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Europa und sein Osten aus geopolitischer Sicht

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Academic year: 2021

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Europa und sein Osten aus

geopolitischer Sicht

Rocznik Integracji Europejskiej nr 2, 7-20

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ROZPRAWY I ARTYKUŁY

HEINZ TIMMERMANN

Berlin

Europa und sein Osten aus geopolitischer Sicht

1. Aspekteder EU-Ostpolitik

Nach Beendigung desKaltenKriegs sowie derAuflösungder Sowjetunion und ihres Bündnissystemshat die„Ostpolitik“ derEUund ihrer Mitgliedsländer eine völ­

lig neueBedeutungerfahren. Galt es zuvor, imZeichenderfriedlichen Koexistenz beifortbestehendenideologisch-gesellschaftlichen Gegensätzen diepolitisch-militärische Entspannungmit der Sowjetunion und ihren Satellitenzu fördern, so geht esjetzt vor allem darum,über die mittlerweile EU-integrierten Länder Ostmitteleuropas hinaus die europäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf verschiedene Weise in ein größeres Europaeinzubinden. Gemeint sind das neue Russland als auch weiterhin einflussreicher Akteurin der Regionsowie die „Neuen Nachbarn“ der erweiterten

EU, nämlichdie Ukraine, Moldau und potentiell auch ein sichdemokratisierendes Belarus (sowie ergänzend die südkaukasischen Länder Armenien, Georgien und

Aserbaidschan).

Das istinsofern schwierig, als die Konstellationenim Osten fließend, ungefestigt

und von der Suche nach nationaler Identitätgekennzeichnet sind.Auch heute, 17 Jahre nach dem Ende der Sowj etunion, ist dieser Prozeß keineswegs abgeschlossen. Undwie

das Scheitern desVerfassungsvertrags und jüngst die Blockade des Lissabonner Re­

formvertrags der EU demonstrieren, trifftdiese Offenheit auf spezifische Weise auch auf dieEUzu. Somitbleiben diezukünftigeinternationale Orientierung der EU, Russ­ lands und der LänderOsteuropassowiederen wechselseitige Beziehungen undgeo­ politische Ambitionen auch weiterhin ungewiss. Wird die EU der strategischen

Partnerschaft mit Russland neueImpulsegeben sowieinnere Kohärenz und Erweite­

rung nach Osten miteinander kombinieren können? Wird das neue Russland eine russ-ländische Nation, eine postkommunistischeHegemonialmacht oder ein europäischer

Staat,und welchen Platzsieht es für sich in einem „GrößerenEuropa“? Werdendie Länder Osteuropas ihre geopolitischeOrientierung auf dieEU und das transatlantische Bündnis erfolgreich weiterverfolgen oderwerden sie dabei auf verschiedene Hinder­

nisse stoßen? Wie können derAufbau privilegierter Partnerschaften der EUmit den postsowjetischen Ländern Osteuropasodergar ihre Integration in Einklang gebracht werdenmitguten Beziehungen zu Russland, dasin dieser Region auch weiterhin Do­ minanzansprüchegelten macht?

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Zu diesen Ungewißheiten treten mit Blick auf dieneueOstpolitik der EU gewisse Fehlkalkulationen hinzu. Russland werde sich, so die ursprünglichen Vorstellungen,

nach einerPhase erfolgreicher Systemtransformationund zügigen Strukturwandels in den Rahmen der liberal-demokratisch geprägten Staaten und ihrWertesystem einord­

nen und somit„werden wie wir“. Die Mitgliedschaft Russlandsin OSZE und ERschie­

nen solche Erwartungenebenso zu rechtfertigen wie entsprechende Bestimmungen des 1997 in Kraft getretenen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens (PKA). Heute sehen wir: Russland istfür die Außenwelt überraschend schnell zu einer eigenständi­

gen, selbstbewussten Großmacht aufgewachsen, die imZeicheneiner „souveränen Demokratie“ die Prinzipien ihrerinnerenGestaltung selbstdefiniertund - so Außenmi­ nister Lawrow - außengelenkte regimeändemde „Demokratisiererei“

(demokratisa-torstwo) energisch zurückweist.

Die Neuen NachbarnOsteuropasihrerseitsund deren tiefgreifende Neupositionie­

rung gerieten erstrelativspät in dasBlickfeld der EU: Die Union räumtedemAusbau ihrer Beziehungen zum neuen Russland zunächst deutliche Priorität ein undakzeptierte

de factoden Anspruch Moskaus,alsselbsternannteStatus-quo-Macht einedominante

Rolle impostsowjetischen Raum zu spielen.Die Osteuropäer ihrerseitssahen aufgrund

ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit, ihrerhistorischen Bindungen undihrergeopoliti­ schen Nähe zunächst keine Alternative zu Russland als ihrem zentralen Bezugspunkt.

Erst das Vorrücken der EU bis andie Grenzen Osteuropas Anfang des neuenJahrhun­ derts lenktedieBlickeverstärkt auf dieseLänder und gab Anstoß zurEntwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik(ENP). Umgekehrtbot sich den postsowjetischen Ländern im europäischen Teil eine Alternative, dieihre Beziehungenzur EUqualitativ veränderte. Damit wurde eingeopolitischerProzessangestoßen, der überdie Zuord­ nung dieser Länder nahezuzwangsläufigzu wechselseitigen Fehlperzeptionenund zu

der bis heuteanhaltendenIntegrationskonkurrenzEU-Russland führte.

FürRussland, das sichPräsident Medwedjew zufolge der„euro-atlantischen Fami­

lie“ zugehörigfühlt,gilt die EU alszentraler Modemisierungspartner mit dem Schwer­

punkt auf derWirtschaft, nicht jedoch als Modell politischer und gesellschaftlicher Transformation. Statt einer unter Jelzin anvisiertenIntegration in dieEU sucht Moskau

heute den Aufbau eines „Größeren Europa“ in Form einer lockeren Assoziationzwi­ schen zwei gleichberechtigtenPartnern: der EU einerseits undeineraufRussland bezo­ genen Staatengemeinschaft im Osten Europas andererseits. Moskau unterscheidet

somit deutlich zwischen Europa und der EuropäischenUnion. DieLänder Osteuropas dagegen sehenheute-Ausnahme zumindest vorerst: Belarus- in der Union den zen­ tralen Partner für umfassende Transformationmitderlängerfristigen Perspektive einer

Mitgliedschaft, wasauf eine deutliche Verschiebungder geopolitischen Einflussshäre

zugunsten der EU hinauslaufen würde.Wird die EU dem wiederstarkenden Russland auf gleicher Augenhöhe begegnen? Wird sie in der Lage sein, dieNeuenNachbarn ver­

stärkt an sich zu binden und schließlich sogar zu integrieren?Die Antwortaufdiese Fragenhängt ganz wesentlich vonder Kohärenz der Union selbst und der Harmonisie­

rung unterschiedlichergeopolitischer Konzepteunter ihrenMitgliedern ab.

