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Aufbruch in den offenen Protest

Das gesellschaftliche Leben in der Spätphasedes realen Sozialis­ mus vollzieht sich zwar noch unter spürbaren Einschränkungen der äußeren Freiheiten, aber - wie bereits besprochen - keinesfalls unter totalitären Bedingungen. Es weisteine Reihe wesentlicherErscheinun­

gen auf, die einerseits aus den von Milosz beschriebenen historischen und geistigen Konstellationen herrühren, andererseits aber von gewal­

tigen Entwicklungsprozessen im kollektiven Bewußtsein und beson­

ders von zunehmend freien Kommunikationsformen zeugen. Diese Veränderungen betreffen direkt die Kategorien des gesellschaftlichen Denkens (gesellschaftliches Denken hier im Doppelsinn: Gesellschaft als Sammlung von Subjekten und Objekten der Erkenntnis).

Im Spätsozialismus gewinnt das Sanktuarium Milosz’ an Gewicht im Selbstbewußtsein der Menschen undwird zunehmend im Rückgriff aufdie Sprache des Evangeliums formuliert. Diese stellt sich als die angemessenste heraus, denn sie entspricht dem Grundbedürfnis nach ethischer Bewußtheit und Erkenntnis und fängt die spontanen

religiösen Triebkräfte am besten auf. Die Formulierung, das Evange­ lium habe den Menschen Kraft zum Widerstand verliehen, ist sicher­

lich nichtübertrieben, hatjedoch den Nachteil derUngenauigkeit und Plakativität. Aus einem an Miłosz ausgerichteten Blickwinkel stellen sich die geistigen Vorgänge, die die religiösen Muster der Proteste formen, weniger monokausal dar: eine ganze Generation nach dem Entstehen der verschiedenen Formen des Ketman entladen die Men­

schen (vorallem) in die Worte des Evangeliumseinen Stau elementa­ rer Bedürfnisse, die vom Regime frustriert wurden. Dieser Prozeß ist ähnlich strukturiert wie die von Miłosz beschriebene Selbstentladung des Dichters in seinen Gedichten, wobei sich das individuelle Tempe­ rament seinen Weg durch die herrschenden Konventionen hindurch bahnt27. Hier spielt sich, wie bei allen schöpferischen Anstrengungen, eine Dialektik auf der Grundlage des authentischen, nicht mehr auf­

schiebbaren Bedürfnisses nach sichtbarer Gestaltung ab. Die offizielle Konvention erweist sich dabei teils als unerbittliches Hindernis, teils als brauchbares Werkzeug- das gemeinsame Problem, einmal erkannt anerkannt, vereinigt die Menschen.

27 Vgl. Miłosz, op. cit.. S. 81. Für den vom Totalitarismus infizierten Dichter gilt das umgekehrte Verhältnis: die Konvention bahnt sich den Weg durch das individuelle Temperament.

Die Entladung des Staus und die Selbstfindung im friedlichen Protest sind ein schöpferischer Prozeßder Befreiung aus psychischen Zwängen, der auch dann einen wichtigen Gewinn für das gesellschaft­ liche Leben erbracht hätte, wenn das Regime nicht vollständig kolla­ biert wäre. Der lawinenartige Gewinn an Wahrheit, den die neue Sprachlichkeit mit sich brachte, war in Polen nicht erst 1989, sondern am stärksten in der legalen Zeit der Solidarność allgemein erfahrbar und spürbar geworden. Was anfangs in der präverbalen Tiefedes indi­ viduellen Lebens als Reaktion auf den äußeren, kollektivierenden und atomisierenden Druck des Regimes gewachsenwar, reiftewährend der offenen Krisedes Systemsso weit aus, daß es die Menschen aus ihrer

Vereinzelung in einer erstarrten Gesellschaftherauszuführen vermoch­ te. Ihre inneren Sanktuarien hattensich geöffnet, wurden - quasi Leib-nizsche Monaden mit geöffneten Fenstern - fähig zum Dialog und bewegten die selbstbewußter gewordenen Individuen zur kollektiven Emanzipation gegen die conditio sine qua non ihrerAtomisierung und zwangsweisen Kollektivierung: die Vorenthaltungentscheidender indi­ vidueller Freiheiten. Die authentische Rückbesinnung der Menschen auf ein metaphysisches PrinzipderWelt, ihre re-ligio, hatte das angeb­ lich völlig diesseitige und materialistischeMenschen- undGeschichts­

bild des Marxismus-Leninismus als das Andere benötigt, unter dessen Druck sie sich zu einerMassenbewegungformieren konnte.

