Kraków2007
Magdalena Sitarz
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chülervonP
erets:
diefrühenN
ovellenvonA
vromR
eyzenAvrom Reyzen
Avrom Reyzen
(1876-1953)gehörte neben Dovid
Pinski(1871-1959), Hersh
DovidNomberg (1876-1927),
Sholem Ash(1880-1957), Perets Hirshbayn (1880- -1948) und Yitskhok Meyer Waysenberg
(1881-1938) zumengen Kreis der
ersten Nachfolgerdes Klassikersder jiddischen Literatur,
YitskhokLeyb Perets
(1851-1915).Wenn
man aber ganzpräzise sein
möchte, so müsste mansich der
Meinung von ShmuelNiger anschließen (vgl. Niger 1972: 107-108), der in
einem Aufsatz zumsiebzigsten
Geburtstagdes
Schriftstellersschreibt, dass Reyzen,
obwohl rund25 Jahre jünger
als Perets, eigentlichzur
gleichenZeit wie der
Meister jiddische Werke zu publizierenbegann und
somit zu denen gerechnet werdenmüsste,
dievon Anfang
an diemodernejiddische Literatur begleiteten und
mitprägten.Diese Meinung von
Niger istübrigens
eineder wenigen positiven
Aussagen,die dieserberühmte Literaturkritiker
überAvromReyzenmachte.Obwohl die ersten
jiddischen Werke von
Reyzenbeinahe gleichzeitig
mitdenen
von Perets erschienen, warder jiddische
Klassikerdoch der
Mentorund
Meisterdes
78 Magdalena Sitarz
jungen Schriftstellers.
Zu ihmund
zu SholemAleykhem schickte Reyzenseine
erstenWerke, zu
Perets ging ernach
seinerAnkunft inWarschau.
Inden Epizodn
funmayn
leben schreibtReyzen,
dass er mit dreiAdressen
in derTasche nach
Warschau fuhr-der
Adresse voneinem
billigenHotel, der
von Perets undder
vonder
ZeitschriftDer
Yud(vgl. Reyzen1929: 1,
192).Die Tatsache, dass er Perets
Ratund Hilfe
suchte,bedeutete jedoch keineswegs, dass seine Werke
denen desMeisters
allzuähnlich
waren. Wie esunter anderen Curt
Leviantbemerkt (ygl.
Leviant 1992: XIX-XX) lernteer von
Perets, wieman jüdische
Themensubtil
in literarische Werkeeinbetet,
auchReyzens Sympathie für
die Charaktere seiner Werke kommtvon
Peretsund von
SholemAleykhem.
DieUnterschiede liegen
jedochin der
Sprache, die von Reyzen war relativeinfach,
manbemerkt
zum Beispiel inseinen
Textenkaum Ironie. Unterschiedlich
war auch die Einstellungzum Humor, der
bei Reyzenentweder überhaupt
nicht vorhanden,oder sehr
still war. Auchder in
Perets Werken immer anwesendeSpiritualismus
ist beiReyzen
nichtso leichtzufinden.
Der
Schriftsteller schrieb Gedichte,
sowie Einakter,Novellen,
Erzählungen undSkizzen,
deren Thema vorallem
Bilderund
Gestaltenaus dem
jüdischen Schtetl waren.Von
den Kritikernwird
Reyzens Prosa alsrealistisch
und zugleich vollkindischer Einfachheit und
Güte bezeichnet.Seine
Protagonisten sindeinfacheSchtetl- -Menschen, eswerden
dem Leser keinegroßen
Ereignisse, keinedramatischen,
überstarkenPersönlichkeiten
präsentiert.In
meinem
folgendenBeitrag
möchte ich mich aufReyzens
früheKurzprosatexte
konzentrieren, die unteranderen
inzwei
Sammelbänden: New York 1952sowie
Warschau1955 enthalten
sind.Reyzens
Warschauer Periode, ausder
die von mir zu analysierenden Werkestammen, begann
imSommer
1899, alser
nach demAbschlussseines Militärdienstes und
einerZwischenstation in
Minsk indiese polnische Stadt umzog.
