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93 und bildet ihren eigentlichen Abschluß. Nachdem nämlich die verlorenen Quellen

oder eigenen Entwürfe eines Autors, der einem Berichte zugrunde liegende Tat­

bestand usw. durch ein divinatorisches Rekonstruktionsverfahren hergestellt worden sind, ist die Aufgabe zu erfüllen, diese mit dem Erhaltenen zu vergleichen und die Einwirkung des Hergestellten auf das Erhaltene, das Verfahren des Berichterstatters zu ermitteln. Diese eminent historische Betrachtung ist zugleich eine eminent philo­

logische und gehört doch in das Gebiet der angewandten Psychologie. Übrigens liegt in dieser erneuten Vergleichung auch eine Kontrolle der vorangegangenen Synthese.

Die vollendetste psychologisch-philologische Untersuchung im Dienste der Erforschung politischer Geschichtsquellen ist wohl der Aufsatz von E S c h w a r tz , D ie B e r ic h te ü b e r d ie c a t ilin a r is c h e V e r s c h w ö r u n g , H e rr n . X X X I I (1897) 5 5 4 f f . Ein solches Eindringen in die Psyche der Autoren ist natürlich nur möglich, wenn diese mit ganzem Herzen oder Ver­

stände an dem Gegenstände ihrer Werke betätigt sind.

Die D a r s t e l l u n g oder Geschichtserzählung der populären historischen Werke pflegt die Summe der in der Synthese ermittelten tatsächlichen Begebenheiten zu ziehen;

im Mittelpunkte der modernen Forschung steht dabei die Volkswirtschaft oder die Sozialpolitik (vgl. RvPöhlmann, Gesch. d. Griech.u.d.19. Jahrh.[Ges. Abh.II,Münch. 1911, 277f f J , und KJNeumann, Entwicklung u. Aufgabe der alten Gesch., Straßb. 1909). Eine Literaturgeschichte behandelt die erhaltenen und verlorenen Literaturwerke an sich und in ihrem ursprünglichen Verhältnisse zu einander; in ihr kommt psychologisches Nachempfinden besonders zur Geltung neben Berücksichtigung der Form. Diese bildet den leitenden Gesichtspunkt der Kunstgeschichte. Eine Geschichte der Philo­

sophie oder der Philologie sucht den wesentlichen Inhalt der rekonstruierten wie der erhaltenen Texte und ihren inneren Zusammenhang zu ermitteln. Hierher gehört also auch die Textgeschichte, die sich auf formale Interpretation und Kritik stützt.

Die Geschichte der Ideen erstreckt sich auf das jeweilige Material und seine in den Texten vorliegende Bearbeitung: in der Zoologie und Mathematik, Philosophie und Philologie wird sie die veränderte Arbeitsweise und Methode der alten Forscher, die neuen Gesichtspunkte oder die Verengung des Horizontes wie die Exaktheit der Beweisführung oder Beobachtung verfolgen. In der Philosophie, schönen Lite­

ratur und politischen Geschichte spielen dabei Momente mit, die an der Grenze ihres eigenen Gebietes liegen: die allgemeine Lebens- und Weltauffassung der Autoren, sowohl der beurteilten wie der modernen Kritiker. Die allgemeine reli­

giöse oder philosophische Stellung jedes Berichterstatters, Denkers und Dichters bestimmt oft seine Darstellung; sie hat die uns vorliegenden Texte beeinflußt, und sie oder eine anders geartete beeinflußt wieder die moderne Interpretation und | Kritik. Sobald sich die moderne Forschung der Philologie und Astronomie zu neuen Erkenntnissen durchgerungen hat, vermag sie auch einen neuen Maßstab an die Dokumente ihrer Vorgeschichte anzulegen. Und wenn w ir glauben, in philosophi­

scher oder religiöser, in sozialer oder politischer Beziehung zu der höheren Warte einer geläuterteren Anschauung gelangt zu sein, sehen w ir von da aus zu ver­

wandten und entgegengesetzten Ansichten älterer Zeiten herab und fällen auch dar­

in ein Urteil. RPöhlmann vermißt in Grotes griechischer Geschichte die modernen volkswirtschaftlichen Grundanschauungen, aber Grote selbst legte vielfach schon einen modernen Maßstab an die antiken Zustände und Autoren. Das Erfrischende an Mommsens Römischer Geschichte Bd. I —III ( ' Berl. 1854 - 56) war das subjektive aus modernstem politischen Leben stammende Urteil einer starken Persönlich ei . in seinen späteren großen Werken hat er das ganz zurückgestellt.

