System der individuellen Tugenden
1. Die Tugend der Vernunft: W ahrheit
Da im vernünftigen W ollen überhaupt die S ittlic h k e it be
steht, so is t die erste der individuellen Tugenden die Tugend der V e rn u n ft; die erste nicht bloß dem Range nach, sondern als Voraussetzung zu allen übrigen. Sie bezeichnet die S itt
lic h k e it der Person in so zentraler, fo lg lich fundamentaler Weise wie keine andre, näm lich nach ihrem letzten Grunde
im B e w u ß t s e i n . S ittlic h k e it is t zu allererst Bewußtseins
sache, darum is t die Tugend des Bewußtseins die erste aller Tugenden.
W ir nennen sie W a h r h e i t , schon' um an die E in h e it der praktischen m it der theoretischen V e rn u n ft zu erinnern. W a h r
heit is t das oberste Gesetz des Bewußtseins überhaupt, der Sinn und W ille der W ahrheit das oberste Gesetz des prak
tischen Bewußtseins.
Die A lte n haben es nicht gescheut, geradezu emavrißr), E r k e n n t n i s , oder aoxpia, im gleichen Sinne des W i s s e n s , der praktischen E i n s i c h t , als Tugendnamen zu gebrauchen;
auch wechselt dam it nicht selten der Ausdruck W a h r h e i t (dAi^eia), der besonders bei Plato unter den zentralen Be
griffen seiner E th ik o ft sehr bedeutsam h e rv o rtritt1). Es ist aber auch in unserer Sprache ganz zulässig zu sagen, ein Mensch sei wahr, d. h. er habe den Sinn und W ille n der W a h r
heit. Der gebräuchlichste Ausdruck bei den A lte n is t jedoch gpQÖvrjObg, eigentlich das Beisinnensein, die Besinnung oder B esinnlichkeit, d. i. Sinn und W ille , sich vor jeder W ille n s entscheidung auf das Rechte zu besinnen. Der Satz des Sokrates2), daß fü r den Menschen alles Andre von der
„Seele“ , d. h. vom Bewußtsein abhänge, alles Seelische aber von Besinnung oder praktischer E insicht (cfQOvrjOLg), wofern es zum Guten ausschlagen solle, is t zum Kernsatz der g rie chischen E th ik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was man ih r verdankt. Das war es, was an Sokrates so imponierte: die sichere H errschaft des Bewußtseins, die nach nichts fra g t als nach der W ahrheit des Tuns, nach der E in stim m igke it des W ollens m it sich selbst und seinem eigenen
’ ) Z. B. Apol. 29: cpQovrjGeu); xai äXr j f hei as xai xi j s x/jv / rj s Smog
(Jf ßei-xioxt] ioxai . . . . Protag. 356: ärß.mauGu de xo d r t 9 i i ¡)<iv%iav äv inoiijoev e'/eiv xtjv x p v / r j v /xevovaav eni x to di . r j 9eZ xai eaioaev äv xov ßiov. Phileb. 58: ei xig necpvxe xtjg xf j v/ t j g r][xmv ävvafug io uv xe xov ä Xt j &o v s xai nävxa evexa xovxov npaxxeiv. A n allen drei Stellen beachte ma^ die Entsprechung zwischen den Begriffen cihrßHia und xfjv/ij (Bewußtsein).
s) P la t. Men. 88, m it zahlreichen P arallelstellen.
inneren G e s e t z . Was P lato dieser Sokratischen Grundbestim- mung der S ittlic h k e it als „E rk e n n tn is “ hinzugefügt hat, is t die vollendet deutliche E ntw icklun g des Begriffs des prak
tischen Gesetzes zur „ I d e e “ des U n b e d i n g t e n , näm lich des unbedingt Gesetzlichen1). Auch dies übrigens war bereits in Sokrates angelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleich
setzte, aber zugleich behauptete, dies Wissen stehe nicht dem Menschen zu, dessen W eisheit vielm ehr darauf beschränkt sei, zu wissen, daß er nicht weiß.
Der Ausdruck W ahrheit hat den Vorzug, daß er dies alles einschließen kann, und dabei gerade das Inhaltliche, dessen man sich besinnen soll, das Gesetz der W ahrheit, an die Spitze stellt. Dagegen sagt z. B. das sonst vortreffliche W o rt
„Gesinnung“ (ebenso wie „Besinnung“ ) gar nichts darüber, w e l c h e praktische Sinnesrichtung denn, m it Ausschluß jeder andern, die rechte sei. Auch nim m t dies W o rt allzu leicht den schwächlichen Sinn eines bloßen Gutmeinens an, das m it v ie l Irrtu m und Bequem lichkeit des Irrens verträglich wäre; wogegen die Forderung: Sei wahr! eine unerbittliche Grenzscheide zwischen der s ittlic h rechten und verkehrten Gesinnung setzt. Zugleich lie g t der H inweis auf das Tun vernehmlich genug darin, wenn doch vom g a n z e n M e n
s c h e n gefordert w ird, daß er sich gleichsam zum Ausdruck der W ahrheit mache.
