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Die Konstitution des kollektiven Subjekts gegen eine illegitime Herrschaft

Im realen Sozialismus Polens besteht seit Mitte-Ende der 1970er Jahre der Konflikt zwischen den Bestrebungen der Staatsmacht und dem antitotalitären Kollektivismus, als dessen deutlichste Form die Solidarność gelten muß. Der kollektive Widerstand gegen die kommu­

nistische Herrschaft bereitet den Marxisten im Osten und den westli­ chen Beobachtern, aber auch den direkt Beteiligten große Schwierig­

keiten begrifflicher Natur. Der antitotalitäre Kollektivismus tritt als Aufkündigung eines ungeschriebenen Stillhaltevertrags mit der kom­

munistischen Macht in Erscheinung, als die Forderung nach einem neuen, dem Rechtsempfinden und den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechendem Vertrag. Eine solche Korrektur wurde in den Verein­

barungen vom August 1980 erlangt, die die Staatsmacht jedoch ein gutes Jahrspäter mit derEinführung des Kriegszustands aufkündigte.

Beim Versuch, den antitotalitären Kollektivismus zu beschreiben, können marxistische Kategorien durchaus hilfreich sein, vor allem, weil sie die Stellung der Solidarnośćgegenüber einigen Realien der kommunistischen Macht und Ideologie sichtbar machen. So steht die Definition des Kollektivismus im marxistischen - jedoch nicht marxi­

stisch-leninistischen - Dictionaire de lalangue philosophique mit dem Charakter der Solidarność nichtimWiderspruch:

... eine politisch-ökonomische Doktrin, die das Eigentum an Produktionsmitteln dem Kollektiv, in der Regel dem Staat, vorbehält41.

41 Paul Foulquié. Raymond Saint-Jean, Dictionaire de la langue philosophique, Paris:

Presses Universitaires de France 1969, Stichwort collectivisme.

Das kollektive Eigentum an Produktionsmitteln ist freilich nicht ein vordringliches politische Ziel, sondern Bestandteil eines Kompro­ misses, den die Mitglieder der Solidarność anstreben. Die Chance gesellschaftlicher Veränderungen bestand in den 1970er und 1980er Jahren darin, daß keine physische Gewalt ins Spiel kommt, da das Regime über alle Gewaltmittel verfügte und sich in einer solchen Auseinandersetzung über lange Zeit hätte halten können. Eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse hätte gewalttätig enden müssen, da sie nicht im Rahmen eines abgesicherten Interessenaus­ gleichs stattfinden konnte. Die Solidarność akzeptierte dies und ver­

sucht, andere Veränderungen auffriedlichem Wege durchzusetzen.

Marktwirtschaftliche Reformen sind nicht ihr eigentliches Ziel gewesen - wie auch seit 1989 immer deutlicherwird, daß diese Bewe­

gung hinsichtlich ihrerökonomischen Vorstellungen sehr sozialistisch ist. Ihr eigentliches Druckmittel, Versammlungen und Streiks, scheint zunächst ökonomischerNatur. Es geht jedoch überdie infreien Gesell­

schaften übliche Drohung mit Produktionsausfall hinaus und erweist sich als Politikum im engsten Sinne. Das Element massenhaften zivi­

len Ungehorsams undbeharrlichen Einforderns kollektiverund indivi­ dueller Rechte greift die Staatsdoktrin des Sozialismus an. Diese be­

sagt, daß die Beziehungen zwischen Individuum und Kollektiv sowie zwischen Gesellschaft und Staat ex definitione widerspruchsfrei seien und somit auch eigenständiges Handeln überflüssig werde. Derzivile Ungehorsam kanndeshalbohne physische Gewalt auskommen, weil er übereine andere Art von Gewalt verfügt: seine bloße Präsenz ist eine existentielle Bedrohungfür die sich ideologisch legitimierende Macht.

Dieser bleibt nur ihr physisches Gewaltpotential, das jedoch für sie

selbst problematisch ist. Wenn es ihrnicht gelingt, mit begrenzter Ge­

waltanwendung die Gesellschaft einzuschüchtern, fällt ihr ideologi­

scher Schein zusammen. Sie wird in diesem Moment auf physische Gewalt angewiesen sein und muß das Risiko einer Eskalation tragen.

Vor dieser Möglichkeit fürchteten sich sowohl die Regierenden als auch die Opposition. Zum einen ist dies aufdie in etwa gleich verteil­

ten Kräfte zurückzuführen. Zum anderen bedeutete Eskalation aber in Polen nicht nur das Risiko eines Bürgerkrieges, sondern auch jenes einer sowjetischen Invasion wie 1968 in der Tschechoslowakei42.

J2 So urteilt Daves, op. cit., 779f. Gegen Ende der 1970er Jahre sieht er eine Zu­

spitzung der Krise und das Ende des ungeschriebenen Stillhalteabkommens voraus, das er den „polnischen nationalen Kommunismus” nennt. Am wichtigsten scheint ihm die Frage, wie sich die zur Mentalität vor allem der polnischen Jugend gehörende romantische Neigung zu nationalen Aufständen wciterentwickelt. - Vgl. auch das Gespräch der Zeitschrift Polityka, Nr. 50 (2067) vom 14.12.1996, mit Karol Modze­

lewski, einem prominenten Aktivisten der Solidarność. und Stanislaw Ciosek, dem damaligen Minister für die Kontakte mit den Gewerkschaften. Beide waren Verhandlungsführer in den Gesprächen zwischen Regierung und Opposition bis zur Einführung des Kriegszustands und urteilen mit dem Abstand von 15 Jahren überaus typisch wie folgt: Ciosek argumentiert, daß Breschnew mit Polen ebenso wie mit Afghanistan zu verfahren bereit war. Modzelewski ist davon nicht überzeugt, räumt aber indirekt ein, daß ein solches Risiko damals nicht geringzuachten war.

