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Die Nationaldemokratie und die Schwäche des politischen Realismus

Äußere Souveränität als Wert

5 Die Nationaldemokratie und die Schwäche des politischen Realismus

Die politischen Biographien vieler führenderNationaldemokraten des 19. Jahrhunderts beginnen mit der Teilnahme an einem der ge­

scheiterten Aufstände und zeugen von konfliktreichen Prozessen, in denen sie ihrSystem von politischen Ansichten und moralischen Wer­ ten umgestalteten. Viele anderegehörten einer späteren Generation an, wie der politische und geistige Führer der Nationaldemokraten, unter dem sie die Zeit ihrer größten Bedeutung erlebte: Roman Dmowski wurde in der Zeit des Januaraufstands, 1864, geboren, erstarb im Jahr der erneuten Teilung Polens durch Hitlerund Stalin, 193940.

40 Norman Davies, op. cit., Bd. 2, S. 68, 70.

41 Ebd.

Die romantische Revolte wargegen die Gesamtheit der äußeren Bedingungen des nationalen Seins (byt narodowy) geführt worden.

Nach ihrem blutigen Scheitern ging ein Teil der Intelligenzzur Marty­ rologie über. Andere, die den Sinn der Aufstände kritischer hinterfrag­

ten, sahen sie alsdenGipfel von Unvernunft und Verantwortungslosig­

keit an. Die Nationalen Demokraten bezogen die Motivation ihres Den­

kens und Handelns direkt aus der Negation der romantisch­ aufständischen Werte. Norman Davies weist daraufhin, daß sie im 19.

Jahrhundert die einzigen wirklichen Politiker waren, deren Selbstverständnis nämlich besagte, daß sie die Kunst des Möglichen betreiben41. Die Sublimierung desPolitischen hatte ihrEnde gefunden.

Politik wurde von einem Teil der Intelligenz als das Erreichen des Erreichbaren verstanden. Erfolg hatte nunmehr daran gemessen zu werden, ob ein rational bestimmtes Ziel verwirklicht worden ist. Das neue Ideal bestand darin, die eigenen Interessen ohne militärische Abenteuer so effektiv wie möglich zu vertreten, es bestand nunmehr auch im Feststellen gemeinsamer Interessen mit den Teilungsmächten und im politischen Kompromiß - daher der Begriff ugodowcy für diejenigen, die sichvom romantischenIdeal undEngagementabwand­ ten42. Es handelt sich nicht um ein Überlaufen zum Gegner, nur weil dieser sich als der vielfach stärkereerwiesen hatte. Vielmehr treten an die Stelle der imponderabilia die ohne jeden moralistischen Schmuck egoistisch verstandenen Interessen der Nation. Den unzuverlässigen Willen der Nation (wola narodowa) sollte ein nationales Pflichtgefühl ersetzen43. Das pragmatische Handeln nach empirischen Kriterien setzt sich gegen ein Verständnis durch, das aufspekulativen Prämissen und derÜberzeugung beruht hatte, die richtige Sache müsse auch die sieg­

reiche sein. Zwar waren diese Prämissen von der Tradition philoso­ phisch und religiös untersetzt, doch, so lautete die Kritik, handelte es sich dabei um Wunschdenken und Rationalisierungen unbeherrschter Emotionen, um Mythen.

42 ugodowy ist zu übersetzen mit Verständigung suchend, dein Kompromiß zugeneigt, als ugodowiec (im Plural ugodowcy) gilt, wer diese Haltung verinnerlicht hat und nachdrücklich nach außen vertritt.

41 Von diesem Pflichtgefühl (poczucie obowiązku narodowego) spricht auch Norman Davies, op. cit.. Bd. 2, S. 70.

44 A. Walicki, op. cit.. S. 62.

Die Kritik der romantischen Mentalität ist derKern, aus dem die Nationaldemokraten ihr politisches Denken entwickelten44. Kritik galt sowohl der „politischen Romantik” der Aufständischen als auch der Passivität und der Resignation, die vom Scheitern der Aufstände ausgelöst worden waren. Im Namen einer „aktiven polnischen Politik”

wurden von den Nationaldemokraten auch „zu weitgehende” ugodow­

cy und später die unpolitischen Positivisten, vor allem Intellektuelle,

angegriffen. Diese beiden Gruppen hatten die Bestrebungen nach Unabhängigkeit allzu bereitwillig aufgegeben und, aus der Sicht führender Nationaldemokraten, nicht nur aufden unrealistischen Teil der Forderungennach Unabhängigkeitund Selbstbestimmung verzich­ tet. Programmatische Konflikte gab es des weiteren mit der Unabhängigkeitsbewegung des Vaters und Staatspräsidenten der II.

