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Geschichte der deutschen Litteratur. 2 Tl., Seit dem Ausgang des Mittelalters

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Academic year: 2021

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D e u tfc fy e

(6)

£ ) e u t f d ? e

B a f t t m a l - X i t t e r a t u r

£?iftorifcf? fritifcfye A usgabe

U nter ZHitroirfung

DOtl

Dr. ?CrnoIb/ Dr. dB* OSalfte, prof* Dr. B* SSartfcJj, prof* Dr. ft* OSedjflein, Prof, Dr. <©* 03efjagJjeI, pr<Jf* Dr. 25itlfnger, prof* Dr. $* OSIümner, Dr. tf* 23o6ertag, Dr. fi* OSopöerger, Dr. HD. £rei3enadj, Dr. 3fofj* «Itüger, prof. Dr. ©untser, Prof* Dr. 55. frep 3T» fu löa, prof* Dr. %* feiger, Dr. fi* Hamei/ Dr. <£* Henrici, Dr. jta* Tftocö, prof* Dr. Bf* Xam&el, Dr. ß* ^rtjr* b* Xiliencton, Dr. <ß, jfläiltfjjadi, prof* Dr. % ^ in o t/ Dr. f * joaundfter, Dr. $* ^errlidj/ Dr. ]$* ©efterlep, prof* Dr. ®* palm, prof* Dr. #* piper, Dr. $* J^cö&le^ Dr. m o lf ßofenöerg, prof* Dr. %. $ au et, prof.

Dr. ß* % |>cJjröer, ß* Steiner, prof* Dr. 2C* £tern, Prof* Dr. jt* ©etter, Dr. <c. t^enbder, Dr. Cfj* Eofling u. a. fyerausgegebert u o n

3 ofcpt7 £ürfd?rter

163. B a n b g r o e i t e A b t e il u n g

(5efcfyid)te b e r öeutfcfyen C ttte ra tu r I I

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läntxm Xteutfcfye Derlagsgefellfdiaft

(8)

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M e Hecfyte Vorbehalten

(9)

H

adjfolgertber litterargefd^id^tltd^er

3

wedfen, wie ber £itel be§ großen ©ammelwer!e3 angeigt,

2

lbri

{3

bient feinen befonberen bern er al§ £)iftorifd^eö ©eleitwort beigegeben ift. @r bebarf bafyer nid£)t ber Rechtfertigung, beren heutzutage ntemanb ftdf) ent= fdjlagen fönnte, welcher ben SSeruf in fid^ füfylt, ben vielen t>or= fyanbenen ®arftellungen ber beutfc^en £itteraturgefdf)id()te eine neue anzufügen.

2

Bof)l aber beanfprucijt er einige einfüljrenbe Semerfungen über ben $Ian unb bie leitenben ©runbfä^e, nad^ benen er gearbeitet ift. ©rfcfjeinen Aufgaben unb SBeruf be3 §iftorifer3 überhaupt gegenwärtig eifriger prinzipieller ®i3fuffion au§gefe£t, fo ift biefe Erörterung auf bem litterarifdjjen $elbe gerabegu unau^roeid^Iid^ geworben. @3 finben fidfj bafür mannigfache ©rünbe.

2

Ba§ man nod) im vorigen $al)rf)unberte ©elefyrten= gefdjidjjte nannte unb gegenwärtig, wo ficlj biefer begriff in ber £f)at nur nodi) fefyr teitweife aufred^ter^alten lief$e, beffer all= gemein Sitteraturgefdfjid^te nennt, ift wefentlidj au3 ben 93er£)ält= niffen unb bem 33ebürfniffe ber neuen 3eit tjeroorgewacfjfen. ®er 93üd^erbrudE — jebermann weif$ e§ — fyat biefe 33erljält= niffe gef^affen. ®a§ praftifd^e 93ebürfni3, ba3 fidjj barauffyin im menfd)lid)en ©eifte geltenb madfjte, war Drbnung unb Sid^t in ba3 6J)ao3 ber Sitteraturergeugniffe §u bringen, ba§ un3 nadf) $eit unb Raum afä ein immer fyöfjer fdjwellenbeS SKeer umgiebt.

Solange bie 9Jienfd(^eit nur mit 50tanuf!ripten if)ren geiftigen SSerfe^r beftritt, erfcfyien biefe Aufgabe weit einfacher. ®a3 9Jianuffript ift nur ba3 23ef)ifel einer geiftigen ©efettfd^aft, bie ftd) afe foldfye perfönlicf) fennt, räumlich in $üfylung unb ^iftorifd^ burdi) Srabition miteinanber verbunben ift. ©o ift e3 im

2

l(ter=

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tum, fo ift e§ im 9)fittelalter. 5)lit bem 33üd>erbrucf rourbe bie geiftige Mitteilung allgemein, frei, unfontrottierbar.

2

Benn mit ben fteigenben (Meisterungen ber £ed(jnif unb bem

2

ütffdpung ber ^nbuftrie e§ je|t fdjon längft bafyin gefommen ift, im ®rucf nur ben 33ertrielfältiger be§ 9Jianuffript§ für fo unb fooiel ge= fonberte ©efettfdjjaftäförper unb ^ntereffenfreife ju feljen, fo bleibt nid)t§befton>eniger bie ibeale

2

JtögIicfyfeit ber allgemeinen freien geiftigen ^Mitteilung ein unoeräufjerlidjeS Sorrent be§ SBüdjerbrudfö, ba§ refpeftiert fein mitt.

2Bir Ijaben feitbem ein $ubli!um in ganj anberem Sinne unb Umfang, als e§ bie Sitten Ratten, »om SRittelalter ganj gu gefdjmeigen. ®ie Vorteile unb -Jlacfjtetfe für ben ©tanb unb bie _ SBerfaffung be§ ©eifte§ motten mir hierbei nidEjt erörtern, ©onbern mir motten baran erinnern, bafj e§ biefer gemaltige neue $aftor im geiftigen Seben ber SJlenfdfjfjeit gemefen ift, ber juerft benlenbe $öpfe barauf gebrad£)t Ijat, neben ben oerfdfjiebenen unmittelbaren Slufgaben be§ ©eifte§ ftd^ bie gleidE)fam mittelbare einer Unter= fudfjung ber geiftigen 2Sir!ungen im attgemeinen gu ermäßen. 9Jian !ann biefe neue STenbens anfteigenb in ber ©efcfjid^te ber ^pijitologie nerfolgen, berjenigen SBiffenfdEjaft, melier bie Dbfyut unb pflege be§ erroorbenen ©eifte§fdjja|eS ber 9Jlenfdj)I)eit an= oertraut ift. 33on bem äußerlichen ^ntereffe am SebenSgange unb ben SebenSumftänben ber ©dEjriftftetter, non ber $atalogi= fierung ifjrer Sßerfe, bem Sobe ifyrer Sßerbienfte fdfjritt man ju fummarifdjer $ritif iEjreS ©I^arafterS, ifyre§ STalentö, jur 9Bert= beftimmung unb gegenfeitigen

2

Ibmägung iEjrer Seiftungen fort. 5Die terifttlifd^e $orm, in ber mir bei einem fc^on fo au§fcpef?lic£) litterarljiftorifdfjen ©eifte mie 33at)Ie nod!) biefe uniüerfalbiograpfjifdEje £f)ätigfeii ausgeprägt finben, roicf) immer mefyr ber Ijiftorifdfjen Slnorbnung.

2

Bo man früher nur Aggregate gleidjjjeitiger ober etnanber abtöfenber ©djriftftetter fafi, lernte man nac| unb nad^ ©ruppen, ©cfjulen, medjfelnbe Strömungen jufammenäufaffen. § erb er erfdfjien unb ergriff biefe !£enben

3

mit ber if)m bafür eigenen StuffaffungSgabe, bem fixeren 5£aft, ber fidf) bem ©eifte ber oerfd^iebenen Seiten unb 33ölEer gleidfjmäfjig Ijingebenben Segeifterung.

®ie .Gsrgebniffe ber neuen 33etrad§tungSmeife überrafd^ten unb nahmen ein. @§ ift lein Sßunber, baß fie mo^l aud) bienbeten unb »erroirrten. Slntfyropologifcfje, etfynograpljifdfje unb gefc^td;t§=

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pt)itofophifdje ^^eoreme beinädjtigten fid) tfjrer ju entfd)iebenen Behauptungen mit immer füfynerer 33orauSfe|ung. 5Dtan Ijatte faum einige notbürftige ßrfaljrungSbegriffe gefamtnelt über baS gemeinfame ©epräge in ber geiftigen ^ß^fiognomie oon feiten unb 33ölfern, fo begann man fie aucf) fdjon tranSfcenbental ju faffen, fie ju ©efe|en, ©runbbebingungen, SDogmen §u ftempeln. ©rfdjeinen ber natürlichen 2lnfd)auungSroeife bie geiftigen 3tuf?e= rungen beS Gsin^elnen als bie gaftoren, bie ba§ geiftige ©efamtbilb einer fic^ fennbar abgrenjenben Gspodje, eines charafte= riftifdjen 33olfstum§ beftimmen, aus benen eS fid^ gleicfjfam jufammenfeijt, fo mußten je|t umgefefjrt jene ©fernen aus ber fubjeftioen

2

lbftra!tion ber $orfd)er bie Zeitalter, bie (Sphären, bie Waffen ben ©runb abgeben für bie Seiftungen ber ei^elnen ©eifter, großer unb Heiner, ©ie waren nur nod) Slafen, bie irgenb ein fidj felbft^errtid^ roanbelnbeS, abftufenbeS, unterfdjeibenbeS gluibum aufroarf. 2BaS biefeS wohl bebeuten foHte, barauf gütete man fidj forgfältig ein^ugehen. (Sbenforoenig wie fidj biejenigen, roeldje folcfje Behauptungen aufftettten, wohl ©ebanfen malten, wie i^r eigener ©eift fid^ unter biefem ©eftcfjtSpunfte auSnehmen möge. SRan begnügte fidj mit bebeutfamen §inweifungen auf autoritatioe $h^°f°P^’en/ 10'e l- ^ie ©ptnoja, ber man bodj wohl Unrecht thut, wenn man ihre ibeale 9Jeceffitation für fo bequeme Schlüffe eines metapljorifdjen §i)losoiSmuS oerant= wörtlich macht.