Dem kommt vie lle ich t etwas näher das W o rt G e w i s s e n , das gerade die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die N otwendigkeit der unablässigen Selbstprüfung: b in ich auch auf dem rechten Wege? scharf genug zum Ausdruck bringt.
Und da dies W o rt zugleich eben das Moment des Wissens, des Bewußtseins um das, was man tu t und was man soll, der conscientia sui betont, so könnte es den p e r s ö n l i c h e n Sinn unserer Tugend fast noch besser zu bezeichnen scheinen, als das W o rt W ahrheit, das vie lle ich t zu ausschließlich objektiv scheint, und in der Tat erst durch die Verbindung m it einer Person als Subjekt die Bedeutung einer individuellen Tugend
b P ber diesen Sinn der „Idee des Guten“ vgl. Abh. 11 ff., und „P la to s Ideenlehre“ , 2. A u fl. S. 188 ff.
m itte lb ar erhält. Indessen in seinem gewöhnlichen Gebrauch is t das W o rt Gewissen der an sich darin liegenden Beziehung auf das reine praktische Selbstbewußtsein fast verlustig ge
gangen. Es hat von seiner überwiegend religiösen Anwendung unleugbar einen Beigeschmack von Heteronomie erhalten, wäh
rend bei dieser, wenn überhaupt bei irgend einer Tugend, die Autonomie des S ittlichen aufs strengste gewahrt bleiben muß.
„Gewissen“ besagt nach vorherrschender Auffassung un
stre itig etwas wie A u to ritä t, wiewohl innere, nicht äußere.
Diese kann auf knechtischer Furcht, sie kann auf Liebe (des Kindes gegen die E ltern, oder in religiöser Wendung, des Menschen gegen den göttlichen V ater) beruhen, in jedem F a ll hat sie ihre W urzel im G efühl; Gefühl aber is t nicht die höchste Form des Bewußtseins, nicht reine Bewußtheit. In pädagogischer H in sich t is t nun zwar das Gewissen der Liebe sicher von unersetzlichem W e rt und auch die niedere Stufe der Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll über
wunden werden, aber sie darf auch fü r den s ittlic h Reifsten, so lange er fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein.
Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur Idee unendlicher Vollkom m enheit kann das Moment der Furcht wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der D e m u t niemals abstreifen;' und es is t an sich ein Vorzug, daß das W o rt „Gewissen“ dieses Moment deutlich m itbe
zeichnet. Aber doch is t eine solche bloße G e f ü h l s h a l t u n g an sich nicht Tugend. Sie is t mehr ih r Kennzeichen als ih r Grund; dieser kann nur in der reinen Bewußtseinstugend, im aufrichtigen W ollen der W ahrheit gefunden werden. Es würde mindestens noch ein unterscheidender Zusatz nötig sein, wenn man m it Gewissen oder Gewissenhaftigkeit die oberste der Tugenden bezeichnen wollte, und dann wäre ein Ausdruck wie W ahrheit (Gewissen der W ahrheit, im Unterschied vom Gewissen der F urcht oder der Liebe) doch nicht zu umgehen.
Das W o rt W ahrheit is t aber gehaltreich genug, um das Beste, was in „Gewissen“ ausgedrückt ist, mitzubezeichnen; und so möchte ihm in jeder Beziehung der Vorzug gebühren.
Um nun den Gehalt dieser Tugend mehr im besonderen zu entwickeln, nehmen w ir unsern Ausgang von dem soeben Berührten: daß der k r i t i s c h e Sinn des B e w u ß t s e i n s u n s e r e r G r e n z e von der Tugend der sittlichen W ahrheit allerdings untrennbar ist. Gegenüber der unendlichen Forde
rung des Sittengesetzes kann das Selbstbewußtsein unseres Wollens und Tuns nicht anders als demütigend sein. Und das um so mehr, je mehr es das Ind ividu u m ganz m it sich a lle in zu tun hat. Indessen verrät sich schon hier die Schranke einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen.
Die sittlich e Aufgabe in ih re r U nendlichkeit kann nicht m it Sinn als Aufgabe fü r das isolierte Ind ividu u m gedacht werden.
