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DIE POLNISCHE INTELLIGENZ UND IHRE PATRIOTISCHEN TRADITIONEN

In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, das Wesen der polnischen Intelligenz und ihr Verhältniszur politischen Macht anhand ihrerGeschichte und patriotischen Traditionen darzustellen. Gerüstder Darstellung ist die Monographie Drei Patriotismen von Andrzej Wali- cki1. Er stellt darin im Kontext konkreter Schlüsselereignisse der pol­ nischen Geschichte und der aktuellen Geschehnisse bis zum Ende des Kriegsrechts (1983) dreiTypenpatriotischer Traditionen vor. SeineArt der Geschichtsbetrachtung ist einerseits konsequent nüchtern-distan­

ziert, wovon auch das Ausbleiben polemischer Reaktionen zeugt, ent­ spricht aber andererseits dem für das polnische Geistesleben so typi­ schen leidenschaftlichen Verhältnis zur Geschichte als Ratgeber in schwierigen Situationen. Er betont ausdrücklich:

1 Andrzej Walicki, Trzy Patriotyzmy, in: Aneks Nr. 40, London 1985. Eine überarbeitete Version, auf die ich mich stütze, erschien 1993 bei Res Publica, War­

schau.

Ich schaue auf eine bewußt präsentistische Weise in die Vergangenheit, konzentriere mich nur auf das. was - scheinbar zumindest - einen deutlichen Bezug zu den Ange­

legenheiten hat, die heute von Bedeutung sind, die wesentlich für das nationale Selbstbewußtsein der gegenwärtigen Generationen sind2.

2 Ebd., S. 10. - Vgl. den methodologischen Abschnitt, S. 8.

Gestützt aufhistorische Analysen, aberausgehend von kategoria­ len Beobachtungen der polnischen Gegenwart gelangt Walicki zu fol­ genderTypologie patriotischer Traditionen in Polen:

1. Die Treuegegenüber dem Willender Nation - die demokratische Tradition der Szlachta, des kleinenAdels der Ersten Rzeczpospo­ lita.

2. DieTreue gegenüberder Idee der Nation und ihren ewigen Wer­ ten -der romantische Patriotismus der Aufständischen im 19.Jh.

3. Die Treuegegenüber dem realen Interesse der Nation - die prag­

matisch-nationalistische Tradition des politischen Positivismus.

Bevor die Thesen Walickis im Kontext eigener Beobachtungen vorgestellt und, wo nötig, historisch kommentiert werden sollen, ist eine kurze Klärung der Begriffe Intelligenz (inteligencja) und Intellek­ tueller (intelektualista) vonnöten. Der erste Begriff bezeichnet jene Menschen, die vorwiegend mit geistigen Arbeiten beschäftigt sind und sichaufGrund dessen inder Gesellschaft als eigeneGruppeetablieren.

Er soll als empirisch-soziologischer Begriff verstanden werden. Der marxistisch-leninistische Intelligenzbegriff hingegen ist bei der Be­ schreibung der polnischen Geistesgeschichte wenig hilfreich; er hatte und hat in Polen selbst bei marxistisch beeinflußten Gelehrten nur geringe Bedeutung. Wie wir sehen werden, fühlt sich die polnische Intelligenz kaum mit dem Projekt des Kommunismus, sondern vor allem mit nationalen Traditionen verbunden.