^ßarabojien in ber SBiffenfdjaft wirfen nidjt nur oft redjt heilfam felbft auf ihren ftrengen ©ang, fonbern ftetS unterhaltenb unb auf bie SJtenge anjiehenb. Semädjtigen fie fid) eines geift= reichen, poetifc^en ÄopfeS, wie ber jüngft oerftorbene !£aine, ber fooiet @ad)fenntniS unb Urteil befitjt ftch in feinen that= fachlichen Untersuchungen burdj fie nicht eben ftören §u laffen, fo oerlei^en fie wirflidjem wiffenfdjaftlichem SSerbienfte einen 53ei= gefdjmacf t>on pricfelnbem Qntereffe, ber weit entfernt ift burcf) STrodenheit abjuftofjen, roie biefer ©djriftfteller oon feiner medja= niftifchen ^heor^e 5U befürchten corgab. !ytn ©egenteil! 2)aS -^ublifum hört eS recht gern, bafj eS im ©runbe all ben oielen ©eift felber madje, ben e§ jahraus, jahrein fonfumiert. @S läfjt fich mit Vergnügen als rotierenbe SJJafchinerie behanbeln, beren SBirfungen nach einem „notroenbigen Sijftem oorhergefejjener 33e= wegungen" im »orauS ju berechnen finb. ®enn — „alois

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peut-ötre on pourra prevoir!“ ift eine fo I)ü£>fd)e ©aclje um baä prophezeien. ®as ^ublifum aller feiten hat e§ immer gar ju nett gefunben.

9?un fönnen aber ^arabojien bocfj aud) if»re unberechenbaren 9lacf)teile haben, wenn fie nad) unb nad; ba§ ftrenge, forrefte ®enfen ju beeinträchtigen unb fich ’n

^ei1

^ftang »on ($rfennt= niffen gleichfam tumultuarifch, menn audj) nur für Zeiträume, ein= äufe|en fuchen. SDiefe Nachteile fönnen tl)eoretifd) wie praftifd; fühlbar werben. StEjeoretifc^ — benn fie beunruhigen aläbann, ftatt anjuregen. ©ie halten, roie 'n unferem gaffe befonberS ju bemerfen, erneute Bemühungen um ©icherfteffung ber

2

Baf)r-' |eit auf, bie fie gerabe hatten aufrufen follen.

©0

ift, um nur eines anjufüljren, ba§ ganje große ©ebiet geiftiger gorfdjung, baS ben SEhatfadjen ^er M itteilu ng

5

U ©runbe liegt, feitbem £eibni| e§ jum erftenmale in§ 9Xuge gefaßt hat, »öffig unbeftefft geblieben. ®ie§ nur erflärt bie unficher taftenbe, »öffig gufäffige, äußerliche

2

lrt, mit ber man gegenwärtig bie ©ntftehung »on Sbeen,

2

ln= fd)auung§= unb ©mpfinbung§moti»en, ©tjmbolen, SJJebetueifen burd) unabläffige chronologifclje 9Jücf»erfolgung »on jebem gegebenen Sofal au§ ju berioieren fudjt. 3)can glaubt fich herbei auf bie Methobe ber 5Raturwiffenfchaften berufen ju fönnen. Slber biefe unterfucf)t erft bie

2

lrt unb 2lu§bilbung3weife ber üeitne, Beziehungen unb Unterfdjiebe ber formen, fpejififdje Äennjeidjen u. f. w , ehe fie an S^eorien ü^er £>erfunft unb Berbreitung geht. SDurch biefe allein glaubt fie nod) nidjtä erflärt. ©ie hat ihre 3lnatomie unb ^h^^Ste- ^ efe auf unferen ©e= bieten? §ier weiß man fidfj fchon fehr oiel, menn man ba§ SBort „(Sntmidlung" in möglichft leerer unb unbeftimmter Berroenbung, aber mit ber ganzen Sicherheit be§ „ejaften" gorfcher§ au§geftattet im 9)Junbe führt.

Bon ben praftifchen Siad^teilen, bie jene Sehren im ©efolge haben, fönnen wir in biefem gufammenhange faum reben. ©ie berühren mehr ben ^äbagogen, ben SRoraliften, ben Stfthetifer. 9Kan frage fich: wa§ hat ©eifteSwiffenfchaft noch für e'nen er= jiehenben $wed, wenn fie bie Unmöglid)feit einer Bilbung au§ fich heraus, einer methobifd^en Übung unb 3lu§geftaltung ber inneren Kräfte ju ihrem ^Sringip erhebt? 3Ba§ hat fie für einen etlichen, menn fie ber ©eele feine anberen 3Iu§fid)ten eröffnet, al§ bie einer ftumpfen bebingungSlofen

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lbhängigfeit »on ben

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©inmirfungen tf)re§ „Milieus", ber Sftaffe, ber ©phäre, beS 3«'*= pun!t§; bie unau§meidj)Iiche Unterwerfung unter einen herrfdjenben ©eifteäjug (faculte maitresse), ber bod) tt)of)l meift ein trioialer ober nichtSmürbiger fein wirb? Senn nrie allgemein unb mie wenig erbaulief) ftnb boc^ burdjmegä bie geiftigen Kennzeichen ber Staffen,

2

iren unb Sofalitäten im rein antfyropologifcfjen unb et^nograp^if^en ©inne! Unb ba jener ©eifteSjug ba§ notroenbige, ju bererihnenbe, ftereot^pe 9iefultat be§ „Milieu§" ift, melch fd)Iimmen Sroft giebt folc§e Sßiffenfdjaft ber Äunft, bem Zünftler, ber auf 2lbmeid§ung, auf Unterfdjeibung, auf freien 2lu§brud feines inneren 28efen§ fein SSirfen gefteßt miffen möchte! ©e^en mir bodj bie ^ o

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en auf biefe

2

Infäfe fcfjon a % t beutlid) im ßljarafter unferer geit, ber Mecljanifierung ber ©efeKfdjaft, ber Uniform in 2itte= ratur unb Äunft. SBenn bie Philologen je|t oerblüfft oor ber 2II)atfac|e fielen, baß bie Seitung ber ©djjule ihren ^änben ent= gleitet unb in bie ber -Jiaturfunbigen überjugeljen broljt, fo müffen fie eben bie ©rfa^rung machen, baß aud) Sßiffenfdjaften mit ihrem eigentümlichen d^arafter il)r Sebenäredjt aufgeben; baß bei ben fortroäfyrenben fcfjiefen, fyaltlofen Bezügen auf bie 9iaturmiffenfd^aft man uon autoritativer ©eite ganj lonfequent »erfährt, ftd) lieber an baS ed)te, Ieiftung§fähige Mittel ju fjatten, ftatt an baS fdjmächlidje ©urrogat.

$dj fann alfo ben „Specht unb SSernunft beliebenben Sefer" (eine fdfjöne, roenngleid) etroa§ altmobifdje Slnrebe) barüber be= ruhigen, baß er ba§ ©tidjroort „milieu“ auf ben nad[)folgenben ©eiten nicht mehr anjutreffen ©efahr läuft. ©djon bamit er fich über ben Berftoß gegen bie Sogif nicht ärgere, ber für bie beutfclje

2

lu§brud§roeife barin enthalten ift. SBir benfen un§ unter „milieu“ bie Mitte, ba§ in ber Mitte Sefinbliche unb boch folt e§ ba§ bebeuten, mag um bie Mitte herum ift, ma§ barauf (Einfluß übt. ®ie menigften, bie ba§ SBort je|t in ben Leitungen liebfofen, mögen freilich miffen, baß e§ nur eine Uberfe|ung be§ lateinifdjen medium unb einen urfprünglicljen Terminus ber ^taturroiffenfdjaft barftellt, roo man oon trüben, flüffigen u. bgl. Mebien ju fpred^en gemohnt ift. Sluch ba bebeutet e§ nur ba§, raa§ fidh irgenbmo mitten inne befinbet,

2

Baffer, Suft u. bgl, nid^t aber ben Umring ber auf einen in ihrer Mitte befinblidjen ru^enben Körper einroirfenben Kräfte. Um foldje aber, um be= ftimmte ftanboeränbernbe Kräfte, unb nidE)t bloß allgemein um

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qualitatioe unb quantitatioe 33eränberung (etroa burdfj Nutrition, ©nbogmofe!) foll e§ fic^ bod^ auch nach jener Slnfdfjauungäroeife hanbeln. ©priemt bocE) audj SCaine non „l'histöire reduite ä une geom etrie des forces“ ! 2Benn man fefjon 23orfteIlung§weifen au§ fremben

2

Biffen§gebieten entlehnt, marum giebt man fidj ntd^t 3^echenfd)aft über fie? üffiarum bemüht man fich nidfjt, fie einheitlich, etnbeutig unb burchgeljenb in Übereinftimmung ju geftalten?

Um Kräfte, um geiftige Kräfte hanbelt e§ fich ber &hat fomohl in ber ©efchidjte im befonberen ©inne, al§ in ber ©eifteS= gefchidjte im allgemeinen, wooon bie politifdje mie bie

2

itteratur= gefehlte nur ein SCeil ift. SDiefe Kräfte finb für bie ÜBemunft unweigerlidj an bie Perfönlichfeiten gebunben,

2

Bir haben gar feine anbere Möglichfeit fie p faßen. ®enfbequemlid)feit unb ÜJlpftif, bie meift in beren ©efolge ift, mag fich hier bei un= beftimmten Sorftellungen non geiftigen Maffenfräften beruhigen. ®a§ ®enfbebürfni§ roirb fich fchließltdjj ftetS oeranlaßt fehen, biefe gleidjfam aufjubröfeln, fie immer weiter unb höher fort= fchreitenb in Einzelheiten, neben=, über=, untergeorbnete, in be= ftimmenbe, folgenbe, gegenftrebenbe unb fo ohne (Snbe fort auf= julöfen. ©ollen mir nicht lieber gleich fagen, baß bie§ baS ©efdjäft be§ §iftorifers im haften geiftigen ©inne überhaupt bebeutet? Stanfe wenigftenS h°t es> f° gefaßt. (Sine geiftige Kraft b. h- eine Perfönlidjfeit tritt ein in biefe SBelt ber ,3wede. ©ie finbet fich in ber golge tton fo unb fo trielen ftärfer unb fchroädjer beftimmenben, im herein mit fo unb fo oielen mehr ober minber gegenftrebenben, mit benen fie — unb nur fie — fidfj auäeinanberzufetjen hat- ©ie roirb ihre ©tellung wählen, fie finbet ihre $roede, fie roirb folgen, gegenftreben, beftimmen, fie tritt

51

t anberen, gegen anbere, über anbere, in roeldjjent SSerhältniffe ober Kretfe e§ auch fei. SSon ber breiten SafiS bis jur höchften ©pi|e, oon ben ÜRieberungen beS allernächften SebürfniffeS bis üu ben §öhen, auf benen bie ©ireftioen für bie ©efdjicfe ber SSölfer, bie ßuftänbe ber Menfchheit gefaßt roerben, immer baS nämliche, unauflöslich in fich oerbunbene unb »ermittelte 33ilb ©iefe Kräfte ergänzen fich, treten §ufammen, fchieben fich ^urch= etnanber, heben einanber auf — je nach ihrer Konfiguration, ©ie fchaffen ihren ©efdf)[edfjtern 93ebürfniffe ober fommen foldjen entgegen, bie fich gegen bie SEenbenj ihrer Vorgänger fühlbar machen. $n ihrer höchften Sebeutung fchaffen fie ihr SSolf,

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if)r 3 eitalter, fe‘ burd) ©efe^gebung, ^eerjüge, ^ßolitif, burcf; ©rfinbungen unb ©ntbecfungen ober burdj Jybeen, ^nftitutionen, Kunftroerfe. $a bi§ auf äußerliche Äenn^eidhen: ©ebräudje, Straft unb 2)tobe, ©tilformen roirb e§ un§ möglid) fein iE»rert Ginflujj ju »erfolgen, wenn roir bie ©efeijmäfjigfeit in ber ©pmbolif be§ 2lusbrucfs, bie © pftem atif ber fünftlidjen Reichen uns einmal flarer j$um Seroufjtfein gebracht £;abert werben.

