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A ischylos aus dem einstigen Priesterstaate Eleusis wurzelt noch ganz in der archaischen Kunst und in der Zeit des werdenden Athens. Er kannte die

DIE GRIECHISCHE POESIE1)

2. A ischylos aus dem einstigen Priesterstaate Eleusis wurzelt noch ganz in der archaischen Kunst und in der Zeit des werdenden Athens. Er kannte die

üppig fröhliche Peisistratidenzeit noch wenigstens aus Kindheitserinnerungen, die Kämpfe um die innere und äußere Freiheit hat er miterlebt, hat selbst den Sturm bei Marathon mitgerannt, bei Salamis den Rauch seiner Heimat gesehen, sein Vater­

land wiedererobert und neu gegründet und zugleich ein weites Reich.- In diesen schweren Jahren sind ihm Gottheit und Staat als sittliche und deshalb unbesieg­

bare, ewige Mächte aufgegangen. Und ein Lehrer seines Volkes durchdringt er mit dieser selbsterrungenen Weisheit Religion und Sage oder formt sie nach ihr mit festen Händen um. Aus langen Chorgesängen mit kurzen Reden dazwischen, ora­

torienartigen Vorführungen mit schwankendem Inhalt, hat Aischylos ein festgefügtes Kunstwerk geschaffen mit der Heldensage als Inhalt, lebendig vor den Zuschauern sich darstellende Bilder tatkräftiger Menschen. In seinen älteren Tragödien, Hike- tiden und Persern (472) beginnt und schließt der Chor. Fast die Hälfte ihrer Verse gehören ihm, und weit größer mußte sein Anteil bei der Aufführung erscheinen, da Tanz und Gesang längere Zeit fordern als Rezitation. Es gibt in diesen Tragödien Teile, wo lange Chorgesänge nur von einer einzigen kurzen Rede eines Schauspielers unterbrochen werden (Hiketiden 605ff. Perser 598 ff.), wo der Dialog zur Hälfte vom Chor gesprochen wird. Chorgesang voll Empfindung und Betrachtung, eine musikalisch poetische Stimmung steht noch im Vordergründe des Interesses, wie sie in den Tragödien des ä lte re n P h ry n ic h o s (MiXiyrou äXwcic wohl 4 9 3 ,Ooivicccu 476) durchaus geherrscht zu haben scheint. Die Handlung tritt noch nicht als solche hervor, das Stück beherrschend und erfüllend, sie ist weniger um ihrer selbst willen 'da, als um Gelegenheit für Chorgesänge zu schaffen. In den 'Hiketiden’

(vor 472) fleht der Chor der Danaiden, vor den begehrlichen Aigyptossöhnen ge­

ilohen, am Götteraltar den König von Argos um Schutz an, und von den Ver­

folgern erreicht und gepackt, werden sie von ihm verteidigt. In den Persern (472) bringt ein Bote der Mutter des Xerxes die Trauerkunde seiner Niederlage und Flucht, ratlos ruft sie mit Totenzauber den Gatten Dareios aus dem Grabe,

297/298] Anfänge der Tragödie. Aischylos 155

[298/299 und würdig gefaßt geht sie, geht der Chor der Alten, den geschlagenen Xerxes zu empfangen.

458 hat Aischylos sein letzes W erk aufgeführt: die 'Orestie’ . Eine weite Ent­

wicklung hat er die Tragödie in diesen 24 Jahren durchmachen lassen. In dieser Trilogie beginnt jedes Stück mit einem Vorspruch, TTpöAoyoc, der dialogisch aus­

gestaltet ist. Erst dann zieht der Chor ein (Ttapoboc). Der Schauspieler hat den Vorrang erreicht: er ist Träger der Handlung, er tritt sogar musikalisch in Kon­

kurrenz mit dem Chor: in großen Gesangspartien hält ein Schauspieler den Gegen-1 part gegen Chorstrophen. In der Orestie hat Aischylos noch einmal die ganze Pracht und Macht der Chormusik und all ihre Stimmung schaffende und beherrschende W irkung zusammengefaßt, und neben sie im vollendeten Gleichgewicht hat er die entfaltete Kunst der Schauspieler gestellt. - Den siegreich heimkehrenden Heer­