92/93] V. Sachliche Philologie und Geschichte: Synthese

94 Alfred Qercke: Methodik [93/94 7. Ein objektives W e r t u r t e i l läßt sich überhaupt nicht geben. W ir sind alle Kinder unserer Zeit und abhängig von unseren Kenntnissen und Erfahrungen, von unseren Ansichten und Absichten, von Lücken unseres Wissens und Vorurteilen.

Ein großer Mann versteht allem Vorurteile und aller verrotteten Überlieferung zu Trotz gerechter zu sein, als es die Geschichte oft ist, und mit scharfem Geiste auch die Werturteile abzuändern. Und bisweilen folgt ihm seine Zeit. In der Regel kommen die Werturteile durch Kompromisse zu stände, die wenig W ert haben.

Über die Ausgaben der antiken Autoren und alle Beiträge dazu von 1700—1878 orien­

tiert vorzüglich die B ib lio t h e c a s c r ip t o r u m d a s s , v o n W E n g e lm a n n - E P r e u ß , 8 L p z . 1 8 8 0 (G ra e c .) und 1 8 8 2 (L a t.)-, Nachträge bis 1900 zu den G r a e d ed. R K lu s s m a n n 1910. Für die letzten Jahrzehnte ist man vorläufig darauf angewiesen, die einzelnen Jahrgänge der

B i b l i o t h . p h il o l o g i c a d a s s , zu durchmustern, die als Anhang zu B u r s ia n ( B e r l. L p z . 1 8 8 6 ff.)

erscheint. - Nützlich, wenngleich jetzt veraltet, ist W P a p e , W ö r te r b u c h d e r g r ie c h . E ig e n ­ n a m e n,,» B r a u n s c h w . 1875. Ausgezeichnet sind J K i r c h n e r , P r o s o p o g r a p h ia A t t i c a , 2 B d e . B e r l. 1901 und B K ü b le r , P v R o h d e n , H D e s s a u , P r o s o p o g r . R o m ., 3 B d e . B e r l. 1898. Dürftig war F L ü b k e r , R e a lle x ik o n d . k la s s . A l t e r t u m s , 7L p z . 1891, von dem eine wissenschaftliche Neubearbeitung bevorsteht. Nicht mehr brauchbar ist die alte Bearbeitung von A u g P a u lg R E , S tu ttg . 1 8 3 9 - 1 8 6 6 ; die Neubearbeitung von G W is s o w a (A-E) und W K r o l l , S tu ttg . 1 8 9 4 ff.

ist jetzt bei B d . V I angelangt. Wegen des Bildermateriales besonders geschätzt sind A u g . B a u m e is te r s D e n k m ., 3 B d e ., M ü n c h . 1 8 8 5 - 1 8 8 8 . Zur Orientierung in der Chronologie sind immer noch empfehlenswert H F C lin t o n , F a s t i H e ll. 3 B d e ., O x f. 1 8 2 4 —3 4 und E W F is c h e r , R ö m . Z e it t a f e ln .. b is a u f A u g . T o d , A lt o n a 1846.

Die sonstige Literatur für alle verschiedenen Zweige ist zu umfassend, als daß hier auch nur die empfehlenswertesten Werke genannt werden könnten: dafür treten die Abschnitte über G e s c h ic h te , A lt e r t ü m e r , R e lig io n , L ite r a tu r g e s c h ic h te usw. ein. Die Methodologien von

