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Trotz Einschränkungen

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Academic year: 2021

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K

AROL

S

AUERLAND

Trotz Einschränkungen

Autor pojął próbę oświetlenia specyfiki polskiej germanistyki w dialogu między Wschodem i Zachodem z punktu widzenia warszawskiego literaturoznawcy.

Der Autor versucht die Besonderheit der polnischen Germanistik im Ost-West-Dialog aus einer autobiographischen Sicht als Warschauer Literaturwissenschaftler zu beleuchten.

The author makes an attempt to explain a specific character of Polish German studies in the dialogue between the East and the West from the point of view of a Warsaw literature specialist.

In der Ankündigung „Dialog der Germanisten in Zeiten der Teilung“ wird die Publikation Das Loch in der Mauer (LEHMSTEDT /LOKATIS 1997) erwähnt. Gemeint ist die deutsche Mauer. Im europäischen bzw. internationalen Kontext sprach man vom ‚Eisernen Vorhang‘. Dieser teilte zwei Welten voneinander, gleichsam daneben lag die Dritte Welt, um deren Gunst die beiden Großmächte eifrigst kämpften. Löcher (Loch in der Einzahl ist zu wenig) im Eisernen Vorhang gab es selbstredend. Sie entstanden insbe-sondere nach dem XX. Parteitag der KPdSU, d. h. nach der berühmten Geheimrede Chruschtschows, die dank der „Disziplinlosigkeit polnischer Ge-nossen“ zu einer öffentlichen wurde. Nach dem VIII. Plenum der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, auf dem Władysław Gomułka zum Ersten Sekre-tär berufen wurde, öffnete sich Polen ein wenig zum Westen hin, d. h. plötzlich konnten Kafka, Ionesco, Beckett, Frisch, Dürrenmatt und viele an-dere zu Modeautoren werden. Es war nicht mehr möglich, über Thomas Mann zu schreiben, daß er zwar zu den großen bürgerlichen Prosaschrift-stellern gehöre, aber ideologisch nach wie vor „keine klare und

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kompro-mißlose Form“ gefunden habe, wie es Reich-Ranicki in seiner polnischen Zeit tat (RANICKI 1955:108) 1, in der er sogar einem Stefan Zweig vorwarf, daß seine Protagonisten im Grunde genommen mit dem Leben nicht viel gemein hätten (RANICKI 1955:138f.). Die Zeit brach an, in der ein JAN KOTT (1961) sein Buch Shakespeare heute verfaßte, das internationalen Ruhm erlangte. In seiner Rezension Hamlet nach dem XX. Parteitag (es handelt sich um die Krakauer Hamlet-Aufführung, zu der Tadeusz Kantor das Bühnenbild entworfen hatte) vom November 1956 war er zu dem Schluß gekommen, daß die Welt des 20. Jhd.s eine große Verbrecheranstalt sei, in der es keine Tragik des Einzelnen mehr gebe, sondern nur die der Geschichte, die der Einzelne als etwas Absurdes erlebe (SAUERLAND 2006).

In der Bundesrepublik Deutschland huldigte man in dieser Zeit, d. h. in den 60er Jahren, dem polnischen Film und Theater. Als Namen seien nur Andrzej Wajda, der junge Roman Polański, Sławomir MroŜek, Tadeusz RóŜewicz und die Regisseure Tadeusz Kantor und Konrad Swinarski, der durch seine Westberliner Inszenierung des Marat Peter Weiss zum Ruhm verholfen hatte, genannt. Ich erlebte diese Zeit in Warschau als Student und Assistent, zuerst der Mathematik und später der Germanistik, intensiv: Der Vorhang war tat-sächlich löchrig geworden, es wehte Wind vom Westen herein. Es waren auch die Jahre, in denen ich engen Kontakt zu den Philosophen Bronisław Baczko und Leszek Kołakowski unterhielt. Sie betrieben einen nicht nur poli-tisch, sondern auch philosophisch interessanten Revisionismus des Marxis-mus, lösten Marx in einen Denker und Philosophen unter vielen seiner Zeit-genossen auf. Wir lasen Moses Hess, Max Stirner, Heinrich Heine, Bakunin und andere Denker der ersten Hälfte des 19. Jhd.s auf neue Weise. Marx verlor seine Sonderstellung. Ich hatte auch das Glück, bei Elida Maria Sza-rota meine Magisterarbeit zu schreiben und mit ihr in den weiteren Jahren zusammenarbeiten zu können. Sie war eine wahre Europäerin, schon durch ihre Sprachgewandtheit. Als sie das umfassende Werk Die gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen. Zeitgenössische Texte (SZAROTA 1972) heraus-gab, übersetzte sie Reiseberichte und Relationen aus dem Lateinischen, Französischen, Englischen, Italienischen und Polnischen. Ihre Barockfor-––––––––––