Fraglos ist die EU geoökonomisch mittlerweile zu einem eigenständigen Akteur aufgewachsen undhat damit auch an globaler politischer und zunehmend auch militäri­ scherHandlungsmachtgewonnen. So wurde siezum stärksten Welthandelspartner und

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zumgrößtenGeber internationaler Entwicklungshilfe. Der Euro entwickeltsich neben demschwächelnden US-Dollar zur führenden Währung in der internationalen Finanz­ architektur. Hinzukommt: Über die GASP/ESVPist die EU weltweit in insgesamt 13 Konfliktregionen aktiv, wobei siebei ihrem umfassendenEngagementmilitärische Mittel nur als ultima ratioanwendet. Die Union verfügtdamit über eine Vielzahl diplo­ matischer, handelspolitischer, entwicklungspolitischer,justizieller, polizeilicher und

militärischer Instrumente.

Dennochist dieEU vorerstnureingeschränkt inder Lage, aufderBasis

konzepzio-neller Gemeinsamkeitenauch geopolitischgeschlossenzu handeln. So haben gerade

die früheren Erweiterungen,insbesondere diej enige nachOstmitteleuropa und dem öst­ lichenBalkan, einerVertiefung der Integration als Voraussetzungfür geschlossenes

Handelnnach außen enge Grenzen gesetzt. Währendder Kem der „Altmitglieder“ mit Deutschland, Frankreich und Italien durchaus bereit ist, zwecks Steigerung der EU-Stoßkraft auchin sensitiven Bereichen bis hinzur Außen-und Sicherheitspolitik Teile ihrer Souveränität in eingroßes Ganzeseinzubringen, wollen „Neumitglieder“

wiePolenund Tschechien grundsätzlich anihrer nationalen Souveränität festhalten.

Nichtberücksichtigtwirddabei, dass die damitverbundene Re-Bilateralisierung der EU-Außenbeziehungen auch beiden„Altmitgliedem“ Ambitionen zur Knüpfung von

Sonderverhältnissenweckt - hier insbesondere zuRussland. Für diePartner der EUim Osten hat diesunterschiedliche Konsequenzen: Russland bietet sich die Chance, die EUzu umgehenund derenMitgliedergegeneinander auszuspielen.Für die Osteuropä­

er dagegen bedeutet die Verweigerung vertiefter Integrationdurch dieNeumitglieder einen Dämpfer für ihre Beitrittsambitionen zur.

Problematisch für die Handlungsfähigkeit der EU-Ostpolitik sind ferner dieunter­ schiedlichenErinnerungskulturen bei den „Alteuropäem“ und den „Neueuropäem“ mitPolen und den baltischenStaatenan der Spitze. Dieunterschiedlichen Erfahrungen schlagen in einem „KriegderErinnerungen“ (Thomas Gomert) fühlbarauf dieaktuelle

Außenpolitik und hier insbesondere auf die EU-Beziehungen zu Russlanddurch und

unterminieren damit dieVerfolgung einer gemeinsamen Linie. So stehen - mitGünter

Verheugenzu sprechen, dem Vizechef derEU-Kommission - den langenpositiven

Friedens- und Wohlstandserfahrungen im Westen die „Traumata und Erfahrungen de­

rer gegenüber, für die der Kalte Krieg mit Fremdherrschaft und Diktatur einherging“.

Die Ängstevor demrussischen „Imperialismus“ sind lebendiger Bestandteil derpolni­ schen und baltischen Erinnerungskultur,dieaufgrund des spezifischen kollektiven Ge­

dächtnissesauch in Zukunft Wirkungskraftentfalten und dieOstpolitik der EU überihr

Vetopotential beeinflussen wird.Das ist durchaus verständlich:ImaktuellenRussland findet eine kritische Aufarbeitung der sowjetischenVergangenheit einschließlich ihrer Massenrepressionen undihrer nationalenUnterdrückung unter Stalin kaum nochstatt. Im Gegenteil, nicht selten giltdiesePeriode als Referenz für den heutigen Großmacht­

anspruch Russlands.

Wie starkdie unterschiedlichenErinnerungskulturen die aktuelle Politik belasten, demonstriert eindrucksvolleineinschlägiges Plädoyer von Außenminister Steinmeier. Darin engagiert ersich für offene und ehrliche Gespräche zwischen den Beteiligten

über dieschmerzhafte Vergangenheit und fragt: „Sind wirnichtsoweit, dass Historiker aus Russland,Polen, Deutschland und dem Baltikum eine gemeinsamekritische wie

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selbstkritische Anstrengung unternehmen, die unterschiedlichen nationalen Sichtwei­ senabzugleichen, mit denen wir immernoch aufdiegemeinsame Vergangenheit bli­ cken?“ Dies bleibt vorerst eher einekonkrete Utopie, wie entsprechendeWarnungen Medwedjews auf dem EU-Russland-Gipfel vom Juni2008 im westsibirischen Chan­

ty-Mansijskunterstreichen. Dort erhob er Proteste gegen „Tendenzen zu einer selekti­

ven Annäherung an unsere gemeinsame Geschichte“ und gegen eine„Entweihung der

Erinnerung des Sieges“ über den Nazismus. Zu gemeinsamer Erinnerung unter den EU-Staaten und zugemeinsamem Geschichtsverständnis alseiner wichtigen Voraus­

setzung für eine zukunftsbezogene gemeinsame Strategie gegenüberMoskau ist es nochein langer Weg.

Schließlichstößtdie Akteursqualität der EU nach Osten dadurch an Grenzen, dass die „Neueuropäer“in ihrer SicherheitspolitikSonderabkommenmit den USA gemein­

samem Vorgehen imRahmender ESVP Vorrangeinräumen. Das trifft sichmit Konzep­

tionen der USA, die ihre Politik gegenüber dem Osten Europas vorrangig unter

geostrategischenAspekten sehen undeher an einem Zurückdrängen Russlandsinteres­

siertsindals -wie die „Alteuropäer“ -an der Entwicklung einer europäischen Werten verpflichteten Partnerschaft mitdemLand. Die USA sehen, so scheintes,gerade auch

in ihrer Ostpolitik die EU eher als Juniorpartner und Legitimationsbeschaffer, nicht

aber als Mitspieler in einer ausgewogenen Partnerschaft, in der dieUnion im Konzert

der Mächte als eigenständigerFaktor mitwirkt.