A B o e c k h und E B e m h e im sind oben S. 3 5 f . aufgeführt worden. Natürlich sind auch hier die Untersuchungen großer Forscher nützlicher als eine Blumenlese einzelner Fälle im Auszuge einer Methodik. So darf niemand T h M o m m s e n , R ö m . F o rs c h ., 2 B d e ., B e r l. 1864 u. 79 un­

gelesen lassen. Für Echtheitsfragen sind R B e n tle g s A b h a n d lu n g e n ü b e r d ie B r ie f e d e s P h a la r is (deutsch von W R ib b e c k , L p z . 1 8 57) vorbildlich geworden. Jeder Zweig der Wissenschaft bietet unendlich viel Material, und das Eindringen in irgendwelche Probleme und die aufgestellten Lösungen ist an sich so wichtig, daß dahinter die Frage verschwindet, welche Lektüre am wichtigsten sei. Besonders empfiehlt es sich, Aufsätze auch der älteren Jahrgänge philologischer und verwandter Zeitschriften zu studieren, um sich von da aus weiter zu helfen, so der N euen J a h rb ü c h e r für klass. Phil, usw., des H erm es, des R hein. M use um s, des P h ilo lo g u s , der K lio u. a.

Für die Quellenanalysen der antiken Historiker, Arrianos, Appianos, Cassius Dion und Diodoros sei auf die ausgezeichneten Artikel von E S c h w a r tz , R E P verwiesen. Schön ge­

schrieben ist die E in le it u n g in d a s S t u d iu m d e r a lte n G e s c h ic h te von C W a c h s m u th (L p z . 18 9 5 ), die viel Material bietet und überall reinliche Ergebnisse herausschält, leider aber in der Erörterung der Probleme selbst oft versagt. [

VI. SPR A C H W IS S E N S C H A FT

Die Grammatik kann zwar, wie auch die Metrik, lediglich Mittel zum Zweck sein und ist daher als grundlegend bei der formalen philologischen Kritik besprochen worden. Ihre Untersuchung ist aber auch Selbstzweck und führt zu einer Geschichte der Sprache.

Bis zum Beginne des vorigen Jahrhunderts waren die grammatischen Arbeiten lediglich sammelnd und beschreibend, abgesehen von wenigen Ansätzen philoso­

phischer Spekulation über den Ursprung der Sprache und das sprachbildende Prinzip der Analogie im Altertume. Erst allmählich sind durch die neue Wissen­

schaft der indogermanischen Sprachvergleichung ganz neue Gesichtspunkte in die Stellung wie in die Lösung der Probleme hineingekommen: indem die moderne

Sprachwissenschaft die Schranken der Einzelsprachen niederriß, mehrere oder alle verwandten Sprachen verglich und auch die Anschauungen der indischen Gramma­

tiker neben den hergebrachten der Griechen und Römer nützte, ist sie zur Erkennt­

nis fester Gesetze in der Entwickelung der Einzelsprachen gelangt. Ihr eigentliches Ziel war dabei (von Umwegen abgesehen), eben diese Gesetzmäßigkeit zu erweisen, die Regeln für die Fortbildung der Sprache im einzelnen zu ermitteln, die schein­

baren Ausnahmen von der Regel durch tiefer greifende Erklärungen aufzuhellen und die störenden Einflüsse dabei mit in Betracht zu ziehen. Je sicherer und ge­

festigter die Sprachwissenschaft in der Ausbildung ihrer Methode wurde, desto mehr hat sie diese, nicht die Resultate, in den Vordergrund gestellt. Und da sie sich außerdem in ihrer Methode stark den Naturwissenschaften nähert, da sie sich neben dem Verfolgen psychologischer Momente (der Analogiewirkungen) namentlich auf Beobachtungen physiologischer Vorgänge (Phonetik, Lautlehre) stützt, so wird es auf den ersten Blick vielleicht befremden, wenn die Sprachwissenschaft hier als Teil der philologisch-historischen Wissenschaft erscheint. Aber vergleichend ist deren Methode auch, und die historische Erkenntnis ist das letzte Ziel jeder dieser Wissen­

schaften, mag auch der Philosoph bisweilen Mittel und Endzweck anders werten.

Keine Sprachwissenschaft vermag zu lehren, wie sich eine Sprache in Zukunft weiter entwickeln wird oder muß: sie erklärt nur das Gewordene als Gewordenes. Das ist die historische Betrachtungsweise der historischen Grammatik.

1 Die Grundlage aller grammatischen Forschung bilden die überlieferten Texte, wenigstens in den toten Sprachen. Die Beschaffung, Ordnung und Sichtung des.