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Er beendet seine Ausführungen mit den Worten, daß wir Thomas Mann hier „eines der reichsten Bilder der bourgeoisen Welt verdanken“. Der Roman ist „sogar in seinen Fehlern eine Widerspiegelung der Epoche, er ist eine Art Führer durch die Sackgassen der Ideologie des Bürgertums“. Das ganze Schaffen Manns stelle ein Abbild des „Niedergangs der bourgeoisen Kunst“ dar. (RANICKI

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schungen betrafen nie nur die deutsche Literatur, sondern immer die gesamt-europäische. Da sie oft im Westen verweilen konnte, brachte auch sie einiges über neue Geistesrichtungen von dort mit.

Wichtig wurden für mich dann die vielen Kontakte mit Vertretern west-deutscher Verlage auf der alljährlichen Internationalen Buchmesse in War-schau. Hier lernte ich u. a. Walter Böhlich kennen. Er bot mir an, Essays von Bronisław Baczko für die edition suhrkamp zu übersetzen, was ich dann auch tat.

Einen harten Einschnitt sollte das Jahr 1968 darstellen, als die Machthaber Volkspolens einen großen Teil der Intelligenz im Rahmen einer antisemiti-schen Hetzkampagne aus dem Land verjagten. Zu ihnen gehörten auch Baczko und Kołakowski. Ich befand mich zu jener Zeit in Ostberlin, um Materialien für meine Dissertation über Wilhelm Dilthey zu sammeln. Vom polnischen Hochschulministerium hatte ich dafür ein Zehnmonatsstipendium erhalten. Als ich von den Protesten hörte, wäre ich am liebsten gleich nach Warschau, wo ich Universitätsassistent war, zurückgekehrt, aber die Vor-schriften erlaubten es damals nicht, ein Stipendium zu unterbrechen. Ich hätte kein neues Visum für die Rückkehr nach Berlin erhalten. So mußte ich versuchen, durch die Lektüre polnischer Zeitungen, die man im Polnischen Kulturinstitut an der Friedrichstraße gleich vor der Spreebrücke einsehen konnte, zu erfahren, was sich in Polen tut. Ich traute meinen Augen nicht. Da las man plötzlich, daß die Teilnehmer der Protestdemonstration am 8. März aufs engste mit den Zionisten, Revisionisten und Trotzkisten verbunden seien. Immer häufiger wurde auf die jüdische Herkunft der Verhafteten hin-gewiesen: Man sehe sie bereits an den Namen: Dajczgewand, Szlajfer, Mich-nik, dessen Vater Ozjasz Szechter hieß, etc. All diese jungen Menschen wur-den zugleich als ehemalige Stalinisten bzw. als Kinder von solchen bezeich-net. Unter den Hetzartikeln befanden sich auch solche, deren Verfasser ich kannte und von denen ich nie angenommen hätte, daß sie zu solchen antise-mitischen Äußerungen imstande sein könnten. Aber viel näher ging mir, daß so viele Professoren entlassen wurden, die z. T. meine Lehrer waren. Andere hatte ich nur bei ihren Auftritten erlebt.

Als ich im Herbst nach Warschau zurückkehrte, hatte Władysław Gomułka, der damalige Erste Parteisekretär, die von ihm selbst angeheizte antisemiti-sche Kampagne etwa drei Monate zuvor stoppen lassen – nachdem Zehntau-sende Ausreiseanträge gestellt hatten, denen die Machthaber gern nachka-men. Fast alle polnischen Juden, die die Shoa überlebt und nicht gleich nach dem Krieg aus Polen ausgewandert waren, verließen um die Zeit nach meiner