Rzeczpospolita und heutigen Nationalhelden, General Jozef Pitsudski.

Dessen Sanationspolitik in derZeit zwischen den beiden Weltkriegen ist keineswegs als die Fortsetzung der ND zu betrachten und wurde von ihr abgelehnt,obgleich es während der frühenpolitischen Karriere Pilsudskis viel Gemeinsames gab. Pilsudski, als er nach dem Ersten Weltkrieg den unabhängigen polnischen Staat aufbaute, bezog sich auf die romantischeTradition45. Pilsudski galt als Beschützerder Minder­ heiten, dieden Angriffen radikalerNationaldemokraten ausgesetzt wa­

ren. Diesbetrifft insbesondere die jüdischeMinderheit in kleinen Orten.

45 Vgl. ebd. sowie N. Davies, op. cit., S. 80.

Vgl. A. Walicki, op. cit., S. 10, und die Bemerkungen dazu am Anfang dieses Kapitels. Das Urteil des Historikers Walicki, daß es sich bei den Traditionen des politischen Realismus um ein Dilemma handelt, muß für seine Einschätzung der 1980er Jahre von Bedeutung sein, da es sonst in seine „bewußt präsentistische” Dar­

stellung keinen Eingang fände. Dieser Aspekt wird gegen Ende dieses Abschnitts noch einmal eine Rolle spielen, wenn es um Lagowskis Position hinsichtlich der Auseinandersetzung von Positivisten und Romantikern geht.

Walicki überschreibt das betreffende Kapitel seines Aufsatzes mit

„Das Dilemma des politischen Realismus und das Erbe der ND”, während erAdelsdemokratie und Romantik als eher homogene Tradi­

tionen vorstellt. Dies ist schon als deutlicher Hinweis auf die innere Vielfalt und Widersprüchlichkeit innerhalb derTraditionen des politi­

schen Realismus zu verstehen. Wichtig scheint mir hierbei, daß Wali­

cki diesen Hinweis in einerbewußt präsentistischen Darstellung gibt.

DieStrukturender fernliegenden intellektuellen Ereignisse, wie Szacki sagen würde,korrespondieren mit den vom Autorgegenwärtig (1985) beobachteten Strukturen des gesellschaftlichen Lebens in Polen - auf welche Weise, soll im folgenden besprochen werden46.

In der Bewertung derSolidarność und ihrer politischen Niederla­ ge im Dezember 1981 hat sich die romantische Tradition als die weit­

aus(zahlen-) stärkereerwiesen. Die Bevölkerung sah überdie eklatan­

ten politischen Fehler der führenden Oppositionellen hinweg. Der Untergang der Solidarnośćwurde verhindert, indem er nicht wahrge­

nommen wurde; die politische Niederlage konnte nach romantischem Muster noch einmal als moralischer Sieg interpretiert werden. ZurGe­

waltanwendung seien die anderen übergegangen, somit dürfe man selbst auf ein gerechtes Urteil der internationalen Gemeinschaft, der Geschichte und, mit der Fürbitte Marias, auch Gottes rechnen. Die Solidarność überlebte die schlimmste Zeit im kollektiven Gedächtnis und tauchte gegen Ende der 1980er Jahre auch als politische Organi­ sation wieder auf, bis dahin, daß sie am Runden Tisch von 1989 die Gesellschaft vertrat, wie ihr Selbstverständnis lautete und auch allge­

mein akzeptiert wurde.Mankönnte vereinfachend sagen: die Ereignis­ seund Denkweisen der 1980er Jahre folgten sozialistischen Idealen und den Mustern der romantischen Tradition, insofern sie von den Massen undden mit der Solidarność direkt verbundenen Intellektuellen getragen wurden. Die realistische Tradition hingegen verhalf den zahlenmäßig schwachen Liberalen und Konservativen zu kritischem Abstand. Teilen der Staatsmacht diente sie zur Entscheidungsfindung oder inapologetischen Konstrukten.Umfangund Ausrichtungen dieser Minderheiten bestimmt Walicki so:

Der „politische Realismus” im weiteren Wortsinn hatte in der PRL viele verschiedene Repräsentanten. Auf seine grundsätzlichen Prinzipien beriefen sich immer wieder Machtelite, Kirchenkreise, katholische Intellektuelle, die die Tradition des politischen

„Neorealismus” fortzusetzen versuchten, aber auch Leute, die sich aktiv in der Oppo­

sition engagierten. Dieser Realismus nahm oft die Form eines stillen Sich-Abfindens mit dem „geringeren Übel” an, trat jedoch ebenso in Erscheinung, wenn es etwa darum ging, ein Programm des effektiven Kampfes um optimale Änderungen innerhalb der herrschenden Verhältnisse zu begründen .

47 A. Walicki, op. cit., S. 73.

Der ideelle Gehalt der Kritik an der romantischen Mentalität und auch die Suche nach Kompromissen, die im praktisch verstandenen Interesse der Nation liegen, haben schon im 19. Jahrhundert noch an­

dere Kreise als die Politikerder ND angesprochen, vor allem die so­ genannte positivistische Intelligenz48. Was diese (mitunter durchaus politisch engagierte) Intelligenz an der romantischen kritisierte, hat Professor Bronisław Łagowski in einer Vorlesung mithilfe der Ter­

minologie Max Webers zusammengefaßt: derMoralismus der roman­

tischen Aufständischen war in seiner Grundtendenz eine Gesinnungs­ ethik,einhierarchisches Wertesystem, in dem die erhabenen nationalen Werte eine so hohe Stellung einnahmen, als imponderabilia nämlich, daß sie von den Folgen, die ihre Verwirklichung mit sich brachte, praktisch unabhängig waren. Was hier maßgebend wirkt, ist allein die Treuezu ewigen Werten. Die Beurteilung aller Handlungen kommt der Nation zu. Diese existiert jedoch unabhängig von realen politischen und militärischen Erfolgen als Gemeinschaft der Geister(gromada du­ chów, Gemeinschaft der Toten, Lebendigen und noch nicht Gebore­

nen). Das aufständische Engagement der Intelligenz gelangte so in ästhetische und metaphysische Kategorien. Das Gegenstück dazu (und Gegenreaktion) ist die Verantwortungsethik, die Beurteilung eigener und fremder Handlungen nach ihren Folgen, weitgehend unabhängig von den jeweiligen Motiven. Sie bewirkt, daß derErfolgund die Ange­

messenheit der Mittel, also für eine rationale Politikauffassung typi­

sche Kategorien, stark an Gewichtgewinnen bzw. überhaupt erst ins Blickfeld kommen. Bronisław Łagowski unterstreicht, daß beideArten ethischer Motivation und Beurteilung ihren Wert haben. Indem er letz­ tere zu seinem Urteil überdie Geschichte des 19. Jahrhunderts

hinzu-J“ N. Davies, op. cit., Bd. 2, S. 73-77. nennt folgende Vertreter: den Schriftsteller Boleslaw Prus, den Historiker Władysław Smoleński, und die Philosophen: Jan Śniadecki, Michal Wisznewski, Eleonora Ziemiecka, Pater Stefan Pawlicki, Julian Ochorowicz.

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zieht, gelangter zu einerDemythologisierungund mitunter recht her­

ber Kritik nationaler Wertehierarchien, vor allem jener, die von den romantischen Aufständischen und der Solidarność-Bewegung gern in Anspruch genommen wurden. So führt Łagowski einen direkten An­ griff auf den Mythos, der den aufständischen Intellektuellen im 19.