In den Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Staat kommt es ab den 1970er Jahren zu einer gewissen begrifflichen Am­ bivalenz: einerseits ist Intelligenz ein zwar immer weniger ernsthaft gebrauchtes, doch eindeutig als solches assoziiertes Wort der offiziel-

len Ideologie, andererseits kennzeichnetes eine soziale Gruppe, deren Traditionen gegen dieseIdeologie ins Feld geführt werden. Verbindend wirkt dabei der Aspekt des Engagements - für oder gegen ist immer die entscheidende Frage; derVersuch Neutralität zu bewahrengilt als moralisch fragwürdig bzw. provokant. Inder öffentlichen Debatte - die nach Einführung des Kriegsrechts vor allem in den Untergrundpubli­ kationen stattfand - findet sich vor allem der Begriff des Intellek­ tuellen. Im soziologischen Sinne könnten wir hierunter einfach einen einzelnen geistig Arbeitenden verstehen, wenn dies nicht zu kurz gefaßt wäre: praktisch drückt diese Bezeichnung auch Anerkennung füreine Autorität aus, die aus intellektueller und persönlicher Redlich­ keit erwächst. (Freilich geht es auch dabei in den Jahren derSolidar­

ność auch um den Abstand zum Regime)3.

’ Vgl. den kritischen Kommentar zu einer Veranstaltung der Partei zum Thema „In­

telligenz” im Jahr 1985: Michal Głowiński, Mowa w stanie oblężenia 1982-1985, Warszawa: OPEN 1996, S. 3101’f. Hier werden die beiden erwähnten Notionen von Intelligenz in begrifflicher Gegenüberstellung gebraucht. Der Typ des Pseudo-lntel- lektuellen wird hier von dem Sprachwissenschaftler und Oppositionellen Głowiński als (poln.) inteligent bezeichnet. Dies bedeutet in diesem Zusammenhang etwa soviel wie ein moralisch und fachlich fragwürdiger Mensch, der unter dem Schutz des Re­

gimes einer Arbeit nachgeht, für die er kaum qualifiziert ist, und im Gegenzug die leninistische Notion der Intelligenz anerkennt.

3 Die adelsdemokratische

Tradition

Walicki weist auf eine starke Tendenz der oppositionellen Publi­ zistik hin, das Erbe der Adelsdemokratie des 18. Jahrhunderts zu idealisieren und auf unmittelbare - nach Szacki und Walicki könnte man sagen präsentistische - Weisefür sich in Anspruch zu nehmen. Er kritisiert die gelegentliche übertriebene Euphorie bei solchen Äußerungen, stellt aber fest, daß eine Ähnlichkeit tatsächlich nicht zu verleugnen ist und daß im übrigen gerade westliche Beobachter zu solchen Schlüssen gelangen, so etwa Norman Davies in seiner Beur­ teilungderhistorischen FigurLech Wałęsas:

Die Organisationsstruktur der Solidarność ähnelt auf erstaunliche Weise der des Sejm und der Sejmiki [d.i. der regionalen Parlamente der Ersten Republik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts - S. H.J der alten Rzeczpospolita. Wałęsa, genau wie ein altpolnischer Adliger, an den er so eindringlich erinnert, scheint instinktiv zu begreifen, daß die größte Gefahr in den absolutistischen Ansprüchen der [kommunistischen] Staatsmacht liegt4.

4 In den Aktualisierungen seiner Geschichte Polens: op. cit., Bd. 2, S. 723f.

Walicki führt aus, daß im Polen des 18. Jahrhunderts mit der Szlachta ein für die damalige Zeit außergewöhnlich großer Teil der Bevölkerung, nämlich um die 10%, direkt am politischen Geschäft beteiligt war. DieserFakt ist wichtig für die Herausbildung der polni­ schen Nation, die am Ende des 18. Jahrhunderts politisch-territorial zwischen Preußen, Rußland und Österreich aufgeteilt wurde. Die republikanischen Werte stellenfür die polnische Gesellschaft bis heute

einen wichtigen Teil ihrer Identität dar. Ihr aussagekräftigstes Symbol ist die Verfassung vom 3. Mai 17925, ein weiterer Ausdruck der Um­ stand, daß die polnische Sprache sich den lateinischen Ausdruck res publicain der Lehnübersetzung Rzeczpospolita ganzzu eigen gemacht

hat und damit in Europa eine Ausnahme darstellt6.