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Rückkehr das Land. Der Danziger Bahnhof in Warschau war der Ort, von dem aus sie sich nach Wien begaben, um von dort aus nach Israel, in die USA oder auch in die Bundesrepublik weiterzureisen. Man nannte diesen Bahnhof damals den ‚Umschlagplatz‘. Gott sei Dank führte er nicht in den Tod, aber so gut wie niemand hatte sich freiwillig zur Ausreise entschlossen. Die meisten empfanden tiefe Trauer, denn sie hatten sich mit allen Kräften für den Wiederaufbau Polens engagiert. Ich war mehrmals auf diesem Bahn-hof, um Bekannte zu verabschieden. Unter ihnen befanden sich u. a. Roman Karst, ein rühriger Literaturkritiker, Teilnehmer der berühmten Kafka-Konfe-renz in der Tschechoslowakei, und der Germanist Emil Adler, der sich in Po-len um das Andenken von Herder verdient gemacht hatte. Er hatte den An-stoß dazu gegeben, daß in Herders Geburtsort Mohrungen ein entsprechendes Museum eingerichtet wurde, wenn dies auch erst mehrere Jahre nach seinem Weggang geschah. Die Abschiede auf dem Danziger Bahnhof verwandelten sich jedesmal in Demonstrationen und Bekenntnisse, die nicht immer ohne Folgen für diejenigen waren, die blieben (SAUERLAND 2008; 2008a – es han-delt sich um ein Kapitel aus SAUERLAND 2004).

Wäre ich 1968 in Polen gewesen, hätte ich sicher auch zu denen gehört, die weiterwandern mußten. So aber verfaßte ich meine Dissertation über Dilthey, die dank der Vermittlung von Elida Maria Szarota 1972 bei de Gruyter erscheinen konnte, und 1975 meine Habilitation über Adornos Ästhetik. Es war auch das Jahr, in dem ich am Internationalen Germanistenkongreß in Cambridge teilnehmen konnte/durfte (d. h. ich bekam einen Paß!). Das Glück wollte es, daß die DDR-Germanisten nicht erschienen waren, weil die Sowjetunion den Kongreß boykottierte (in letzter Minute waren aber vier Sprachwissenschaftlerinnen und ein Mann aus Moskau erschienen, der, wenn ich mich recht erinnere, ein Literaturwissenschaftler war). Deshalb prote-stierte niemand aus dem Osten (der DDR), als wir, d. h. Karol Pestalozzi aus Basel, Bengt Sørensen aus Aarhus und andere als Podiumsteilnehmer über die neuesten Trends in der Literaturtheorie debattierten. Nur Jost Hermand wollte als Moderator unbedingt einen antiwestlichen Akzent in die ganze Sa-che bringen. Ich bekam sofort viele Einladungen aufgrund meiner Worte, die so gar nicht nach östlichem Dogmatismus klangen. Einige Einladungen konnte ich später wahrnehmen: in die Schweiz, nach Dänemark, Holland und Italien. Nun lernte ich ein wenig von Europa oder besser Westeuropa kennen. In Polen bewegte ich mich dadurch, daß ich Mitglied des Beirats in der da-mals wichtigen Monatszeitschrift Literatura na Świecie war, nicht nur im en-gen germanistischen Kreis, sondern konnte auch Kontakte mit Übersetzern

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ins Polnische pflegen und vor allem bedeutende Schriftsteller und Schrift-stellerinnen deutscher Zunge (Günter Grass, Siegfried Lenz, Ingeborg Bach-mann, Adolf Muschg, Horst Bienek, Peter Härtling und andere) kennenler-nen. Mit einigen von ihnen verbindet mich eine gewisse Freundschaft. Es gelang mir, ein Interview mit Grass in der Literatura na Świecie zu publi-zieren, das ich 1976 mit ihm in Danzig geführt hatte (GRASS 1976:167-173).2 Wir hofften, auf diese Weise etwas zu bewirken, damit endlich Die Blech-trommel erscheinen werde. Das Buch lag seit Jahren übersetzt vor, aber höchste Parteistellen gaben keine Druckgenehmigung. Immerhin war es uns (mir und vor allem Barbara Surowska, die die deutsche Abteilung in der genannten Zeitschrift leitete), gelungen, einige Kapitel aus der Blechtrommel vorabzudrucken. Ein besonderes Zusammentreffen war auch das mit Inge-borg Bachmann anläßlich ihres Polenbesuchs im Jahre 1973, als sie mir ein Interview gewährte. Dieses Interview sollte später vielfach zitiert werden (BACHMANN 1974:363-367). Später interviewte ich für polnische Wochen- und Monatsschriften u. a. Siegfried Lenz, Peter Stein, Benno Besson, George Tabori, Adolf Muschg sowie Horst Bienek (SAUERLAND 2006:131-138). Eine wichtige Rolle spielte in jener Zeit auch das Österreichische Kultur-zentrum, das im Laufe der Jahre so gut wie alle damals bekannten öster-reichischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen einlud. Für westdeutsche Autoren und Autorinnen gab es diese Gelegenheit nicht. Ein Goethe-Institut konnte erst nach der Wende in Warschau eröffnet werden. Ich initiierte u. a. Ende der 70er Jahre die erste polnisch-österreichische Germanisten-Konferenz.