Jüngstes Beispiel hierfür ist die geplante Stationierung von Komponenteneines

- vorgeblich gegen den Iran gerichteten - US-Raketenabwehrsystems inPolen (ersatz­ weise Litauen) und einer weit in den russischen Raum hineinwirkenden Hochlei­

stungs-Radaranlagein Tschechien.Beide Systeme werden vonRussland alsBedrohung

seiner Sicherheit und als Verletzung westlicher Zusicherungen wahrgenommen,nach

der Vereinigung Deutschlands und demNATO-Beitritt derOstmitteleuropäer seine Mi­ litärstrukturen nicht näher andieSowjetunion/Russlandheranzuführen.Wer garantiert,

dass dieZahl derRaketen undRadaranlagen einschließlichder dazugehörigenTrup­ penteile nicht wie bei der NATO-Erweiterung immer weitererhöht wird, fragt man sich

in Moskau; Gerüchten zufolge wirdsogar dieReaktivierung des Luftwaffenstützpunk­

tes Lourdes auf Kubaals eine unter mehreren„asymmetrischen“ Gegenmaßnahmener­ wogen. Gewiss steht es Polen und Tschechien völkerrechtlich frei, in bilateralen

Stationierungsverträgenmit den USA ihre spezifischenInteressen zuvertreten.Poli­

tisch jedoch spaltensiedamit dieEU und kommen -ähnlich wie anläßlichder im Irak- krieg geschmiedeten „Koalition der Willigen“ - Bestrebungen der USA entgegen,

durch Ausspielendes „alten“ gegen das „neue“ Europa eine eigenständige außen- und

sicherheitspolitische Identität undHandlungsfähigkeit der Union nicht zuletzt in Rich­ tung Osten zuunterminieren. Im Blick auf die Raketenabwehrist dieMarginalisierung

der EU und ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitikbemerkenswert.

In diesem Kontext liegt es an den Europäern selbst, durchvertiefte Integration, nachhaltige Kohärenzund eigenständiges Handelnnach außenihreAkteursqualitätzu

steigern. Notwendig ist eine Balance zwischen den eigenen geopolitischen Zielen, den transatlantischenBeziehungen und der Partnerschaft mit Russland. Zwarwird der Re­

formvertrag von Lissabon, sofern ervon allen Mitgliedern ratifiziertwird, auchimin­

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Angesichts der Interessenunterschiede zwischen „alten“ und „neuen“ Europäern dürf­

ten jedochbei der EU gerade im Blick auf ihre Interaktion mit dem Osten immer wieder

Probleme auftauchen, nicht zuletztimRahmen derbevorstehenden Ausarbeitung eines

neuen „Vertrags über strategische Partnerschaft“ mit Russland als Folgevertrag des

PKA.

2. EU-Russland: Eine schwierigePartnerschaft

Als Kem der UdSSR hatte Russland denZerfall seines Imperiums und seinen Ab­ stieg als Großmacht erlebt,wobei die Ausdehnungder NATOnachOsten in Moskau

zusätzlich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Westennährte. Inzwischen haben sich unter Putiniminternationalen Beziehungssystem fundamentale, keines­

wegs abgeschlossene Machtverschiebungen ergeben, in deren Folge Russland die Schwächeperiode seiner reaktiven Politik der 90er Jahre hinter sich ließ und zu einer ei­

genständigen, handlungsfähigen und selbstbewussten Großmacht inder internationa­

lenPolitik und derglobalen Wirtschaft aufgestiegenist. Russland istnicht nurfrei von Auslandsschulden und darinbegründeten Abhängigkeiten, sondern entwickelt sich

selbstin raschem Tempo zu einem Akteurauf deninternationalen Investitions- undFi­

nanzmärkten. Die MoskauerPolitik ist weder ideologiegeleitet(wiezu Sowjetzeiten)

noch ist sie wertebezogen (wieanfangs unterJelzin). Stattdessen orientiert sie sichan den von der Führung definierten kulturellen Traditionen und nationalen Interessen. Den zentralenMacht- und Einflussfaktor im Verhältnis zu Europa bildendieEnergie­ lieferungen („Energie-Geopolitik“) undnicht wie zu Sowjetzeiten dasMilitär. Dessen Etatmacht geradeden 15.Teil des US-Verteidigungsbudgets ausund soll nur in Maßen steigen: Das Tandem Medwedjew/Putin will die Lehren ausder späten Sowjetperiode ziehen, als überhöhteRüstungsausgaben das Systemökonomisch-sozial destabilisier­

ten und es schließlich zum Einsturz brachten.

Der Macht-und Einflussgewinn Russlands wird von dentransatlantischenBündnis­

partnerndurchausunterschiedlicheingeschätzt. Die USA schwanken im Zeichenihres

unilateralen globalen Herrschaftsanspruchs zwischen Kooperation, Nichtbeachtung

und Konfrontation. EinBeispiel für die „antagonistische Partnerschaft“ ist der Vor­ schlag vonVerteidigungsminister Gates vom Februar 2007, Russlandzusammen mit China, Nordkoreaund Iran in die Reihe der Problemstaateneinzuordnen. In die gleiche

Richtung weist die Aufforderung des republikanischen Präsidentschaftskandidaten

McCain, Russland ausder G8 zu entfernen. Gleichzeitig werden Pläne geschmiedet,

eine weltumfassende„Liga derDemokratien“ von mehr als 100 Staaten unter Ausschluss

des „revanchistischen“ Russland, Chinas und weitererals nichtdemokratischqualifizier­ ter Länderzu gründen. Letztlich soll die Organisation darauf hinauslaufen,als Konkur­ renz oder sogar Alternativezur UN zufüngieren und „humanitäreInterventionen“ der USA zu legitimieren.Doch wie sollen globale und regionale Konflikte ohne dieMitwir­

kung der genannten Outsider gelöst werden, lautet die Frageunter den Europäern. Die EU ihrerseits istmehrheitlich keineswegs an einem schwachen, an den Rand gedrängten Russland interessiert - einem Russland, das Instabilität über Osteuropa nachWesten verbreiten würde. Vielmehr zielt siedarauf, die „Alteuropäer“mehrals

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die „Neueuropäer“, dieeuropäischeGroßmacht RusslandalsberechenbarenMitspieler für vertrauensvolle funktionale Zusammenarbeit und internationales Krisenmanagement

einzubinden sowie der Partnerschaft durch Orientierung an gemeinsamen europäischen

Werten Dauer und Nachhaltigkeit zu verleihen. Tatsächlich sind die Beziehungen

EU-Russland seitdem Wiederaufstieg Moskaus zur Großmacht einerseitsvon enger

werdenden Interaktionenund Verflechtungen geprägt,wie sie zwischenbeiden Völ­

kernniemals zuvorinder Geschichte zu verzeichnen waren. Das betrifft den institutio­

nalisierten politischen Dialog in Form zweierjährlicher Gipfeltreffen ebenso wie die Bereiche Handel, Energie undInvestitionen sowieVernetzungen auf zivilgesellschaft­

licher Ebene. Die speziell vonRussland angestrebteund partiell bereits eingeführte wechselseitigeReisefreiheit unterstreicht diesen Befund.