Jahrhundert die patriotischen Legitimation ihres Handelns vor allem ermöglicht hatte: der Mythos von der Volksverbundenheit der polni­

schen Intelligenz. Zwar hat es die große Gemeinschaft im Leiden durchaus gegeben und haben ungezählte Intellektuelle teuer für ihr Engagement gezahlt. Doch wird ihnen von Łagowski der - in Polen keineswegs widerspruchslose - Vorwurfgemacht, die Volksmassen in ein von vornherein aussichtsloses Blutvergießen geführt zu haben, da sie auf hartnäckige Weise in metaphysischen und ästhetischen, aber nicht in den eigentlich adäquaten politischen und militärischen Kate­

gorien gedacht hätten.DieseErscheinung belegt er mit dem provokan­

ten Begriff des „Machiavellismus der Unterdrückten”49.

w Łagowski gebrauchte diese Bestimmung in Vorlesungen und Gesprächen, eine ge­

nauere Erläuterung findet sich in seinem Buch Szkice antyspołeczne (Antigesellschaft­

liche Skizzen). Kraków 1997.

50 Vgl. z.B. den Artikel Adresowane do Prawicy in Tygodnik Powszechny, 12. März 1996.

In Lagowskis Analyse der Situation in der PRL zeigen sich die Interessen der Nation - mutatis mutandi, denn Polen war seit 1944 eigenstaatlich, wenn auch nur sehr begrenzt souverän - als Staatsrai-son50. Ansonsten kann sein Standpunkt mit derselben Formulierung bestimmt werden, die Walickiauf die beiden wichtigsten Ideologender ND bezieht: Roman Dmowski und Zygmunt Balicki, den Autor des einflußreichen Buches Der nationaleEgoismus und die Ethik (Egoizm narodowy wobec etyki, 1902):

Alle Versuche, die Interessen der eigenen Nation in den Kategorien einer übernationalen, objektiven „Richtigkeit" („słuszność”) zu beurteilen, wurden als Symp­

tome einer kollektiven Psychopathologie gewertet, welche, nach Balickis Meinung, für

Intellektuelle typisch sei, die von der Nation entfremdet sind. Die unbedingte Identi­

fikation mit dem nationalen Egoismus bedeutete jedoch keineswegs, daß die nationa­

len Traditionen auf unkritische Weise idealisiert worden wären. Ganz im Gegenteil, die Ideologen der ND gehörten zu den strengen Kritikern der polnischen Vergangenheit51.

" A. Walicki, op. cit., S. 66f. Zu Zygmunt Balicki vgl. N. Davies, op. cit., Bd. 2, S. 79.

Unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts ist der Wille zu realempolitischemHandeln gleichbedeutend mitdem Verzicht auf das, was der Adelsdemokratie im politischen Leben und den Romantikern in der Utopie das Teuerste war: die volle Souveränität. Freilich wurde sie von den Nationaldemokraten nicht als solche abgelehnt. Dies kommtdurchauch ein Prinzip ihrer politischen Arbeit zum Ausdruck:

sie waren von ihren Anfängen bis zurNeugründung Polens nach dem Ersten Weltkrieg in allen drei Zonendes geteilten Landes tätig und in den Parlamenten derjeweiligen Besatzungsmächte präsent. Es wurde also an der Einheit der Nation festgehalten, die Voraussetzung für ihre Souveränität ist. Jedoch konzentrierte man sich nunmehr aufdie Erlan­

gung von Autonomierechten und anderen Vorrechten im Rahmen der Besatzungsstaaten. Diegeopolitischen Fakten waren unumstößlich und wirkten, ähnlich wie nach 1944 derKommunismus, wie für die Ewig­

keit gemacht. Das polnische Idiom „Man darf sich nicht von Fakten beleidigen lassen” kennzeichnet die Haltung derugodowcygegenüber der nun einmalgegebenen historischen Situation. Hier wird nicht mehr die Möglichkeit zugelassen, die eigene Misere mit derSchuldanderer zu erklären und sich selbstUnschuld zuzuschreiben, ja, sich zum Chri­

stus der Nationen zu erheben. Hier zählenjene realen Möglichkeiten, die die geopolitischen Fakten noch enthalten:

- die Teilnahme an den legalen Vertretungsinstanzen der Großmächte, was eine Gratwanderung zwischen der Verhinde­

rung des Schlimmsten, der Bewahrung und fallweisen Erweite­

rung der knapp bemessenen Rechte einerseits und andererseits einem Beitrag zur Legalisierung der Aufteilung Polensbedeutete;

- die konsequente Arbeit im Bereich der Bildung und nationalen Kultur:

- die Förderung derwirtschaftlichen Tätigkeit;

- der Ausbau der Infrastruktur;

- der Versuch, die jeweiligen Großmächte als Absatzmärkte zu nut­

zen, was Dmowski vor allem hinsichtlich Rußlands favorisierte;

- der Ausbau der Position der Polen gegenüber den anderen Völkern und Völkerschaften in Rußland und Österreich.