Ebenfalls Ende der 70er Jahre erlaubte mir die Warschauer Universität, mich um ein Humboldt-Stipendium zu bewerben, doch im polnischen Ministerium für Hochschulwesen erklärte man mir, ich könne mich darum bewerben, wenn ich mich entscheiden würde, Polen für immer zu verlassen. Das bleibt mir unvergeßlich, obwohl ich mir nicht die Mühe gemacht habe, mir den Na-––––––––––

2 Zuvor waren einige Seiten in verschiedenen Wochenschriften und Zeitungen erschienen: 1959: Szeroka spódnica. [Weiter Rock]. Übersetzt von Teresa Jętkiewicz. In: Polityka 51/52:9. 1960: Ein kleiner Ausschnitt aus der

Blechtrom-mel. Übersetzt von Teresa Jętkiewicz. In: Nowa Kultura 19:19. 1963: Poczta Pol-ska. [Polnische Post]. Übersetzt von Bolesław Fac. In: Pomorze 18. 1963: Sze-roka spódnica. [Weiter Rock]. Übersetzt von Wanda Kragen. In: Poglądy 7:8.

1967: Wiara, nadzieja, miłość. [Glaube, Hoffnung, Liebe]. Übersetzt von Michał Misiorny. In: śycie Literackie 36:8. 1970: Plecy Herberta Truczyńskiego. [Her-bert Truczyńskis Rücken]. Übersetzt von Sławomir Błaut. In: Ty i Ja 12.

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men des Mannes zu merken, der mir solches offenbarte. Er war für mich nur ein Sprachrohr irgendeiner höheren Instanz, des Machtapparates. Es gab zu dieser Zeit schon mehrere germanistische Kollegen, die in den Genuß dieses attraktiven Stipendiums gekommen waren.

Einschneidend waren für mich die Jahre 1980/1981, denn einerseits wurde ich in Basel als Nachfolger von Professor Elida Maria Szarota in den Vor-stand des IVG gewählt, was mir viele Feinde in Polen einbringen sollte, und andererseits schloß ich mich der Solidarność-Bewegung aktiv an. Ich gehörte dem Universitätsvorstand der Solidarność an. Den größten Teil meiner Zeit verbrachte ich jedoch in Kommissionen zur Reformierung des Hochschulwe-sens, einigen stand ich selber vor. Das war eine spannende Sache. Hier fand etwas Einmaliges in der Geschichte des Hochschulwesens statt. An fast allen Hochschulen wurden Kommissionen gebildet, in denen man darüber nachzudenken begann, wie es besser werden, wie man wieder zur Freiheit von Lehre und Forschung gelangen könnte. In der Nacht zum 10. Januar 1981 notierte ich in mein Tagebuch, das ich im Herbst des Vorjahres zu füh-ren begonnen hatte:

Nachmittags und abends (von 15 bis 21.30 Uhr) Leitung der Kommission für das Hochschulgesetz. Es war anstrengend. [...] Ein vierzigseitiges Dokument war zu besprechen. [...] Der Gesetzesvorschlag war von Humanisten entworfen worden, das mußte natürlich die Kritik der Techniker herausfordern. Dort spie-len die Finanzen eine große Rolle und die Hierarchie der Dinge sieht anders aus. Der Staatshaushalt sah 2% für Wissenschaft und Lehre vor. In den Industrie-ländern waren es, wie ich damals erfuhr, mehr als 4% des Staatshaushaltes, wobei die Ausgaben, die die Industrie in die Forschung steckt, nicht mit berücksichtigt sind. Forschung aus privater Hand kannte der Sozialismus ja nicht.