Andererseitsist die Partnerschaft EU-Russland trotz der Vielzahl gemeinsamer In­

teressenund erfolgreicherInterdependenzen parallel zum Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht jedoch in eine Krise geraten. Zwar betreibt Moskau seine Politik nicht länger konfrontativ, hält aber mit Blick auf dieLänder Osteuropasauch weiterhin an

überkommenem Denkenin Kategorien wie „Einflusszonen“ und„Nullsummenspiel“

fest. Das einschlägige Engagement der EU gilt den Moskauer Führungskreisen als

neoimperiales Ausgreifen in dievon Russlandauch weiterhin als„domaineréservée“

betrachtete Region -und diestrotz der Weigerung der Union, den Osteuropäern die ge­ wünschteBeitrittsperspektive zugeben. Für Moskau hat das Denken in traditionellen geopolitischen Kategorien sowie entsprechender Druck auf die Länder des „Nahen Auslands“ (Beispiele: Prognosen eines Zerfalls der Ukraine, Boykott georgischer und

moldawischer Weine) paradoxe Folgen:Der russische Einflussgewinn in seinem „Fer­

nen Ausland“ korrespondiert mit starkenEinflussverlusten in seinem „Nahen Aus­

land“. UmihrenEinflussverlust abzubremsen - so gelegentlichhochrangige Moskauer Politikerwie Ex-Außenminister Iwanow-, müsse Russland seinerseits wie dieEUein

für die Partner desNahenAuslandsattraktives Gesellschaftsmodell entwickelnsowie

in der Zusammenarbeit dieganze Gesellschaftmitnehmen undnicht nur die an der Macht befindlichen Eliten. Wie lassen sich aus geopolitischer Sicht die EU-Russ- land-Beziehungen und deren Perspektiven umreißen,die2005 in den Wegekartenfür

die vier Gemeinsamen Gesamteuropäischen Räume (Wirtschaft, Inneres,Außenpoli­ tik, Bildung undKultur) anvisiert wurden und die in demkünftigenPKA-Folgevertrag präzisiertwerden sollen?

Gemeinsamer Wertekanon. Aus Sicht der EU bildet die schrittweise Realisierung

gemeinsamer Grundwerte und europäischer Prinzipien -Demokratie, Rechts Staatlich­

keit, Medienfreiheit, Menschenrechte - die Voraussetzung für politische Stabilität,

wirtschaftliche Effizienz und lebendige Zivilgesellschaft(„Sozialisation durch Interde­

pendenz und Zusammenarbeit“). Zugleich gewährleisten sie die feste Fundierung und

Nachhaltigkeit der Partnerschaft, beeinflussen sie doch aufunterschiedliche Weise sämtlicheKooperationsfelder. Autoritäre undnationalistische Trends in der russischen Innenpolitik schlagen auf die Außenpolitik des Landes und folglich auch auf die

EU-Russland-Beziehungen durch, gefährden vertrauensvolle, dauerhafte stabile Ko­ operation und bergen sogar erhöhtes Konfliktpotenzial in sich. Kritische Stimmen aus Europa beziehen sich daher keineswegsverengt nur auf Verletzung von Menschenrech­

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Die Moskauer Führung sieht diesbeiverbalen Bekenntnissen zu europäischen Wer­

ten anders, obwohl in der Verfassung von 1993erstmals in der russischen Geschichte der Vorrang der Rechte und Freiheiten des Menschen gegenüber dem Staat verkündet

wird.Dies geschieht aus zwei Gründen.Zumeinenführtsieihr Wiedererstarken nicht

zuletzt auf einen Bruch mitwestlichen Demokratie- und Wirtschaftsmodellen zurück,

wie sie in der Jelzin-Periode übernommen worden waren und den Abstieg Russlands

beschleunigten. Als konsolidierte GroßmachtistdieMoskauerFührung entschlossen, in patriotisch-nationalem Konsens an denspezifischenkulturhistorischen, ethischen und systemkonformen Traditionen und Werten Russlands festzuhalten. Auf dieser Grundlage giltes,die inneren Entwicklungen desLandesselbst zugestalten, um sozu

verhindern, dass die Europäer durchEtablierung eines „normativen Imperiums“ (Wla­ dimir Putin)den Charakter desSystemsin ihremSinne verändern und das Land damit in ihre Abhängigkeit bringen.

Zum andern wendet sichMoskau - insbesondere nach dem Umbruch inder Ukraine - gegen eine Allgemeingeltungeuropäischer Werte. Deren Realisierung wird als geo­ politische Expansion der EUmitdem Ziel wahrgenommen, über dasInstrument eines „demokratischen Messianismus“(so Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des Staats­

dumakomitees fürAußenbeziehungen) und einerImplantation farbigerRevolutionsvi­ ren die Machtverhältnisse im postsowjetischen Raum umzustürzen, Russland aus

seinem „Nahen Ausland“ zu verdrängenund inRussland selbst einenRegimewechsel

anzustoßen.Ähnliche Vorwürfe richten sich mittlerweileauch gegen die OSZE. Nicht

zufälligstützt Moskau trotzmassiverWahlmanipulationenweiterhindenunberechen­ baren Lukaschenko und dessen scharfautoritäres Regime inBelarus:Die Einleitung

demokratischer Transformationen würde, so die Wahrnehmung der russischen Füh­ rung, eine geopolitische Wende des Landes weg von dervorrangigen Orientierung auf Russland hin zu BestrebungenzurIntegrationin die EU zur Folge haben.

In diesem Kontext ist die Initiative Putins auf dem Lissabonner EU-Russ- land-Gipfel vom Oktober 2007 zu begrüßen, inBrüssel ein „Russisches Institutfür Freiheit und Demokratie“ zu gründen. Gewiß dürfte seine vorrangige Aufgabe darin bestehen, unter Hinweis auf spezifische russische Traditionen europäische Kritik an mangelnder Implementierung von Grundwerten zu begegnen und imGegenzug Fehl­ entwicklungenim Westen, darunter auch die Diskriminierung ethnischrussischer Min­ derheitenin den baltischen Staaten,offensiv aufzugreifen. Zugleich könnte das Institut

aber auch zueinemOrt kritisch-konstruktivenDialogs zwischen Vertretern von Regie­ rung, Opposition und Zivilgesellschaft aus Russland und Ländern der EUwerden,bei dem wechselseitige Fehlperzeptionen korrigiert,Fehlentwicklungen thematisiert und

im Blick aufFreiheit undDemokratie Zukunftsperspektiven aufgezeigtwerden. Ein­ seitiges Hebendes Zeigefingers in Richtung Russland wirkt eher kontraproduktiv.