Jene Zeitist
imLeben des
Autors durchrege herausgeberische Tätigkeit geprägt.
In seinenverschiedenen Sammelbüchem und Zeitschriften
veröffentlichteer
literarische und literarisch-kritische Werke vonsich
selbst,sowie von anderen Autoren,
diesich
fürJiddisch
einsetzten.Außerdem
begann
erin jener Zeit mehr
Erzählungen, Skizzen und Novellen zu schreiben,bis dahin war seine literarische Tätigkeit
vorallem
durch lyrischeWerke
gekennzeichnet.Wahrscheinlich hängt dies
mitder Kristallisierung
seiner sozialen Überzeugungen zusammen, überdieer in den Epizodn
fun mayn lebnberichtet.
Reyzenschreibt dort
nämlich:„... hot mayn literarishe arbet bakumen a gevise rikhtung, vos hot mir shtendik, mit kleyne oysnamen, gefirt af dem, nokh mayn meynung, rikhtikn veg; natirlekh, in lilerarishn un sotsyalen zin” (Reyzen
1929: I, 190-191).
Während
des russisch-japanischen Kriegs (1904-1905) lebte Reyzen
in Wien und inKrakau,
da er Angst hatte, alsReservist wieder
inder russischen Armee
dienenzu müssen.
Dann kamer
nach Warschau zurück,lebte
eine Zeit lang in Minsk, dann wiederinWarschau,um
1907Russland
zu verlassen.Ein halbes Jahr
lebteer in Berlin, dann zog
ernach Krakau,
wo 1908 dieerste
Sammlung seiner Werke erschienenist.
Selbstverständlichhat
sich
Reyzenauchander Czernowitzer
Konferenzaktiv
beteiligt.1908 besuchte er
zum ersten Mal
Amerika,von den
Lesern mitBegeisterung aufgenommen, von
ShmuelNiger
kritisiert, versuchteer
eineKonkurrenz
zuden
Monatsshriften zu schaffenund gab
in Warschau einigeNummern von Literatur un kritik
heraus.Nigers Kritik
anReyzen
basierte vor allem aufder Überzeugung
des Literaturkritikers, dieLiteratur
könnesich
nichtentwickeln,
wenn siean einfache Lesergerichtet
werde (vgl.Shulman
1981: 464). Niger schrieb inden Literarishe monatsshriftn über
Reyzen:„Far mir iz in zayn sider ka ifile nito, nit far undz, far a sakh fun undz inleligentn. Mir hem zayn shtim, mit tsar un eynzamkeyt ongezetikt, ober undzer tsar iz an anderer, undzer eynzamkeyt iz an andere. Andere shtimn rufn undz un andere wundn efenen zey in hartsn ba undz” (zitiert nach: Shulman 1981: 464; das Zitat stammt ursprünglich aus: Niger Shmuel, Kneytshn, in: Literarishe Monatsshriftn.
Band 3, Vilne 1908, Sp. 78).
Seit 1909 wohnte Reyzen
wieder in Warschau.
Injener Zeitgab er
unteranderem
ein Wochenblatt unterdem Titel
Eyropeisheliteratur
heraus, ergehörtesomit
zuden
ersten, die dafürplädierten, dass
diejiddische Literatur Verbindungen
zuder
Weltliteratur suchensollte
(vgl.Shulman
1981: 466). 1910 hater
Warschauverlassen
undeine Rundreise durchParis, Londonund
Genf gemacht,dann ist er
nach Amerika gefahren. Vor demErsten
Weltkrieg gingReyzen wieder
nachEuropa, um dann
1914endgültig nach Amerika
zuziehen.