Bereits am 16. und 17. Januar 1981, einem Wochenende, trafen sich Dele-gierte der Solidarność-Hochschulkommission aus ganz Polen, um über die Grundvoraussetzungen eines neuen Gesetzes zu debattieren. Am Ende wurde eine Gruppe damit beauftragt, auf einer nächsten Landeszusammenkunft die wichtigsten Postulate der Versammlung in die Sprache eines Gesetzes zu verwandeln und das Ganze zur Beratung vorzulegen. Eines unserer Haupt-ziele war es, vom staatlichen Dirigismus wegzukommen. Das glaubten wir durch eine Demokratisierung des Hochschulwesens zu erreichen. Überall sollten gewählte Organe die Entscheidungsgewalt haben. Es war klar, daß die treuen Parteimitglieder wenig Chancen hatten, in diese Organe zu gelangen. Die meisten von uns meinten auch, gewählte Organe könnten die Angriffe von den Ministerien, Parteiinstanzen etc. besser abwehren als

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Einzelperso-nen. Ein wirklicher Sieg der Demokratie war ja nicht zu erhoffen. So wurde im Entwurf des Hochschulgesetzes dem Urteil des Hauptrates, in den jede Hochschule einen Vertreter wählen würde, eine größere Bedeutung einge-räumt als dem des Ministers. Der Senat stand über dem Rektor, der Instituts-rat über dem Institutsdirektor etc. Die Studienprogramme sollte jede Hoch-schule selbst festlegen, sie entschieden auch selbst über ihre Statuten. Der Minister durfte nur dann eingreifen, wenn Rechtsvorschriften verletzt worden waren. Bereits im Juni 1981 ging in Solidarność-Kreisen das Wort vom Übermaß an Demokratie im Hochschulwesen herum. Bereits in den Wahlen zu den einzelnen Hochschulposten siegten im allgemeinen mittelmäßige Köpfe, wie das so in Demokratien die Regel ist. Aber noch schlechter wäre es, sagte man sich, wenn die zentralistisch eingestellten Eierköpfe ohne Kontrolle durch kollegiale Gremien weiter alles bestimmen würden.

Eine wichtige Rolle spielten damals auch bestimmte Grundwerte, die weder von den Wissenschaftlern noch von anderen in Frage gestellt werden dürften. Neben der Freiheit der Forschung war es die soziale Gerechtigkeit (‚spra-wiedliwość społeczna‘). An ihr lag uns sehr, wie ich mich erinnere. Man muß wissen, daß es sie im realsozialistischen Staat am wenigsten gab. Sozial gerecht war das, was die Nomenklatura dafür hielt, d. h. nur sie durfte Privi-legien genießen, ansonsten mußten alle gleich arm sein.

Mit der Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs waren wir recht schnell zurande gekommen, obwohl er von Hunderten von Menschen diskutiert wurde. Mitte April lag er vor. Anfang Juni war Solidarność bereit, ihn an den Sejm zu überweisen. Aber nun begann das Spiel erst. Es war die Zeit, als die Univer-sitäten zum ersten Mal in freier Wahl ihre Fakultätsräte, Dekane, Rektoren und andere Vertretungen wählten. Das Gefühl, autonom über sich selbst entscheiden zu können, nahm von Tag zu Tag zu. Die Partei rührte sich erst einmal gar nicht. Im Sejm wurde über das zu beschließende Hochschulgesetz einfach nicht beraten. Wie schon im Frühjahr kam die Parteiführung erst durch Streiks der Studenten in Zugzwang. Diese entschlossen sich sogar zu einem sogenannten Okkupationsstreik, d. h. zum Verbleib auf dem Campus rund um die Uhr. Da die Machthaber auf Konfrontationskurs gesetzt hatten, dauerten diese Streiks wochenlang. Sie begannen im November und endeten erst kurz vor Ausrufung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1981. Im Nachhinein kann man sagen, die Parteiführung hoffte mit der Provozierung von Studentenstreiks die Solidarność zu spalten, denn bekanntlich sind Arbeiter auf Studentenproteste schlecht zu sprechen. Denen gehe es ja sowie-so zu gut. Aber die Studenten streikten ja nicht für Privilegien und auch nicht