könig Agamemnon erschlägt sein Weib Klytaimestra hinterlistig im Bade, mit ihm Kassandra, und mit eherner Stirn blutbespritzt verteidigt die Furchtbare die Mord­

tat und ihr Recht auf sie, bis ihr feiger Buhle Aigisthos, des Erschlagenen Tod­

feind, mit gewaffneter Schaar Besitz ergreift von Thron und Land. - Den Mord des Vaters rächt sein Erbe Orest, in der Fremde herangewachsen, durch Apolls Spruch getrieben: unter der Maske eines Boten, der den Tod des Orest zu melden hat, nur von der Schwester Elektra erkannt, dringt er ein, erschlägt den Aigisth, er­

schlägt die eigene Mutter. Doch kaum fließt ihr Blut, da schreit es ihn an: 'Deine Mutter hast du gemordet!’ und wahnsinnig stürzt er davon. - NachDelphoi ist Orest geflohen in den Schutz Apolls, der ihm die Rache geheißen; der Chor der Eume- niden, entsetzlich zu schauen, umlagert den Gehetzten. Der reine Gott führt ihn aus den eingeschläferten Verfolgerinnen hinaus nach Athen. Dort spricht das von Athene eingesetzte Blutgericht des Areopags den Orest mit gleichen Stimmen frei;

die wütenden Eumeniden werden von Athene durch Stiftung ihres Kultes am Ares­

hügel versöhnt. — Nur im letzten Stücke tritt der Chor noch einmal wie früher als selbständige Partei neben die Schauspieler, sogar als die handelnde. Aber das Interesse liegt auch hier nicht mehr auf ihm, wie in den Hiketiden, sondern durch­

aus auf Orestes. In noch viel höherem Grade aber ist Orestes der tragische Held im zweiten Stücke, den 'Choephören’ : die Qual seines Gewissenskampfes ist die Angel dieser Tragödie. Die letzte Steigerung des Dramas hat Aischylos damit vor­

bereitet, in die Seele hinein die Handlung zu verlegen. Aber Aischylos hat d ie s e n Weg nur gewiesen, noch nicht zum Ziele durchschritten. Ebenso hat er das dramatische Element der Tragödie entwickelt, besonders stark in diesem seinem letzten Werk, wohl durch den jungen 468 aufgetretenen Sophokles ange­

regt, aber das reine Drama hat erst dieser geschaffen; Aischylos, der gelernte Chor­

meister, konnte als Greis von seiner Kunstweise nicht mehr lassen, dem Mutter­

grunde der Tragödie, der Kunst des Chorgesanges mit seiner lyrisch-musikalischen Stimmung. Deshalb ist die Orestie das wundersamste W erk der antiken Poesie überhaupt, es vereinigt die höchsten lyrischen Errungenschaften der Vergangenheit mit den Keimen einer Zukunftskunst durch geniale Schöpferkraft zu einem gran­

diosen Vollakkord. Eine furchtbare düstere Sage führt er in einfachster drama­

tischer Gestaltung vor: Heimkehr des Königs, Hinterlist des Weibes, Gewalttat;

Rache des Sohnes an der eigenen Mutter; Blutschuld des Mörders und Sühnung.

Aber die unmittelbare und doch nie sich abstumpfende W irkung hätte er nicht er­

reicht ohne seine Lyrik, die im Zuhörer jene Stimmung erregt, in der erst die vorgeführ­

ten Taten und Leiden recht wirksam werden. Von den ersten Worten des'Agamemnon’