In
der
gesamten Warschauer Periode (1900bis
1910,mit Unterbrechungen)
hatder
Schriftsteller diejiddische Literatur
mitmehreren
Werkenbereichert,
ichmöchtemich
aufseine
frühen Prosatextekonzentrieren und
versuchen zuzeigen, wie
darinauch seine
sozialenÜberzeugungen ihren
Niederschlag fanden.Eine
andere Frage, die mansich hier unbedingt
stellenmüsste, ist, obReyzens
Werke wirklichso
einfach undmit wenig
intellektuellenAnspruch seien, wie man es
ausShmuel Nigers Kritik herauslesen
kann, zumalereigentlichder
Einzige ist,der den
Autorsoscharf kritisiert.
Von
den
meisten anderenKritikern
wurdeReyzen
gelobt (vgl. Byalostotski 1966;Glatshteyn 1966;
Kahn
1979: 39^14; Knox1975-76:
122-128; Madison1968:
197--220; Mark
1947;Mukdoni
1955: 207-218;Liptzin
1985:141-143; Pat
1954:261- -273; Ravitsh
1982:300-301), er
war auch bei seinenLesern sehr
beliebt (vgl.u. a.
Knox 1975-76:
122). Viele würdigten auchseine großen Verdienste für
die Entwicklungder jiddischen Kultur
undLiteratur
(vgl.Almi
1966;Prilutski
1966: 290--292). Zu
seinemEhrenwurdensogar
Gedichtegeschrieben
(vgl. Faynberg 1966).Es muss jedoch
an dieserStelle bemerkt
werden, dassviele,
die ReyzensWerke
priesen, anseiner
eigenen literaturkritischenTätigkeit
vielauszusetzen hatten, es
wurde ihmvor allemvorgeworfen,dass
eralle Werkeund alle
Autorenvorbehaltloslobte undauf
dieseWeise der Leser
dieBesseren von den
Schlechterennicht
mehrunterscheidenkonnte
(vgl. Almi 1966: 296; Glatshteyn 1978:143-145 und Mukdoni
1955: 216).Diese
ausgesprocheneGutmütigkeit des
Schriftstellers warübrigensder Grund, warum er manchmal
alsdi mame
fun deryidisher literatur bezeichnet
wurde (vgl. Mukdoni1955:
207-208). Mukdonischreibt dazu auch, dass
AvromReyzen die unbedeutenden und oft talentlosenAutoren
nichtnurlobteund
ihreWerke druckte,
sie wurden oftzu
seinenpersönlichen Freunden,
dieer
den großenund bekannten Gestalten
bevorzug (vgl.Mukdoni 1955: 209).
Dies maginsofern
interessant sein, daman dadurch
inseinem
eigenenLeben
Ähnlicheswie in
seinen Geschichtenbeobachtet,
nämlich das80 Magdalena Sitarz
Interesse für
diekleinen
und unbedeutendenMenschen. Eine
guteund
objektive Übersicht vonverschiedenen
Kritiken, dieüber Reyzen erschienen sind, gibt 1966 Shmuel
Rozhanski (vgl. Rozhanski1966)
inseinerEinführung
zu einerder
Ausgaben vonReyzens Werken.Die
meistender
frühen Kurzprosatexte,obwohl bereits in der Warschauer
Periode geschrieben, sindGestalten aus
Reyzens Heimat-Schtetl,Koydenov,
gewidmet.Koydenov
liegtin
Weißrussland, nur wenige Kilometervon
Minskentfernt
undheißt
heute Dzerzhinsk.Die Verbundenheit Reyzens
zu seinemHeimatort fand
auchviel später
unteranderemdarin
Ausdruck,dass
erRedaktor des
imJahre 1955 in
NewYork erschienenen
KoydenoverYIZKORBuches
war.Ich
möchtejetztfünf kurze Werkedes Schriftstellersbesprechen,
alle stammenausdem Jahr
1900, sind somitkurz
nachReyzens
Ankunftin
Warschauentstanden.
