzung. Wie aber ist Erziehung möglich ohne den G lauben a n die Z ukunft, ohne die Gewißheit, d aß der Mensch n ich t re st­

los eingespannt ist in das N etzw erk m echanischen Geschehens, daß er auch die Gabe und K ra ft h a t, u m anders zu können, als jener Fetisch will, zu dem der N aturalism us die N a tu r­

k a u salitä t v e rg o ttet h a t ? N ichts ist für die kraftvoll-fruchtbare praktische Behandlung der pädagogischen F ragen unabw eisbar nötiger als die Befreiung von dem n aturalistischen Dogm a, das als einziges N aturgesetz nu r die m echanische K a u sa lität k enn t, u n d das den M enschen zu vollständiger O hnm acht diesem Gesetz gegenüber verurteilen will. „ In der E rziehung“ , so form uliert P a u l N a t o r p einm al die hier entw ickelte Ü berzeugung in ausgezeichneter Weise, „der K indererziehung wie der Selbster­

ziehung, in der B ehandlung von W illenskrankheiten, überall erfäh rt m an es, wie lähm end die Vorstellung ist, daß m an n ich t anders könne, und wie schon beinahe alles gewonnen ist, w enn

2 Monatshefte der C. G. 1915

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Liebert

Heft 1 es gelingt, den Zwang dieser Vorstellung, daß m an n ich t könne, zu brechen; welche K r a ft in dem einm al sicher verstandenen Appell an den W illen liegt, in der E rhebung zu dem befreienden B ew ußtsein: ich will, u n d ich k an n . Dies B ew ußtsein h a t und b eh ält ewig rech t. E s ist d urch vernünftigen W illen möglich, was ohne ihn n ich t geschähe“ 1. W ie lä ß t sich von den V or­

aussetzungen der naturalistischen W eltanschauung aus der G edanke a n eine fortschreitende H um anisierung, die Gew ißheit d er unzerstörbaren K u ltivierung der M enschheit in intellektueller, sittlicher, künstlerischer, sozialer, religiöser H insicht begründen u n d rechtfertigen ? Wie ist ohne diese innere Gew ißheit ü b er­

h a u p t K u ltu ra rb eit im höheren Sinne dieses Begriffes möglich?

M an erwäge doch, was der N aturalism us aus dem Begriff der K u ltu r und der H u m a n itä t m acht, was er von seinen Prinzipien aus 'm it ihm m achen m uß. E r m üßte ihn bei folgerichtigem D enken einfach streichen. U nd wenn er schon ü b erh au p t m it keinem Begriff einen Sinn verbinden kann, auch n ich t m it sich selber, d a es ja so etw as wie Sinn, Begriff, V ernunft u n te r den Auspizien seiner Theorie, gar n ich t gibt, g ar nicht geben darf, so schon ganz gewiß nich t m it dem Begriff der K u ltu r, m it der Idee der H u m a n itä t. Die ist ihm ein leeres W ort, eine tönende

Schelle.

U nd ebenso ste h t es m it allen Ideen und m it allen Idealen der M enschheit. Vom S ta n d p u n k t des N aturalism us aus kann m an ü b e rh a u p t nich t m ehr von ihnen sprechen. U nd wie ihre R e a lität, so bleibt von ihm aus auch ihr ungeheurer Einfluß auf das geschichtliche Leben eine U nverständlichkeit, eine M onstrosit ä t . Auf den früheren Stufen der M enschheitsentwickelung m ag ja noch so etw as wie der Glaube an Ideale, wie die W ucht der Ideen von B edeutung gewesen sein: so entschuldigt der N a tu ­ ralism us ihre historische W irksam keit und Leistung. H eutzutage stehen wir auf dem Boden des Em pirism us und Positivism us, u n d da wissen wir natürlich, daß alle Ideen nu r Illusionen und A utosuggestionen sind, daß die Ideale den W ert von F iktionen u nd H irngespinsten haben, die gem äß der so sehr vorgeschrittenen naturalistischen A ufgeklärtheit nun endlich in die geistige R um pel­

kam m er zu anderen Schrullen oder anderen überlebten und a ta ­ vistisch gewordenen Schöpfungen der m enschlichen Einbildungs­

1 P a u l N a t o r p , W illen sfreih eit und. V era n tw o rtlich k eit. In dem F e sth e ft zu m 70. G eb u rtstag H erm an n C ohens, 1912, S. 220.