Sprachmateriales ist die erste Aufgabe der Forschung: das ist also die Heuristik, die zur Recensio führt.

Die grammatische H e u r i s t i k kann die überlieferten Texte nicht als solche in ihrem vollen Zusammenhänge und Umfange brauchen, sondern sie findet ihr Be­

obachtungsmaterial innerhalb der Texte, wählt es aber nach bestimmten Gesichts­

punkten aus. Wie den Literarhistoriker die Zitatensammlungen und Anthologien eines Athenaios und Stobaios, eines Didymos, Festus oder Nonius als solche wenig interessieren, sondern in der Regel nur um ihrer Belegstellen willen, so ist dem Grammatiker der Lexikograph Hesychios gleichgültig, aber sein Lexikon ist ihm eine Fundgrube erlesener grammatischer Gelehrsamkeit. Ja, jeder zusammenhängende Text löst sich ihm in eine Fülle grammatischen Materiales auf, mag das nun ge­

nügend bekannt und bearbeitet sein oder nicht. Nur gestattet die Überfülle des verschiedenartigsten Materiales zunächst noch nicht das Einsetzen wissenschaftlicher Beobachtung. |

Wie bei allen Untersuchungen über handschriftliche Überlieferung oder Quellen zunächst die Hdss. desselben Textes oder die verwandten Texte möglichst voll­

ständig beisammen sein müssen, und wie sich kein Bild einer verlorenen Schrift entwerfen läßt, ehe ihre zerstreuten Zitate und Fragmente gesammelt sind, so braucht der Grammatiker für jeden Einzelfall eine vollständige Sammlung der überlieferten Lauterscheinung, Form oder syntaktischen Verbindung.

Was w ir Griechisch oder Lateinisch nennen und nach den Schulgrammatiken lernen und lehren, ist in W irklichkeit so niemals gesprochen worden. Das Leben war viel reicher, als die dürftigen Regeln der Schulgrammatik ahnen lassen. Und doch können w ir Lehrer nicht darauf verzichten, dem Anfänger einen willkürlich zurecht gemachten Auszug zu geben. Ohne die Vereinfachung der Schablone würden die Massen die fremden Sprachen, zumal die toten, schwer lernen, alle die vielen 94/95] V. Sachliche Philologie. VI. Sprachwissenschaft: Materialbeschaffung 95

96 Alfred Gercke: Methodik [95/96 Ausnahmen von den aufgestellten Regeln werden ihnen absichtlich zunächst fern­

gehalten. Die lebendige Sprache kennt und kannte überhaupt keine Ausnahmen, sondern was w ir so nennen, sind seltenere oder schwieriger zu erklärende Sprach- erscheinungen. Eben darum ist ihre Absonderung nicht reine W illkür, sondern ist mühsam gefunden worden durch Beobachtung der gewöhnlichen und der verein­

zelten Fälle sowie durch Anwendung der zu Tage liegenden oder weiter her zu holenden Erklärungen. Die Auswahl ist aus pädagogischen Gründen mit pädago­

gischem Takte erfolgt. Die reine Wissenschaft geht darüber zur Tagesordnung über und läuft dabei Gefahr, in der Überfülle der Erscheinungen das einigende Band zu verlieren. Sie sieht sich aus praktischen Gründen zur Teilarbeit oft genötigt, den Forderungen der Einzelforschung und ihren einzelnen Aufgaben entsprechend. Vom Einzelnen geht sie in jedem Falle aus und sucht das Einzelne durch die nächst­

verwandten Erscheinungen zu erklären.

Wer sich wissenschaftlich mit einer Sprache befassen w ill, muß sie zunächst kennen, d. h. mindestens über einen genügenden Wortschatz verfügen und Sicherheit in den Regeln der Elementargrammatik haben, um beides ausbauen zu können. In erster Linie ist dazu unermüdliches Lesen der alten Texte selbst erforderlich, die der Philologe auch zu kaufen sich nicht scheuen darf. Der junge Student wird dabei zunächst seine Schulgrammatik be­

nutzen und Handwörterbücher wie die griech. von W P a p e , 2 B d e .,3 B r a u n s c h w . 1 8 8 0 oder