©ieS möge furj jur Rechtfertigung bienen für bie 2lnfdjau= ungen, bie uns bei ber Konzeption ber nadjfolgenben Kapitel beutfdjer Sitteraturgefd^ic^te geleitet Ejaben. Über if)re 2l 6grenjuttg unb bie (Sinorbnung beS SQiaterialS in fie fann man roie überall in fliefsenben SSer^ältniffen im einzelnen abroeichenber 9lnfidj)t fein, ^m gangen rechtfertigt fidfj bie 33eftimmung ihrer Slnlage roohl uon fetbft, unb auch im befonberen roirb man hoffentlich niemals bie 9JJotimerung ober jum minbeften bie Steuerungen üermiffen, bie un§ oeranlafst fyaben, bie ®inge fo unb nicht anberS §u ftetten. 9Rur motten roir hierbei noch befonberS in Erinnerung gebradjt haben, bafs nach bem 5ßlane beS ©ammelroerfs, auf ba§ roir fjinroeifen, eS fidj hie* um eine ©efchid)te ber beutfdjen 9iationat= S itte ra tu r h<*nbelt. ®ie ®id jtun g als für fic^ beftefjenbe unb fid^ in fich felber fortbilbenbe Kuuft ftefjt alfo auSfd)IiefsIidj im SSorbergrunbe unb alle übrigen litterarifdjen SSer^ältniffe fönnen nur anflingen. Sei einer ®arftellung ber beutfdjen ©eifteS= gef Richte in ber ©efamtljeit ihrer litterarifdjen ®o!umente müfjte bie änorbnung nielfadh anberS auSfatten.

S ie §inroeifung auf burd)au3 guoerläffige, burdjroegS oon Facharbeitern 5. SE. auSgiebigft unb nortrefflich eingeleitete 2tu8= gaben erleichtert in unferem $atte bie gelehrte Kleinarbeit ber ©täte unb Roten gang roefentlid). 2öir h^en uns im Zitieren ber $ad)litteratur baher mit gutem ©eroiffen Referee auferlegen bürfen, um ben fo erfparten Raum, roie bie gefammelte 2Iuf= merffamfeit beS SeferS h'er gang ber I)iftorifdjen Überfielt ju= roenben ju fönnen. Sffögen uereljrte $ad)genoffen, roenn fie gelegentlicf) Sßerroeifungen auf ihre Slrbeiten üermiffen füllten, be§I>alb nidjt glauben, bafj roir foldje überfeinen haben ober ihnen nicht gerabe oiel uerbanften. Mitunter mußten roir geringerroertige 5Konographien ermähnen, blofj roeit fie für geroiffe Partien bie einjigen finb, anbere bagegen an überfein ©teilen ober als aus unferem Rahmen herau®fQIIenb unterbrüdfen. Sem SBerfaffer

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burfte e§ rooljl geftattet fein, eigene gorfdfjungen unb 3lnfd)au= ungen burd) ben .£>im»eis auf ihre fadjmäßige Segrünbung ju ftü^en. hierbei fei bemerft, baß er gelegentlich auch bie @r= gebniffe nod) nicht oeröffentlid^ter Unterfudjungen, fobalb fie ihm fidler bünften, einjuarbeiten nicht unterlaffen ^at: fo befonberä bie einer größeren Arbeit über „33altafar ©racian unb bie § o flitte ra tu r be§ 17. unb 18. $aJ)rfyunbert§".

©antmelroerfe non ben SDimenfionen unb in bem Verhältnis be§ Kürfcf)nerfdE)en »on ber beutfdjen 9lational=2itteratur haben fonft ein eigentümlich fpmptomatifcljeS ©epräge. 3ll§ bie

2

fleran= briner unb S3x;§antiner ihre ÄanonS, Sejifa, Anthologien unb Blumenbeete au§ ber gried^ifc^en Sitteratur anlegten, gab e§ fein £>eKa§ me^r im ©eifte. Als bie S3enebiftiner ihre großen AuS= gaben ber Äirdjjenoäter »eranftalteten, war es mit ber ^errfcfjaft ber ©cfjolaftif befinitio »orbei. M it ber grande Encylopedie rourbe bie flaffifche ©eifteSfultur ber granjofen ju ©rabe getragen. ®a3 ©egenteil hoffen roohl mit bem Herausgeber fämtliche Mit= arbeitet »on biefem -Kerfe. Sftadjftehenbe ®arftellung ber ©e= fd;id)te ber beutfchen National=Sitteratur aber nmnfdjt nichts mehr, als il)r ©c£)erflein bafiir beijutragen, baß biefe felbft erft möglichft fpät „hiftorifch roerbe".

M ünzen, 1. Mai 1893.

(17)

G rftes ß a p ite f.

3 \ t

fU fo rm afim t. X u ffjn \

profclfaufiJ'djc

H m lje itltE fr.

"T*Nte auSgebreitetfte, tiefftgetjenbe, folgenreid^fte 23eroegung ber -^gefamten Äulturmenfdiijeit in ben neueren feiten, bie Stefor= mation, beftimmte in i^retn ^eimatlanbe ®eutfcfylanb gugleic^ bie neuere Sitteratur. ®er 9Jiann, ber iljr ^ul§ unb Sttem für atte Söelt erteilte, SWartin £utf)"er fteljt für un§, feine Sanb§= leute, jugleidj an ber Spitze unfereS nationalen Schrifttums.

Um bie au§fd)(aggebenbe Sebeutung, roeldje bie beutfdje Sitteratur in ber ^olgejeit unter iljren europäifdjen ©dfjroeftern geroinnen fottte, um bie (Mangung if»rer SBettfteffung, bie if)r im SDiittetalter uerfagt blieb, richtig nerfteljen unb roürbigen ju üönnen, gilt e§ biefe »id)tigfte £ljatfadje oon 3tnfang an feft im Sluge ju bemalten. ®ie notroenbigen, für unfer SSatertanb un= fieilooHen politifdjen gotgejuftänbe ber Deformation, ber breifsig= jäljrige ©laubenSfrieg mit feinem gefeUfd^afttid^en unb n)irtfdjaft= liefert ©lenb, bie baburd) geforberten 9teu6ilbungen in ©taat§=,

2

Birtfc£)aft§= unb 9ted)t§[eben »erfüllen für ben äußeren Slnblicf bie tiefgefienben 93e§ie^ungen jroifdjen ber ©laubenöreinigung im

1

6

. $al)rf)unbert unb ber großen ©rfyebung ber Silbung unb be§ ©efdjmacfS im ad;tjefynten. ©teid^roof)! erntete biefe nur, roa§ jene gefäet fyatte.

2

Bie affe großen unb befyerrfdjenben üünftlerifdjen ©ebilbe ber SRenfdjfyeit, roie bie griedjifdje

2

lrd^)ite?tur unb ^Bfaftif, ba§ §omerifdie @po§ unb bie Slfdjpleifdje Sragöbie; roie bie neuere Äunft ber Italiener unb ba§ begrünbenbe ©ebidjt ifyrer Sprache unb Nationalität, $ante§ göttliche Äomöbie: fo rufyt aud) bie beutfdje JEfaffifc^e Sitteratur mit att ifyren befreienben unb

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auferbauenben äBirfungen für bie geiftige unb fittlid;e Kultur auf bem gelfengrunbe jenes alles tragenben unb burd;bringenben religiöfen Sinnes, ber in Suther feinen für alte äöelt fenntlichen StuSbrud fanb. Seine 33ibel Überfettung fchuf auf gleich ge= roeihtetn ©runbe, roie 3)anteS ©ebidjt, unfere Sprache. Dicht weniger abroeichenb com alten .§od)beutfd) wie bas $talienifche uom Sateinifdjen, ftel)t fie in bunflem ÜbergangSprojeffe aus= gegoren, in Sutljers unoergänglidjem 2Berfe fo rein, fo fertig ba, wie bie lateinifcfje lingua rustica bes 3Jiittelalters in 3)anteS ^talienifd) Sange 3eit war bieS 33ibelroerf in fd^lid^tem äußeren ©eroanbe auf bem Xifd) bes SürgerfyaufeS baS einige Sanb unferer Nationalität. Sutljer hatte „feine geroiffe, fonberlidje, eigene Sprache im ®eutfd)en, fonbern braudjte ber gemeinen beutfdjen Spraye, baß ihn beiße, Dber= unb Dieberlänber, oer- ftehen mod;ten".') (Sr legte bie Spradje ber Sächfifdien K an jle i ju ©runbe, bie unter Kaifer Maximilian nadj öfter* reichifdjer Sautgebung2) fic^ ihre ©eltung im 33erfel)r ber Deid)3=

ftänbe oerfc^afft hatte. Über Dorb unb Süb mit ihrem ftarf geprägten ©egenfaj}, über bie oielen Stämme mit ihren Sialeften unb bie nod; zahlreidjeren Staaten mit ihren oerfd;iebenen 3nter= effen reichte auSgleidjenb unb binbenb baS göttlid;e SBort auS bem Munbe bes teuern Mannes Dr. Martin Suther. §ier lernten unfere ®id)ter unb Genfer lefen.

®ie biblifrf;e Suft bezeichnet ebenfo bie ^ugenb K ants, unferes größten Ph^fapfyen, roie ©oetl)es, unferes größten Sichterä, ber ihrer Morgenftimmung in feiner Selbftbiographie leuchtenbe garben geliehen hat. Ohne Suther fönnen roir it 1 o p = ftod, ben Sänger beS MeffiaS, nic£;t benfen, ohne bie Deformation nidjt Seffing, ber Suther „am liebften $u feinem Dichter ha

6

en mödjte, ben großen, oerfannten Mann, ber uns oon bem !yodje ber Srabition erlöfte". ^n S t i l l e r bereitete ber prebiger ben ^Dichter oor, er blieb ber SebenSberuf unferes größten flaffifdjen §umaniften, Berbers. Selbft oon ber $ugenb SßielanbS, beS- leisten äöeltfinbeS unter unferen flaffifchen Sdjriftftellern, finb biefe biblifchen ©nflüffe nicht abjutrennen. ^afob ©rimm fonnte „bas Deuljodjbeutfdje in ber Xfjat als ben proteftantifchen Sialeft

1 ) flürfctynerä 2>eutfd)e 9 l a t .- S i t t . $8b. 1 5 , <3. 4 2 8 . — 2 ) 2 u tlje r § © pracfje § a t a lfo b e r e ite u n fe r e jefcigen D ip h t h o n g ie r u n g e n b er la n g e n 93ofaIe i u n b ü j u e i u n b a u ( h a u s ,, s t r e i t f t a tt be§ fr ü h e r e n h ü a , s t r i t ) , b ie i n S ä g e r n u n b Öfterreicfy a u ffa m e n .