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1915 Weltanschauung und Erziehung 19

k raft, der ,,wahnc ‘schaffenden P h antasie zu werfen sind. U nd dabei ä u ß ert sich dan n noch die starke Neigung, den der noch etw as anderes als die em pirischen T atsachen k en n t, der die W irklichkeit nich t aufgehen lä ß t in dem Triebw erk der m echa­

nischen K au salität, der B ehandlung der P sych iater zu überliefern, wie denn ü b erh au p t im R ahm en des N aturalism us sich begreif­

licherweise die Tendenz sehr sta rk geltend m acht, die P sy ch iatrie zum V erständnis geistiger Erscheinungen un d zur B egründung der Geisteswissenschaften zu verw enden.

Aber ohne Ideale, so ä u ß e rt sich Alois Riehl einm al, verm ag der Mensch im geistigen Sinne des W ortes n ich t aufrecht zu gehen u n d n ich t fortzuschreiten1. Sie sind dem geistigen M en­

schen n ich t m inder unentbehrlich als dem körperlichen L u ft u n d L icht. Ohne sie ist die E rziehung ein ganz unsinniges, ein gänz­

lich überflüssiges U nternehm en. Ohne sie ist die E rziehung ge­

radezu eine Albernheit. D enn was ist, das ist, u n d was wird, das w ird ; ein eiserner M echanismus h ä lt ja alles in seinen B anden, so la u te t die stum pfe W eisheit des N aturalism us.

Auf diese Weise, auf rein begrifflichem Wege, lä ß t sich erweisen, daß der Idealism us als W eltanschauung ganz unentbehrlich und allein berechtigt ist für die E insicht in die A ufgaben u n d fü r die E rfüllung der Zwecke, die der Erziehung gesetzt sind. Aber sehen wir auch ab von dieser A rt der B egründung, so zeigt ja schon ein Blick auf die Persönlichkeiten der großen Erzieher selber, auf welchen geistigen G rundlagen diese Persönlichkeiten ruhen, von welcher Tendenz ihr W esen beherrscht wird. Sind sie nich t alle hochgestim m te Idealisten? T rifft m an in ihrer Reihe auch n u r einen M aterialisten? Aus der R eihe der L am ettrie, H elvetius, Cabanis, H olbach, Büchner, V ogt, M oleschott ist kein großer M enschheitsbildner, kein F ü h rer zu neuem R eichtum , kein Erschaffer von geistigen In h alten , kein Förderer, kein Säm ann lebendig-fruchtbarer K ulturw erke hervorgegangen. V ertreten die großen Pädagogen nich t alle eine W eltanschauung von durchaus idealistisch-teleologischem Gepräge? I s t ohne eine solche ein wirklicher, das Gewissen der Menschen au frü ttelnder E rzieher ü b erh au p t denkbar? W ie unerm eßlich ist die B edeutung, wie tiefgreifend un d schlechthin entscheidungsvoll ist der Einfluß,

1 A 1. R i e h l , Zur E in fü h ru n g in d ie P h ilo so p h ie der G egenw art.

2. A ufl. 1904, S. 188.

2*

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20 Liebert, Weltanschauung und Erziehung