Eshandelt
sichdabei
um: Avrom der shuster, Der alter tshesler, Dioreme matse, Di
rirndike droshe,und
Dershmek
tabak.Ale fünf sind in der
New-YorkerAusgabe
enthalten,Avrom
dershuster,
Deralter tshesler und
Dioreme matse auch in
dem WarschauerSammelbuch, darüber hinaus kann
mansie(außer
Dioremematse) in der englischer Übersetzung
vonCurt
Leviant inder
New-YorkerAusgabe aus
demJahre
1992
lesen.
Ich habe nur
fünf
Beispieleaus
dembreiten
Spektrum des frühenSchaffens des
Autorsgewählt,
da ich auch ihre Formgenauer analysieren
möchteund notwendigerweise,
da ReyzensTexte
weitgehend unbekanntsind, auch
auf dieeinzelnen inhaltlichen
Frageneingehen
muss.Wenn es sich um
die allgemeinenThemenkreise der
frühenKurzprosatexte von Reyzen
handelt, sowerden
sie anverschiedenen
Stellenbesprochen
(vgl. Literaturliste), ich möchtehier nicht
dieschon bekannten
Forschungsergebnisse wiederholen.Dabei wollte
ich die möglichstfrühesten Werke
analysieren,um
zusehen,
wiedie AnfängevonReyzens Prosa
waren, zumalGlatshteyn
behauptet,dass seine besten
Prosawerke ausden Jahren
1900bis
1916 stammten (vgl.
Glatshteyn
1966: 306).Reyzen
schrieb zwarseine erste Novelle
schon imJahre1893
(vgl.Pat
1954: 269), aber,wie gesagt,
mehrereund auch die besten Prosatexte sind erst nachseiner
Ankunft inWarschau entstanden. Alle
untenbesprochenen
Geschichten stammen aus dem Jahr 1900,wie Pat
berichtetseidieerste von ihnen
Der shmek tabak.Reyzen schriebe
siean
einemVormittag,
Nomberg habeder Text sehr gut gefallen, er habe ihn gleich zu Perets gebracht.
Auf diese Weise sei Reyzender Novellist geboren
(vgl.Pat
1954:269).
AuchReyzen erwähnt diese
Geschichte inden Epizodn fun mayn
leben undschreibt, dass es
überhaupt dieerste war,
beider
ersichsicher
fühlte, dass siewirklich gut
gelungen ist(vgl. Reyzen1929:1,
219).Die
Protagonistender oben
genannten Prosatextesind
einfacheSchtetl-Menschen,
sie werdenmit
viel Mitgefühlund Wärme beschrieben, dabei
bettetReyzenuniverselle
menschlicheGedanken und
Problemein das liebevoll geschilderte jüdische
Milieu, in dem die Handlung seiner Werke spielt,ein.
Dadurchgewinnen seine Texte einen
überzeitlichen,allgemeinmenschlichen Charakter
und könnensomit
jeden Leser jederzeitansprechen,
ohnedabei
anihrer Jiddischkeit
zuverlieren.Bei der
Wahl der geschilderten Personen und Ereignisse kommen Reyzens
sozialeÜberzeugungen zur Sprache, seine Charaktere
sind vorallem
armeMenschen.
Siearbeiten schwer, versuchen ein anständiges Leben zu fuhren,
gleichzeitig
finden siesich
abermit ihrer Lebenssituation abund sind somit nicht
imstande, siegrundsätzlich
zuändern, auch wenn
es unterwegsauch
manchmal bessereZeiten
gibt.Sie
scheiterneinerseits
an ihrer eigenen Passivität,andererseits
an dengesellschaftlichen
Bedingungen, die ihnen aufgezwungenwerden. Dabei
siehtman jedoch in den
erwähntenTextenkeinen reformatorischen Aufruf,
ehereinsich Abfinden mit der
Weltund ihrer gesellschaftlichen
Ordnung.In
Avrom dershusterwird
die Geschichte einesSchusters erzählt, der
keineneuen
Schuhemacht, sondern von
denReparaturen
lebt.Somit ist für ihn das
wichtigsteEreignis des
Jahres dieherbstlichen
Regentage, die die Straßen des Städtchens soschmutzig und voll
blote machen,dass
die meistenSchuhe
darankaputt
gehenund
repariert werdenmüssen.