156 Erich Bethe: Die griechische Poesie

an, die der nach dem Siegesfanal spähende Wächter auf dem Dache spricht, legt sich eine dunkle Wolke ahnungsschwer auf die Seele des Zuschauers. Und schwerer wird sie und dunkler mit jedem Chorgesange. Sieg und Heimkehr und Freude sollten sie künden, aber alle fallen sie in den dunklen Grundton mit dumpfem Moll schauernd zurück. Die schwüle drückende Gewitterstimmung erreicht ihre höchste Steigerung in der Kassandrascene: was die Menschen dunkel geahnt, die Prophetin enthüllt jäh alle Greuel der Vergangenheit, alles Entsetzen der nächsten Zukunft. Wie [ ferne Blitze in heißer Gewitternacht zucken ihre zackigen Orakelsprüche von den lallenden Lippen. Eine dumpfe Pause. Dann gellt Agamemnons Todesschrei. Das Unwetter brach los. — Allein auf die lyrisch-musikalische W irkung ist die erste Hälfte der 'Choephoren’ gestellt: dumpfer Schmerz, Rachedurst und Grauen vor dem Mutter­

morde erfüllen die langen, bangen Gesänge am Grabe Agamemnons; nichts von Handlung. Sie drängt sich im zweiten Teil zusammen: Vorbereitung und Ausführung der List, dazwischen in derbem Realismus die jammernde Amme, die so oft dem kleinen Orest die beschmutzten Windeln gewaschen, und der frechbrutale Aigisth, dann im Dämmern der Nacht sein Mord, und Klytaimestra mit dem Beil in der Hand dem eigenen Sohne, dem Rächer gegenüber - sein Schwert bebt vor der Mutterbrust zurück, da tönt ihm Apolls Befehl in die Ohren, er stößt zu; endlich Orest, wie er dem Volk die Befreiung verkünden, seine Rachetat rühmen will und, vom Entsetzen des Muttermordes gepackt, sinnverwirrt angstschreiend davon­

stürzt.

3. Sophokles. Fünfzehn Jahre und mehr liegen zwischen Aischylos’ letztem W erk, der Orestie von 458, und der ältesten erhaltenen Tragödie des Sophokles, Antio-one etwa von 441/0, und des Eurípides Alkestis von 438. Der Chor ist dem Drama untergeordnet, nie bestimmt er mehr die Handlung, er greift auch kaum noch ein. Bei Sophokles füllt er ihre Pausen, aber nicht derart, daß seine Lieder ohne Schaden fehlen könnten, sondern immer oder fast immer erlebt der Chor die Handlung mit und begleitet sie mit dem Ausdruck seiner Gefühle, und nicht selten wird vom Dichter die dramatische Spannung durch eine der Erwartung gerade entgegengesetzte Stimmungsäußerung des Chors noch erhöht. Eurípides aber geht schon früh in seinen Chorliedern aus dem Kreise der Handlung öfter heraus und erfüllt sie dann mit dem, was sein eigen Herz bewegt; in seiner letzten Periode behandelt er den Chor öfter als Lückenbüßer ohne innere Teil­

nahme; aber in seinem postumen W erk, den Bakchen , hat er ihn noch einmal fast zu alter Pracht in Liedern voll wilder Leidenschaft und taumelndem Orgias- mus erhoben. Durch Sophokles ist der Schauspieler ausschließlich Träger der Handlung geworden, das Ringen der Personen miteinander und in sich selbst ist jetzt die Tragödie. Der Umschwung der Zeit stellt sich dar: das Individuum in seiner freien Selbstbestimmung und seiner Qual, nicht mehr die allgemeine Empfindung der Masse beherrscht das Interesse. Auch der Staat erkennt die nunmehr herrschende Stellung des Schauspielers durch Zuerkennung eines Preises in besonderem Schau­

spieleragon seit 449 an.

S o p h o k le s hat im ältesten erhaltenen Stücke, der 'Antigone’ von 441/0, seinen Stil und sein Wesen zum abgeklärten Ausdruck gebracht, damals fast ein Fünf­

ziger, und wenn er in seinen späteren Tragödien mehr oder weniger von den neuen Formen und Effekten, die Eurípides einführte, aufgenommen hat, so ist eine tiefer greifende Entwicklung doch nicht wahrzunehmen. 'Antigone’ und 'König Oidipus

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stellen seine A rt am besten dar und sind wohl seine vollendetsten Werke, zumal der Oidipus, dramatisch das Meisterstück der Antike.