R M e n g e , 2 B d e ., B e r l. 1 9 0 3 u . 1906, die lat. von R K lo tz , B r a u n s c h w . 18 94 oder K E G e o rg e s , A u s f ü h r l. la t.- d e u ts c h e s H a n d w ö r t e r b u c h , 2 B d e .,'1 L p z . 1 8 7 9 -1 8 8 0 oder (billig und gut)

IM S to w a s s e r , W ie n - L p z . 3 von M P e ts c h e n ig u. F S k u ts c h 1910. Genauere Auskunft geben

H e n r S te p h a n u s , T h e s a u ru s G ra e c . lin g . , 5 B d e . i n F o l io , 1 P a r is 1572, bearbeitet von C B H a s e

u. a., 8 B d e ., P a r is 1 8 3 1 -1 8 6 5 . A c F o r c e l l i n i , T o t. L a t. L e x ic o n , P a d u a 1771, n e u e s te A u fl.

V d e V it., P r a t o 1 8 5 8 - 1 8 8 0 . Nützlich ist auch noch heute der b illig zu erwerbende N o v . T h e ­ s a u r u s l. r o m . von J o M a tth G e s n e r , 4 B d e . f o l. , L p z . 1749. Für die lateinische Sprache ist in dem großen T h e s .l.l. (B d . I f f . , L p z . 1 9 0 0 ff.) der Anfang gemacht worden, den gesamten Wortschatz des Altertums mit den syntaktischen Verbindungen zu sammeln. Ober den Sprachgebrauch vieler Schriftsteller geben Spezialwörterbücher Auskunft (vgl. das kleine

R e p e r t o r iu m g r ie c h . W o rtv e r z e ic h n is s e von H S c h ö n e , L p z . 1907) sowie monographische Untersuchungen.

Die Etymologie ist von Skutsch und Menge berücksichtigt. Ober etym. Wörterbücher vgl. 1. A u fl. S. 221-, Grammatiken S . 1 8 4 f . und 1 3 6 ] griech. Dial. S. 146, ital. Dialekte S. 174. | Die Materialbeschaffung ist meist sehr zeitraubend, wo nämlich sorgsame Vor­

arbeiten fehlen. Einmal kommt es in vielen Fällen auf Vollständigkeit an, sodann auf Reinheit. Fast alle Reihen gleichartiger Spracherscheinungen werden nicht nur von scheinbaren Ausnahmen begleitet, die die Regel zu durchbrechen scheinen, sondern weisen auch falsche Belege auf, die nur äußerlich und zufällig in die Reihe geraten sind.

Im Attischen wird ei ungefähr seit 100 v. Chr. wie i gesprochen und daher seit dieser Zeit vielfach mit i in der Orthographie verwechselt. Wenn wir nun schon auf einer gegen 450 eingemeißelten Inschrift einmal qpi\iv finden, so dürfen wir diese Form nicht durch die Vermutung erklären, daß die Aussprache des ei bereits damals geschwankt hätte, sondern müssen ein Versehen des Steinmetzen annehmen. Zweifelhaft ist dagegen die Erklärung für eine Anzahl von Verwechselungen auf Inschriften des 3. und 2. Jahrh. v. Chr.: diese Be­

lege dürfen nicht außer Betracht bleiben, wenn man den Beginn der veränderten Aus­

sprache des ei bestimmen will.

2. Die alexandrinischen Grammatiker stellten Paradigmen auf wie TroXnric, -t o u

und Kparric, Kpömyroc, um darunter die analogen Bildungen zusammenzufassen.

Im wesentlichen machen w ir das noch heute ebenso. Alle Einzelfälle einzuordnen, damit aus der Mannigfaltigkeit der vielen Belege eine zusammengehörende Reihe festzustellen und zu dem sie umfassenden Typus aufzusteigen, ist für die Wissen­

96/97] VI. Sprachwissenschaft: Materialbeschaffung, Recensio 97 schaff das Geschäft der R e c e n s i o , wie ich im Anschlüsse an Kapitel IV f. sagen möchte. Der gemeinsame Typus entspricht der zu konstruierenden U r h a n d s c h r i f t . Seine Feststellung bedarf in unzähligen Fällen zunächst keinerlei Scharfsinnes, er umspannt dafür aber auch nur verhältnismäßig wenig, die Glieder einer Reihe, im Gegensätze zum Archetypus ganzer Hdss. Während Aristarchos noch OiXopiibnc, 'HpaKXetbric, MeXmep-rric als ähnliche Bildungen zusammenstellte, führte der Perga- menerKrates dagegen die verschiedene Vokativbildung OiXófaribec, ‘Hpcu<Xeibr), MeXt- Kepra an ( Varro 1.1. V I I I 68): ein sehr äußerlich gewonnener Fortschritt. Die moderne Theorie begnügt sich damit nicht.