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gegen den Lehrkörper, sondern dafür, daß der Sejm endlich über das Hoch-schulgesetz debattieren möge. Es ging ihnen um das Recht auf Selbstbestim-mung und das, was man gemeinhin akademische Freiheit nennt. Die Partei-führung hatte sich mit ihrer Annahme verrechnet, das in der Geschichte seltene Phänomen der Solidarität zwischen Arbeiter und Intelligenz hielt an. Als wir in der Solidarność-Delegiertenversammlung am 16. November dar-über diskutierten, ob wir uns dem Studentenstreik anschließen sollten, er-klärte der Vertreter der Arbeiter an der Universität (der mittlerweile der Landesleitung angehörte und heute Chef der Solidarność im Raum Warschau ist), in einem Augenblick, als die Stimmen der Furchtsamen zunahmen, die Arbeiter hätten ihm mehrmals gesagt, sie würden immer wieder zu der Überzeugung gelangen, daß sie für die Freiheit der Akademiker kämpfen müßten.

Die streikenden Studenten verhielten sich äußerst diszipliniert, u. a. bemühten sie sich um eine Fortsetzung der Lehre. Die den Streik unterstützenden Lehr-kräfte (ihre Zahl war nicht besonders groß, aber da sich die meisten passiv verhielten, hatte man den Eindruck, daß eine Mehrheit auf der Seite der Protestierenden stehe) sollten ihnen demonstrieren, wie eine andere, alterna-tive Universität aussehen könnte. Natürlich ging es ihnen vor allem um die Aufdeckung der Lügen in der Darstellung der polnischen Geschichte und in der Literatur sowie um eine Kritik an der Art, wie bisher gelehrt wurde. Ich sprach vor den streikenden Studenten über Marxens Rußlandbild, d. h. eine Schrift, die im Osten so gut wie unbekannt war (WITTFOGEL 1981) – sie ist übrigens heute, wo wir uns die Frage nach Rußlands zukünftiger Rolle in der Welt stellen, wiederum lesenswert –, über Canettis Masse und Macht und über neuere Philosophieströmungen im Westen. Es gab natürlich intensive Diskussionen. Der Wille zur Neuerung war da. Der Streik war auch eine gute Gelegenheit, das von Solidarność ausgearbeitete Hochschulgesetz zu erläu-tern, denn die meisten Studenten hatten nur eine allgemeine Vorstellung von dem, wofür sie streiken. Ab dem 20. November durften auch die nicht streikenden Studenten die zwischen 12 und 16 Uhr stattfindenden Vorlesun-gen und Seminare an der „anderen Universität“, wie es damals hieß, besu-chen. Nach 16 Uhr, wenn es dunkel wurde, mußten die Universitätstore geschlossen werden, weil man Provokationen von Seiten der Machthaber befürchtete.

Inzwischen bemühte sich die Rektorenkonferenz um eine Beilegung der Aus-einandersetzungen. Sie hatte sich im August konstituiert und wurde in den Monaten darauf zu dem wichtigsten Sprecher in Sachen Hochschulfragen,

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denn sie bestand aus gewählten Vertretern. Sie war gleichsam unsere demokratische Vertretung. Dadurch, daß an allen großen Universitäten be-kannte Gelehrte Rektoren und Prorektoren geworden waren, hatte deren Wort in der öffentlichen Meinung Gewicht. Ihr Ziel war die Aushandlung eines Kompromisses, ohne daß dabei aber grundlegende Positionen aufgegeben würden. Im Dezember notierte ich in meinem Tagebuch:

Der größte Erfolg (und vielleicht der einzige) des Studentenstreiks ist, daß sich die Rektorenkonferenz selbständig gemacht hat und so etwas wie eine współnota akademicka (akademische Gemeinschaft) in Polen entstanden ist, der natürlich nicht alle akademischen Lehrer angehören, aber die besseren schon. – Die Konferenz will an die Stelle der Rada Główna (des geplanten Hauptrates) bis zu dessen Wahl treten.