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bezeichnen, beffen freiljeitatmenbe ‘Jiatur längft fcfjon ihnen un= bewußt, SDid;ter unb Sd)riftftetter beS fatfjolifc^en ©laubenS über= roältigte". Sdjon im fie£i:^e[)nten 3af;rE)i.mbci't fpracf) man oon einem „beutfdjen Sltticum, bem Sutfjeranum". gn biefer flaren, fräftigen, attbejeidjnenben Sprache lebte ein ©eift, roie ber jenes berühmten attifdjen SSoIfSrebnerS. Sut^er ift jugleidh ber SemoftI)eneS feiner Station. Jfur baß er feine Sad;e jurn Siege führen burfte. Sie beutfdje £umanitätsbilbung unb ber beittfdje ^bealiSmuS finb bie Krone beS 2utf)eriid)en ©eifteSroerfS. Surch bie

3

«§rhun^erte unfruchtbarer theologifdjer Sänferei unb eng= ^erjiger 33ud)ftabengläubigfeit floß tief unb ftill jene unerfdjöpfte Duette geiftiger Freiheit unb (Sljrlicfjfeit, oon ©emüt, Sdjnmng ^>l)antafie unb .öerjenstüärme, bie in Seffing unb Kant, in Schiller unb ©oetfje fo glänjenb roieber ans Tageslicht trat. Sut^er mar Zugleich ber Sichter feines SolfeS. Giner ber einflußreichen tro| beS menigen, was er in gebunbener SHebe auSgefprodjen hat. Gr fcf)itf baS neue, baS eoangelifc^e Kirdjenlieb, in ben feiten ber tiefften -Rot, beS büfterften SßerfjängniffeS ber letjte £roft ber ^Ration in allen ihren Seichten.

Sie beutfdje

2

itteraturgefd)id)te Ijat oornel)mlid)en

2

lnteil an bem Seben beS Reformators, baS bem beutfdjen Solle in all feinen Stänben unb SerufSarten ins §erj unb oon früher 2>ugenb auf ins ©ebadjtniS gefcf;rieben ift. Sein ©eburtStag (10. 5Jo= oember 1483) gilt als f)<Ul>er fjeiertag. (Sr ftammt aus bem ÜDiannSfelbifdjen, ber Sohn eines SergmannS ju ©Sieben. Ser groß unb berühmt ©emorbene lonnte fich am Schluffe feines SebenS ber Streitfadf;e ber ©rafen feines .ßeimatlanbeo annehmen. 9lucf; ihm, roie ben oornehmften gerabe ber beutfdjen ©eifteShelben fteht in ber $ugenb eine finnige gemütreiche l'Jhitter jur Seite. Sie auffallenben Einlagen beS Knaben beftimmen ihn trotj fnapper Serhältniffe jum Stubium. Sen Kurrenbefdjüler Martin Suther, ber mit geiftlichem ©efange oon ijauS ju £>auS gieht, hat baS beutfche Soll oon vielen Silbern unb fleinen (Stählungen fjcr in ber (Erinnerung behalten, $n Grfurt Stubent (1501) unb balb promooiert (1502) bereitet er bie Sd)icffalSroenbung feines SebenS.

6

S beburfte roohl feines äußeren GreigniffeS (eines furdhtbaren ©eroitterS, baS ihn überfiel), um ihn baju ju

6

e= roegen, roonach feine innerfte Seele in furchtbaren Stürmen rang. Gr fudjtc ben ^rieben mit feinem ©ott, ber ihm in fdjredlidjer

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■äJiajeftät als 255eltricf;ter ftetS oor ber «Seele ftanb, int

2

luguftiner= flofter

5

U Erfurt (1505). ©ein SSater raubte nichts non bem ©dfjritt, ber unerwartet feinem Seben bie Dichtung gab. ^n bumpfer, bunfler

3

eße burd^fämpft bie tiefe, grofje ©eele fd;roere Sa^re, Sah« bie fie bennodf) nie gereuten. £ut§er I;at e§ oft auSgefpred&en, bafj jeber roahrhaftige ©eift ähnliches burdfjgemad;t ^aben müffe. ®amals bewältigte er ben ©eift ber mittelalter-' licken Äird;e, beS bangen SJiöndjStumS, ben er erfetjen follte burd; einen „neuen geroiffen ©eift". ^m ©uten roie im ©glimmen mar er iljm gegenwärtig: neben unfinnigen foltern unb ©elbftqualen, oon benen iljn oergebenS fein guter, fd£)Iid)toerftänbiger Seidjtoater äurüdjubringen fud^te, aud(j enblid; jener tieffinnige ©eift beutfdjer, möncfjifd()er SKpftif, oon bem im oorigen 33anbe bie Debe mar, unb ber in einem Ijerrlid^ften Äleinob i§m oertraut tourbe, bem 23ud;e oon ber beutfdjen 2;E)eotogie.!) ©ein ©önner, ber örbensoüar ©taupi| ^offt il;m eine Slblenfung ju geben burd) eine £ef)rtl)ätigfeit an ber Unioerfität (1508) in SSittenberg, „ber fleinen armen ©tabt", bie rote er- fpäter roo^l im fromm banf= barer Slücffdfjau fang2), „einen großen Nahmen itjunb hat — SSon ©otteS Sßort, baS herauSleudfjt". „®er ©tabt ^erufalem oerroanbt" burfte fie ifjm fpäter roo^I erfdjeinen unb mit finnigem Eifer fudfjte er gern in ben Namen ber umliegenben Drtfcljaften Slnflänge an bie geroeiljten ©tätten beS ^eiligen Sanbes. 1510 machte er roie fo mancher Sftönd) oor ihm in ©ad»en feines DrbenS feine $ahrt nadj Nom. Slber feiner hat roie er auf ben ©tufen ber heiligen kreppe geftanben, roie eine Stimme oon oben baS 2Bort erfaffenb: „®er ©ered^te roirb feines ©laubenS leben." $er geiftlidjen ©tabt ungeiftlicheS Treiben hatte fdfjon manchen ^u gornigem 2luS6ruch getrieben, gn ihm reifte bie am ©chluffe beS oorigen 23anbe§ gefd)ilberte firchlid^fojiale NeformationStenbens ber SDibaftifer unb $rebiger beS auSgehenben SJiittelalterS ^ur ü^hat. 2lm 31. Cftober 1517 leiteten bie berühmten Siefen an ber ©djlof;ftrd)e ju SBiitenberg, h^auSgeforbert burch ben 2lblaji= hanbel beS bamalS bie fädjfifdjen Sanbe burchjiehenben ^oh- $et)el, bie Deformation ein.

®ie ©reigniffe ber folgenben Qahre unb ^ahrjehnte in SutherS Seben gehören ber

2

Mtgefcfjicf)te an. ©eine Entführung

1 ) G tn b eu tfd ) ^ fy e o lo g ia 1 5 1 6 ju m £ e i l , 1 5 1 8 o o U ftä n b ig o o n S u t ö e r fjerau S qeaeb eti. — 2 ) SD. ü ftat.-£itt. S3b. 1 5 , © . 3 8 0 .

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nad) ber 21*artburg (1521) als „Runter ©eorg" (burdf) ben Kur= fürften oon Saufen) jur Sicherung oor ber nacl) bem ÜBormfer SieidjStag — jener berühmten erften probe feines SRuteS unb feiner ©tanbljaftigfeit — auägefprocfjenen 9(etd)Sad)t förberte baS mädjtige 2ßerf ber 33ibelüberfe£ung. -Jiacfj einem erften ißerfudje an ben fieben Sufjpfalmen (1517) erfdjienen nad) einanber ju Sßittenberg 1522 baS neue1), bann 1523 baS alte Seftament (Pentateudj) mit ben fünf Südfjetn 9J!ofeS, 1524 ber Pfalter, ben er in feiner ganzen poeiifdjen Kraft unb ©röfje, ber beutfdfjen Sprache unb in feinen gewaltigften Kirdjenliebern ber beutfdjen Sichtung angeeignet Ijat.2) 3ule£t überfe^te Suther bie Pro = p^eten, wie er fie aud) in feinem ÜEifcfjgefprädj3), worin er baS „$olmetfcl)en eine foiaberlic^e ©nabe unb ©abe ©otteS" erläutert, für baS ©tubium jule^t ftellt, als am fcfyroierigften ju oerftefyen; benn fie „braudjen oiel oerbliimter wort unb rebe". 1534 war bie S ib lia b. i. bie gantje ^eilige © g rifft ®eubfd) ab= gefdjloffen unb erfcf)ien in SBittenberger $ruden in ben folgenben Sauren, 1535 aud) bereits in ©übbeutfdjlanb (Augsburg).

SutljerS 33ibelüberfe|ung ift bie erfte, bie es wagte oon ber firdjlid) gebilligten lateinifdjen Überfettung, ber fogenannten Vulgata fjinroeg auf ben Ijebräifdjen unb griecfjifdjen Urtejt jurüdjugefyen. Sludj hierin bebeutet fie eine reformatorifdje 3ll)at gegenüber ben früheren beutfdjen Sibelüberfe^ungen in l)od)= unb nieberbeutfcfyer Spradje, bie bie junge Vudfjbrucferfunft bereits in ber jroeiten $älfte beS 15. $af)rl)unbert3 ju oerbreiten begann. Unter feinen Vorgängern in ber 33ibelerflärung fdjätite Sutljer oorneljmlid; ben (-JiifolauS non)

2

^ra, einen granjisfaner aus ber Norntanbie, ber nad) 1300 ju Paris leljrte unb beffen (aud) mtjftifcfje) VibelauSlegung (Moralitates) als 3ugabe in unfern ältern beutfdjen Üibeln auftritt. Suther fannte bie ©d)toierig= feiten, bie bem VerftänbniS ber ^eiligen ©prad;e entgegenftefyen, ©dfjwierigfeiten, bie fiel) aud) auf baS neue -Eeftament erftreden, baS „obS wol ©riedjifd) gefdjrieben ift, bod) »oll ift oon ©braif= mis unb Gbreifd;er art ju reben". ©eine Vegeifterung für bie

1) S e p te m b e r u n b (n e u ü b e ra r b e ite t) E e je m b e r: (Septem ber* u n b D e je m b e rb ru tf. — 2 ) $ . 9Jat.*2Ut. S b . 1 5 , <5. 353. 2 t$ © o tt oom £ im m e l fiel) b a r e i n : b e r X I I . ^ f a l m . © benba © . 35(5 © ine fefte S u r g ift u n f e r © o tt : b e r X L Y I . ^ f a l m . @benba ® . 3 6 0 2tu3 tie f e r 9 io t fd jrei ich üu b i r : b e r C X X X . <|3falm. S g l. ©. ß e q fjn e r, b ie 3 « p falterb earb . SutfjerS . 181*1. — 3) (Sbb. S b . 15, <5. 427 ff. © enb b rief oom $ o lm e tfd )e n (u n b E r b i t t e b er ^ e ilig e n ) . äB itten b . 1530.