Die Wechselwirkung von Geschichteund religiösem Bewußtsein kann in den 1970erund 1980er Jahren im Licht markanter historischer Ereignisse beobachtet werden. Freilich dürfen die Geschehnisse von 1970 (blutig niedergeschlagener Protest inGdansk und Szczecin) und 1979-81 (legale Existenz derSolidarność) nicht im Sinne eines ideali­

stischen Vorurteils einfach auf religiöse Motive zurückgeführtwerden, auch wenn sich solche in der Rhetorik des Protestes immer wieder deutlichbemerkbar machen; dies wäre schonaufgrundder mindestens ebenso lautstark artikulierten ökonomischen Forderungen unhaltbar.

Auch dürfen nicht alle Aussagen, die in einem kirchlichen Umfeld gemacht wurden, als metaphysisch inspiriert mißverstanden werden, dadie Kirche als sicherer Raumfüralle attraktivwar, die sich ausden verschiedensten Gründen mit dem System nicht identifizierten. Ande­ rerseitsgilt es auch, nicht ins Gegenteil zu verfallen und die religiösen Formen und Symbole des Protestes nur als taktische Elemente in einer Auseinandersetzung um die Macht zu betrachten.

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Das Problem

des Kollektivismus

Es stellt sich die Frage, ob das Wesen des Totalitarismus tatsächlich im Kollektivismus besteht, oder, anders formuliert, ob der Kollektivismus prinzipiell zum Totalitarismus führen muß. Im Hin­ blick auf die So/iJiimasc-Bewegung lautet die Frage: zeugen ihre kollektivistischen Zügemöglicherweise von einem verdeckt totalitären Charakter?

In vielen westeuropäischen Darstellungen osteuropäischer Wirk­

lichkeit nimmtdas Phänomendes Kollektivismusso viel Platz ein, daß man es dort für gewöhnlich als den Kern des Totalitarismus ansieht.

Fakt ist, daß diejeweiligen ideologischen Projekte des Kommunismus eine kollektiveIdylle amEnde der Geschichte vorsehen. Offensichtlich gehört ein zwangsweiser Kollektivismus auch zudeneigentümlichsten historischen Erscheinungsformen des Totalitarismus. Jedoch muß zwi­

schen Kollektivismus und Vermassung unterschiedenwerden. Kollek­ tivismusist eine auf gemeinsame Lebensformenausgerichtete Tendenz der Gestaltung interpersonaler Beziehungen. Günstigenfalls befindet sie sich mit der entgegengesetzten Tendenz, dem Individualismus, im Gleichgewicht. Vermassung isthingegen dieAuflösung interpersonaler Beziehungen mit der Gefahr, in Anarchie oder totalitäre Herrschaft umzuschlagen.

Meine These fürdiesen Abschnittlautet: Kollektivismus isteine auf gemeinsame Lebensformen ausgerichtete Tendenz der Gestaltung intersubjektiver Beziehungen in größeren Gruppen, die sich günstigenfalls mit der Tendenz zur Privatheit -dem Individualismus -in einem Gleichgewicht befindet. Vermassung ist hingegen die

Auflösung gewachsenerintersubjektiver Beziehungen mit der Gefahr, in Anarchie oder Gewaltherrschaft umzuschlagen. Der Vermassung dient sowohl ein zwangsweiser Kollektivismus. 1er den Respekt für das Private negiert, als auch ein Zurückdrängen ins Private aus jenen Bereichen, wo die Menschen vorher gemeinsam handelten. Daher ist Kollektivismus von sich aus nicht totalitär. Er kannfürund gegen den Totalitarismus wirksam werden. Es kann von totalitärem und antitotalitärem Kollektivismus gesprochen werden, wobei die Solidar- nasr-Bewegung ein Beispiel für letzteren abgibt.