Gemeinsamer Gesamteuropäischer Wirtschaftsraum. Diesergilt beidenSeiten als Kemund_Triebkraft der strategischen Partnerschaftsowie als zentraler Impulsgeberfür gegenseitige Verflechtung und Interdependenz. So gehen bei einemGesamtvolumen von 233 Mrd. Euro im Jahre 2007 (2003: 85Mrd.)57 Prozentder ExporteRusslandsin die EUund 6,2 Prozentder EU-Exporte nach Russland. Rund75 Prozent allerAus­ landsinvestitionen in Russland - allein 2007 17 Mrd. Euro- stammen ausder Union,

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den neuen Möglichkeiten sind jedoch zugleich neue Probleme in den EU-Russ- land-Beziehungen entstanden. Besondersgiltdies im Blick auf wechselseitige Investi­

tionen in strategischen Bereichen -geoökonomischeHebelwerden,so wechselseitige

Befürchtungen, zu geopolitischen Einflussfaktoren. In Deutschland und weiteren EU-Ländernwächst der Widerstand gegen entsprechende BeteiligungenRusslands, wobei der Telekommunikationssektor unddieEuropäischeLuft- und Raumfahrtindu­

strie im Mittelpunkt stehen.Ähnlichesgilt fürden Energiebereich, in dem Produktion,

Durchleitung undVerteilung auch deshalb voneinander getrennt werden sollen, um ausländischen (sprich: russischen) Konzernenmonopolistische Marktmachtbildung zu verwehren. Moskau seinerseits hat für Ausländer Beschränkungen von Investitionen in 42 alsstrategisch deklarierten Wirtschaftsbereichenundbeim Zugangzu Bodenschät­ zen vorgenommen.So dürften Regelungen auf dem Feld von Investitionen einen wich­ tigenPunkt bei den Verhandlungen über einen PKA-Folgevertrag sein.

Eine rasante Steigerung ist schließlich imWettbewerb um die Ausbeutung von Energiequellen und den Besitz von Leitungssystemen zu verzeichnen - im postsowjeti­ schenRaum unddarüber hinaus inder europäisch-afrikanisch-asiatischen Großregion.

Während dabei fürMoskau geoökonomische und geopolitische Konzeptionenim Vor­ dergrund stehen, hat für die EU dieDiversifizierung der Energielieferungen und damit

die Energiesicherheit hohen Rang. Wir brauchen einen Energiedialog,soAußenminis­ ter SteinmeierAnfang2007, „derdie Interessen von Produzenten, Konsumenten und Transitländem ausgleicht und einen Streitschlichtungsmechanismus einschließt“. Bis

dahin ist esnoch ein weiter Weg. Zum einen verweigert sich Russland (undähnlich übrigens auch Norwegen) einer Öffnung seiner Pipelinesysteme für ausländische

Benutzer, denendamitdie Durchleitungfür Erdgas aus Zentralasien nach Europa verwehrt wird. Und zum andern sucht Russland mit guten Erfolgsaussichten ein

EU-Pipelineprojekt von Zentralasien über die Türkei nach Europa („Nabucco“) zu

konterkarieren, und zwar durch dieVerlegung einer Pipeline(„South Stream“) mitei­ nem Durchleitungssystem unterdem Schwarzen Meer über Bulgariennach Zentraleu­

ropa und Italien. Die Chancen für Russland, über geoökonomische Expansion in Südeuropaseinen geopolitischen Einfluss inGesamteuropazusteigern, sind freilich nicht zuletzt eineKonsequenz derTatsache, dasssich dieEU trotz wiederholter Ansät­ ze auf eine einheitliche Energiepolitik nicht einigenkonnte.

Äußere Sicherheit._Auf wichtigen Feldern der internationalen Politik beziehendie EUund Russland gleiche oderähnliche Positionen. Zentrale Stichworte sind:effektiver

Multilateralismusin einem funktionierendenSystem internationaler Regeln und Insti­ tutionen,in denen die VN den Kembilden; gewaltfreie Konfliktlösungen im Nahen und Mittleren Osten; logistische Kooperation bei der Bekämpfüng der Taliban in Afghanistan.„Eine gesamteuropäische Friedensordnung und dieLösungwichtiger si­ cherheitspolitischer Probleme vom Baltikum bis nachNahost läßt sich nur mit und nicht ohne Russland erreichen“, heißt es in einem Strategiepapier des Auswärtigen

Amts vom September2006. Russlandseinerseits hat zu erkennengegeben, dass esauch Sicherheitsaspekte zu den Schlüsselthemen der EU-Russland-Beziehungen zählt. Dennkaum zufriedenstellend sei eine Konstellation, so der Moskauer ExperteDmitrij Trenin, „bei derdas größteLand des europäischen Kontinents außerhalb der Grund­ strukturen der regionalen Sicherheit verbleibt“. Derzentrale Grundhierfürliegtdarin,

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dass harte Sicherheitsfragen, die eigentlich außerhalb derEU-Kompetenzliegen,zu­

nehmend auch die EU und das EU-Russland-Verhältnis berühren. Stichworte sind u.a.:

RaketenabwehrinPolen und Tschechien, KSE-Vertrag in Gesamteuropa, dritte NA- TO-Erweiterung um UkraineundGeorgien.In diesemKontext könnte der von Med­

wedjew in Berlin und danach wiederholt vorgebrachte Vorschlag zurSchaffungeiner

die USA, Russlandund Europa übergreifenden europäischen Sicherheitsarchitektur „von Vancouver bis Wladiwostok“ in die Überlegungen für den anvisierten „Vertrag überstrategische Partnerschaft“ einbezogen werden.

Immerhin stießdie Anregung Medwedjews,nach intensiven Vorbereitungen einen entsprechenden Gemeinsamen„Europäischen Sicherheitsvertrag“ abzuschließen, wäh­ renddes Gipfels in Chanty-Mansijsk beiseinenBrüsseler Gesprächspartnerndurchaus

auf Interesse.In Wirklichkeit istsie keineswegs so neu, wie sie hierzulande meist prä­ sentiert wird: Bereits zuvor, im Juni 2007, hatten Außenminister Lawrowund andere

Spitzenvertreter dieBildungeines triangulären euro-atlantischenVerbundesim EU-Russ-land-USA-Format mit der Aufgabe vorgeschlagen, ein„Großes Europa ohne Trennli­ nien“ zu schaffen.

PKA-Folgeabkommen.Auf ihremGipfel von Chanty-Mansijsk einigten sich die EU und Russland auf den Beginn von Verhandlungen über die PKA-Folgeabkommen, nachdem Polenund Litauen nach insgesamt 18-monatlicher Blockadeihre Vorbehalte zurückgezogen hatten. In der Substanz solleneindie Hauptprinzipien der Zusammen­ arbeit umfassender Rahmenvertrag sowie einige Sektoralabkommen ausgearbeitet werden, wobeibeide Teile einrechtlich bindendes Gesamtwerkbilden.Während die EUdafür nach dem Beispiel des 150-Seiten starkenPKAein Vertragswerk aus einem

Guss bevorzugt - wohl auch, um den konkreten Projekten gleiches Gewichtzu verlei­

hen -, scheintsie zugleich offen für russische Vorstellungen zu sein. Diese sehen vor, einen kurzgefasstenRahmenvertragprinzipiellen Charakters auszuhandeln und diesem ein separates Sektorenabkommen in Form von Wegekarten beizufügen,die Medwed­ jew zufolge„den zentralen Mechanismus für die Kooperation zwischen Russland und der EU bilden und ihreEffizienz bewiesen haben“.