Meine Fakultät in Warschau hatte gut zwei Wochen zuvor mit großer Mehr-heit den damals radikal erscheinenden Beschluß gefaßt, die Rektorenkonfe-renz möge bis zur Annahme des neuen Gesetzes die Leitung übernehmen, d. h. bestimmen, was getan werden darf und was nicht. Praktisch bedeutete das, wir sollten uns an den Gesetzesentwurf von Solidarność halten. Anfang Dezember trat die Rektorenkonferenz sehr energisch auf. Sie drohte sogar damit, daß sich die Hochschulen vom Ministerium unabhängig machen wer-den, wenn es nicht zu ersten Lösungen kommen sollte. Ich kommentierte da-mals: Rzeczpospolita akademicka (‚Akademische Republik‘) sei die Losung. Bis zum 10. Dezember wurden an allen Hochschulen (eine ausgenommen) die Streiks eingestellt. Man folgte einem Aufruf der Solidarność-Landeslei-tung an alle Streikenden, wieder die Arbeit aufzunehmen. Immerhin war das Hochschulgesetz mittlerweile Gegenstand von Beratungen einer Sejm-Kom-mission. Sie wurden von meinem Kollegen, mit dem ich zu Beginn des Jahres den Vorsitz einer Solidarność-Kommission teilte, als interessant und fruchtbar bewertet. Schließlich waren die Abgeordneten vor der Solidarność-Revolution nach realsozialistischen Gepflogenheiten im Frühjahr 1980 ge-wählt worden. Die Partei hatte sie nominiert, keiner mußte sich fürchten, nicht gewählt zu werden.

Da im ganzen Land niemand – auch kein Arbeiter – mehr streikte, konnte in der Nacht vom 12. (einem Samstag) zum 13. Dezember 1981 recht reibungs-los der Ausnahmezustand eingeführt werden. Nun war die Zeit der Reformen vorbei. Die Universitäten wurden fürs erste geschlossen. Die gewählten Rektoren wurden nach und nach durch ernannte ersetzt. Natürlich fanden sich solche – wenn auch mit Mühe –, die bereit waren, sich vom General nominie-ren zu lassen. Manche meinten, dadurch das Schlimmste abwenden zu kön-nen, was purer Unsinn war. Das Schlimmste wurde dann abgewendet, wenn

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sich genügend Leute fanden, die zu Protestaktionen bereit waren. Dann zogen sich die Machthaber im Krebsgang zurück. Zu meiner Zufriedenheit kann ich sagen, daß keiner dieser Ernannten in Polen heute eine Rolle spielt, eher im Ausland, wo alte Kontakte gern aufrechterhalten werden.

Nun galt es, wieder zur Wissenschaft zurückzukehren. Eine Zeitlang waren mir noch Auslandsreisen erlaubt, aber dann erfolgte die Paßabnahme auf dem Warschauer Flughafen, als ich mich zu meiner Mutter nach Ostberlin bege-ben wollte. Hausdurchsuchung und Verhör auf dem Polizeipräsidium mußte ich erleben – die Offiziellen wollten mich zum Verlassen des Landes „ani-mieren“, worauf ich mich aber nicht einließ.

Das Reiseverbot konnte ich nur schwer verkraften, aber es gab immerhin noch die Solidarność, wenngleich im Untergrund, d. h. es gab Freunde, die einem Mut einflößten. Und ich fand eine Möglichkeit, mir wohlgesinnte Wis-senschaftler (Germanisten, Philosophen und Vertreter anderer Fächer) aus Österreich, der Schweiz, Deutschland, Italien, Holland, Schweden, England und Holland einzuladen. Ein besonderes Forum bildeten die von mir alljähr-lich veranstalteten Konferenzen in dem Ferienzentrum „Bachotek“, das der Thorner Universität gehörte. Es gab damals eine Anordnung, daß alle interna-tionalen Konferenzen beim Ministerium für Hochschulwesen angemeldet werden müssen, sonst würden sie nicht finanziell unterstützt werden. Da ich wußte, daß ich (d. h. der Germanistische Lehrstuhl in Thorn) eine solche Unterstützung niemals erhalten würde, verzichtete ich auf eine Anmeldung und versuchte auf andere, inoffizielle Weise Geld aufzutreiben. Besonders hilfreich waren hierbei der damalige Leiter des Österreichischen Kultur-zentrums in Warschau, Richard Sickinger, sowie der damalige schweizer Botschafter Paul Stauffer. Die westdeutschen Gäste kamen zumeist auf eige-ne Kosten.