Aus Hannah Arendts Analyse geht hervor, daß die totalitäre Dy­ namik aus der Verlassenheit und anonymen Vermassung des modernen Menschen entstand. Es handelt sich dabei nicht um die Alternative zwischen Individualismus und Kollektivismus. Alternativen können nicht auf der bloßen Negation des Vorliegenden und der Verherrli­ chung des Gegenteils, einem „Umdrehen des Spießes”, beruhen"8.

Wird in einerSituation der Verarmung, Vermassung und allgemeinen Auflösung gesellschaftlicher Strukturen gewaltsam kollektiviert, so entsteht nicht Macht, sondern einfach eingroßesGewaltpotential, ohne Möglichkeiten, die Menschen zur Wahrnehmung von Verantwortung zu befähigen und so den Zusammenhalt der Gesellschaft wiederherzu­

stellen. Kollektivismus, der mit einem gemeinsamen politischen Ziel, jedochohne Zwang große Menschenmassen verbindet- wie beispiels­ weise 1989 in den meisten Ländern Osteuropas - stellt freilich auch ein Gewaltpotential dar, ist aber vor allem ein Potential politischen Engagements, alsoder Machtim Sinne Hannah Arendts. Entscheidend

Deutlich wird dies beispielsweise am Problem des Fortschritts. Ob man im Namen des Fortschritts beschleunigend in die Geschichte eingreift oder im Namen der Unmöglichkeit eines Fortschritts die Geschichte anzuhalten versucht - man bleibt dem Schema verhaftet und hat keine eigentliche Alternative. So schreibt Hannah Arendt: ... die Fortschrittsideologie ist denn auch seit dem achtzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart immer von einer Untergangsideologie begleitet gewesen (in Macht und Gewalt, op. cit., S. 29), die keine Alternative ist, ihren Anhängern jedoch als solche erscheinen kann.

sind hierbei die konkreten politischen Bedingungen und die zivilisato­ rischen, kulturellen und politischen Werte, auf die sich eine solche Gemeinschaft stützt, denn in ihnen liegt die eventuelle Möglichkeit einer Alternative zum Bestehenden begründet.

Der Zwangskollektivismus hingegen ist eines jener Instrumente, mit denen im totalitären Prozeß die bisher verbindlichen zivilisatori­

schen Werte übertönt und zerstört werden sollen. Das eigentliche Ziel ist der von seinen sozialen Bindungen und seinem individuellen Ge­

wissen befreite „Neue” Mensch, der der herrschenden Clique - und nicht etwa dem nationalen oder einem anderen Kollektiv - total erge­

ben ist. Dermit derStimmung des Aufbruchs nach langer Depression verbundene Kollektivismus gehört zu den Erscheinungen des Übergangs zum Totalitarismus und verändertsich späterentscheidend.

Primär istund bleibt die Verlassenheit des totalitären Menschen, seine Entfremdung von den eigenen Werten und von der Welt. Sie ist der Grund, auf dem der Totalitarismus wächst, und bleibtes über die ganze Zeit seines Bestehens. Zumeist überlebt sie das totalitäre System, sodaß sie entweder von einem neuen Totalitarismus aufgefangen wird oder aber endgültig erst mit der Generation ausstirbt, die von ihr geprägt wurde.

Die Rolle des Kollektivismus im Totalitarismus wird, wie bereits erwähnt, vor allem in westeuropäischen Darstellungen unterstrichen.

In Mittel- und Osteuropa - bedingt durch die jahrhundertelangen Erfahrungen mit dem russischen Despotismus - ist die Sicht auf das Problem eine etwas andere. Hier betont man die Zerstörung traditio­

neller Werte und sozialer Gemeinschaften. Ein gewichtiger Unter­

schied liegt darin, ob diese Gewalt im Zuge eines Krieges von außen auf eineGesellschaftzukommt oder ob sich ihre Strukturen von innen her auflösen. Der traditionelle russische Despotismus und Expansionis-mus, mit dem die Polen im Laufe ihrer Geschichte reichhaltige Erfah­ rungen machten, unterscheidet sich von Totalitarismus im engeren Sinne dadurch, daß ihm wohl brachiale Gewalt zu eigen ist, es ihm aber immer wesentlich schlechter gelang, die Köpfe und Herzen der

Menschen für sich zu gewinnen. Diesen Aspekt weist auch die Geschichte des Stalinismus auf: einerseits war dieses System totalitär, andererseits war es gegenüber der eigenen Gesellschaft zu mehr phy­

sischer Gewaltanwendung gezwungen alsjemals das populäre System Hitlers. Durch diese Gewaltanwendung lag sein Charakteroffener29.