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^ebräifd^e Sprache rüdte biefe Sprache in ber fyolgegeit in ben Sftittelpunft ber Spradjforfchung, aber feiber meift aud) unbe= redigier Spradjoergleidjung unb Gttjmologie. Gr befennt, ob-- roohl tfim bie jübifcfjen ©rammatifer befannt finb, baß iljm ber „©eift ber 3rf)eo[ogie", b. bie gleiche

2

frt

311

füllen unb

51

t benfen roie bie SSerfaffer ber ^eiligen 33üd)er unb — ihm felber unberoußt— fein lebfjafteö, bichterifcfjeS Sprachgefühl am meiften geholfen, ben Sinn ber Sdjrift gu treffen. ®arauS erflären ficf; aud) feine Freiheiten unb geringfügige Srrtümer, bie im ©eifte beS ©angen in bem neuen ©eroanbe gewöhnlich gerabe ju xe<ü)t--

fertigen finb. 3)enn biefer fpricht mit einer tlnmittelbarfeit unb Ereile ju uns, bie ber SBirfung beS UrterteS gleichfommt. So roarb eine Grneuerung beS älteften unb oornehmften religiös^ bidjterifdjen Senfmals beS SRenfdjjengefchledfjtS geleiftet, baS, roie Karl ©oebefe mit 9?edjt bemerft, ben epifdfjen ^intergrunb für bie gefamte Sitteratur ber neueren

3

«t abgab.

21

I§ §amann, §erber unb ©oethe im 18. ^ahrfjunbert ben bidjterifd)en ©eift ber 23ibel gleidjfam neu entbedten, fonnten fie ben Sibeltejt als älteften Sd)a| ber eigenften SBoIfSlitteratur anfehett.

Sutherö Streit= , 9{ed)tfertigung§= unb 23efenntniS= fü n ften , alle unmittelbar au§ 2lnläffen ■ beS großen Kirchen- fampfeS ^erüorgegattgert, finb troij i^reS politifdjen unb theologifchen Inhalts in erfter Sirtie rein litterarifdje Grjeugniffe. 3hre oo!fö= tümliche SSerebfamfett, bie niebrige ®inge beim gemeinen SJiamen nennt, feinen bunfeln ober »erfdjloffenen SSinfel ihres $hema§ ju öffnen unb ju beleuchten fdjeut, in füljnen ^erfonififationen, lebenbigen Slnreben, bramatifchen |jm= unb Söiberreben bie Sache ftetS in ben 23rennpunft ihres augenblid'licf>en S^tereffeS ju rüden roeiß: biefe urroüdjfige unb babei oirtuofe rebnerifd^e Kunft ftempelt fie ju SReifterroerfen ihrer ©attung für alle feiten, ganj abgefeljen oon ihrer hiftorifchen Sebeutung unb ihrem fad)= liehen SJBert. !yn einzelnen liegt Supers ganje $erfönlicf)feit, oor allen in ben großen SBahrfdjriften beS Qal)reS 1520, beS Jahres, baS ihm ben päpftlid;en Sann brachte unb mit ber 33er= brennung ber päpftlid^en ^Bannbulle unb beS päpftlidjen (fanonifchen) StechtSbudjeS fdfjloß: 2ln ben d)riftlid;en Slbel beutfdjer N ation oon beS djriftlichen StanbeS Sefferung unb oon ber Freih eit eines Ghriftcnmenf^en.’) 9Ran fann fie mit

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einem unferer $eit entlehnten Silbe mo()l als bie Seitartifel ber Deformation

6

ejeic^tren. Sie betreffen if)r äußeres ^ntereffe: IJurücfforberung ber angemajjten roeitlidjen Deckte ber ftirdje unb i^rer Seiter, Deform auf allen ©ebieten, Schule unb Unioerfität, -§auS unb ©efeHfdjaft, §anbel unb SBanbel; unb ihr inneres Slnliegen: reine unmittelbare Eingabe beS Einjelnen an ©ott, beffen Änedjt jeber ift, in Freiheit beS ©laubenS, ju bem er erwählt tuirb unb aus beffen Seligfeit 5£ugenb unb gute Söerfe heroorgehen, bie bie $irdje in roibernatürlidiem Broang unb blinbem Dpferbienft medjanifdj beförbern miß. Studf) in feinen ^rebigten fam Sutljcr ftatt fc^tüäd^Iid^er, bläulicher Erbauung §u pflegen immer mieber auf bie begreiflichen unb grunblegenben $orbe= rungen feiner Vernunft unb feines §er§enS jurücf. So hanbelte er oom SBudjer, oom ehelidjen Seben, in ber $ölge einem ber £>auptpunfte ber litterarifchen ^olemif ber DeformationSjeit; oon bem £roft unb djriftlidjen £>eil in ber Betrachtung beS heiligen SeibenS Ghviftt, oon bem Segen beS SlmteS, ber Sürger= unb HJienfdjenpflidjt gegenüber möncf)ifdjer SDSeltflud^t in ber fchönen burd^ einen |>örer überlieferten koburger ^ßrebigt über Johannes $ap. 21 (com f^ifdl;eramt).') SutljerS $olem if mar leibenfdjaftlid), rücffidjtSloS, unerbittlich- Sie fannte fein Slnfehen ber $erfon, roie feine Streitf^riften roiber ^einricl) VIIT.

oon Englanb unb §erjog Heinrich oon 33raunfc^roeig=2Solfenbüttel: SBiber §anS SBorft“) (1541) beroeifen. $n einem Streite roiber ben $urfürften Johann Don Sadjfen hat*e ^er $er3°9 nämlich Sutljer, beffen Sache er auch fonft fdjäbigte, befcfjulbigt, feinen Ä'urfürften mit biefem (Shrentitel ju belegen, roaS Suther aufgriff unb jurn 2luSgangSpunft feiner Satire machte. 2lber nodj meljr befamen feine irregeleiteten, ntifc unb übeloerftehenben oorgeblicljen Parteigänger, bie aufrührerifdjen Säuern, bie Sd^roärmer unb Seftierer bie 2Baffen feines ©erecf)tigfeitS= unb DrbnungSfinnS, beS abgefagten $einbeS ber rohen ©eroalt unb jiellofen 23er= änberungSfucht ju fpüren. (Ein treu 3Sermahnung §u alten Ehriften: ficf) ju oerhüten oor 2lufruhr unb Empörung. 2Bitten= berg 1522. SJBiber bie 9Jtorbifchen unb Däubifcfjen Dotten ber Säuern SBittenb. 1525. Ein fdjrecflich ©efchicht unb ©ericf;t ©otteS über £homa§ 3Rün|er 1525 u. a.)

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Sine notroenbige, rooljltfjuenbe (Ergänzung ju ben gefdjilberten ©eiten in

2

utfyer§ SBefen bilbet feine Grfdjeinung als ©atte, Familienoater unb Bürger, ©eine 33r ie fe, bie iljn im lieben§= roürbigen, freien unb boc^ fd)lid)t gemeinten 3SerJe^r mit feinem Fürften, feinen Freunben, feiner ©attin Katharina oon Sora (feinem „lieben §errn Kät^e"), enblidf) im finnigen ©piel mit feinen Kinbern zeigen, roie er iljnen in iljrer

2

Seife bie F^uben be§ £)immlifd^en 5ßarabiefe§ auSmalt; feine alle 33erE»ättniffe beS menfdjlidfjen Gebens, alle ©eiten be§

2

Biffen§ unb ©laubenS be= rüfjrenben S^ifd^gefpräd^e1); feine (Erneuerung ber Slfopifdjjen fabeln (1530), in benen rool)l aud) gelegentlich roie in ber oom Söroen unb bem iljn mit plumper Sift bemeifternben befreiten ©fei, leidet §u burdifdjauenbe reformatorifcfje ©atire burd)blicft; oor allem aber feine Sieber führen un§ ben roeltberoegenben 9Jtann als 9JJenfcf)en oor in bem großen, alles erfdjöpfenben ©inne biefeS SßorteS. ®ie Sieber, mögen fie freubige ober traurige ©reigniffe, bie großen F e[*e ber Gfyriftenljeit, ©laubenStreue ber 33efenner im SJiartprium ober fd^redflic^e Prüfungen ber ©efamtljeit (roie baS roofyl jur ^ßeftzeit entftanbene „Eine fefte 33urg ift unfer ©ott") zum Sorrourf Ijaben, oeranfcfjaulidijen burd) jebe ifirer in großartiger Rljptfimif einljerfdfjreitenben feilen baS ganze ©emüts= leben ber -IRenfdifyeit in ifjrem Fügten urtb üjrem hoffen, ifjrem

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agen unb Vertrauen, ifirer Dual unb ifjrem feligen ©enügen. Ricfit bloß bie 5PfaImen (f. oben ©. 5), fonbern aud) bie fdjönften ber fateinifdjen §pmnen beS SUittelalterS (media in vita in morte sumus, SRitten roir im Seben finb oon bem £ob umfangen) fiat Sutfjer auf biefe 2Beife zu unoergängficfjen 33efi|tümern ber beutfdjen Solfsfeele gemalt.

Sutfyer ftarb am 18. F^*uar 1546 in feiner SSaterftabt unb rourbe §u ÜJBittenberg beftattet. (Sr fyat ben 2lnfang beS £ribentiner Konzils, roelcfjeS bie oon iljm, einem 9)Jann allein, burcfjgefüljrten Reformen nun auf bem alten Soben ber ©efamt= firclje in Singriff naljm, nocfj erlebt, ©ein geiftigeS (Erbe, ber SBelt angefjörig, in feinen ©Triften niebergelegt, ift bem beutfcfjen SSolfe zur Sßafjrung übergeben.5)

1 ) S e r ö f fe n tlic ljt o o n A n r i f a b e r ( © s i e b e n 1 5 6 0 ). — 2) S a m m l u n g e n o o n S u t fie r * g e g r i f f e n , fcfion im 1 7 . g a fir liu n b e r t gleich naef) fe in e m ü lb leb en , jebocö ftocfenb i n S tn g riff g e n o m m e n , li e g e n a m » o ttftü n b ig fte n o o r im 1 8 . g a ljr lm n b e r t i n b e t S lu ä g a b e o o n SE8 a I dj ( $ a l l e 1 7 3 4 — 5 3 ) , u n b i n b er fo g e n a n n te n © r l a n g e r A u s g a b e ( o o n spodjm ann u n b S r m ifd je r . ß r t a n g e n 1 8 2 6 ff.) u n fe r e ä S a t ^ u n b e r t S . ® ie ta tein ifc ^ en M e fo r m a tio n ä f # r ift e n

(25)

SutljerS E in flu ß , ber beherrfdjenbfte mit, ber je oon einer litterarifdjen ^ßerfönlidfjfeit ausging, roirb in feinen unmittelbaren ©puren auf weiten ©ebieten ber ©egenftanb ber nädjften Kapitel fein. An it)n perfönlirf) fdjließen mir jebod) nur biejentgen poetifdjen Steuformungen unb Umgeftaltungen, bie ftdj auf rein religiöfem, balb in neuem ©inne firdjlicfyem Untergrunbe oollgiehen.