W ill man die Bildung des sf-Perfektums und das Verhalten der Tempusstämme hierbei (etwa im Vergleich mit den Präsensstämmen) erkennen, so hat man zunächst die Belege zusammenzubringen für die Guttural-, Labial-, Dental-, Nasal- usw. Stämme, also

d ic o f r i g o c o q u o n u b o p e r c u t ió d i v i d o m a n -e o d i x i f r i x i c o x l n u p s i p e r c u s s i d iv is ( s ) i m a n s i

Es ergibt sich, daß der Verschlußlaut des Stammauslautes eine engere Verbindung mit dem s der Endung eingeht, der Dental hat sich ihm sogar völlig assimiliert. Aber bei einer Konsonantenhäufung ist eine Art Erleichterung eingetreten, f u l s i aus * f u l c s i zu fu lg e o , s p a r s i aus * s p a r c s i zu s p a r g o , also der Verschlußlaut ist hier geschwunden. Umgekehrt hat sich in den Perfekten der m-Stämme in der Aussprache ein vermittelndes p eingeschlichen:

s u m o , s u m p s i. Dagegen lassen sich die Perfektstämme von g e s s i, h a u s i, älter h a u s s i, aus den Präsensstämmen g e r o und h a u r i o überhaupt nicht ableiten: das s ist vielmehr ursprüng­

lich (vgl homer. ¿TÉXec-cct), wie z. B. g e s -tu m und h a u s - tu m zeigen. |

Um den Nachweis im einzelnen zu führen, muß man die Reihen auflösen und das Ver­

halten der im Stammauslaute stehenden Konsonanten zu folgendem s mit größerem Mate­

riale betrachten, das sich nicht auf dies eine Perfektsystem beschränkt sondern sich zu ganz neuen Reihen zusammenschließt.

Die grammatische Recensio erschließt also aus dem gesammelten, wohlgeordneten und ausgesiebten Materiale die Typen im Hinblick auf die Bildungsgesetze. Sie be­

stimmt aber nicht nur gewisse erhaltene paradigmatische Erscheinungen und Typen als alt und maßgebend, sondern sie erschließt auch verlorene Glieder wie *sparcsi von spargo, »erteiGca für erretca. Je mechanischer sie dabei vorgeht, um so ein­

leuchtender und sicherer sind ihre Schlüsse. Das Unbezeugte wird dabei mit einem Stern bezeichnet; er erlischt, sobald ein Fund die erschlossene Form bezeugt. So war früher *d iv is s i erschlossen, jetzt ist ein d ivissit zu zahllosem d iv is it gekommen.

Trotz a u g e o , s u a d e o , v in c io , s a e p io , s e n tio usw. läßt sich schließen, daß die Perfekt­

endung -sí nur an Konsonantstämme getreten ist: wo die zugehörigen Präsensstämme voka- lisch auslauten, handelt es sich um Weiterbildungen oder Dubletten. Auch für diesen Schluß genügt die richtige Verwertung des Materiales in der Gegenüberstellung s a e p -s i, s e n [ t ] - s i und d e le - v i, a u d i - v i . Im Griechischen ist dagegen der Typus des Praeteritums iXu-cot sehr beliebt.

Alle Methode ist vergleichend; aber die Benutzung anderer Sprachen, ja anderer Dialekte derselben Sprache kann erst eintreten, wenn das zu behandelnde Material der Einzelsprache oder des Einzeldialektes genügend durchgearbeitet vorliegt.

Wenn hom. eiceXca, ujpca den Weg der Erklärung für epetva, fjTTe'Xct, ecppva aus

*?pev-ca, *fÍTTeX-ca, *eqpctv-ca gewiesen hat, so ist die Bestätigung durch lat. man-si willkommen.