Der geopolitische Realismus ist jedoch, worauf Walicki hin­

weist52, weder eine Erfindung der ND noch ihr ideologischer Kern.

Dieser liegt vielmehr in einer neuen Auffassungder Nation. Die neue Auffassung wurde erforderlich, um die Spannung zwischen der äußeren Bedrohung Polens und der den Polen so lieben bürgerlichen Freiheiten in den Griffzu bekommen. Bisher war

52 Op. cit.. S. 64.

” Ebd.

54 Ebd.

55 Ebd., S. 66. - Das polnische należeć do czegoś kann sowohl eine Zugehörigkeit im Sinne der Identität als auch ein Besitzverhältnis kennzeichnen. Diese Doppeldeu-die Freiheit der Nation als eines Subjekts der internationalen Beziehungen unauflösbar an die politische Freiheit im Innern der Nation, das heißt an die Freiheit ihrer Bürger gebunden53.

Dem stellte Dmowski seine Auffassung entgegen, daß die bürgerliche Freiheit unbedingt dem Wohl der Nation unterzuordnen sei. Dieses sei nicht ident mitder Freiheit des Individuums,vor allem dann nicht, wenn es die Situation nicht gestattet54. Mehr noch, die individuelle Freiheit spielt in der grundlegenden ideologischen Prämisse der ND gar keine Rolle mehr, denn diese Prämisse ist nach Walicki „die Idee der Nation als einer organischen Ganzheit, der das Individuum ganz und gar (an-) gehört bzw. (an-) zu gehören hat”55.

Eine derartige Zu- und Unterordnung des Individuums gegenüber der nationalen Gemeinschaft ist mit dem adelsdemokratischen Ideal, des­

sen Symbol das liberum veto ist, nicht zu argumentieren. Und im Kontext des romantischen Ideals erschiene die Auflösung des direkten Zusammenhangs zwischen individueller Freiheit und Souveränität ge­

radewegs als Verrat an derNation.

Dmowski konnte nicht, wie Bismarck im benachbarten Deutsch­ land, auf die Staatsraison bauen - ihm fehlte bis 1918 der nationale Staat. Ihm blieb eine Möglichkeit: die Auffassung von der Nation als einer empirisch gegebenen, von anderen deutlich unterschiedenen sprachlich-kulturellen Einheitin einem ererbten Territorium. Ebendies hatten noch die romantischen Patrioten unter Hinweis auf universale Werte abgelehnt. Die Kategorie der besonderen moralischen Qualität der polnischen Nation, auf die die Romantiker so viel Wert gelegt hatten, fiel dem Paradigmenwechsel zum Opfer. In einer Zeit, da sich die Nationalitätenkonflikte in Rußland und Österreich zuspitzten, nannten sich die Anhängerder ND folgerichtig nicht mehr Patrioten, sondern Nationalisten56. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts taucht das Bild chauvinistischer Politiker auf, die sich gegenüber den mächtigen Besatzern „reizarm” verhielten und die noch schwächeren Minderheit nach Kräften unterdrücken halfen. Besonders traf dies die jüdische Minderheit, die die Nationaldemokraten in späteren Jahren politisch und ökonomisch direktangriffen57. Man kann hier davon sprechen, daß der Germanisierungs- und Russifizierungsdruck mitsamt einiger Methoden wie Unterdrückung wirtschaftlicher Tätigkeit oder Diskri­

minierung derSprache einfach andie noch kleineren Völkerder

jewei-ligkeit ist insofern wichtig, als ein Besitzverhältnis nicht in die gängigen Vorstellungen von Demokratie paßt.

5" Ebd., S. 66.

57 Vgl. dazu N. Davies, op. cit„ Bd. 2. S. 182-210

’* Ebd., S. 78, sowie A. Walicki, op. cit., S. 67f.

ligengroßen Reiche vordem Ersten Weltkrieg weitergegeben wurde .58

Beim Begriff des Nationalismus ist jedoch Vorsicht angebracht.