5 Der Jahrestag dieser republikanischen Verfassung war bis zum Ende der kommu­

nistischen Herrschaft regelmäßig Anlaß zu öffentlichen Protesten. Heute ist der 3.

Mai Staatsfeiertag der Republik Polen.

6 Rzecz entspricht weitgehend dem lateinischen res, mit dem geringfügigen Unter­

schied, daß es in dieser Bedeutung über keinen sinnvollen Plural verfügt. Der zweite Teil des Ausdrucks jedoch, pospolita, verweist auf das Gesellschaftliche, Gemein­

schaftliche, Kollektive, aber auch das Alltägliche und Gemeine bishin zum Banalen.

Sein Kern ist das allgemeinhin Bekannte - während das auf (lat.) populus beruhende publica das Allgemeine als den Bereich des Staates und der Verwaltung betont. Rze­

czpospolita wird nur für den polnischen Staat verwandt, alle anderen Republiken werden im Polnischen als republika bezeichnet: Rzeczpospolita Polska (die heutige Staatsbezeichnung Republik Polen), Polska Rzeczpospolita Ludowa (PRL, Volksre­

publik Polen, 1944-1989), aber: Republika Czeska (Tschechische Republik), Repub­

lika Federalna Niemiec (BRD). - Slownik Poprawnej Polszczyzny. Warszawa: PWN 1995; Lateinisch-Deutsches Wörterbuch nach Heinichen, Leipzig: Teubner 1962; La­

tein und Griechisch im deutschen Wortschatz, Berlin: Volk und Wissen 1982.

7 Hans Fenske u.a.: Geschichte der politischen Ideen. Frankfurt: Fischer 1987.

S. 396: „Liberaler Autor, Engländer, dessen System ... großen Einfluß ... auf die Auffassung der liberalen Staatslehre ... in der liberalen Diskussion der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts hatte." Walicki, op. eit. S. 15, stützt sich auf Constants Werk Über die moderne Freiheit im Vergleich mit der antiken Freiheit, 1819. (Der Titel ist hier aus dem Polnischen übertragen. Eine Auswahl der Werke Constants wurde deutsch von A. Blaschke und L. Gall herausgegeben, 4 Bde, Berlin 1970/72.)

Walicki unterscheidet diesbezüglich mit Constant7 eine antike, positive, demokratische von einer neuzeitlichen, negativen, liberalen Definition der Freiheit. Erstere postuliertdas Recht zur Teilnahme an der Politik als ein Recht des Subjekts im Bereich des öffentlichen und Rechtslebens und markiertso positiv eine kollektive Souveränität, die sich eng mit dem politischen Begriff dersouveränen Nation verbindet.

Die liberale Definition bemüht sich vor allem um den Schutz der Privatsphäre (vor allem der Sphäre der - selbstverständlich privaten -

Wirtschaft) vor dem Zugriff des Souveräns und verteidigt die unveräußerlichenRechte desIndividuums. DieRechte, die sichaus der ersten Konzeption ergeben, sind Bürgerrechte, die aus der zweiten folgenden Menschenrechte. Beiderlei Arten Rechte sind in der Dekla­ rationder Menschen- und Bürgerrechteder Französischen Revolution enthalten. Marx unterschied sie, je nachdem sie sich auf den citoyen, den Staatsbürger, das einzelne Mitgliedeiner selbstbestimmten Nation, bezogen oder auf den bourgeois, den Privatmann, das einzelne Mit­ glied der zivilen Gesellschaft. Walicki, der sich aufdie Terminologie BenjaminConstants stützt, mißt der Verwandtschaft der demokratisch­ kollektivenAuffassungen von Freiheit, wie sie in der Verfassung vom 1795 als positives Recht gestaltet sind und sich später in der Solidar­ ność als Werthaltungen bemerkbar machten, großes Gewicht zu. Hier treten die Unterschiedezur liberalen Doktrin (aber auch zum ideologi­

schen Freiheitsbegriff des Marxismus-Leninismus8) recht deutlichher­

vor. DerKonflikt zwischen demokratischen und liberalen Werten, der sich im übrigen vor dem Hintergrund der europäischen Integration gegenwärtigauch in Westeuropa verschärft, machte sich in der polni­

schen Untergrundliteratur der 1980er Jahre stark bemerkbar.