Leiderwird beschlossen,
die Straßen zupflastern, der
arme Schuster gehtschon
an diesemGedanken allein
zu Grunde,und
stirbtnoch
vorder
Beendigungder
Pflasterarbeiten.Der alter tshesler Leyzer ist
wiederum
ein Handwerker, er hat seinLeben
langHäuser für
anderegebaut, für sich
allein abernicht,
daihn
dafürniemandbezahlthätte.Als
seine Kräfte
nachgelassen haben, hat er keinGeld
mehr,kann
seine Mietenicht
bezahlenund steht kurz
davor, obdachlos zuwerden.
In diesem Werk sindder Universalismus und das
sozialeEngagement
des Schriftstellersbesonders sichtbar.
Obwohl
die Handlung imjüdischen Milieu spielt,wird
hiervor allem die mangelnde Altersvorsorgeder Gesellschaft
des19. Jahrhunderts
angeprangert.In Di
oreme matse wird darüber
berichtet,wie man
im Podryadbis
spätin der
Nacht Matze bäckt,alle sind schon todmüde, raffen
aber ihre Kräfte zusammen,um den letzten
Auftrag,für
den sie nicht bezahltwerden, dieMatze für
einearme
Witwe, inden
Ofenzubringen.
Di
rirndike
drosheerzählt von einem
Wanderprediger,der
zwarkeine
besondersgut gelungene Predigt anbietet, aber
trotzdemvon den
Zuhöremgut
bezahlt wird, daer inseiner Verzweiflung
erwähnt:„ikh bin a yid fun akht kinder, ikh bin shoyn fun der heym a yor, ikh hob zey gelozn on a groshn gelt”
(Reyzen 1952: 35).
Und
Der shmektabak
schildert ein trauriges Ereignis aus demLeben
einesarmen
Lehrers,Groynem, der
einesTages
endlichseinen ganzen Mut
zusammenbringt,um den gevir, Reb Jankev Sinkes,
anzusprechen,damit
er seinenEnkel
zuihm
als Schülerschickt.
Ernimmt aberzur Ermutigung Tabak ein,
was ernicht gewohnt
ist,und bringt das ganze
Gesprächmit
seinemplötzlichen
NiesenvorzeitigzuEnde.
Obwohl Reyzens
Texte ansich eher traurig
sind,gibt es in
einigenvon
ihnen trotzdemsehr
geschickt gezeichnete komische,vielleicht
eher tragikomische, sowieironische
Stellen.So z.B. in Avrom
dershusterdas Bild der
angesichtsdes Straßenkots ratlosen
Menschen:„In gas hot zikh shoyn oysgebildet di bavuste osyendike blote; wayber blaybn oft shteyn in der mitn gas rartsveyflt, lozndik amol di shikh; kleyne kinder trogt men ariber af di hent un mansbild rateven zikh aroys mit groys beryeshaft” (Reyzen 1952: 15),
oder
auchAvroms
Gedanken:82 Magdalena Sitarz
„... un gedankt Got, vos er hot bashafn klug di velt, az es mus zayn a tsayt in yor, ven in shtetl vert a blote un zayne lates geyen shtark on” (Reyzen 1952: 16).
Ohne
es
gewollt zuhaben
spricht Reyzen auch denheutigen
Lesermit seinem stillen
Humor an,wenner
schreibt, warumder
alteSchuster keine neuen Schuhe
mehr anfertigt:„Amol flegt er gantse shikh oykh neyen, nor zint es iz aroys di viste mode mit di ‘shmole nezer’, hot er ufgehert - er vil zikh nit narish makhn...” (Reyzen 1952: 14).
Tragikomisch ist auch die
Szene,
inder erzählt
wird,wie
die Zuhörer auf die Droshereagieren und wie der
Magiddanach
erstrecht nicht mehr weiß, wie und was
erredet:
„Onshtot ‘Shloyme Hamelekh’ zogt er ‘Dovid Hamelekh’, onshtot der ‘Midrash’ zogt er der
‘Zokhar?’ un farkert, er farkhapt zikh tsurik...” (Reyzen 1952: 35).