Zunächst ist der polnische Nationalismus eine intellektuell geprägte Erscheinung, er verfügt übertheoretischenGrundlagen, die gerade bei Dmowski zu suchen sind. Andererseits brachten die späteren Genera­

tionender Nationaldemokraten auch Xenophobie und Fanatismus her­

vor. Das folgende Zitat zeigt Dmowskis patriotische Interpretation des Begriffs Nationalismus. Im letzten Satz benennt er die Schwachstelle seines Konzepts.

Aus derselben Quelle [wie die Pflichten des Einzelnen gegenüber seiner eigenen Na­

tion] erwachsen die Pflichten hinsichtlich der anderen Nationen, hinsichtlich der Menschheit... Unsere Nation hat ständig die Erfahrungen, die geistigen Errungen­

schaften und die Arbeit anderer Völker in Anspruch genommen, welche uns in der zivilisatorischen Entwicklung voraus waren. Im Verhältnis zu dem, was unsere Nation von anderen nahm, hat sie der Menschheit bisher sehr wenig gegeben... Ein Patriotis­

mus, der auf einigermaßen festen Fundamenten ruht, hat es nicht nötig, sich vom Gefühl der Überlegenheit der eigenen Nation tragen zu lassen, und das Gefühl, daß die eigene Nation in einer bestimmten Hinsicht anderen unterlegen sei, darf die mora­

lische Kraft dieser Nation nicht schwächen...59

w Zitiert nach: Andrzej Micewski, Roman Dmowski - teoretyk prawicy polskiej (R.D., Theoretiker der polnischen Rechten), in: ders., Z geografii politycznej II Reczypospo- litej (Zur politischen Geografie der Zweiten Republik), Kraków: Znak 1966, S. 15-78, Zitat S. 23.

Zwei Dingewerden hier sichtbar: zum einen das Bewußtsein, als Nation den Katholizismus erhalten zu haben, getauft worden zu sein, und zwar von den lateinischen Nationen (man denke an den schon erläuterten Begriff derLatinizitätPolens). Zum zweiten sehen wir hier, wie ein Patriotismus, der einigermaßenauf festen Fundamenten ruht, also intellektuell greifbare,starke Traditionen aufweist, zum Normativ undKorrektiv des Nationalgc/uW.v wird. Die Xenophobieder radikalen Nationaldemokraten der 1930er Jahre, ihre Überzeugung, dass die eigene Nation gegenüber den anderen Nationen und den Minderheiten keinerlei Pflichten habe, geht auf die Schwächung der patriotischen Fundamente zurück, die fürDmowski noch selbstverständlich waren.

Ein zentraler Begriff im Streit umdas Erbe der ND, speziell der ugodowcy, ist das sogenannte„geringere Übel” (mniejsze zło).Typisch für diese immer sehr leidenschaftliche Auseinandersetzung ist ein pu­ blizistischer Schlagabtausch, der imMärz 1996 im liberal-katholischen Wochenblatt Tygodnik Powszechny stattfand60. Verschiedene Autoren waren gebeten, aus siebenjährigem Abstand ihre Stellungnahme zur Geschichte der PRL abzugeben. Bronisław Łagowski, der keineswegs die direkte Konfrontation mit der Linie des Blattes suchte, seine rhe­

torischen Fähigkeiten aber doch in eine hier so gut wie nie vertretene Richtung lenkte, präsentierte folgende These: Das größte Gewicht in der historischen Wertung ist dem Umstand zuzumessen, daß die PRL über ein halbes Jahrhundert lang die international anerkannte Eigen­

staatlichkeit Polens verkörperte. Aus diesem Grund mußte auch dem ungeliebten und nur sehr begrenzt souveränen Staat ein Mindestmaß an Loyalität entgegengebracht und seine Staatsraison als objektives Interesse aller Polen anerkannt werden. Ein moralisch legitimer Weg war somit das kritische Engagement, der Versuch, die bestehenden Institutionen für eigene Interessen zu nutzen, und geduldig auf Veränderungenhinzuarbeiten.

Bronisław Łagowski, Adresowane do Prawicy, in Tygodnik Powszechny, 12. Marz 1996.

Zwei Wochen später veröffentlichte der Tygodnik Powszechny die

Zwei Wochen später veröffentlichte der Tygodnik Powszechny die