8 Die millenaristische Formel der offiziellen Ideologie lautet: Die Freiheit besteht in der Einsicht in die objektive Notwendigkeit, d.li. vor allem in die objektiven histo­

rischen Gesetze, und in der bewußten Anwendung dieser Einsicht im historischen Prozeß. Eingeschlossen in diesen Begriff sind auch die hierzu erforderlichen ökonomischen, politischen, rechtlichen und ideologischen Bedingungen - also nichts anderes als der real existierende Sozialismus - den [wir] gegenüber der bisherigen Geschichte der Menschheit als das Reich der Freiheit kennzeichnen [können/. - So, stellvertretend für die Ideologen aller sozialistischen Länder, das Autorenkollektiv des Philosophischen Wörterbuchs der DDR, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut

1965, S. 196-199.

Aufschlußreich vor diesem Hintergrund erscheint nun der Fakt, daß seit der Dissidentenbewegung der 1960er Jahre der Begriff des Bürgerrechtlers kursiert, der spätervor allem von westlicher Seite ge­

nerell auf oppositionelle Intellektuelle, die Führung der Solidarność oder der tschechoslowakischen Charta 77, die oppositionellen Kreise

in und um die evangelische Kirche in derDDR usw. bezogen wurde.

Wie auch immer diese Bezeichnung historisch zustandekam, halte ich es für wenig wahrscheinlich, daß sie direkt auf die von Walicki hier vorgeschlagene Terminologie Constants zurückginge und sich damit vom Begriff der Menschenrechte unabhängig machen wollte. Vielmehr ist es angebracht, hier mit Walicki die zentrale Gemeinsamkeit der liberalen und der demokratischen Tradition zu betonen, die sie von demmillenaristischen Konzept der Marxisten unterscheidet:

Beide Konzeptionen der Freiheit legten Bewußtsein und Autonomie des Willens zu­

grunde. (S. 19)

Esmuß kaum darauf hingewiesen werden, daß es sich primär um Bewußtsein und Willen des Individuums handelt, die in der Gesell­ schaft Veränderungen bewirken können. Diese Überzeugung finden wir in Vaclav Havels programmatischem Aufsatz Die Macht der Ohnmächtigen direkt mit dem Prinzip der Legalität verbunden9. Frei­

heit bedeutet hierdie Überwindung der Trennung des politischen vom großen apolitischen Bereich, den Havel existentiell bzw. vorpolitisch nennt: der Bereich des täglichen Lebens,dervon der Diktatur durchaus politisch manipuliert wird, in welchem jedochpolitisches Handeln hin­

ter demprivaten Leben zurücksteht.Hiermuß das Rechtsprinzip gegen die latenteoder akute Gewalt des Regimesdurchgesetzt werden. Diese Konzeption - oder Vision - von Freiheit besitzt prinzipiell Geltung für die demokratische Opposition in allen sozialistischen Länder(abgese­

hen von der extrem nationalistischen Opposition in Jugoslawien und einigen Sowjetrepubliken), hat sich aber in Polen am deutlichsten in die Wirklichkeit umgesetzt - bzw. hat seinen Ursprung in der Beo­

bachtung dessen, was sich in Polen als möglich erwies. Vaclav Havel bestätigt dies:

’ Vaclav Havel, Moc bezmocnych (Die Macht der Ohnmächtigen), zitiert nach der deutschen Übersetzung von Gabriel Laub: Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1990 ('1989).

Die Verteidigung des Menschen nimmt in den „Dissidentenbewegungen” des Sowjetblocks vor allem die Gestalt einer Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte an, wie sie in verschiedenen offiziellen Dokumenten verankert sind.