Ähnlich in ihrer Wirkung ist auch die Beschreibung,
wie der Lehrer Groynem das
Gesprächmit
demreichen Mann übt und später das Gespräch selbst,
als er aufReb
Sinkesniest
(vgl. Reyzen 1952: 39und 41).
Manchmal findet man
sogar ausgesprochen fröhliche Passagen,zum Beispiel in Di oreme
matse, alsalle glauben,
baldmitder Arbeit fertig
zusein
und Khaye Beyle ihr Liedsingt: „Yokl
izayungmitbeyner, un
dertsua khvat, un tsu Tsipkelen der sheyner,
khot er kheyshekgehat”
(Reyzen 1952:28).
Diesemfröhlichen Lied wird
inder
Geschichte die Aufgabeverliehen,
auf dieStimmung der
Arbeitendenhinzuweisen, es wird
gegen Endeder Novelle noch
einmalgesungen, wodurch
ein Parallelismuserzeugt wird:
zuerst sind allefroh,
da sie bald nachHause
gehenwerden,
dann abernoch fröhlicher,
dasieeinegute Tat
vollbringen.Interessant ist die Form
von Reyzens Werken,
sieist
keineswegs einfach und variiert innerhalbder besprochenen Texte,
diejedoch alleder
literarischen Formder Novelle
amnahesten stehen. Die
meistenKritiker
befassensich
vor allem mitdem
Inhaltvon
Reyzens Erzählungen, sieversuchen
kaum die Form zu analysieren, die Geschichtenwerden
einfachzusammengefasst
(vgl.Perets
1947: 162-165)oder
ziemlich allgemeingelobt,
nurKnox
(vgl. Knox 1975-1976: 125) deutetan,dass
hinterder
einfachen Spracheauch mehr
zufinden
istund dass man
inden Texten
zumBeispiel sehr
oftSymbole entdecken
kann. AndereKritiker
bemerken dieseEigenschaft von Reyzens Werken nicht,
einigebehauptensogar
ausdrücklich,es
wären bei demSchriftsteller
keine Symbolezu finden (vgl.Leviant
1992:XVII).
Die
fünf von
mirausgewählten
Geschichten, sindjedoch,
obwohl realistisch,um Symbole
zentriert, wasfür Novellen charakteristisch
ist.In Avrom
dershusterist es der Straßenkot, der das
schwierigeLeben im
jüdischen Schtetl symbolisieren könnte.Reyzen
selbst macht darauf in
seinen Erinnerungen aufmerksam,wie
esLeviant
bemerkt (vgl.Leviant,
1992:XVI). In
dieserHinsicht müsste
mandie Pflasterarbeiten als positive,optimistische Entwicklung
sehen, die möglicheFreude des
Lesers darüber gehtaber
amToddesHauptprotagonisten
zugrunde,der genau
durchdiesenFortschritt
in
seinen Grabgetrieben wird.
Damitwird
dieAusweglosigkeit des Lebens
im Schtetlangedeutet:
dieVeränderungen
sind einerseitsfür
dieweitere
Entwicklung lebensnotwendig, andererseits gehen dabei viele alte Berufe unddamit der
LebensunterhaltvielerMenschenverloren.Für
denZimmermann Leyzer
wird ein eigenes Hauszum Symbol
eines sorglosen Lebens, eineigenesHaus, das er
versäumthat zubauen, als ernoch
Kraftdazu
hatte.Leyzer
erkennt
zwarseinen Fehler, es
ist aber zu spät, umihn
wiedergut
zumachen.