Sutljers Siebe ju Sichtung unb SJtufif, ber er oft berebten AuSbrud geliehen f)at1), ging über in bas »on tljm geraffene 2Berf. Sr forberte alles, t»aS Steigung unb ©efdjitf hatte,

31

t ^Beiträgen für ein geiftlidjee © e f a n g b u d) auf. Anfangs floß bie Duelle fpärlidj, mie baS erfte »on Suther angeregte unb oon feinem mufifalifdjen greunbe ® a ltlje r »ierftimmig gefegte ©e- i'angbud) »on 1525, mie nod) mehr fein erfter befdjeibener Anfafe (mit

8

Siebern) im Sal^e 1524 geigt. Sei ber großen ©angeö= freubigfeit ber Seutfdjen aud) in biefer Stiftung2) roudjs aber biefer 3Trieb balb ins Unermeffene. Ser Anteil ber ©emeinben an bem neuen ©efange erroieS fich junädjft gleidj fo ftarf, baß Suther bas entfdjeibenbe 3Berf ruagen burfte, ben beutfdjen SBolfSgefang (ftatt beS lateinifdjen) förmlich in bie firdjlidje Siturgie einjufüfyren. Siefer ©efang ber ©emeinbe auf beutfdje ftropl)iid)e Siebertejte, ber

6

§ oral, im ©egenfatj

31

t ber überfünftlicjen, »erfdjnörfelten gorm ber gleidjjeitigen fatjoliidjen Kirdjenmuftf (SJieffe) funftloS, fdjlidjt, in einfacher »ierftimmiger ■öarmonifterung in Abfällen (germaten) bem 33au ber Sßerfe unb ©tropfen ftreng folgenb, toarb ber Keim ber fpäter

3

U fo ungeheurer Kraft unb ©röße entfalteten, eigentümlich beutfdjen, proteftantifdjen Kird)en= mufif. öänbel unb ^oljann ©ebaftian 33ad) mit ihren Ka'ntaten unb Oratorien, in benen ber S^oral unerläßlicher Seftanbteil blieb, ftejen in biefer SBeife aud) auf ben ©djultern SutljerS. Sa an ihnen -nun zugleich bie große neuere beutfcje

2

Jtufif überhaupt herangetoadjfen ift, fo geht fchiießlid) biefe

311

größter üöicjtigfeit für alle SSelt gelangte ©eite ber beutfdjen Kunft auch auf bie 33egeifterung, SSeihe unb urfprünglidje Kraft im SBefen beS SBittenberger Prebigers unb KirchenlieberbidjterS jurüd.

gür bie ©efd)id)te ber beutfehen Sichtung mußte bas pro=

b iete t bie S a m m lu n g o o n $ e in r . <2cf)mibt. ^ r a n f f u r t 1865. ©ine 2 Jto n u m en talau 3 g ab e to irb n u n m e h r in b e r f r i t i f e t y e n © e f a m t a u S g a b e , S B e i m a r f e i t 1883 fjergeftellt. Ü b e r 2 u tl)e r3 S i e b e n f. in n e u e fte r S e i t bie fdjöne fieiftung o o n 3 u l i u § Ä ö f t l i n .

(26)

teftantifdjje Ätrdfjenlteb fo oon einfcfjneibenber Bebeutung werben, gunächft gewinnt eS für un§ in formaler Begieljung. er^ö£)te§ ^ntereffe, ba ber @horat etngig es ift, ber unferer $oefie i^r eigentümliches (^ewanb, ihre auf Hebung unb. ©enfung beS SoneS1) gegrünbete BerSform erhielt Sie gu ©nbe beS-Kittel* alterS arg gefunfene bid^terifd^e Äunft, hanbroerfSmäfjig oerflac^t in mechanifcljer SKeifterfingerei ober oerroht im ©affenlieb- unb ber $aftnadf)tSpoffe befafs in fidf) nicht bie J^raft, bie guneljmenbe Verflüchtigung jener uralten gorm unter fremblänbifchen

6

in= flüffen aufguhalten. Die romanifdfjen Sprachen, nacE) einem anberen BetonungSpringip gebaut als bie unfere, hfltten bie flaffifche BerSform ihrer antifen 9Jtutierfpracf)e, beS Sateinifdjjen, bie BerSfilben nach ihrer Sänge unb $ürge (Quantität) gu unterfdfjeiben, fdfjliefjlicjj in baS fahle SluShilfSmittel nur bie © ilbengaljl beS BerfeS gu beobachten hmübergeführt. §ödE)ftenS ber roieberfehrenbe ©infchnitt (bie Sä für) eines BerfeS nmrbe aujjerbem in acht genommen unb gwar nach ^er Begabung unb Übung eines SDidjterS mit mehr ober weniger ©efdfjicf. Unfere rauhere, oon ihrer fdfjmeren gleichförmigen BetonungSart auch SSerfe nicht ablaffenbe Sprache madfjte in biefem poetifdjen ©e= wanbe feineSwegS bie gute §igur wie ihre leidet unb wechfelooll bahinfchwebenben füblidEjen unb weltlichen Barbarinnen. ©S gab eine -JJtifjbetonung, wie fie uns je|t, g 93. in bramatifcfjen Sar= ftettungen ber Sfteifterfinger, als Sarifatur ber poetifdjjen $orm erfcheint. Bei bem Einfluß, ben frembe 9Jlufter gerabe oornehm= lic^ auf fre beutfehe ^oefie ftetS auSgeübt haben, war es nun eine nicht ftarf genug angufchlagenbe ©egenwehr, bie fiel) bem oon ber fremben Überwinbung währenb beS gangen folgenben ^ahrhunbertS unauSgefe|t bebrohten beutfehen Berfe in ben ftrengen !£aftftüßen beS rhpthmifdfjen

6

hora^ barbot. - Sie ©e= fd(jidf)te ber poetifchen ^unftübung in gebunbener Debe fieljt fic§ währenb beS gangen folgenben ^ahrhunberts nahegu auSfdfjliefilich auf bieS ©ebiet geiftlidjer Sichtung eingefchränft.

Senn man barf nicht aufjer acht laffen, wie mächtig bie Deformation ben gefamten BorftellungsfreiS ber beutfehen Sichtung, ihr Stoffgebiet, oeränbert hat. SaS ift bie anbere ©eite, nach ber fich uns baS proteftantifche Äircfienlieb grunbgeftaltenb auf=

(27)

brängt. <£>ier geigt ficfj un§ am entfd)iebenften, roie bie

2

Belt be§ SöiittetalterS in ihrer ©eftaltenüberfütte unb phantaftifchen Buntheit oerfinft, eine neue an ©eift unb

2

lbftraftion reichere unb tiefere, an F°rnten, Farben unb Fipren ärmere an if)re ©teile tritt. ®iefe Kird)enlieber, bie nur bem Zeitigen ©eift, nidf»t eitler roelt= lieber ^änbelei ihr ®afein banfen wollten, fperrten ganj anberS ben Bugang Sur $§antafie if>rer ernften, grübelnben Befenner, als früher bie alte $irdje mit ihrem ©epränge unb ihrem Reidjtum an Silbern unb ©efcfyid)ten. ®iefe getftlidjen Siebter, bie in üiet engerem familiären Berbanb unter ihrer ©emeinbe ftanben, als früher SERönc^e unb Rönnen, eiferten oiel roirlfamer gegen „Buhl= unb ©chelmenlieblein"1), ober roie SutljerS ©d)üler unb Freunb Johannes SUat^eftuä, ber Reltor in ^oai^imstfjal, gegen ben „alten §ilbebranb unb Riefen ©iegenot, bie feinen lehren ober tröften könnten"! Set)re unb SCröftung raarb nun bie

2

lufgabe be§ ®i<i)ter3. ®ie Sichtung oerlor baburdj an Raioität, fie f)örte auf ein ©piel ju fein. ®ie ®id)tung ber neueren ßeit trägt fo im ©egenfatj ju ber älteren einen rein lehrhaften, balb ganj gelehrten Gf)arafter. ® 'e Reformation

6

at biefe Stnberung angebal)nt. ®ie Sitteratur oerliert baburd) an i^rer 3SoIfStümIid;feit im geroöljnlichen ©inne. Safür aber brang burd) bie Reformation geiftigeS ^ntereffe ber E)öd)ften 2lrt in alle ©djidjten be§ Bolfeä. ©eroinu§ roeift mit Recht barauf hin: „Surd) biefe eigentümliche unb bauernbe BoIf§tümIid)leit unfere§ gangen geiftigen Treibens lant e§ nachher, baß ein BollSanteil an ber Kunftpoefie cine§ ©oetlje in 3)eutfchlanb ftatt= haben fonnte, roie ihn in neuerer Seit nur bie Italiener an ihren großen ®id)tern gehabt haben.''

®er bid)tenben ^aftoren, bie roie Suther meift zugleich bie Komponiften ihrer geiftlidjen ©efänge roaren, giebt e§ eine laum überfehbare SUenge, in gang überroiegenber 3ahl Rorbbeutfdjer. ©egenüber bem Kunftfinne be§ ©üben§ neigt bie ernftere, fc^roerere Slrt be§ Rorben§ mehr jur Religion unb innerlicher Betrachtung. 28ie früher auSfdiließlid) ber ©üben, fo ift je|t ber Rorben ber Führer ber Sitteratur. Bon ben litterarifdjen Berühmtheiten ■ber Folgejeit hat ieke auch ?um Kirdjenliebe beigefteuert: ©o in biefem !yahrhunbert $an§ ©adj§ (bem jeboch ba§ fonft haupt=