Diese Bewegungen verteidigen Menschen, die für die Verwirklichung dieser Rechte verfolgt werden; durch ihre Arbeit verwirklichen sie diese Rechte selbst: Sie verlangen immer wieder, daß die Staatsmacht diese Rechte respektiert und weisen auf alle Be­

reiche des Lebens hin, in denen sie verletzt werden.

Die Arbeit dieser Bewegungen gründet sich also auf das Legalitätsprinzip: Sie treten öffentlich und offen auf; sie beharren nicht nur darauf, daß ihr Wirken im Einklang mit dem Gesetz ist - das Einhalten der Gesetze ist sogar eines der Hauptziele ihrer Bestrebungen. (Hervorhebungen im Original)

Dies ist nicht nur einfach eine Konsequenz aus der praktischen Unmöglichkeit eines revolutionären Kampfes, sondern ein Grundele­

ment antitotalitären Denkens:

Das Prinzip der Veränderung des Systems durch Gewalt ... ist und muß ihr [der ureigensten inneren Wesensart der „dissidentischen Einstellung” - S.H.J zutiefst fremd sein, einfach deshalb, weil es auf Gewalt setzt. ... Die Umkehr von einer abstrakten politischen Vision der Zukunft zu dem konkreten Menschen „hier und jetzt" ist also auf ganz natürliche Weise mit der verstärkten Ablehnung jeder Gewalt im Namen der besseren Zukunft verbunden, mit tiefem Mißtrauen dagegen, daß eine mit Gewalt errungene Zukunft wirklich besser sein könnte, und nicht durch die Mittel, mit denen sie erobert wurde, schicksalhaft geprägt wäre10.

10 Ebd., S. 61f.

Deutlich macht sich aber in Polen ein Ungleichgewicht innerhalb der Einheit von Bürger- und Menschenrechten bemerkbar, besonders im Vergleich mit der Tschechoslowakeiundder DDR: schlechter wird der bourgeois bewertet als der citoyen, und zwar sowohl, was das individuelle Selbstbewußtsein der beteiligten Intellektuellen betrifft, als auch in Hinsicht auf die Gesellschaftskonzepte, diesie der offiziel­ len Ideologie entgegenzustellen versuchten. Bürgerrechte lassen sich ohne garantierte Menschenrechte nicht denken. Im Gegensatz zu den Menschenrechten, die dem Menschen von Geburt an zustehen und die es überall zu schützen gilt, stellen die Bürgerrechte jedoch eine Würde

dar, die sichder Mensch im gesellschaftlichen Leben erst aktiv erwer­ ben muß. Auch bei Walicki finden wir diese Teilung in begrifflichen Strukturen, die unsspäter noch beschäftigen werden. Hier trittnämlich bereits der Konflikt zwischen individualistisch und kollektivistisch geprägten Ethiken in Erscheinung:

Der Liberalismus bildet ein Gespann: mit dem Individualismus Subjekt der Freiheit ist für ihn das Individuum, welches unveräußerliche, vorpolitische Menschenrechte be­

sitzt. Die Demokratie hingegen ist mit dem Ethos des Kollektivismus verbunden, ihr zentraler Begriff ist nicht die Freiheit des Individuums, sondern der „Wille des Vol­

kes". Letzteres gilt sowohl für die populistische als auch die Adelsdemokratie, nicht jedoch für die liberale Demokratie [des Westens - S.H.J, d.h. die Verbindung von Demokratie und Liberalismus, die fälschlicherweise häufig für die Demokratie als solche gehalten wird. [Hervorhebung im Original]11

" Andrzej Walicki, op. cit., S. 19. - Dem hier anklingenden Konflikt zwischen Indi­

vidualismus und Kollektivismus ist ein längerer Abschnitt in den anthropologischen Reflexionen gewidmet.