So ratsam es ist, m it der sittlichen Besserung bei sich anzu
fangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar fü r den eigenen sittlichen F o rtsch ritt is t die unablässige peinliche Beschäftigung m it sich und seinen individuellen Fehlern, die eine starke E r
hebung der Seele, ein kraftvolles A ufra ffen zur T at schließlich kaum aufkommen läßt.
Desto stärker is t der echte, positive Sinn der I n d i v i d u a l i t ä t des S ittlichen gerade hier zu betonen: daß es g ilt in selbsteigener E insicht das Rechte fü r recht, das Verkehrte fü r verkehrt zu erkennen, u nb e irrt nicht bloß durch die eigene individuelle Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung, sondern durch irgendwelche empirische Z u fä llig k e it überhaupt, die unser praktisches U rte il in einer bestimmten R ichtung fest
zuhalten, ihm den freien A u fb lic k zur Idee zu verlegen droht; von Sitte und äußerem Gesetz, von bloß überlieferten Normen jeder A rt, auch von dem Drucke der persönlichen A u to ritä t überlegener Individuen. Es dem ütigt zwar, aber ist zugleich auch wieder erhebend, zu wissen, daß nur w ir selbst uns dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu wollen, und kein A ndrer etwas mehr dazu tun kann, als daß er die in uns schlummernde K r a ft selbsteigenen Er- bennens und Wollens a u fru ft und in T ä tig k e it setzt. Denn die Gemeinschaft erzieht, aber sie erzieht nur dadurch, daß sie das Individuum zur Freiheit des Selbstbewußtseins erweckt.
Daraus fo lg t: daß die i n n e r e W a h rh a ftig k e it, die W a h r
heit „gegen sich seihst“ , die A u fric h tig k e it des „Herzens“ der äußeren A u fric h tig k e it vorgeht. Das is t wohl die unbedingteste, unanfechtbarste Tugend, wie ih r Gegenteil, Lüge gegen sich selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit; wie denn überhaupt die Lüge, und zuerst die Lüge des Bewußtseins, die Grundform und W urzel aller Schlechtigkeit ist. Innere A u fric h tig k e it is t zugleich die einzig verläßliche Grundlage der äußeren W a h r
h a ftig k e it. W er nicht zu allererst gegen sich selbst lauter und a u fric h tig ist, der is t es schwerlich gegen Andre. Zwar le rn t es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen Andre eine gewisse A u fric h tig k e it zu beobachten, w e il gröbere ü n w a h rh a ftig k e it gegen die Umgebung sich schnell und empfindlich rächt, während selbst die ärgste innere Unw ahrheit sich wie eine schleichende K ra n k h e it lange verstecken und scheinbar folgen
los bleiben kann. Aber, auf ernste Proben gestellt, w ird auch die äußere W a h rh a ftig k e it unrettbar scheitern, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde innerer L a u terkeit ruht.
Hieraus w ird besonders k la r, daß der G r u n d der Tugend der W a h rh a ftig k e it unm öglich erst in den äußeren, gesell
schaftlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gesucht werden kann; als sei sie von da erst ins Innere übertragen und gleichsam re fle ktiert; als schäme man sich nur deshalb, sich selber zu belügen, w eil man unter dem psychologischen Zwange stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man erlebt, den äußeren B eurteiler hinzuzudenken, vor dem man sich, wenn er wüßte, was in uns vorgeht, verkriechen müßte.
Solche innere A u fric h tig k e it wäre selbst eine so offenbare Lüge, daß schon eine starke theoretische V e rirrth e it dazu gehört, auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten Tugend zu verfallen. Die Gesellschaft hat so gut wie kein Interesse an der inneren W a h rh a ftig k e it, sie hat selbst nur ein begrenztes an der äußeren. Sie kann m it viel Lug und Trug bestehen, sie s tirb t n ich t sogleich daran. Eine fest- gegründete äußere R edlichkeit würde zwar dazu m ithelfen, die Menschen auch zu innerer A u fric h tig k e it zu erziehen, während, wo es m it jener schon schwach bestellt ist, wo gar
die ganze äußere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf Lüge beruhen, die innere W ahrheit, die w eit mehr fordert, vollends schwer gedeiht. Aber darum lie g t doch der schließliche Grund dieser Tugend im Selbstbewußtsein des Individuum s, ßicht an sich in äußeren, gesellschaftlichen Beziehungen. Daher rst innere W a h rh a ftig k e it unbedingte, ausnahmslose P flicht, während es, auch wenn man von der kasuistischen Präge der E rla u b th e it der Lüge ganz absieht, jedenfalls mancherlei not
wendige Rücksichten gibt, welche die P flicht, die erkannte W ahrheit auch gegen Andere zu äußern, mannigfach ein
schränken. Das Aussprechen bedeutet eine W irk u n g nach' außen, deren Folgen nicht von diesem einzigen, sondern noch von manchen andern Faktoren abhängen; es kann nicht ric h tig sein, diese andern Faktoren v ö llig außer Berechnung zu lassen.