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fäcfjlicfj unter feinem Namen Befannte Sieb „SBarum betrübft bu bidj mein $erze" abgefprodjen werben muß), Vartholom äuS Stingroatbt, EraSm uS SUberuS, unb ^o^ann gifdjart. Se|tere oerleugnen audj jier nicjt ifyrc polemifcfje Natur unb befenntnisfreubige ©efinnung. ®er ©egenfa£ ber reformatorifdjett Parteien (Suther, ^rotnglt, Ealüin) fcjnneg anfänglich innerhalb ber §armonieen beS ©efangbudjeS. ätudj bie ©efänge ber beutfcfien ©emeinben böfjmif^er S3rüber (£uffiten), non ihrem Pfarrer M tdjael SBeiße ins ®eutfdje übertragen, oerbreiteten ftdj in ®eutfdjtanb unb eingelne gingen mit SutljerS ©ernähr in lut^erifdje ©efangbüdjer über (fo „Nu laßt uns ben Seib begraben"), ©ogar bie Katholifen nahmen teil an ber Vlüte beS auffproffenben (utjerifdjen ©efangeS, wie biefer ältere gute fatfyolifdje Sieber unb Hymnen herübernahm. ®ie triefen frönen Äernlieber jener erften Seit geiftlidjer Sangesfreube oon ^uftuS SonaS aus Norbhaufen („3Bo ©ott ber §err nicf»t bei unS Ejätt"), Pa u lu s © peratuS aus bem fdjroäbifdjen ©efdjledjte ber non ©pretten ("„@3 ift baS #eil uns fommen her"), Sajaru S ©pengler, NatSfynbifuS äu Nürnberg („Vergebens ift aff Müh unb Koft"), §einridj Vogtherr, Mater unb Vudjbruder ju ©traßburg („3tus tiefer Not fdhrei idj ju bir, £err roöffft bich mein erbarmen"), Pau lu s Eber aus Klingen, MelancfjthonS gamuluS („|>err ©ott, bidj loben affe mir" unter MelandjthonS Namen), N ifo lau S ® ejiu § aus Vraunfdjroeig, Prebiger ju ©tettin (1541 oergiftet; oon ifjm ber großartige §t)mnuS „M ein ©ott in ber ößh’ fei Ehr"), um nur einige »orjüglicfje herauSzugreifen: fie affe uergegenroärtigen nod) bie Einmütigfeit, bie tro£ ber trennenben @(aubenSfä|e (IbenbmajlStejre) Sutjeraner unb Neformierte, Norb unb ©üb burd)bringt. SOlit ber |$eit roerben ber roiberftrebenben löne aud) auf biefem ©ebiete fcf)on mehr. ®aS trotzige Vetonen bes SBorteS, mit bem bie Vefenner ftejen unb faffen, bringt fdjarf burch baS geiftliche Konzert. GtjriaeuS ©pangenberg aus Norbhaufen, ber roegen feiner jartnädigen bogmatifcfjen Überzeugungen fein Prebigtamt »erlor unb urieberhott flüchten mußte, bidjtete im E^tf baS Sieb „Erhalt uns $err bei beinern SBort, roeldjS roir bisher haben gehört". Kafpar Vienemann (Mefiffanber, ©uper= intenbent ju 2lttenburg), ®id;ter fehr oerbreiteter Sieber („Sdj roeiß, baß mein Erlöfer lebt") nrieberholte mehrfad) jenes eifernbe VefenntniS ber Drthobojie zur Erhaltung beS 2öorteS. ®er

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Seipjiger Superintenbent 9lifolau§Schellenecfer (Selneccerus), bichterifc^er Bearbeiter be§ Pfalter§, geigt bie gattje §öhe, ben ber 3roiefpalt swifdjen Sutljeranern unb Ealoiniften erreichte.

Einen woljlthuenben ©egenfafc baju unb üieHeicht bie reinfte, jebenfaKs bie umfaffenbfte Seite be§ proteftantif<hen $irdjen= gefangeS bietet un§ ber liebenSwürbige Kantor oon ^oadjimäthal, B ifo la u ä § ermann (f 1561}, ber College be§ SJlatthefiuä, ber il)n (burd) feine 5ßrebigten) anregte, aber faum nötig hatte, i^m, roie e§ hiej?, &<*&ei ju halfen. Senn §ermann ift ber fanget freubigfte SRunb ber Deformation§äeit. Er fingt „im ©eifte mit ben Engel§d)ören nach ^em himmlifd)en Eontrapunft", au§ reiner 2uft unb froher 2tnbad(jt. Seine gan^ ehrliche Borftellung oom §immel ift bie einer burd) Sdifjtöne nicht geftörten mufifalifchen 3Mt. „2Bill niemanb fingen, fo will fingen ich" barf er mit $ug roohl anheben. ^jn ihm ift jene bereits im erften Steile (S . 376) berührte feltfame Nietung ber geiftlidjenBeränberung oft feljr weltlicher £iebling§lieber be§ Bolfe§, bie audj in ber Deformation fortbauerte unb über bie noch $ifchart fpottete, im Ernfte ju einer eigenen, he^rührenben $unft gebiehen. Eine fdjalffjafte Äinblidifeit fpielt anmutig mit ben hehren BorfteHungen be§ ©lauben§, eine fdjlidjte ©rabljeit bringt fie bem allgemeinen Berftänbni§ ungezwungen nahe. Ser „alte Hermann" blieb al§ eine 2lrt 2lltmeifter ber Sichtung noch in ©eltung, al§ ba§ folgenbe in $ormaIi§mu§ erftarrenbe

3

<*hrhunbert fchon über bie jwanglofere Sichtung feiner $eit aburteilte. £ermann§ Sange§= eifer, jeboc^ nicht feine ©aben teilt Subwig ^elmbolb ju 9Jiüt)lhaufen. Bei ihm wirb ber £on ber Einfachheit, ber fd)lid)te, oolfämäfsige 2lu§brucf, wie bei bem württembergifdjen ^Reformator 2tmbrofiu§ B lau re r, fehr balb jur bürren Profa. §ermann§ Slrt würbe überhaupt balb oerfladjt unb in füpdjer £änbelei mit Seminutioen föefulein, ^inberlein u. b. 21.) ftehenbe SRanier. Sie weltliche Spmbolifierung barin würbe gule^t nicht ohne ©efahr be§ üölligen $urüdtreten§ ber hintmlifcfien Sßahrheit gefteigert, wie $ h i^ PP D ifo lai§ , be§ Hamburger BrebigerS, berühmtes Sieb „2Bie fcfjön leudjtet ber 3)iorgenftern", baS Brautlieb ber Ehriftum liebenben Seele, oeranfdjaulidjen fann.

Ser beliebtefte Borwurf ber geiftlidjen £ieberbidjtung blieb bie Bearbeitung ber Bfalm en. gmmer häufiger mad)t man fid) an bie Bewältigung be§ ganzen BfalterS. Bwei berartige

(30)

SBerfe forbern unfere Slufmerffamfeit heraus, weil in ihnen fidfj bie im nächften ^aljrhunbert bie Sitteratur beherrfchenbe 3luSlanbS= fuc^t Bereits anjulünbigen beginnt. Sie franjöfifdjen $falmen= Überfettungen im Galoinifdjen ©eifte oon (Element 9Rarot unb £{)eobor Seja erregten ^auptfädtjlicf» burdj ihre, roohl urfprünglic^ weltlichen SJJelobien baS SÖ5of)IgefaIXen ber beutfdjen oornefymen unb gelehrten Kretfe. §n Königsberg „jtoang" fie ber ^rofeffor ber Ssurisprubenj 9lmbrofiuS Sobtoaffer ins Seutfd^e, in ^eibelberg übertrug fie jurn 3Teit ber berühmte §umaniftifc|e Sinter f$aul <Sdf)ebe (9JfeliffuS) im Aufträge beS Kurfürften griebridjs III. oon ber ^ßfalg. 93eibe Überfe|ungen, nach einanber 1572 unb 73 erfchienen, belegen in ihrer SSerSform bie oben be= fproc^ene ©efahr ber SSerbrängung ber beutfdjen burd) bie fran= äoftfche (romanifche) SSerSfunft. Xrotj beS ©erudjs ber Ke|erei, in bem biefe ^falmen megen ihres caloinifcfien UrfprungS in $eutfd)lanb ftanben, errang bie Sobtoafferfd)e Bearbeitung hie* eine ungemeine Verbreitung.

®ie Beteiligung ber oornehmen Kreife an ber Deformation fpiegelt .fidj auch in ihrem geiftlidjen Siebe. (Eine 3teihe fürftlicher ^ßerfönlid^feiten beiberlei ©efdjlechts (SRaria oon Ungarn, ©djraefter Karls V., 9iegentin ber ÜRieberlanbe, ßafimir unb ©eorg, 2Rarf= grafen oon Branbenburg, FriebricE) I. oon Sänemarf, ber un= glürflidje Kurfürft Johann $riebrid) unb SKorits oon ©achfen) erfdjeinen als SSerfaffer geiftlicher ©efänge, menn aud) gerabe baS (afroftichifche) (Einfledjten ihrer tarnen unb Xitel in bie SßerSanfänge ebenfo gut bloß für bie Zueignung foldfjer ©ebidjte an fie

3

U jeugen brauet. ‘)

1) Sߧü. S B a c fe r n a g e l, $>a3 beutfcfje Äird&enlieb u o it b en ä lte f te n 3^ iten b is ju ra 2tn= fa n g be§ 1 7 . S a fjr lju n b e r tS . 5 Söanbe. S e ip j ig 1 8 6 2 ff. B ib lio g r a p h ie 3. b. Äirctyenl. ^ r a n f f . 1 8 5 3 . ® e r f . , £ )a § b eu tfd ie ß ir cfjen lie b o o n Sftart. S u tfje r b i§ a u f 'Jlif. ^ e r m a n n u n b SMmbrof. SBlaurer. 2 )ie m u fita lifc ^ e (S e ite b efja n b elt i l a r l o o n S B in te r fe lb , $ e r eoaiv* gelifcfje Jtird je n g e fa n g i n fe in e m 33erf)ä ltn i8 j u r ß u n f t b e§ X o n fa § e § . 3 £ e i l e . S eip^ ig 1 8 4 3 .

(31)

Sw eites K apitel.

S a t i r e , Üfunnjr im Bßftttm afiott#-

IB ifalfer.

H

icjt nur ihre btd)terifcf)en Anregungen, aud) bie reformatorifche Veroegung felbft trat in bie beutfdje Sitteratur ein. Ser Kampf ber ©eifter, ben fie entfalte, blieb nicht im Sereich ber Kirdje unb ber theologifchen Sefirfanjeln. 3Bie er atte menfcjlidjen ^ntereffen erregte, fo na()m bas ganje SSolf als publifum an ihm teil unb ztoar mit einem leibenfcfjaftlidjen Eifer, roie il)n bie Sitteratur noch ju feiner Seit

5

» erregen Dermocljte. Alle liefen unb Untiefen bes 93olfSberoußtfein§ maren aufgeregt. ,,©t. © robianuS", ein neuer Heiliger, ben ©eb. Srant im Narrenfdjiff erfunben hatte unb ber feinen litterarifdjen AuSbruct fanb in Anroeifungen, roie man fich in Pter ©efellfdfjaft nicht »erhält, mar ber ©chu|patron ber Seit- Nach einem lateinifdjen ©ebidjte beS fäcf)fifcf;en fkftorS Sebefinb (Grobianus, de morum simplicitateX bearbeitete ber 2öormfer ©dfjulmeifter Kafpar ©cheibt 1551 feinen beutfchen ©robianuS („oon groben Sitten unb unhöflichen ©eberben"), ber roährenb beS ganzen-^ahrhunbertä, man fann es mojl fagen, in ©eltung blieb, fpäter oon Söenbelin Mellenbach, einem ^hnringer Prebiger, erweitert unb im 17. $ahr= hunbert noch °on bem ©cjlefier äBenjel ©cherffer in bie neue regelrechte Dpitjifcije VerSfunft umgegoffen nmrbe. 28aS biefe heroorftecjenbe ©robheit beS £onS ber Seit aber milbert unb oor allen Singen gerabe^u unerfcjöpflidtj mannigfaltig macht, baS ift ihre innige SSerfe|ung mit jenem ©eifte bes allgemeinen ©dfjalfS= narrentumS, roie er fdfjon in Erfdjeinungen am ©djluffe beS älteren Seitraums unferer Sitteratur angemerft roerben tonnte.