Interessant ist die Auffassung des Philosophen aus Wroclaw und Solidamość-Mili- visten Józef Pinior, daß die fünfjährige nazideutsche Okkupation verheerendere Fol­

gen für den geistigen und moralischen Zustand der polnischen Nation hatte als die zehnmal längere anschließende sowjetische Dominanz. Pinior als aktiver Gegner des kommunistischen Systems ist überzeugt, daß die Polen über ein historisch gewach­

senes Antidotum verfügen, welches es ihnen ermöglicht, ihre Identität gegenüber rus­

sischen Einflüssen zu verteidigen.

Dem Kollektivismus als totalitärem Gewaltmittel steht die zwangsweise Vereinzelungzur Seite. Wesentlich istnicht die konkrete Richtung, in welche die jeweils angewandte Gewalt wirkt- Kollekti­

vierung oder Vereinzelung - sondern die für die Menschen unbere­ chenbare Allgegenwart dieser Gewalt bei gleichzeitigem Verlust ihres bisherigen Bezugssystems. Betroffen von dieser totalitären Gewalt sind grundsätzlich alle Arten sozialer Strukturen: territoriale Gliede­ rungen, politische Parteien und Berufsverbände bis hin zu Selbsthilfe­

gruppen und Hobbyzirkeln, aber auch alle Arten von Wertehierarchien, vor allem in Erziehung, Wissenschaft und Rechtsprechung. Im totalitären Prozeß werden all diese Strukturen unter der direkten Führung der Machthaber radikal umgestaltet - das heißt, sie werden weder einfach abgeschafft noch aus dem Nichts geschaffen. Dem Ver­

bot der Versammlung und politischen Tätigkeit folgt immer der Befehl der Teilnahme an den neuen Strukturen.

Diese Kombination von Terror, Zerstörung bisher bestehender Strukturen und ideologischer Vernebelung bewirkt, daß der totalitäre Mensch immer stärker auf das Deduzieren aus ihm vorgegebenen Prämissen zurückgeworfen wird. Dabei verliert die finale Vision totalitärer Ideologien wie jeder konkrete Inhalt an Bedeutung.

Gefährlich wird der totalitären Dynamik nur eine Stagnation, die sich aus dem Festschreiben bestimmter Inhalte und Ziele ergäbe. Wenn ein

totalitäres System einmal fest etabliert ist, bestimmt es diese Inhalte operativundwird von einemGlaubensverlust kaum in Fragegestellt30. Gegen das Einzige, wovon sich die verbrecherische Führungsclique zurecht bedroht fühlen müßte - einen tätigen Zusammenschluß der Menschen - hatsie sich schon abgesichert. Alle bishergültigen Struk­ turen sind dann zerstört, in welchen sich eine wie auch immer be­

schaffene echte Autoritäthätte erhalten können,diedieErkenntnis von Gut und Böse ermöglicht und zum kollektiven Handeln motiviert31.

10 Viele ältere Deutsche behaupten, gegen Ende des Krieges schon längst keine Nazis mehr gewesen zu sein, da sie an die versprochene gloriose Zukunft der „Volksge­

meinschaft” nicht mehr glaubten. Diese Aussage ist sicher zum großen Teil subjektiv richtig, hat aber für den Verlauf der Geschichte wenig Bedeutung und kann auch moralisch nicht entlasten. Sie bestätigt in ihrer Naivität nur die These Hannah Arendts von der Banalität des Bösen, das nichtsdestoweniger ein Böses bleibt. Der Glaubens­

verlust hat nämlich nicht einmal zum Versuch einer kollektiven Korrektur des Übels geführt.