Die W ahrheit, zur Unrechten Stunde, im Unrechten Zusammen
hang gesagt, kann leicht der Sache der W a h rh eit selbst schaden, statt ih r zu nützen. Eine unbedingte und allgemeine V e r
pflichtung, sein Herz auf der Zunge zu tragen, besteht sicher
lic h nicht.
Was nun den Herrschaftsbereich dieser Tugend b e trifft, so muß er w ohl von gleicher Ausdehnung sein m it dem der praktischen V ernunft. Diese aber soll doch das Ganze des menschlichen Verhaltens regieren. Und so g ib t es w irk lic h kein menschliches Tun, keine dem E influß des W ille ns unter
liegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht die Forderung der W ahrheit Bezug hätte. Sie besagt im Grunde nichts andres als daß alles Menschliche am sittlichen Maße, und in jeder praktischen Rücksicht ausschließend so, zu be
messen ist, daß die Beleuchtung dieser „Sonne im überhimm
lischen Reich“ , der „Id ee “ der W ahrheit, sich L ic h t und Schatten verteilend auf das A ll der praktischen W e lt ver
breiten muß.
Beweist sich die Tugend der W ahrheit zuerst in der britischen Reflexion und W ille nse in w irkun g auf das eigene runere Leben, in der sittlich e n Selbstbesinnung und Selbst- so beweist sie sich nicht weniger in jeder aufs je k t gerichteten Handlung, es sei bloße E rkenntnis oder
‘ a t o r P » S o z ia lp ä d a g o g ik . 6. A u f l . 8
ausübende Tat. Im Selbstbewußtsein w urzelt sie immer; aber aufs Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewußtsein not
wendig zurück. Auch E rkenntnis is t W ille n sta t, untersteht also dem obersten Gesetz des W illens, dem Gesetz der W a h r
heit. Und es is t ja auch kei,n Zweifel, daß im unbeirrten W ahr- heitsstreben des Forschers, des seiner D e n kkra ft mächtigen Menschen überhaupt,... in der Energie der Überwindung des Sinnentrugs, des V orurteils, des versteckten Einflusses grober und feiner Interessen auf das U rte il, deren es in aller E r kenntnisarbeit bedarf, sich hohe S ittlic h k e it betätigen kann.
Aber auch in der nach außen gerichteten Tat, in jeder, wie man recht sagt, „redlichen“ A rb e it kann sich der Sinn der W ahrheit bekunden, als der Sinn, das W erk oder die Sache, an der oder fü r die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäß zu gestalten, auch tro tz jedes sich vordrängenden Anspruchs der eigenen Person oder falscher, nicht aus der Sache fließender persön
licher Rücksicht überhaupt. Man kann es die T u g e n d d e r S a c h l i c h k e i t nennen, die offenbar einer der krä ftigste n Äste am Stamm unserer ersten Grundtugend, der W ahrheit, ist.
Sie kommt zur Anwendung in jedem menschlichen W erk, mag es sich um Kleines handeln oder um Großes, um A rb e it an Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunter
nehmungen, um Kriegspläne, Gesetzentwürfe, Rechtssprüche oder um W erke der D ichtung oder Kunst, denn auch das ist nicht b l o ß Sache des Genies, sondern auch der redlichen A rb e it; die w ahrhaft großen Genies sind immer auch redliche A rb eite r gewesen.
I n dem allen is t W a h r h e i t P f l i c h t , auch ganz abge
sehen von jeder Rücksicht auf den Nebenmenschen. W ir wären in Verlegenheit, wenn w ir nach der gebräuchlichen E in te ilu n g der P flichten in solche gegen uns selbst und gegen den Nebenmenschen uns entscheiden sollten, in welche von beiden Klassen diese so weitreichende P flic h t der Sachlichkeit zu stellen sei. Jede sittlich e P flic h t ohne Ausnahme is t P flicht, nicht gegen, aber vor uns selbst, sofern das eigene sittliche Bewußtsein sie uns auf erlegt; fra g t man aber, w orauf sie in der Ausübung sich erstrecke, so müßte man am Ende von
P flic h t gegen das Objekt reden, was denn doch etwas wunder
lich wäre. Diese ganze E in te ilu n g fu ß t auf der unzulänglichen
^ °rstellung der sittlichen V erpflichtung als einer V erpflichtung auf Gegenseitigkeit. Ich bin, rein s ittlic h angesehen, über
haupt keiner P e r s o n verpflichtet, sondern allein dem s itt
lichen G e s e t z . Erstrecken kann sich aber die P flicht, der Materie nach, ebenso gut auf Sachen wie auf Personen, sofern l r gend sie im Dienst s ittlic h e r Aufgaben stehen.