(32)

ߧ ift feine einfeitige, aud) rtic^t jene erhabene ©robheit, bie tnart bie göttliche nennt. ift eine närrifdje ©robheit, unb biefeä gegenfeitig auf einanber freilich °ft empfinblidj genug loSfcfjlagenbe Narrentum fenngeid;net fdjon äußerlich bie gange überreife Polem if, Ä ritif unb S a tire ber Deformation§geit.

2tn ber Spi|e ihrer oornehmften Vertreter fteht nicht blofj ber Beit nach ^er gelehrte unruhige $rangi§fanermöndj £ l)omaS 3J£urner (in ber Nähe non Strasburg 1475 geboren), eine für alle merfraürbige Gsrfdjeinung in unferer Sitteratur. Sein Seben, feine gange Perfönlid)feit fteht für un§ in polemifdjer 23e=

leuchtung; benn alles, ma§ mir oon ihm miffen, müffen mir Schmäl;= unb §e|fc£)riften gegen ihn entnehmen. 2Bo er heroor= tritt, ift e§ ein Streit» ober ©hrenljanbel. Seine geiftgetragene Verebfamfeit, feine behenbe VerSgeroanbtheit fteht oon älnfang an fo au§fcf)lief

3

lid) im Sienfte ber Spottluft unb fomifcher 3Ser= gerrung, bafj e§ ferner mirb, in allem mag ihn betrifft, bie ^arifatur oom ernften Silbe gu fdjeiben. ©§ mar fdjliefjlid) fein Sdjidfal, baf? ihn bie Beitgenoffen nicht ernft nahmen gerabe bort, loo e§ ihm grimmiger, fdjliefslid) in harten Sd)idfal3anfällen tragifdjer Srnft mürbe: in feinem eigentümlichen, ferner, aber nur in biefer feiner SBeife oerftänblichen Verhalten gegen bie Deformation. Sßenn man red)t §ufieht, entbedt man auch in biefem Äomifer ber SBeltbühne jenen Bug be§ Seiben§ unb ber tiefen Ver= ftimmung, bie um fid) felber gu oergeffen gut Scfjellenfappe greift, ©ne raftloä tljätige, bem §o|en unb Schönen gugemanbte Seele in einem fdjmächlichen höfslidjen Körper, ha^ n>iber SEßillen in baö geiftliche $Ieib geftedt; gu hochfinnig unb ungeftüm, um ma§ rings um ihn oorging gut gu heilen; gu flug, gu reif ba§ Seben burchfchauenb, um oon einer Ümgeftaltung eine mefentliche Vefferung gu erraarten; fo fieht er fid^ in ber großen, unabmenbbaren ge= fdt;id^tlichen ^ataftrophe, in bie er hineingeftellt roarb, fchliefjlidj auf bie Nolle be§ PoffenreifjerS angeroiefen, ber feine Wahrheiten mit Sachen fagte unb bafür oon benen, bie auch oft nur bie gelben fpielten, mit ^ufjtritten bebaut mürbe. @§ fäHt auf, baj? Suther felbft fid; nie bireft gegen SJiurner geroenbet hat, tro^bem biefer bie roirfungSoollfte unb befte Satire gegen ihn oerfafjt hat, bie je gegen Suther unb bie Deformation gerichtet mürbe.

3Rurner§ Anfänge geigen ihn im Unioerfität§= unb fird)lid)en Treiben feiner Beit, aftrologifd^en unb magifdjen Singen teilroeife

(33)

aufgeflärt nadjipürcitb, aller gnfultäten

2

Siffenfd;aften. jugeroanbt unb mit einem gettriffen überlegenen $ug barauf aus, ihre oor= geblichen • ©eheimniffe unb Sdhroierigfeiten in leicht faßbare, fpielerifdje Formeln ju bringen, So lehrte er ben ©tubenten in Ära!au, Jyreibttrcj, Bafel, wohin iE)n non Straßburg unb '.paris fein fdjweifenber Sinn führte, bie Siegeln ber lateinifcfjen ^rofobie unb 9)ietrif in ber Form eines 33rettfpiel§, bie ©runbfätje ber Sogif unb ^urtSprubens nermittelft eines finnreidf) eingerichteten KartenfpielS. ©eine ©eid;icf'licf;feit in foldjen Singen braute ihn bei mißgünftigen Kollegen fogar in ben 9iuf ber Räuberei, ja in 2lnflage, non ber er ftdh burdj Borweifung feiner ^»anbgriffe leicht ju reinigen «ermodhte. 3Rit ben Vertretern beS Humanismus auf ben ltnioerfitäten ftanb er balb übel, obwohl er fid) als mufenfreunblidher ©eift anfangs an ben ^oeten ^alob Sodjer (Philomusus) in Freiburg eng angefdjloffen hatte. ®r hatte im $ntereffe ber Schulen feines DrbenS eine ©egenfcljrift gegen ben ©traßburger ^umaniften Sßimpheltng gefchrieben, ber, um ben Straßburger SRat für (Errichtung einer lateinifdjjen (humaniftifchen) Sdhule in ©traßburg ju gewinnen, in einer „©ermania" be= titelten Sdhrift baS Seutfdhtum beS (Elfaß gegenüber ben fran= göfifc^en Steigungen betonte. Sie wohl burch eine perfönliche Kränfung herau§geforberte Veröffentlichung biefer ©egenfdfjrift (Germania nova) machte bie .Qumaniften ju SUurnerS erbitterten Feinben. Sie fudjten ihn in feinem Berufe (bei ber (Erwerbung feines juriftifdfjen SoltorljuteS) gu h’nbern unb auf fie geht ber maßlofe £on jurüd, ber gegen Sftumer in ben 3(eformationS= ftreitigfeiten angefcfjlagen würbe. (Er war feineSwegS ber idjolaftifdje Finfterling, §u bem fie ihn machten. Kirdjlid; ftanb er jebenfallS in ben norberften 9ieiljen gegen bie Sominifaner, bie F einbe jeber wiffenfdhaftlidfjen Bewegung. Saß er fid) mit bem zweiten ^ahrjehnt beS neuen ^ahrhunbertS mit einem sJJiale mit regftem (Eifer unb größtem (Erfolge ber beutfdjen oollStümlichen Sichtung juwanbte, fe|t fein Berbienft hoch über baS ber unfruchtbaren Satiniften. SamalS (1512 — 19) fdhrieb unb veröffentlichte er lurj h'ntereinanber feine an BrantS Sfarrenfdfjiff anfnüpfenben unb teilweife (an beffen $oläfd)nitte) angelehnten fatirifdjen Starren* gebiete: S ie Schelm enjunft1), S ie Starrenbefdhwörung3),

1 ) ® . 3 )a t.= 8 itt. S b . 1 7 , 1, © . 1 . — 2 ) e b b . S b . 1 7 , 1 , © . 5 6 . ©ef<f)ic§te b e r h e u t i g e n S it t e r a t u r . II. 2

(34)

©ie M ühle oon ©djroinbelsheim (unb ©ret Müllerin

3

äafjr= jeit), S ie ©äuchmatt1), Ie|tere fdjon 1514 getrieben, aber erft 1519 roäljrenb beS Aufenthalts ju Safel oeröffentlidjt unb ben Safelern nidjt eben fdjmeidielhaft jugeeignet, nadjbem ber ®rud in ©traßburg (oon ben granzisfanern) oer^inbert roorben toar. All biefen nicjt immer einheitlich burdjgefüjrten Erfinbungen liegt SrantS ^bee ber närrifdjen

2

öett ju ©runbe. Nur tritt in ihnen bie Perfönlidjfeit beS ®id)terS, als ihres Beobachters, fdjärfer ^eroor. Er ift ber Sunftmeifter ber Narren, ber Namen, ©tanb unb Drt ber einzelnen ju buchen jat, ber gefürstete 33e- fd)roörer aller närrifdjen Sämonen, ber Kanjler ber grau VenuS, ber ihren auf einer SBiefe (Matte) oerfammelten Narren (©äuchen) ijre ©a|ungen oorlieft; er ftecft in bem Müller, gu beffen Mül)le alles ©djroinbeloolf ber Söelt jufammenftrömt, ber feinen oer= lorenen ©fei fucjt unb ijtt ju feinem Erftaunen in allen ©tänbeit unb Berufen ju oberft unb in fjoljen Ejren finbet. Aud) bie oberbeutfdje Bearbeitung beS EulenfpiegelS, bie ihm oon $eit= genoffen zugefcfyrieben roirb2), müßte um biefe Seit entftanben fein.

3

roei ernfttjafte $id)tungen aus jener

3

eit: eine Serbeutfdjung ber Sirgilfdjen AneiS, bem greunbe feiner Narrenfdjriften Kaifer Maximilian geroibmet, unb bie aKegorifcj=geiftlicje Sichtung im ©efdjmad beS auSge^enben Mittelalters „Eine anbädjtig geiftlidf;e Sabenfahrt"3) finb weniger bebeutenbe ©elegenl)eitSgeburten. Sie gefdjntadlofen Silber ber groeiten oon EfjrifiuS als Saber u. bgl. rourben ju feiner Verhöhnung benutzt. Murner jatte niemanb gefront, am roenigften feine geiftlidjen ©tanbeSgenoffen, bie ,,©e= oattern über ben Baun", bei benen eine |>anb bie anbere roäfdjt, bie Habfudjt ber einen bie ©djänblidjfeit ber anbern oerbedt, bie einer im anbern ben untoiffenben ©aufler fejen unb nicht oer- raten follen. Als er beim AuSbrud) ber reformatoriidjen Be-- roegung nad) furjem freunbfcjaftlicjem Verhalten Sutljer ermahnte oon feinem Urnfturj ber beftehenben Kird;e abjulaffen unb fein „Neu Sieb oon bem Untergang beS chriftlidjen ©laubenS"4) fang, ba fiel alles über il)n her unb bie reformatorifd) ©efinnten rächten fich boppelt für ben oermeintlidjen Abfall oon ihrer ©adje Herüber

1) 93on b eib en 2 tu §jüge in 2). -K a tsS itt. 93b. 1 7 , l , <B. X X X I X — L V I 1 I . — 2) D r . X ljom aS üDturner§ U lenfpiegel. £ e ra u $ g . r o n $ S a p p e n b e rg . S e ip jig 1854. <S. 35. 9 la t.s S itt. S b . 25, © . 1 ; ogl. ^Ceit I , © . 420 f. — 3) 2lu5gabe m it (Einleitung o o n € . M a r tin , © tra fc b u rg 1887. — 4 ) 3). 9 ?at.* £itt. 93b. 17, 1, ©. L X I I .

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W epoce promulgacji encykliki Fulgens corona Autor skoncentrował się na zagadnieniu grzechu pierworodnego, słusznie przyjmując, że był to podstawowy kontekst odnowionej

podstawy etyki&#34;, Tadeusz Biesaga, Lublin 1989 : [recenzja]. Studia Philosophiae Christianae