11 Im Fall des Nazionalsozialismus ist daraus zu ersehen, daß die erste und verhängnisvollste Schuld darin besteht, alle Werte und Autoritäten aufgegeben zu haben, als die Macht der Nazis nocht nicht total war. Es handelt sich hier tatsächlich um eine kollektive Schuld des deutschen Volks, die freilich in juristischen Kategorien nicht zu fassen ist. Diese Kollektivschuld liegt vor der gewaltsamen Durchsetzung kollektivistischer Prinzipien! Sie ist eine Schuld gegenüber den gemeinsamen zivi­

lisatorischen Werten, aus der später, in der totalitären Dialektik von Kollektivierung und Vereinsamung, die Schuld an ungeheueren Verbrechen erwachsen konnte. Die Verbrechen des Nationalsozialismus können und müssen juristisch aufgearbeitet wer­

den, und darin liegt zugleich eine Chance für die Aufarbeitung der moralischen Kol­

lektivschuld. Mit anderen Worten: die Anerkennung und Sühne der juristisch kon­

kreten Schuld am Leben der Opfer ist eine wichtige Voraussetzung und auch schon ein Stück Weg der Wiedergutmachung an den verratenen Werten. Nur so kann Autorität neu aufgebaut werden, die zur Verhinderung einer neuerlichen Katastrophe dieser Art unerläßlich ist.

Helena Flam, Die poröse und die wasserdichte Sinnwelt der Opposition: der ost­

deutsche und der polnische Fall, in: Detlef Pollack und Dieter Rink (Hrg), Zwischen Verweigerung und Opposition: Politischer Protest in der DDR vom Anfang der sieb­

ziger Jahre bis zur friedlichen Revolution 1989, Campus-Verlag 1997 (o.O.) In einer Studie von HelenaFlam über Dissidenz und Opposition in Polen und der DDR32 wird ebendieser Zustand anhand der DDR-

Dissidentenbewegung analysiert und der Situation in Polen kontrastiv gegenübergestellt. Flam stellt fest, daß die ostdeutschen Andersden­ kenden keine gemeinsame Autorität („Dissidentenehre”) aufbauen konnten, sondern einen spezifisch ostdeutschen romantisch-idealisti­ schenIndividualismus pflegten, dessen Hebammen der Parteistaat und die Dissidentenbewegung selbst waren33 *. DerEhrbegriff, wie ihn ein offenes gemeinsames Handeln gegen illegitime Machterfordert hätte, wurde von ihnen ersetzt durch einen auf das Individuum bezogenen Ehrbegriff(...), und zwar den der „inneren Ehre”, dermit dem philo­ sophischen, romantisch-idealistischen Begriff des „Gewissens"gleich­

zusetzen ist. Die Intellektuellen, die diesen Begriff prägten - Flam erwähnt deutsche Literaturklassiker, Exilautoren, aber auch Christa Wolf, Volker Braun oder Christoph Hein - betonen das Recht des Individuums auf vom Staat und der Gesellschaft unabhängige Moral­

vorstellungen™. Signifikant istfolgender Umstand:

” Ebd.. S. 3.

,4 Ebd.

" Ebd.

“ Ebd., S 1.

Sowohl Bildungsromane, die als „typisch deutsche” Literaturform verstanden werden, als auch Exilliteratur, die diese Literaturform weiterführte, waren in der DDR zugänglich, sogar hoch gelobt, weil sie vom „antifaschistischen” Staat zur Legitimie­

rung benutzt wurden35.

Wie können Dissidenten einen tätigen Zusammenschluß bilden, wenn sie nur über Autoritäten verfügt, die von der als illegitim zu kritisierenden Herrschaft selbst zur Legitimierung benutzt wurden?