So verweistdie Absicht derPartnerzurNeufassung des Abkommens auf ihr fortbe­ stehendes Interessean einer vertraglichenFundierung ihrer Beziehungen. Tatsächlich könnteder neue„Vertrag überstrategische Partnerschaft“dazu beitragen, Misstrauen und Perzeptionsdifferenzen abzubauen, gemeinsamen Projekten einen profilierten Rahmen zu gebenund damit denbesonderen Charakter ihrer Beziehungenim Blickauf

die Bildung eines „Größeren Europa“oder eines „GemeinsamenEuropäischen Hau­ ses“ zubetonen, wie esMedwedjew in Anknüpfung aneine bekannte Formel Gorbat­ schowsnannte.Freilich wirddas Folgeabkommen einen anderen Charakter haben als dasPKA, das miteinemfragilen Trans formations Staat Russland abgeschlossenwurde, der sich westlichen Vorgaben und Wertenormen weitgehendanpassen musste. So wird

die damalige Übernahme europäisch geprägter Werte und die Harmonisierung der

russischen mit den europäischen Gesetzgebungsnormen durch einen mehrpragma­ tisch-operativen Ansatz derInteraktionunter Gleichberechtigten ersetzt.Auch wirdes

angesichts der Differenzen der Partner auf zentralen Feldern wie Wertenormen, Ener­

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sein, mitden wiedererstarkten Russland einen gemeinsamenNenner zu finden.Das gilt

um somehr, als die Ansichten zwischen den „alten“ und den „neuen“Europäern teil­ weiseerheblich voneinanderabweichen und die Vertragsverhandlungen daher von je­

dem Mitglied zurGeisel für die Durchsetzungseiner Partikularinteressen gegenüber Moskau genommen werden können. Werden sie nicht berücksichtigt, so droht das Scheitern derAusarbeitungdes ins Auge gefassten „Vertrags über strategische Partner­ schaft“: Neben dem Europäischen Parlament muss er schließlich von sämtlichen 27 Mitgliedern ratifiziertwerden. Angesichts der konfrontativen Konzeptionder natio­

nalistisch orientierten Kaczynski-Brüder,mit der sich Polen in der EU eher selbst iso­

lierthatte, wäredasproblematisch gewesen. Wie der von Warschau nunmehr ebenso wie von Moskau bekundete Wille zumAbbau der wechselseitigen Spannungen demon­ striert, ist die bürgerlich-liberale RegierungTusk entschlossen, wieder näher an den

mainstream derEU-Russlandpolitik heranzurücken.

Insgesamt istgleichwohlmitschwierigen und langwierigenVerhandlungen zu rech­

nen,diesich bis zu drei Jahre hinziehen können. Begleitet werden sie voraussichtlich von Integrationskonfliktenüber dieLänder Osteuropas, die in Moskau als„NahesAusland“

undinBrüssel als„Neue Nachbarn“ bezeichnet und von beiden Seiten nichtalsgemein­ sameNachbarschaft, sondern neutral als „angrenzende Gebiete“ wahrgenommen wer­

den. DenLändern dieser „Zwischenregion“ selbstwurde mit der wachsenden Ablösung

von Russland zunehmend bewusst, dass es fürsie mit der EU,die auf sie wachsende poli­ tische und wirtschaftlicheAnziehungskraftausübte, einen machtbalancierenden Faktor

und sogar eineAlternative zu Russland als ihrem bislangzentralenBezugspunkt gibt.

3.Die EU und die LänderOsteuropas: Eine halboffene Tür

ImZuge des EU-Beitritts der Länder Ostmitteleuropas2004 nahm dieEUmit ihrer

ENPeinenStrategiewechselvor - weg von der auf Russlandkonzentrierten Ostpolitik hin zu einer aufden gesamten Raum bezogene Einflusspolitik.Weder zielt sie damit auf

ein geopolitisches Ausgreifen noch auf eine Absorption ihrer osteuropäischen Nach­

barn nach demMuster eines Nullsummenspiels. Tatsächlichgeht esder EU darum, an ihrer Ostflanke politisch stabile,wirtschaftlichprosperierende, rechtsstaatlichverfasste und damit berechenbare Partner zuhaben.

Die zentralen Kooperationsfelder mitdenNeuen Nachbarn, fundiert in gemeinsa­ menWerten, können stichwortartigso umrissenwerden:Der politische Dialog umfasst Fragender Außen- und Sicherheitspolitik, derKonfliktprävention undder Krisenbe­

wältigung. Sollten die Osteuropäer übergefestigte demokratischeInstitutionen verfü­

gen, so kann darüber hinaus eine engere Zusammenarbeit mit GAS/ESVP ins Auge gefasst werden. Den Kem der ENPbilden Angebote zu engerer Wirtschaftskoopera­ tion, die schließlich überdieFormierungeines einheitlichen Markteszur Realisierung

der berühmten vier Freiheiten führen könnte: Freizügigkeit fürPersonen, freierWaren­ austausch, Dienstleistungsfreiheit sowie FreiheitdesKapitalverkehrs. Schließlich stellte dieEUden Partnern zwecksengerer Anbindungeine verstärkteIntegration derInfra­ strukturnetze_in Aussicht, darunterindenBereichen Energieleitsysteme,Verkehr,Um­ welt,Information undKommunikation.

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In der eingangs geschilderten mangelnden Kohärenz der erweiterten EUund ihrer

sichdaraus ergebendeneingeschränkten Aktionsfähigkeit liegt der zentrale Grund da­

für, dass die UnioneineMitgliedschaft der NeuenNachbarn zumindest vorerst nicht ins

Auge fassen kann.Eine ungebremste Erweiterungspolitik birgt das Risiko einer EU der

zwei Geschwindigkeitenoder sogar ihres Auseinanderfallsin verschiedeneGruppie­

rungenin sich. Allerdings schließtdie ENP für denFallvertiefter Integration undKo­ härenz langfristig die Erweiterungsoption auchnicht grundsätzlich aus, so dassvon einer Strategie der halboffenenTürgesprochen werden kann. Das anvisierte „Vertiefte Abkommen“mit der Ukraine, das eine starke Annäherung andieEU ohne Beitrittsau­ tomatismus vorsieht, fälltindiese Kategorie.