Das Drama, die Vorführung einer in sich geschlossenen Handlung, verständlich in allen Motiven und in allen Folgen sichtbar wirksam, hat Sophokles mit Bewußt­

sein und Folgerichtigkeit ausgebildet. Er stellt den Kampf eines Menschen gegen die Welt, gegen List und Bosheit, gegen Gewalt und physischen Schmerz, gegen Staatsgesetz und Schicksal greifbar lebendig dar, den Kampf des selbstbewußten Individuums, seine Auflehnung, sein Ringen, Unterliegen, selten Versöhnung. Im rAias’, obgleich wahrscheinlich nach der Antigone aufgeführt, auch in der Anlage noch altertümlich, hat er weder diese Aufgabe klar erfaßt, noch die Einheitlichkeit erreicht, die er auch später gelegentlich, wie in den Trachinierinnen, einbüßt. Aias hat schon, vordem das Drama einsetzt, den entscheidenden Stoß erhalten durch seine beleidigende Zurücksetzung seitens der Achaeer; sein Geist ist schon zer­

rüttet, sein Untergang gewiß; in der Mitte der Tragödie setzt ein neues Motiv ein, der Kampf des Teukros wider die Feinde des Aias um seine Leiche und seine Ehre.

Die Einheit der Person und aller Momente der Handlung, zugleich eine unmittelbar mit der Exposition beginnende Spannung, die fortdauernd sich steigert, eine immer mehr sich erhitzende Leidenschaft, immer heftigerer Kampf und immer größere Vereinsamung des schuldig werdenden Unschuldigen ist im K ö n ig O id ip u s erreicht mit unvergleichlicher Kunst der Komposition und der Charakteristik: keine Scene, kein Vers, die nicht auf den e in e n Zweck gerichtet wäre, kein Augenblick des Nachlassens und doch keine peinigende Qual des Zuschauers, ein ruhiges, mächtig breites Wogen; noch unmittelbar vor der Katastrophe aufatmende Hoffnung und dann diese einzig grandiose kurze Scene der Entdeckung: knappeste Frage und Ant­

wort, Vers auf Vers, schließlich atemlose Halbverse; vernichtend prasseln die Blitze nieder, zündend jeder, Schlag auf Schlag. Und aus dem Schweigen des Entsetzens tönt dann über die Vernichtung hin das düstere Chorlied iw Yeveal ßpoTÜuv, wc upäc ica K a i t ö ¡upbev Zxücac evapiOpw, die Seele im Tiefsten rührend mit seiner schlichten Einfachheit des Gedankens, der Empfindung, des Ausdrucks in W ort und Rhythmus.

Breit tönt im Schlußteil der Jammer aus. — Auch einem Sophokles gelingt das Höchste nur einmal. Ein Götterliebling hat er in Kunst und Leben den Idealtypus der größten Zeit Athens zur Darstellung gebracht. Ihm walten noch die Götter seines Volkes als sittliche Mächte seligen Daseins unbezweifelt, ihm, dem Genuß­

frohen, liegt die W elt in ihrer Schönheit offen, und er genießt sie, weil er ihre Abgründe und ihre Schmerzen kennt; in sicherem Gleichgewicht seiner Seele dient er dem Staate in Krieg und Frieden zur Zeit seines höchsten Glanzes und bleibt seinem Vaterlande treu auch im tiefsten Unglück, unerschüttert im Glauben, und heiteren Geistes formt er in maßvoller Schönheit das Leid der Menschheit und den Glauben seiner Seele zu Tragödien voll Furcht und Mitleid sich selbst zu erlösen und sein Volk zu erheben, das ihm dankbar Preis auf Preis zuerkannte.

4. Euripides ist in allen Stücken der Gegensatz seines Mitbewerbers Sophokles gewesen. Wohl niemals im Staatsdienst tätig, ungeselliger Grübler, innerlich zerfallen mit der Religion seiner Väter, erfüllt von Zweifeln und Gedanken der neuen Zeit, hinausstrebend aus der Enge der Stände und des Staates zu kosmopolitischen Ideen der Gleichberechtigung aller Menschen und der Gleichwertigkeit von Freien und Sklaven, Griechen und Barbaren, im Tiefsten ergriffen vom namenlosen Elend der Unterdrückten, gedrängt von nie rastendem künstlerischen Gestaltungstriebe, ge­