Hier konnte derrepressive, wie Flam schreibt, vor allemaber kollektiv­ vernichtende Parteistaatseine Gegner problemlos atomisieren. In der DDR gelang es den Dissidenten nicht, wie in Polen, eine eigene, unabhängige Sinnwelt aufzubauen. Eine solche Sinnwelt ist aber vonnöten, um den Dissens in die Opposition, das heißt vereinzeltes

„Andersdenken” in kollektives Handeln umzuwandeln36. Der roman­

tisch-idealistischeIndividualismus der ostdeutschen Systemkritiker un­

terscheidet sich radikal von dem - ebenfalls romantisch gefärbten -Kollektivismus derpolnischen Opposition. Die Geschichte hat gezeigt, daß ersterer für die Machthaber höchstens ein tagespolitisches Ärgernis darstellt, letzterer aber die Herrschaft in ihren Grundfesten erschüttern kann. Ersterer istden EreignissenderPolitikausgeliefert -worin eine individuelle Tragik der Betroffenen liegt. Die Option der Ausreise in den Westen bedeutet zwareine Schwächung der gesamten Bewegung. Auf sie konnten aber die Dissidenten nicht verzichten, da sie ein Selbstverteidigungsmechanismus in einer Dissidentenwelt [war], die fastkeine symbolischen Schutzmechanismen zur Verfügung stellt31. Der polnische oppositionelle Kollektivismus ist hingegen auf­

grund seinerAutonomie in der Lage, sich der Politik des Staatesentge­

genzustellen. Freilich geschieht dies zu hohen Kosten, wie das heroi­

sche Selbstverständnis deroppositionellen Intellektuellen - und, nicht zu vergessen,Arbeiter - selbst besagt:

” Ebd., S. 9.

” Ebd., S. 14.

Ihre eigene intellektuelle Entwicklung und ihr moralischer Perfektionismus dienten sowohl als Waffe im Kampf als auch als lebendiger Beweis dafür, daß das Böse das Gute zu vernichten versucht. Das Dämonische wurde durch den heroischen Historizis- mus ergänzt .,38

Kurz, wirkönnen zwei Arten von Kollektivismuserkennen:einen zwangsweisen, tatsächlich mit einem totalitären Prozeß verbundenen, der keinenPlatz für gemeinsames freies Handelnder Menschen lassen will und daher immerHand in Hand mit Atomisierungsprozessen und dem Abbau moralischer Autoritäten geht. Es ist aber auch eine zweite Art des Kollektivismus wahrzunehmen, die auf freiwilligem, sich heroisch verstehenden Zusammenschluß um historisch legitimierte Autoritäten beruht - dies meint Flam mitihrem Begriff des heroischen Historizismus.

Interessant ist, daß der offizielle Marxismusnach wie vorbei der Bestimmung des Kollektivismus den Ton angibt, und zwar auch im Westen. Mir scheint im landläufigen Bewußtsein mitunter ein hauptsächlich auf HomonymieberuhenderFehler vorzuliegen, der sich etwa in derDefinition der New Encyclopaedia Britannica zeigt:

collectivism, any of several types of social organization in which the individual is seen as being subordinate to a social collectivity. Collectivism may be contrasted with individualism, in which the rights and interests of the individual are emphasized.

The earliest modern, influential expression of collectivist ideas in the West is Jean-Jaques Rousseau’s Du control social (...), in which is argued that the individual finds his true being and freedom only in submission to the „general will” of the community. (...)

Collectivism has found varying degrees of expression in the 20th century in such movements as socialism, communism, and fascism. (...) In communist systems col­

lectivism is carried to ¡st furthest extreme, with a minimum of private ownership and a maximum of planned economy’'9.

Wir finden hierdie Bestimmung von RousseausGesellschaftsver­

trag als frühen und einflußreichen Ausdruck kollektivistischer Ideen, einige Zeilen später aber die Aussage, daß der Kollektivismus in den Bewegungen des Sozialismus, Kommunismus und Faschismus seinen Ausdruck fand, am stärksten aber im kommunistischen System. Letz­

teres wird dann - wie bei den Apologeten des Realsozialismus - ökonomisch argumentiert.

Mit dieser tendenziösen und verknappten Darstellung nicht nur des contratsocial wird impliziert, daß die Totalitarismendes20.Jahr­

hunderts aus einerArtÜbersteigerung der Idee vom Gesellschaftsver­

trag entstanden seien. Historisch gibt es freilich starke Verbindungen des utopischen Sozialismus und auch des Marxismus zur

trag entstanden seien. Historisch gibt es freilich starke Verbindungen des utopischen Sozialismus und auch des Marxismus zur