Heft 1 d en der Idealism us der K antisch-Fichteschen Philosophie auf die innere E rneuerung des preußischen Staatsw esens vor je tz t gerade h u n d ert Ja h re n , auf die E n tste h u n g des neuen Lebens un d des neuen sittlich-staatlichen Bew ußtseins g ehabt h a t! Es ist doch kein Zufall, daß viele der großen Reform er u nd F reih eits­

helden, von denen zudem eine große Zahl bem erkensw erter W eise F reim aurer gewesen sind, durch die Schule K a n ts u n d Fichtes gegangen sind, in der sie das R üstzeug für ihre T aten, die innere A u sstattu n g fü r ihre L eistungen erhalten haben. W o ü b e rh a u p t ist in der W eltgeschichte eine förderliche T a t g etan worden, die n ich t aus idealistischer Gesinnung herausgeboren ist! Sind n ich t alle großen Erzieher, um ein W ort des Königsberger W eisen zu gebrauchen, „L ehrer im Id ea l“ ? E s ist doch so, wie K a n t sag t, „daß w ahrer E nthusiasm us n u r im m er aufs I d e a l i s c h e u n d zwar rein Moralische geht — u n d n ich t auf den E igennutz gepropft werden k a n n 1“ . —

Beschließen aber m öchte ich diese Ausführungen, die den G ehalt des Them as n u r and eutend um schreiben, nich t aber erschöpfen, m it jener Bestim m ung, die F r i e d r i c h N i e t z s c h e von dem W esen der E rziehung gibt, u n d die da l a u t e t : „E rziehung ist Liebe zum E rzeu g ten .“ K a n n m an, so fra g t Nietzsches neuester B iograph, der feinsinnige R ich ard M. Meyer, das W esen der Erziehung schöner definieren2 ? U nd h ö rt m an wohl, so frage ich w eiter, aus dieser B estim m ung einen U n te rto n h er­

aus, der an die W eise P lato s erin n ert ? K ö n n te sie nicht, s ta tt im „ Z a ra th u stra “ , im „G a stm a h l“ oder „P h aid o n “ des griechischen Denkers stehen? W elche W eisheit u nd welche Z a rth e it sprechen doch aus ihr. Sie m ah n t, daß die Erziehung auf anderen, auf lebensvolleren W urzeln r u h t als etw a auf der Technik und R outine. Sie leh rt, daß es die hohe, begeistert-begeisternde Gesinnung, daß es das E th o s einer reinen, hochgestim m ten und hochstim m enden Persönlichkeit ist, das in w urzelhafter Weise die innere, grundlegende V oraussetzung für eine große, lebensstarke, em porführende erzieherische W irksam keit, für den großen Erzieher ab g ib t. U nd d aß N ietzsche d a m it im R echte ist, bedarf keiner ge­

n aueren R echtfertigung. „W as fü r eine Philosophie m an wähle“ , h e iß t es einm al bei F i c h t e , „ h ä n g t davon ab, was m an für

1 K a n t , Der Streit der Fakultäten. Philosophische Bibliothek, Bd. 46 d (Vorländer) S. 132 f. 8 R i c h a r d M. M e y e r , Nietzsche. München

1013, S. 236.

(23)

1915 Horneffer, Probleme der Mystik und ihrer Symbolik 21

ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nich t ein to te r H au srat, den m an ablegen oder annehm en könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des M enschen, der es h a t. E in von N a tu r schlaffer oder durch G eistesknecht­

schaft, gelehrten L uxus u n d E itelk eit erschlaffter un d gekrüm m ter C harakter wird sich nie zum Idealism us erheben.“ P a ß t nich t bei einer leisen, sinngem äßen V eränderung das alles W o rt für W o rt auch auf das Problem des Erziehers u n d der E rziehung?

U n d wenn F ichte fo rtfä h rt, daß m an zum Philosophen geboren sein, dazu erzogen werden u n d sich selbst dazu erziehen m uß, daß m an aber durch keine menschliche K u n st dazu gem acht werden k an n 1, so gilt auch das in jedem P u n k te fü r d en E r ­ zieher. Auch die Erziehung ist eine Gabe des Him m els, ist eine K u n st, vielleicht die höchste von allen; d er große E rzieher ist ein Genie, wie n u r je eines in der K u n st, das allein in der idealistischen W eltanschauung die angemessene geistige G run d­

lage seiner G edanken und Schöpfungen finden kann. U nd im letzten G runde u n d im tiefsten Sinne ist die idealistische W elt­

anschauung selber die Schöpfung u n d der A usdruck pädagogisch- künstlerischer G enialität. I n so engem, unzerreißbarem , in so lebendig-wechselseitigem Zusam m enhang stehen E rziehung und idealistische W eltanschauung m iteinander.