Bemerkenswertist in diesemZusammenhang das polnisch-schwedische Projekt ei­ ner „Östlichen Partnerschaft“ mit den LändernderNeuen Nachbarschaft, zumal es deutliche geopolitische Ambitioneninnerhalb der EU reflektiert. In seiner ersten er­ folgreichen Initiative nach dem Beitritt zur EU machtePolen,das sich als Sachwalter

der östlichen Anrainer versteht, seineZustimmung zur Bildung der französisch inspi­ rierten Mittelmeerunion von derUnterstützung Brüssels für das ProjektderOstpartner­ schaft abhängig. Deren Ziel ist es Warschau zufolge, die ENP in Richtung Ostenzu

dynamisieren und dabei insbesondere durch Realisierungdes „VertieftenAbkommens“ die Beitrittsfähigkeit derUkraine zu stimulieren. Zwarseiendie ENP-Länder des afri­ kanisch-nahöstlichenRaums Nachbarn Europas, so wiederholtder polnischeAußen­

ministerSikorski, doch stünden die Neuen Nachbarn Osteuropas und des Südkaukasus

der EUalseuropäischeNachbarn wesentlich näher.Nach anfänglichem Zögern akzep­

tiertedieEU das Konzept der„Östlichen Partnerschaft“ undbeauftragte dieKommission, auf der Grundlage der ENP konkrete Projekte auszuarbeiten. Genanntwerden inden polnisch-schwedischenDokument u.a.: Demokratie und Rechtstaatlichkeit, Freihan­ del,Umweltschutz, Infrastruktur und Transport sowie Visaerleichterungen mit der Per­

spektive visafreien Reisens. Abzuwartenbleibt, obdieProjekteauf denverschiedenen Ebenen tatsächlich ineinandergreifen und den erwartetenMehrwert produzieren.

In diesem Kontext istdie EU nicht bereit, einen Anspruch Russlandszu akzeptieren, in Osteuropa als bestimmende Ordnungsmacht aufzutreten. Die Neuen Nachbarn dürfen

auchinZukunftnicht als abhängige VariablenihrerBeziehungen zu Russland behandelt

werden. Andererseitswird die EU die VerdichtungihrerBeziehungen zu den Neuen

Nachbarn aber auch nichtals Nullsummenspiel in Konfrontationzu Russlandbetreiben. Angesichtsder engen wirtschaftlichen sowieder vielfachen historischen, menschlichen undkulturellenVerbindungen dieser Länder zu Russland ist die EU im Gegenteil be­

strebt, Interessen undPerzeptionen Moskaus in ihrKalkül einzubeziehen und entspre­

chendenEinfluss auf ihre Neuen Nachbarnzunehmen, ohne Russland darüberfreilich ein Vetorecht einzuräumen. So wandten sich Deutschland und andere „Alteuropäer“ nichtnur deshalbgegen eine rasche Aufnahme derUkraine indieNATO, weil sienach

wie vor von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Vielmehr geschah

dies auch deshalb, weil sie - so treffend Henry Kissinger - „russische Emotionen wecken würde,dieeinerLösung aller anderenstrittigenProbleme im Wegestehen werden“.Die zukünftigegeopolitischeZuordnung der Ukraine wird, soscheintes,auch inZukunft ei­

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Vor diesem Hintergrund hältsich die Unterstützung Brüssels für die 1997 gegründe­

te,stark US-geförderte undgegen russische Dominanzansprüchein der Region gerich­ teteregionale „Organisation für Demokratie undwirtschaftliche Entwicklung- GUAM“

(Georgien, Ukraine,Aserbaidschan, Moldau) in engen Grenzen.Andem Gipfel vom Juli 2008nahmen als Beobachternichtzufällig auchder polnische Präsident Kaszynski undsein litauischer KollegeAdamkus teil. Neben ambitiösen Initiativen zurLösung der„eingefrorenenKonflikte“, der Wirtschaftskooperationund demAusbau der Trans­

portinfrastrukturhatsich die insbesondere vonder Ukraine und Georgienbestimmte Organisation zur zentralen Aufgabe gesetzt, im europäischenZwischenraum Schwarz­ meer-Baltikum Projekte des Energietransits unter Umgehung Russlands zuunterstüt­ zen undeingeopolitisches Gegengewichtgegen Moskau zu bilden. Bislangfreilichist die Organisation ohne Struktur und sichtbares Gewicht geblieben, zumal Moldau

Moskauer Offerten zur Lösung des Transnistrienproblems überdie Absage an einen

NATO-Beitritt hinaus mit einerReduzierung seines Engagements in GUAMhonorierte. Russlandhält zumindest verbal an seinem Anspruch fest, Sonderbeziehungen zu den Ländern der GUS zupflegen und diesen Priorität einzuräumenvorseinen Bezie­

hungen zum „Femen Ausland“. In Wirklichkeitjedoch beginnen sichdieGrenzenzwi­ schen seinem„Nahen“ und seinem „Femen Ausland“ zuverwischen. Diesgilt um so mehr,alsdas Projekt des2003 von Russland, Ukraine,Belarus und Kasachstan gegrün­ deten „Einheitlichen Wirtschaftsraums“ (EWR) nach dem umbruchbedingten Aus­ scheren der Ukraine faktisch gescheitert ist. Letztlich liefen die Vorstellungen der Putin-Führung darauf hinaus, denEWR unter russischer Dominanz zum Gravitations­ zentrum und Kristallisationspunkt eines neuen wirtschaftlichen und politischen Inte­ grationsprozesses zumachen- nichtzuletzt als geopolitisches Gegengewicht zur ENP.

AlsKonsequenzdes EWR-Scheitems gingPutinzu einer Strategie selektiver prag­

matischer und an den nationalen Interessenorientierter Einflussnahmeüber, in deren

Folge nach denLändern Osteuropas auchPutinzudem Schlussgelangte: „Wir sind

verschiedene Staaten“. Am deutlichsten sichtbar wirddies in derUmstellung vonPrä­ ferenzpreisen bei Energieträgern inRichtung Weltmarktpreise sowie in dem Bestreben, in den Ländern Osteuropas dieKontrolle über die Pipelinesystemeundüber strategisch

wichtige Unternehmen einschließlich der petrochemischen Raffinerien zu gewinnen.

Die Ökonomisierung der Politik und die PolitisierungderÖkonomie gingen inRuss­

land eine nur schwer durchschaubare symbiotischeVerbindung ein.

Zugespitzt ausgedrückt, hatte dieMoskauer Strategie aus geopolitischer Sicht für

dasRegime paradoxe negative Konsequenzen: Der Einflussgewinn deswiedererstark­

ten Russlandin seinem „Femen Ausland“ ging einher mit sichtbaremEinflussverlust in seinen „Nahen Ausland“. Zum einen verstärkte das zunehmend interessenbezogene

Herangehen Moskaus und das Ausspielen seiner Energiemacht imwestlichen GUS-Raum einschließlich Belarus unter den dortigenElitendas Bewußtsein und den Willen,alsei­

genständige, von Russlandunabhängige Staaten fürihre spezifischen nationalenInter­ esseneinzutreten.Gerade die VerhärtungMoskauer Positionen veranlaßte die Länder

Osteuropas, ihre politischen,wirtschaftlichen, energiebezogenen undkulturellen Be­ ziehungen verstärkt zudiversifizieren, und zwarvorrangig in Richtung EU. Die Liqui­

dierung russischer Sonderkonditionen für die Länder Osteuropas trug somit ganz

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zuverschieben. Die Differenzen über die „angrenzenden Gebiete“ unterstreichen die Asymmetrien,die zwischen den Perzeptionen Russlandsund der EUüber diePerspek­ tiven Osteuropas sowie überdieZieleihrer jeweiligen Politik in der Region bestehen.