158 Erich Bethe: Die griechische Poesie [300/301

301/302] Sophokles. Euripides 159 quält vom Schmerz unverdienter Zurücksetzung und unbefriedigtem Ehrgeiz, hat er nach fünfzigjährigen Mühen und Kämpfen, von seinem Volke nicht gewürdigt, von der Komödie verhöhnt, verzweifelnd an seinem Vaterlande, im Jahre 408 Athen ver­

lassen und eine bessere Stätte für sein Wirken in die W elt und in die Zukunft ge­

sucht beim mächtigsten Griechenkönige der Zeit Archelaos von Makedonien, auch darin voranweisend in die Zukunft. Erst die Folgezeit hat ihn verstanden und be­

wundert und geliebt, wie keinen zweiten Dichter neben H om er.'— Die Form der Tragödie hat Euripides wesentlich verändert. Je mehr er den Chor beschränkte, desto höhere und größere musikalische Leistungen legte er den Schauspielern auf.

Hatte schon Aischylos den Sprecher auch zum Singen angehalten, so hatte er seine | Gesänge doch stets an den Chor angelehnt. Solche kommatischen Kompositionen haben Sophokles und Euripides noch weiter im Interesse des Schauspielers aus­

gebildet, aber Euripides tat 438 einen entscheidenden Schritt vorwärts: er gab ihm in der Alkestis (v. 393) eine Soloarie. Die Soloarien hat er dann in glänzenden Effektstücken mit allen Mitteln einer neuen Musik ausgestattet, die sich damals im Dithyrambus ausbildet. Seit den zwanziger Jahren — schon in der Andromache — liebt er es, sogar den Prolog bereits mit einer solchen abzuschließen als musika­

lische Einführung der Parodos des Chors, die er in seinem letzten Jahrzehnt fast stets kommatisch umbildet. Auch den Dialog gestaltet er modern aus mit den Mitteln der sophistischen Dialektik, nach dem Vorbilde des Protagoras läßt er die entgegengesetzten Anschauungen im Redekampf (ötYuiv Xöyujv) das Für und W ider erörtern. — Die gährende Gedankenfülle der sophistischen Aufklärung und der ionischen Philosophie brodelt überall in seinen Tragödien. Aber keineswegs be­

stimmen sie ihm Weg und Ziel. Der Künstler sieht mit anderen Augen als der Forscher, er blickt in Tiefen, wohin niemals die Wissenschaft dringt. Es ist doch erst Euripides, der die Menschenseele bewußt in das Centrum der Poesie gestellt hat. Der Kampf in der eigenen Brust, die Wandlung der Seele in dem Ringen mit Wünschen, mit Zweifeln, mit dem Verhängnis, das ist das große Problem, das un­

endlich gestaltenreiche, das die große Mehrzahl seiner Tragödien geboren hat.

Aischylos hatte schon in dies weite Land geblickt: in seiner Promethie und Orestie taucht das Problem auf. Sophokles hat es nicht gefördert: seine Menschen treten schon mit gefaßtem Entschluß, mit fertigem Charakter in die Handlung ein und kämpfen, ihn durchzusetzen. — Erster Pfadfinder aber war Euripides als Entdecker der Frauenseele für die Poesie. In ihrer Gefühlsfeinheit, ihrer Weichheit und Hin­

gebung, ihrer Fähigkeit zum Leiden und zu heroischer Tat fand er die Möglichkeit, Seelenstimmungen und Leidenschaften zu zeichnen, die, wenn auch dem Manne wohl verständlich, ihn doch nicht mit so elementarer Kraft erfüllen und aus sich selbst und seinen Bahnen reißen wie das Weib. Und zugleich fand er in dem Elend der wehrlosen, unterdrückten, mißhandelten Frau tragische Stoffe, die um so gewaltiger ans Herz griffen, weil der Dichter mit ihnen aus tiefster Überzeugung soziale Fragen stellte und im Sinne der Schwachen verfocht, Fragen, die das Leben der Familie und des Staates umgestalten mußten.