PROBLEME DER MYSTIK UND IHRER SYMBOLIK

Von A u g u s t H o r n e f f e r in Solln bei M ünchen

K g»^ A or h u n d e rt J a h re n sta n d die Sym bolik im V order- lljk

& gründe der philosophischen u n d geisteswissenschaft-

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^ S

a

I B etrachtungen. N achdem W in e k e l m a n n un d die durch ih n angeregten Geister W esen und W ert des Symbols innerhalb der K u n st zu u n te r­

suchen begonnen h a tte n , m achten die Philosophen S c h e l l i n g und, ihn erw eiternd un d korrigierend, H e g e l den Symbolbegriff zu einem Grundbegriff ihrer System e, u n d zahlreiche Forscher w andten die Begriffsbestim m ungen dieser Philosophen auf die einzelnen Gebiete, nam entlich auf das theologische, das m y th o ­ logische, das religionsgeschichtliche Gebiet an. E s seien nu r

F i c h t e , E r ste E in le itu n g in d ie W issen sch aftsleh re; A u sgab e v o n M edicus, I I I , S. 18 f.

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22 Horneffer

Heft 1 C r e u z e r , G ö r r e s , B a u r , B ä h r g en an n t1. So groß der W ider­

spruch war, der sich gegen m anche Ergebnisse und Schluß­

folgerungen dieser „S ym boliker“ erhob, so groß w ar andererseits die Begeisterung für die tiefen un d anscheinend neuen W ahrheiten, die m an m it Hilfe der symbolischen Betrachtungsw eise ans Tages­

lich t zu bringen glaubte. J e tz t e rst schien sich der V orhang zu lüften, der das volle V erständnis der religiösen M enschheits­

entw ickelung u n d des religiösen Phänom ens ü b e rh a u p t bisher gehindert h a tte .

M it der Hegelschen Philosophie kam dan n auch die symbolische Erklärungsw eise in M ißkredit. N u r die Theologie fuhr fort — weil sie n ich t anders k o nn te — sich der symbolischen D eutung zu b e­

dienen u nd die überlieferten Glaubenslehren und H eilsw ahrheiten m it dem A usdruck „Sym bole“ (a n s ta tt Dogmen) zu bezeichnen.

E in tiefgehendes Interesse aber für das eigentliche Problem der Sym bolik fehlte Ja h rz e h n te lang in der gelehrten und ungelehrten Ö ffentlichkeit völlig: die Zeit verlangte nach „ R e a litä te n “ u nd ließ, was der sinnlichen G reifbarkeit und verstandesm äßigen Be- greifbarkeit w iderstrebte, als n ich t vorhanden oder als undiskutier- b are G laubenssätze auf sich beruhen.

In jü n g ster Z eit n u n vollzieht sich ein allm ählicher Umschwung.

Die Sym bolik gew innt neue Bedeutung. E s sind sehr verschiedene M otive, die diesen Um schwung v e ra n laß t haben, u n d noch stehen sich die V ertreter der neuen sym bolfreundlichen B etrach tu n g s­

weisen frem d gegenüber. Indessen w ird sich das wohl m it der Zeit ändern. Z unächst sind hier die m odernen D e n k e r zu nennen, die d urch die erneute Beschäftigung m it Schelling und Hegel dazu gefüh rt werden, über die B erechtigung des Symbolbegriffs etw as gründlicher als bisher nachzudenken; ferner sehen sich auch die K u n s t f r e u n d e genötigt, angesichts des vielbesprochenen „S ym ­ bolism us“ der heutigen K ü n stler die üblichen Anschauungen über symbolische D arstellung in der K u n st einer Revision zu u n te r­

ziehen. W eiter m ach t sich u n te r den M y t h o l o g e n eine wachsende H inneigung zu sym bolischer A usdeutung des religiösen un d nicht- religiösen M ythenschatzes der M enschheit bem erkbar. Die m oderne M ythenkunde2 a rb e ite t m it ungem einem Fleiß und vielfach auch m it m ethodischer Sorgfalt auf das große Ziel einer einheitlichen

1 N ä h eres b ei M. S c h l e s i n g e r : G esch ich te d es S ym b ols. B erlin 1912.

2 D e n b esten E in b lic k in d ie g egen w ärtige M yth en forsch u n g erh ä lt m an durch d ie Z eitsch riften : „M em n on “ u n d „M itra “ .