Aufdiese
Weise
kommenauchhieruniverselle menschliche Probleme zur
Sprache.InDi oreme
matse
wird dieMatzezum
Symbolder Verbundenheit
andieReligion und
andieTradition,
diees
zugleichverlangen,sich um
die Armenzu kümmern: eineAimone
darfdoch
vor Peysakhnicht ohne
Matze gelassenwerden.In
der anderen
Geschichte, dieeigentlich
aufdemselben
jüdischenKonzept, dem
desMitleids, Rakhmones, aufbaut,
istdas zentrale
Symbol die Predigt,Droshe,diehier für den jüdischen
Drangnachder religiösen
Bildung stehenkann.Zugleich ist
aberdie Predigtrirendik.
Wiewird
dieDroshe rührend?
DiesesProblem löst
Reyzen wirklich genial: die besprochene Predigt hat die Herzender
Zuhörernicht dank ihrer inhaltlichen
Tiefe,auchnicht dank der
Darbietungsweisedes Wanderpredigers
gerührt,sondern
dankeines ganz
amEnde angehängten
Satzes,des
Hilferufesdes armen Magids.
Wenn
es
sichum
die letzteder besprochenen
Geschichten,Der
shmek tabak,handelt,
so könnte manhier
als denzentralen Gedanken
die Angst sehen.Es ist
die überwältigende Angstdes Lehrers, den
reichen Mann anzusprechen, eineArt der
Angst, die oft auchin
anderenTexten
Reyzens zusehen
ist,der
Angstder
armenMenschen,
dieReichenum
einenGefallen
zubitten.
Hier wirddieAngst
überwunden,es
bringt abernichts, der unüberlegterweise
eingenommeneTabak
sorgtfür
ein schlechtesEnde des
Gesprächs.Ein anderes
Charakteristikum der Novelle
ist ein Wendepunkt, zu dem sich dieerzählte Begebenheit
zuspitzt. InAvrom
dershuster istdies der
Beschluss, die Straßendes
Schtetls zu pflastern,in Der
alter tsheslerdas Moment,
indem der
alte Zimmermann realisiert,dass es
wirklich keine Möglichkeitmehr
gibt, dasfür
die Bezahlungder Miete
notwendigeGeld
aufzutreiben, Di oremematse
hat ihrenHöhepunkt in der
Feststellung,dass der Auftrag der Witwe vergessen
wurde,in Di
rirendikedroshe bedeutet
dieverzweifelte
Bittedes Wanderpredigers um
Rakhmonesden
Wendepunkt, die Geschichtedes Lehrers
Groynem spitzt sich zu, als erseine
Angstüberwindetund Tabak einnimmt. Vor
demHöhepunktgibt es
beiReyzen
immereine längere
Exposition, die denLeser in
die erzählteBegebenheit einführt
undzugleich
die jeweils relevantenAspekte
desLebens
im jüdischenSchtetl
veranschaulicht,nach der
Zuspitzunggehen
diemeisten Novellen schnell
zuEnde,
wobeinurinDeralter tshesler der
Ausgangoffen bleibt.
In
seinen
Texten benutzt Reyzen verschiedene Erzähltechniken. Inden
besprochenenNovellen haben
wirmiteinem auktorialen Er-Erzähler
zu tun,der aber sein
Wissen nichtmissbraucht und sehr
oftder personalen Erzählsituation den
Weg räumt,wodurch
dieTexte natürlicher und
nichtbelehrend
wirken. Amhäufigsten
wirddabei aus der persönlichen
Perspektivedes jeweiligen Hauptprotagonisten
erzählt, seies der
SchusterAvrom, der
ZimmermannLeyzer, oder der Lehrer Groynem.
InDi
oreme matse
istes
oftdieErzählperspektivevon Khaye Beyle,
die jedochmit
der Perspektive eines außenstehenden
Beobachters wechselt,wodurch
die Geschichtekeinen
einzelnen, sonderneher
eine Gruppe vonProtagonisten, und
nämlich die beidem Backen der
Matze arbeitenden Menschen,erhält.