Ein Kollektiv, das für die Gesellschaft repräsentativ ist, kann zwar nichtunbedingt Eigentumsverhältnisse verändern, wohl aber den Zustand der Lüge beenden. Dazu muß es sich gewichtiger Traditionen und Werte bewußt werden, vor allem aber des Umstands, daß das Volk in der westeuropäischen Kultur seit 200 Jahren als der eigentlich rechtmäßige Träger der Macht gilt. Gesellschaftliche Strukturen und Autoritäten können -wie das Beispiel Polens beweist - im kollektiven Gedächtnis über die Zeiten großen totalitären Drucks hinweggerettet werden, um in einem solchen Moment als kollektive Mythen und Archetypen das Vakuum im gesellschaftlichen Leben auszufüllen.Ent­

scheidend dafür ist die im Laufe der Geschichte erworbene kollektive Erfahrung, mit Situationen großen Drucks fertig zu werden.

Eine besondere Rolle in der Sinnweltder Solidarnośćspielendie an die polnische Romantik erinnernden ethischen Strukturen des Totalitarismusvorwurfs, die sich um das bereits erwähnteSchema Wir - die Anderen fügen. Bezeichnendfürdas Verhältnis zwischen Intelli­ genz und Arbeitern ist unter anderem, daß nur wenige Intellektuelle darauf hinwiesen, daß der ursprünglich ausderGeschichtsphilosophie herstammende Begriff nicht wirklich aufdas kommunistische Regime Polens angewandt werden kann - so argumentierten etwa Łagowski und Szczypiorski, der jedoch seinerseits den Begriff Totalismus ver­

wendet. Die Mehrheit der oppositionellen Intellektuellen sah jedoch großzügig über den ungenauen Sprachgebrauchhinweg,um die Ethik, die sich hinter diesem Sprachgebrauch verbarg, nicht in Frage zu stel­

len. Vielmehr stellten sie sich als Vorkämpfer in den Dienst dieser Ethik, indem sie

„sich als die Verfechter der Wahrheit definierten, was von ihnen einen bestimmten Lebensstil verlangte. Sie sahen sich als Kameraden eines gemeinsamen Lebensweges, die zusammeneinetiefe moralische Verantwortung für den Weltzustand tragen und aktives politisches En­

gagement als Grundbedürfnis empfinden. Sie definierten sich selbst aus ihrer Treue den den ’absoluten’, ’den einzigen moralisch richti­ gen’, ’den ihren Herzen am nächsten liegenden’Werten heraus”q3.

Dabei handelt es sich um Umschreibungen des Begriffs der im- ponderabilia (vgl. Kap. 1), die der als illegitim angesehenen Macht

entgegengehalten werden:

Für viele Oppositionsmitglieder war der Parteistaat totalitär und verkörperte das Böse.

(...) Die Opposition stützte sich auf die „ehren- und heldenhafte” Version der polni­

schen Geschichte, entwickelte sie aber auch weiter. Sie benutzte unterschiedliche Ty­

pen der historischen Beweisführung (...), um ihre Sinnwelt als die Wirklichkeit zu konstruieren. (...) Die Opposition beanspruchte nicht die „ehrenhafte” Version polni­

scher Geschichte, sondern trat auch als moderner Vertreter ihrer Deutungs- und Hand­

lungsmuster auf (...). Weil die Aristokratie und ihre Erben, die polnische Intelligentsia,

41 Helena Flam, op. cit., S. 14 f.

in der „ehrenhaften” Version im Zentrum standen, adelte sich die Opposition durch ihren Anspruch auf Kontinuität selbst44.

44 Ebd.

45 Ebd.

Mit ihrem an imponderabilia und den eigenen Überzeugungen ausgerichteten Verhalten konnte die oppositionelle Intelligenz die Ar­

beiter gewinnen. Repressionen des Staates wirkten so nicht mehr vor allem abschreckend, sondern „halfen (...) die Sinnwelt aufrechtzuer­

halten. Die Oppositionellen konstruiertensich als diejenigen, die bereit waren, ihre Repressionsängste zu managen und auf die „normalen”

Aspirationen wie Hochschulabschluß, Karriere,Privatleben notfalls zu verzichten. Im Warschau der 70er Jahre adelte eine Verhaftung ihr Opfer (...) es gelang [auf diese Weise], einen besonderen Status zu erlangen. (...) Der Unterschied im Angstmanagement konstituierte sie als eine getrennte, privilegierte Elite. (...) Der Ehrkomplex veranlaßte das Individuum,sich während der Vernehmung loyal zu verhalten und erschwerte außerdem die Wahl derExit-Option [der Emigration,S.H.].

Letztlich setzten ihn die Oppositionellen ein, um eine alternative Statushierarchie aufzubauen, die die offizielle Hierarchieaufden Kopf stellte (...). Mittels dieser Hierarchie wehrten sich die Oppositionsmit­

glieder gegen die Standards der offiziellen Welt”45 - sowohl in ihren inneren Kreisen als auch im Hinblick auf die gesamte polnische Ge­

sellschaft mit großem Erfolg. Ohne diese Voraussetzungen ist ziviler Ungehorsam in massenhafter Form unmöglich.