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Der Weg aus der posttotalitären Situation

ZivilerUngehorsam zielt auf die Einhaltung elementarer indivi­ dueller wie kollektiver Rechte und lehnt Zwangsherrschaft und An­

archie gleichermaßen ab. Der mit dem Individualismus verbündete Kollektivismus in Form massenhaften zivilen Ungehorsams führt daher nicht zur physischen Gewaltanwendung, sondern folgt weitge­ hend Hannah Arendts normativer Bestimmung von Macht:

Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz der Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe Zusammenhalt. Wenn wir von jeman­

dem sagen, er „habe die Macht", heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestim­

mten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln ... (potestas in populo - ohne ein „Volk” oder eine Gruppe gibt es keine Macht) ...

Stärke, im Gegensatz zu Macht, kommt immereinem Einzelnen ... zu. ... Stärke hält der Macht der vielen nie stand. ... Es liegt im Wesen einer Gruppe und der von ihr erzeugten Macht, sich gegen Unabhängigkeit, die mit Stärke Hand in Hand geht, zu wehren. ... Gewalt ist durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet. Sie steht dem Phänomen der Stärke am nächsten46.

46 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, op. cit., S. 45—47.

Dem Zwang zur Wahrheit, in dem sich die von der demokrati­ schen Massenbewegung ausgehende Macht bemerkbar machte,konnte sich auch die Staatsmacht nicht widersetzen. Siemußte zu physischer Gewalt greifen oder die Macht mit der Opposition teilen. So kam es zunächst zur Verständigung (die Vereinbarungen des August 1981), später zur physischen Gewaltanwendung (Kriegsrecht, Dezember 1981), schließlich wiederzur Verständigung (Runder Tisch 1989). Da­

bei signalisierte die politische Elite schon kurz nach der Einführung des Kriegsrechts und später in zunehmendem Maße, daß sie von Moskau erpreßt würde. Der historische Wissensstand erlaubt nicht,

dieses Argument hinreichend auf seine Richtigkeit zu untersuchen. Wir könnenjedoch daranersehen, daß auch die Equipe des Generals Jaru­

zelski sich ihrer faktischen Einsamkeit bewußt war. Sie zog daraus politische Konsequenzen, welchespäterdieVerständigung mit der Op­ position, den Runden Tisch und die ersten teilweise freien Wahlen von 1989 ermöglichten. Der Zynismus der Gewalt, die sich in der Zeit des Kriegsrechts als einfache „politische Dreckarbeit” präsentierte, wurde zunehmend weniger ideologisch rechtfertigt, sondern mit politischen Argumenten und Drohungen untermauert47.

47 Vgl. hierzu die Analysen des offiziellen Sprachgebrauchs in den 1980er Jahren von Michal Głowiński, vor allem Mowa w stanie oblężenia. 1982-1985. Warszawa:

OPEN 1996.

Aufder anderenSeite forderte die Gewerkschaft und Massenbe­ wegung Solidarność die Einhaltung der Menschenrechte und die Einräumung politischer Grundrechte. Sie schrieb sich den Katholizis­ mus, vor allem die Sozial lehre des Johannes Pauls II, auf die Fahnen und stellte gleichzeitig klassische Forderungen der sozialistischen Be­ wegungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf. Sie protestierte auf das empörteste gegen die illegitime Macht der Kommunisten undverzich­

tete im entscheidenden Moment einmütig darauf, selbst die Macht zu ergreifen.

Diese widersprüchlichen Merkmale vertragen sich offensichtlich in einer posttotalitären Situation, in der die Gesellschaft sich zu rege­

nerieren und gegenüber der als illegitim abgelehnten Herrschaft zu emanzipieren begonnen hat. Dieser Prozeß ist antitotalitär, und dies in zweierlei Hinsicht: Er richtet sich gegen ein Regime, das von einer totalitären Vergangenheit kompromittiert ist. Erendet, ohne seinerseits einetotalitäre Dynamik zuentfachen. Letzteres hat großes Gewicht im Selbstverständnis der demokratischen Opposition und kann im Nach­

hinein als ihr wichtigstesVerdienst angesehen werden. Daß dabei wirt-schafts- und machtpolitische Ziele zu kurz kamen, läßt sich an der geschwinden Marginalisierung der Solidarność nach 1989 ablesen.

Hier gilt Hannah Arendts Satz:„Wer nicht gehorchenwill, will zumeist auch nicht befehlen”; in einer anderenFormulierung:„Willezur Macht undUnterwerfungsinstinkt stehen in der Tat in einem engen psycholo­ gischen Zusammenhang”48.

48 Macht und Gewalt, op. cit., S. 41.

49 Vaclav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, op. cit., S. 25f.

Wie kanneine Massenbewegungineinem kommunistisch beherr­ schten Land zu enormerEntfaltung gelangen und dabei weder liberale Muster kopieren noch sich nach marxistischen Vorgaben kollektiv zur Herrschaftaufzuschwingen? Wie kannman gegen realen Kapitalismus und realen Sozialismus zugleich sein? Zur Antwort führt uns Vaclav Havel. In seinem Buch Moc bezmocnych (Die Macht der Ohnmächtigen, die deutsche Übersetzungträgt den Titel Versuchin der Wahrheit zu leben) bestimmt Havel die posttotalitäre Situation wie folgt:

Der Konflikt zwischen den Intentionen des Lebens und den Intentionen des Systems projiziert sich nicht in einen Konflikt zwischen zwei sozial voneinander abgegrenzten Gruppen; nur ein oberflächlicher Blick erlaubt - und auch das nur ungefähr die Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte aufzuteilen. (...) In dem posttotalitären System führt diese Linie de facto durch jeden Menschen. (...) Der moderne Mensch [hat] offenbar bestimmte Veranlagungen, solch ein System zu schaf­

fen oder zumindest zu ertragen.

Es geht schon lange nicht mehr um den Konflikt zweier Identitäten.

Es geht um etwas viel Schlimmeres - um die Krise der Identität selbst49.

Dieser Situation ist nicht durch die einfache Entscheidung zuent­ kommen, nunmehr zu einer bestimmten Gruppe innerhalb der post­

totalitären Gesellschaft gehören zu wollen. Mehr noch - und hier liegt der Kern des Mißverständnisses in der westeuropäischen Rezeption -auch eine Anerkennung der realen Lebensbedingungen und Lebens­ weisen Westeuropas als normativ und wünschenswert brächte hier überhaupt nichts voran. Es handelt sich, wie Havel in Überein­

stimmung mit Hannah Arendtkonstatiert, um die Krise des modernen

Menschen, seiner Identitätals Ganzes, um einen Riß mittendurch ihn.

Der Riß hingegen durch die sozialen Gruppen in Osteuropa, ebenso wie der Riß durch die europäischeLandkarte, ist nur Ausdruck dieses eigentlichen Risses mitten durch den Menschen. Die verständliche, aber törichte Hoffnung, durch die einfache Wahl einer Seite das Problem gelöst haben zu werden, kann nur zur Vertiefung der Krise führen, die den Totalitarismus hervorgebracht hat, und somit zur Wiederannäherung an diesen Abgrund.