Medea, die alles dem Geliebten in leidenschaftlicher Hingebung geopfert, von ihm in kaltem Eigennutz verraten, nun, um ihn am schmerzlichsten zu treffen, die Kinder mordet, die sie ihm gebar — Hekabe, die ihre Königsburg rauchen, ihren Gatten und ihre Söhne erschlagen, ihre Töchter fortschleppen und Polyxena schlachten gesehen, selbst Sklavin des verhaßtesten der Sieger, die das alles ertragen hat und doch nicht gebrochen ist von all dem Herzeleid, weil noch ein letzter Sohn ihr lebt

160 Erich Bethe: Die griechische Poesie [302/303 und mit ihm die Hoffnung auf Rache, diese Greisin plötzlich zur rasenden Löwin umgewandelt, als auch dieser letzte getötet ist, vom falschen Gastfreund umgebracht - Kreusa (im Ion), die von Apollon verführt und ihres Sohnes beraubt, dann in kinderloser Ehe mit Xuthos das Geheimnis in sehnsüchtigem Herzen lange Jahre verschlossen tragend, endlich, als Apoll sie zum zweitenmal hintergeht, in wutbebende Anklage ausbricht und zu wahnsinniger Tat greift - Phaidra (im Hippolyt) an der Seite eines ungeliebten oft entfernten Gatten in heimlicher Liebe zum schönen, keusch-stolzen Stiefsohn entbrannt, hinsiechend im endlosen Kampf zwischen Wunsch und Pflicht - Herakles auf der Höhe seines tatenfrohen Ruhmes zu gräßlichster Bluttat gerissen und aus den Trümmern seines Glückes und zerreibender Seelenqual auf-|

gerichtet zur Arbeit, zum Leben - das sind Gestalten, die ihresgleichen nicht haben in aller älteren und zeitgenössischen Literatur, Gestalten, die aber den folgenden Jahrhunderten nicht wieder verschwunden sind und weit über das Altertum hinaus unabsehbar gewirkt haben und heute noch wirken. Die große Zahl seiner ernaltenen Tragödien, die reiche Ausbeute, die die Reste antiker Bücher gerade für Euripides liefern, beweist seine Verbreitung und seine Beliebtheit bis ins späte Altertum.

Besonders von seiner Antiope (PapFlindersPetrie 1891, lff.) und Hypsipyle (Pap Oxyr. VI, London 1908, 19ff.) sind große Stücke gefunden.

Weder von der Stärke noch von der Vielseitigkeit der W irkung des Euripides können w ir uns die rechte Vorstellung machen. Sie blieb nicht auf die Tragödie beschränkt, die Komödie nahm von ihm, seine Soloarien wurden isoliert und in musikalisch mimischem Vortrag dargeboten, ja es gibt wohl kaum eine poetische Gattung, auf die Euripides nicht irgendwie gewirkt. Etwa ein Siebziger, gab er 41 2 noch der kommenden Dichtung das Leitmotiv in seiner Andromeda. Da hat ei als Erster die plötzlich zündende Liebe, die heilige Hingabe des Jünglings an das Mädchen, des Mädchens an den Jüngling mit hinreißendem Schwünge darzustellen gewußt. Die W irkung wurde noch gesteigert durch die heroische Romantik, die er über dies Drama mit feuriger Phantasie und allen Mitteln der scenischen Technik ausgegossen hatte. Die ans Felsgestade gefesselte Andromeda erwartet bebend das Meerungetüm, dem sie als Opfer bestimmt ist. Da schwirrt es in den Lüften.

Perseus, der Gorgonensieger, läßt sich zu ihr herab, erfährt ihr Schicksal; Mitleid faßt ihn’; in höchster Gefahr reißt Liebe ihre Seelen zusammen, mit dem Gebet an Eros stürzt sich Perseus dem Ungetüm entgegen, befreit die Geliebte, verteidigt sie

Perseus, der Gorgonensieger, läßt sich zu ihr herab, erfährt ihr Schicksal; Mitleid faßt ihn’; in höchster Gefahr reißt Liebe ihre Seelen zusammen, mit dem Gebet an Eros stürzt sich Perseus dem Ungetüm entgegen, befreit die Geliebte, verteidigt sie