Manchmalscheint es mir,so kürzlichAußenminister Steinmeier, „dass Europäer und Russenerfolgreicher bei den globalen Herausforderungen Zusammenarbeitenals bei den regionalenFrageninder unmittelbaren Nachbarschaft“.

4. Geopolitische Perspektiven in dem Beziehungsdreieck

DieZukunft Europas undseines Ostens hängt ganzwesentlich vonCharakter und

Entwicklung seiner zentralen Komponenten EU, Russland und Osteuropa ab. Sie be­

finden sich sämtlich in fließendem Zustand, in einer Phase vonIdentitätssucheihrer selbst ebenso wie im Blick auf die wechselseitigentriangulären Beziehungen. Die Be­

schädigung einer Seite in dem Beziehungsdreieck- z.B. Konflikte zwischen Russland und der Ukraine - zieht die Beziehungenim Dreieck insgesamt in Mitleidenschaft. Ganz entscheidend sind die Antworten auf folgende zentrale Fragen: Wirdsich dieEU mit der schließlichenRatifizierungdes Lissabonner Reformvertrags als eigenständiger, handlungsfähiger internationaler Akteur überzeugend profilieren, gegenüber Russland einheitliche Positionen beziehen und den Osteuropäern längerfristig eine Beitrittsper­

spektivebieten können? Wird Russland unter Präsident Medwedjewendgültig von ei­ nem neoimperialen zu einem postimperialen nationalen Akteur mutieren, der den wechselseitigen Interessen durch stärkere Bindung seines Landes an gesamteuropäi­ sche Werte größere Nachhaltigkeit verleiht? Und werdendie Länder Osteuropas -Be­ larus vorerst ausgenommen- schließlich der EU (und möglicherweise auchder NATO) beitreten und damit die geopolitischenGewichte auf dem europäischenKontinentganz

wesentlich zugunstendes Westensverschieben?

Sobleiben im Blickauf die Perspektiven Europas und seines Ostens vorerstmehr

Fragen alsAntworten.Im Verhältnis zu Russland solltedieEUdieChancen neuer Ak­

zente inMoskau nutzen, zumallaut Medwedjew die Union für dasLand auf längere

Sicht bei allen Problemen ein zwarunbequemer,doch notwendiger Präferenzpartner für das geplante umfassende Modemisierungsprojekt bildet. Vor diesem Hintergrund

solltenin kritisch-konstruktivemDialog die gemeinsamenInteressen nicht durch über­

zogene Konditionalität bei europäischen Werten und Prinzipien belastetwerden, denn „Reformen in Russland können nicht von außen erzwungen, sondern nur unterstützt

werden“(Horst Teltschik). Daher sollte deren ErfüllungErgebnis längerfristiger Ent­ wicklungen im Zeichen von Pragmatismus und Respektfür dieschwierigen Transforma­ tionsprozesse in Russland sein.Dabei setzt dieEU aufeinen unsichtbaren Wertetransfer, angestoßen durch politische Öffnung, soziale Differenzierung und dieHerausbildung

einerselbstbewussten Mittelklasse, durch wirtschaftlicheInterdependenzenund eine

Vielzahl internationalerPartnerschaften und persönlicher Begegnungen jenseits der

gouvemementalen Ebene. IndiesenRahmen passt derHinweis Medwedjews auf die Absicht Russlands, „die fast 100 Jahre währende Isolierung und Selbstisolierrung

Russlands hintersich zu lassen“ undsich mit einemSchwerpunkt aufEuropa in dieglo­ bale Politik und Wirtschafteinzuordnen.

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Eine zentrale Voraussetzung für eine solche Entwicklung besteht aus europäischer

Sichtdarin,dassRussland die Länderdes postsowjetischen Raums auch de facto als

unabhängig anerkennt und deren eigenständige, von der Bevölkerungsmehrheit getra­ gene Entscheidung für eine Einordnung in die europäischen (undtransatlantischen)

Strukturenrespektiert. Für die Ukrainebeispielsweise bedeutet Unabhängigkeit vor al­ lemUnabhängigkeit von Russland.Immerhin:Für beide Seiten, dieEU und Russland,

haben im Zweifel wechselseitigestabile Beziehungen und einvernehmliches Krisen­

management Vorrang vor gewaltgestütztengeopolitischen Ambitionen zu Lastender anderen Seite. Vorbei sind die Zeiten des Kalten Kriegs, als die Sowjetunion 1953,

1956 und 1968 Systemloyalität durch Interventionerzwang und seinen Verbündeten

die Breshnew-Doktrinder„beschränkten Souveränität“ aufoktroyierte.

Eindrucksvoll demonstriert hat dies dieBeteiligung der Seitenan den dramatischen Kiewer Verhandlungen vomNovember/Dezember 2004, als es ungeachtet der Integra­ tionskonkurrenz und der ihr zugrundeliegenden Wertedifferenz im Beziehungsdreieck EU-Russland-Ukraine zur Verständigung und einer einvernehmlicher Lösung zwi­ schen den Beteiligten kam.Ganz ähnlich ist nicht damit zu rechnen,dass Russlandge­

waltsam eingreifen wird, falls es in Minsk und anderen Städten von Belarus zu

regimekritischenMassendemonstrationenkommtund Lukaschenkogestürztzu werden droht. Moskau ist an einem solchen Szenario überhaupt nicht interessiert: Das Pu­ tin-Regime hatLukaschenko im Zuge der Proteste gegen die manipulierten Präsident­ schaftswahlen von 2006 ein zurückhaltenden Vorgehen angeraten, um nicht selbst in einen scharfen Konflikt hineingezogen zu werden, der seineBeziehungen zum Westen.

In einem positiven Szenario, daskonfliktträchtige EU-Russland-Integrationskon­ kurrenz vermeidet, könnten die Gemeinsamen Gesamteuropäischen Räume des anvi­ sierten Vertrags über strategische Partnerschaft mit denAktionsplänen harmonisiert

werden, die die EU im Rahmen ihrervertieften Partnerschaftsverträge mit den Neuen Nachbarn abschließt. Eine solche Perspektive, die der Schaffung eines „Größeren Eu­

ropa“ wichtige Impulse gebenwürde, ist angesichts des fortwirkenden Moskauer Den­ kensinKategorien eines geopolitischen Nullsummenspiels zumindestvorerst jedoch nichtin Sicht.

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