Ein zu frühes Heranziehen abseits liegenden Sprachmateriales heißt ein x durch ein y erklären wollen; dadurch können sich leicht Fehlschlüsse einschleichen. So hat man bis ungefähr 1875 den Vokalismus des Urgriechischen und Uritalischen

üus dem damals noch nicht genügend durchforschten Altindischen erklären wollen und die reiche Mannigfaltigkeit der Vokale a e o aus einem einzigen idg. a

her-Einleitung in die Altertumswissenschaft. I. 2. Aufl. I

Alfred Oercke: Methodik [97/98 98

geleitet. Für den klassischen Philologen war das eine starke Zumutung, die ihn von der vergleichenden Sprachwissenschaft damals abschreckte; und darum steht noch heutigen Tages, wo die jüngere Schwesterwissenschaft die Eierschalen ihrer Ent­

stehung längst abgestreift hat, mancher ältere Philologe skeptisch den Resultaten gegenüber, die zu prüfen er nicht gelernt hat, während die Germanisten von jeher Fühlung mit der Sprachvergleichung gesucht und behalten haben. Ja, hier ging Jakob Grimm voran, der mit Recht als ein Mitbegründer der neuen Sprachwissen­

schaft gilt; und einzelne Vorläufer wie JAKanne und Rask haben noch vor dem Auftreten Franz Bopps (1816) eine vergleichende Methode angewendet und damit der germanischen Sprachforschung die neuen Wege eröffnet.

Aber Grammatik läßt sich auch ohne Beherrschung einer Vielheit von Sprachen lernen und bis zu einem gewissen Grade sogar lehren. ChrALobeck und PhButt- mann sind hervorragende Grammatiker gewesen, ohne über das Griechische und Lateinische hinauszugehen; und FrBücheler hat in seinen meisterhaften Unter­

suchungen zum Altlatein und den italischen Dialekten stets fremdes Beweismaterial außer Griechisch anzuführen vermieden. Ein moderner Sprachvergleicher verzichtet auch hierauf (MNiedermann, Histor. Lautlehre des Lat., 2 Heidlbg. 1911). Für Syn­

tax und Stil müssen sich die Beobachtungen und Belege zunächst durchaus in enger Beschränkung halten. Das ist sogar in den höchst anregenden Beobachtungen über den homer. Sprachgebrauch von JohClassen (Frankf. 1867) der Fall, die doch natur­

gemäß mit der Erklärung der ältesten syntaktischen Erscheinungen der Griechen zugleich Licht auf präliterarische | Sprachgewohnheiten werfen. So ist Mitarbeit am Ausbau der Grammatik in engerem Kreise noch heute jedem Philologen möglich.

Freilich bedarf es guter grammatischer Schulung. Ein tieferes Eindringen in tran­

szendentale Zusammenhänge, besonders in die prähistorischen Zustände der Einzel­

sprachen, ist wohl durchweg ohne Sprachvergleichung und spezielle grammatische Schulung unmöglich. Die überraschende Erklärung von TaÜTa ecxi als Kollektivums (statt Neutr. Plur.) mit dem Singular konnte nur ein hervorragender Sprachforscher wie JohSchmidt auf Grund eines weitschichtigen Materiales finden (Die Pluralbü- dungen der idg. Neutra, Weimar 1889), ebenso daß loca ursprünglich nicht der Plural sondern das Kollektiv zu locus, loci gewesen sei, und endlich den weittragenden Schluß, daß das Neutrum in einer älteren Sprachschicht der Indogermanen noch

sprachen, ist wohl durchweg ohne Sprachvergleichung und spezielle grammatische Schulung unmöglich. Die überraschende Erklärung von TaÜTa ecxi als Kollektivums (statt Neutr. Plur.) mit dem Singular konnte nur ein hervorragender Sprachforscher wie JohSchmidt auf Grund eines weitschichtigen Materiales finden (Die Pluralbü- dungen der idg. Neutra, Weimar 1889), ebenso daß loca ursprünglich nicht der Plural sondern das Kollektiv zu locus, loci gewesen sei, und endlich den weittragenden Schluß, daß das Neutrum in einer älteren Sprachschicht der Indogermanen noch