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1915 Probleme der Mystik und ihrer Symholik 23

u n d allum fassenden M ythenerklärung hin; dabei k an n sie der

Sym bolik n icht en traten , kan n auch, wie die T atsachen lehren, einer m itu n ter bedenklichen A nnäherung an die Tendenzen der rom antischen M ythologen nich t entgehen.

Von einer ganz anderen Seite h a t die m oderne P s y c h o l o g i e sich des Symbolbegriffes von neuem bem ächtigt. H ierauf m üssen wir etwas näher eingehen; denn aus der Schule des Psychologen un d Neurologen S i g m. F r e u d in W ien ist das B uch hervor­

gegangen, das den G egenstand des vorliegenden Aufsatzes bild et1.

Vor etw a 20 Ja h re n drangen die ersten N achrichten über eine neue H eilm ethode bei H ysterie u n d verw andten K ran kh eiten in die Öffentlichkeit, die von den W iener Ä rzten B r e u e r un d F r e u d ausging u n d durch die eigenartige Ausbildung, die der letztere diesem H eilverfahren gab, bald großes Aufsehen erregte. Die hysterischen E rkrankungen sind — so la u te t in groben Um rissen der Gedankengang dieser sogenannten ,,P s y c h o a n a l y t i k e r “ — durch gewisse seelische K onflikte verursacht. D er K ranke h a t sexuelle Regungen, W ünsche, Begierden, die zur U nzeit a uf­

tau ch ten und im W iderspruch m it seinem geistigen un d sittlichen C harakter stehen, gewaltsam u n terd rü ck t, u n d diese unterd rü ck ten ,,Geister der Tiefe“ suchen nun E n tlad u n g teils in körperlichen Störungen (das sind die neurotischen Sym ptom e: Lähm ungen, A utom atism en usw.), teils in V orstellungen un d H andlungen eigentüm licher A rt, die den Gebilden des Traum es, der m ythischen P hantasie, des künstlerischen Schaffens un d der religiösen Symbolik un d K ultüb u ng nahe verw andt sind. Die ärztlichen Folgerungen aus dieser Theorie, näm lich daß der K ranke zum Bew ußtsein des Zusamm enhanges zwischen Sym ptom u nd psychischer U rsache gebracht u n d die u n terd rü ck ten Gedanken u n d Triebe durch eine um fassende, m it gewissen technischen M itteln erzielte u n d e r­

leichterte B e i c h t e ans Tageslicht gezogen w erden müssen, wo­

durch eine ,,K a th a rsis“ un d R e stitu tio n erzielt wird, — in te r­

essieren uns hier w eniger; die U rteile über die Erfolge dieses Ver- fahrens lau te n n ich t übereinstim m end. Dagegen ist die F e s t­

stellung, daß die Träum e, die M ythen, die künstlerischen u nd religiösen Schöpfungen des M enschen im Grunde aus gewissen Lebenshindernissen, aus K onflikten zwischen Mensch und W elt, ja zwischen den verschiedenen T riebgruppen innerhalb des Menschen selbst, hervorgehen, von allgemeinstem Interesse. F reu d

1 H e r b e r t S i l b e r e r : Probleme der Mystik und ihrer Symbolik. Wien und Leipzig 1914. M 9,—.

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erkennen. Und ferner kommt man auch dazu, einzusehen, daß jener oben angedeutete, oft geäußerte Gedanke einer Mittelstellung der Philosophie zwischen der Kunst und

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