A lle rd in gs aber g ilt nun eben dies in besonderer Weise von jeder w illensfähigen Person, da jede auf eine solche sich er
streckende H andlung die Person z u g l e i c h a l s S u b j e k t und nicht bloß als Objekt des sittlichen W ille ns berührt. Und so g ilt gewiß auch die V erpflichtung der W ahrheit in beson
derem Sinne gegenüber der andern Person und gegenüber der Gemeinschaft. H ie r verdoppelt sich gleichsam die V er
antw o rtlich ke it, die das Gebot der W ahrheit auf erlegt; denn jede ^ erletzung der W ahrheitspflicht beleidigt zweimal den heiligen Geist der W ahrheit, in der Person des Handelnden und dessen, auf den sich die H andlung erstreckt. Der Grund dieser Tugend w ird dadurch zwar nicht berührt; die U n s ittlic h k e it der Lüge, das Verdienst der W a h rh a ftig k e it w ird nicht größer dadurch, daß beides sich in den Folgen auf den Andern m it
erstreckt, nicht geringer dadurch, daß es sich in den Tiefen des eignen Bewußtseins ve rb irg t; doch kom m t das neue Unrecht hinzu: die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die m it Unw ahrheit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt dabei zweierlei in Frage, erstens die A u fric h tig k e it, die d ire kt die Beziehung zum Andern b e trifft: A u fric h tig k e it in Freund
schaft und Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit
&egen jedermann, in allen öffentlichen und gemeinschaftlichen eziehungen; zweitens die A u fric h tig k e it jedweder T ä tig ke it, sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet und Andern irgendwie in M itleidenschaft zieht. Im ersteren F a ll
^ 'ird ganz d ire kt das Interesse der Gemeinschaft betroffen, er t-ehort daher eigentlicher zu unserer vierten Tugend; im andern die p ° ^ enan d iß Forderung der W ahrheit selbst und kom m t
lc ht der Gemeinschaft nur außerdem auch ins Spiel.
Um von den manchen hierher gehörenden konkreten Fragen wenigstens eine auch im besonderen zu behandeln: wie w eit reicht wohl die Verpflichtung, an öffentlichen Zuständen öffent
lic h K r it ik zu üben? Es is t wahr, daß Feigheit tausend Gründe findet, die Grenzen dieser V erpflichtung so eng wie möglich zu ziehen; aber es g ib t allerdings Grenzen. W er schweren la d e l gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte und A uto ritä ten genießen, auf eigene Gefahr wagt, hat im allgemeinen das günstige V o ru rte il fü r sich, rein der W ahrheit zu dienen, wenigstens ernster, w ohlgeprüfter Überzeugung Ausdruck zu geben. Aber leider hat E ite lk e it des Besser
wissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja die Lust am S treit daran o ft so viel und mehr A n te il als der lautere W ahrheitssinn und die ernste Sorge ums gemeine Beste.
Schwerwiegende U rteile über öffentliche, d. h. in den Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiß nicht öffentlich aus
sprechen ohne die sorglichste P rü fu n g erstens der Sache, die man behauptet, und zweitens der Umstände und voraussicht
lichen Folgen. Is t man aber seiner Sache gewiß und können die Folgen, die es haben kann, im ganzen nur heilsame sein, handelt es sich überdies um Fragen von einschneidender Be
deutung fü r das Gemeinwesen, so hat man nicht bloß das Recht, sondern die dringendste P flich t, seine Überzeugung m it allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder selbst fremde bloß persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs V ater
land dürfte in solchem F a ll nicht in Erwägung kommen.
Soll uns das Vaterland „über alles in der W e lt“ gelten, so heißt das sicher nicht: auch über die W ahrheit; als ob ein Vaterland ohne W ahrheit bestehen könnte. Gerade dem V ater
land schulden w ir über alles und vor allem W ahrheit; w ir haben, als sittlich e Menschen, kein Vaterland, wenn es die W ahrheit nicht verträgt. Und wenn die W ahrheit b itte r ist,
land schulden w ir über alles und vor allem W ahrheit; w ir haben, als sittlich e Menschen, kein Vaterland, wenn es die W ahrheit nicht verträgt. Und wenn die W ahrheit b itte r ist,