In Dirirendike
droshe istes
84 Magdalena Sitarz
dann
nur einaußenstehender
Beobachter,der berichtet,
er könnteeigentlich
mitdem ganzen
Schtetlgleichgesetzt
werden,so enthält
auch diese Geschichte keine einzelne Hauptfigur, sondern eine ganze Gruppe, die Bewohner des Schtetls. DerWanderprediger
isthiernurder
auslösendeFaktor, jedoch
keinHauptprotagonist.Außerdem
werden in den
besprochenen Novellenin
denBericht
des jeweiligen Erzählers auchDialoge,
innerliche Monologeund
Erinnerungen, sowiekurze Fragmente der
Gebete undder Volkslider
eingeflochten, was die Erzählung lebendiger,interessanter und natürlicher
macht.Reyzens
Erzählkunst
war deutlichvon Anton
Tschechows(1860-1904) Novellen
beeinflusst,der
jiddischeSchriftsteller
zeigte ähnlichwie der
russische Meister anständige Menschen, diejedoch
wegendem
Gefühlder Hilflosigkeit
ihrLebennicht
verbessernkönnen.
Beiden beiden
Schriftstellernsieht
manrealistische
Darstellungen, wobeidie Charaktere
vorder
Handlungbevorzugt
werden,was
übrigensder
realistischenAnschauung
entspricht, Literaturunterscheide
sich dadurchvon der
Fotografie,dass
die letzte nur ander
Oberflächeder
Dinge stehen bleibe,wobei der
literarische Blickhinter
diesichtbaren
Oberflächengehe.
In denvon
Reyzenund Tschechow erzählten Geschichten wird darüber
hinaus diePassivität des
Lebens zwar entlarvtund kritisiert, es
wirdaberdavon
abgesehen,den Leser
zubelehren.
Es gibt
aber auchUnterschiede zwischen
demrussischen und
dem jiddischen Schriftsteller,während Tschechow
oft diementale,
emotionaleund
kulturelleVerwahrlosung
seinerProtagonisten
anprangert, schildert Reyzen zwar armeund
oft ungebildeteMenschen,lässt
siejedoch
dankder
Verwurzelungin der
jüdischenKulturund Tradition trotz
aller Misereihres Lebens
einenkeineswegs geringen
moralischen Standardrepräsentieren, sowie
dieBildung
imhohen Ansehen
halten.Die Ähnlichkeiten von Reyzens
Werkenund denen von Tschechow
hat man übrigensschon sehr
frühbemerkt und gewürdigt.
NochamAnfang seines
Warschauer Aufenthaltes, imSommer
1900, hat Reyzennämlich einem Bekannten einige
seiner vonNomberg
als weniger gelungeneingeschätzten
Erzählungengegeben,
er soll sie unterseinemNamennachWien, zur Redaktion von
Divelt
schicken,vielleicht
werden sie veröffentlicht, dann würdeder
jungeMann, der sich
mitHebräischunterricht
sein Geld verdiente, als„gedruckter
”Schriftsteller
mehrund bessere Schüler bekommen.
Beidewaren
sehr überrascht
als ausWien
eineenthusiastischeAntwort kam, der
Autorwurde
gelobtund
eben zuTschechow verglichen. Reyzen
berichtetdarüber in den
Epizodn funmayn
lebn(vgl. Reyzen 1929:1, 283-284).
Rekapitulierend: Reyzen schrieb
zwar
miteinfachen Worten, gebrauchte
unkomplizierte Bilder,seine Texte
warenaber keineswegs
nur an ungebildete Lesergerichtet.
Vomtiefen Sinn für
die sozialeGerechtigkeit,von der Liebe
andieeinfachen
Menschengeprägt,vermittelten
sie überzeitliche, universelle Wahrheiten,ohne
jedoch direkt zuReformen der gesellschaftlichen
Ordnung aufzurufen. Dabei zeichneten sichReyzens Novellen von Anfang
andurch hohes
künstlerischesund
erzähltechnisches Niveau aus.Und wasan ihnenheute
besonderswertvoll erscheint,
sieführtenzugleich
das
tagtäglicheLeben des jüdischen Schtetls
vorAugen.
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