All das hatte bereits 1981, kurz vor Ausrufung des Kriegszustands, mit einer Konferenz über den Expressionismus begonnen, zu der Norbert Oellers mit einer größeren Studentengruppe erschienen war. Eine Geldsammlung erwies sich später als ein Segen. Wir konnten mit dieser Summe Studenten, die nach Protesten zu beträchtlichen Geldstrafen verurteilt worden waren, freikaufen. 1982 ging es um Wittgensteins Sprachphilosophie, 1983 um „Mystische und irrationale Strömungen um die Jahrhundertwende“, 1984 um „Autorität und Sinnlichkeit zur Jahrhundertwende“, 1985 um „Melancholie und Enthusias-mus zur Jahrhundertwende“, 1986 um „Auswege aus dem RationalisEnthusias-mus. Auswege aus dem Irrationalismus“, 1988 um „Das Makabre und das Niedli-che in Kunst und Literatur“. Mein Ziel war, vor allen den jungen Mitarbeitern

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eine Möglichkeit zu schaffen, die Ergebnisse ihrer Recherchen vor ange-sehenen Wissenschaftlern aus dem Ausland vorzustellen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Diese Konferenzen in Bachotek wurden im Laufe der Zeit zu einer kleinen Legende. Ich konnte sie auch noch nach der Wende eine Zeitlang durchführen. Wichtig wurden die beiden Treffen zum Thema „Hei-delberg als intellektuelles Zentrum zu Beginn des 20. Jahrhunderts und seine vielfältigen Nachwirkungen“; sie führten zu der Herausgabe des Bandes Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“ (1850-1950) (SAUERLAND / TREIBER 1994). In den 80er Jahren organisierte ich darüber hinaus als Leiter der Literaturabteilung am Germanistischen Institut der Warschauer Univer-sität internationale Konferenzen über das Schaffen von Ingeborg Bachmann, Hermann Broch, Rainer Maria Rilke und Robert Walser.

Ich war überzeugt, daß es uns auf die Weise gelungen war, mit der wissen-schaftlichen Entwicklung im Westen Schritt zu halten. Aber später mußte ich erkennen, daß die Geistes- und Sozialwissenschaften gerade in den 80er Jah-ren Horizonte eröffnet hatten, deJah-ren Bedeutung wir uns in Polen nicht bewußt waren. Es handelte sich eben nur um Löcher, durch die wir blicken konnten, die Öffnung zeigte dann, wie isoliert wir im Grunde gewesen waren.

Literatur

BACHMANN,INGEBORG (1974): Ein Gespräch mit Karol Sauerland. In: Literatur und

Kritik 86/87:367. Auf Polnisch 1974 in: Literatura na Świecie 8:166-173.

GRASS,GÜNTER (1976): Ein Gespräch mit Karol Sauerland. In: Literatura na Świecie

3:167-173.

KOTT,JAN (1961): Szkice o Szekspirze. [Shakespeare heute]. Warszawa.

LEHMSTEDT,MARK /LOKATIS SIEGFRIED (eds.) (1997): Das Loch in der Mauer. Der

innerdeutsche Literaturaustausch. Wiesbaden.

RANICKI,MARCELI (1955): Z dziejów literatury niemieckiej. [Aus der Geschichte der deutschen Literatur]. Warszawa.

SAUERLAND,KAROL (2004): Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und

die Folgen. Berlin.

– (2006): Literatur- und Kulturtransfer als Politikum am Beispiel Volkspolens. Frank-furt (M.)/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien.

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– (2008a): Der von den Machthabern initiierte Antisemitismus. In: EBBINGHAUS, ANGELIKA (ed.): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. Analysen und Berichte über

ein Schlüsseljahr. Hamburg, 86-93.

SAUERLAND, KAROL / TREIBER, HUBERT (eds.) (1994): Heidelberg im Schnittpunkt

intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Welt-dorfes“ (1850-1950). Opladen/Wiesbaden.

SZAROTA, ELIDA MARIA (ed.) (1972): Die gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über

Polen. Zeitgenössische Texte. Wien.

WITTFOGEL,KARL AUGUST (ed.) (1980): Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie

im 18. Jahrhundert. Karl Marx. Übersetzt von Elke Jessett und Iring Fetscher. Mit

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