12 Für dieses Urteil sind wichtige persönliche Erfahrungen ausschlaggebend.

Bestätigung fand ich in Gesprächen mit oppositionellen Intellektuellen: u.a. mit Fran­

ciszek Chmielowski (Philosoph, Kraków), Maria Niemierowska (Schriftstellerin, Wroclaw), Jarosław Broda (Herausgeber, Wroclaw), Maria Zmarz-Koczanowicz (Re- giseurin, Wrocław), Józef Szańca (Priester, Wroclaw/Szklarska Poręba). Als Refe­

renzquelle zu dieser Aussage verweise ich insbesondere auf die in dieser Arbeit mehr­

fach zitierte vergleichende Studie des polnischen und ostdeutschen Dissidentenmilieus von Helena Flam, Die poröse und die wasserdichte Sinnwelt der Opposition: der ostdeutsche und der polnische Fall, in: Detlef Pollak und Dieter Ring (Hrg), Zwischen Verweigerung und Opposition: Politischer Protest in der DDR vom Anfang der sieb­

ziger Jahre bis zur friedlichen Revolution 1989, Campus 1997. Diese mit einer ausführlichen Bibliographie und Zitatensammlung versehene soziologische Studie wurde leider erst kurz vor Abschluß der vorliegenden Arbeit publiziert, sodaß sie

Die demokratischen und kollektivistischen Werte des Engage­ ments für Menschen- und Bürgerrechte - mit besonderer Betonung letzterer - schufen die geistige Kohärenz der polnischen Gesellschaft im friedlichen Protest gegen das kommunistische Regime. Von dieser Kohärenz, die über die Grenzen von Konfessionen und Ideologien reichte, sprechen fastalle Zeitzeugen12. Das hier zu besprechende, von

der Demokratie der Adelsrepublik und ihrer gesellschaftlichen und po­

litischen Elite, dem kleinen Adel, genannt Szlachta, herstammende Ethos der politischtätigen Nation ist, ganz unseren Vorstellungen von einer vorkapitalistischen, feudalen Gesellschaft entsprechend, auf Be­ griffe der Ehre undWürdegebaut. Demokratie bedeutet in dieser Auf­

fassung nicht so sehr das offene, aber geregelte Austragen aller möglichen Konflikte, sondern das tätige Engagement für das, was recht einmütig als Wille der Nation verstandenwird: die Schwächung des kommunistischen Regimes. Unterden Oppositionellen der 1970er und 80er Jahre dominierten stark die Konzepte Adam Michniks und Jacek Kurońs, die sich für die Freiheit der ganzen Gesellschaft zur Teilnahme an den notwendigen Reformprozessen aussprachen. Sie wurden deshalb von der Staatsmacht verfolgt, aber auch von den we­

nigen, dafür allerdings mit gewichtigen Fakten argumentierenden libe­

ralen Oppositionellen und Reformern kritisiert. Auf ihrer Popularität lastet beispielsweise bei Walicki der Vorwurf des Populismus, den er im obigen Zitat mit dem Begriff populistische Demokratie anklingen läßt. Andere, wie Bronisław Łagowski, formulieren noch härter13.

nicht mehr gebührlich berücksichtigt werden konnte. Sie bestätigt von empirischer Seite die wesentlichsten Thesen über den Charakter der demokratischen Opposition in Polen, die ich in geistesgeschichtlicher Analyse erarbeitet habe. Besonders gilt dies für die Begriffe der Würde und Ehre, um welche sich nach Meinung der Soziologin das Ethos der Opposition kristallisierte. Meiner Ansicht und sprachlichen Beobach­

tung nach läßt sich wiederum der Begriff der Würde vor allem der Sphäre der unveräußerlichen Menschenrechte, der Begriff der Ehre hingegen der Sphäre zu er­

werbender Bürgerrechte und kollektiv anerkannter Autorität zuordnen. Psychologisch gesehen geht es aber in beiden Fällen um menschliche Anerkennung, weniger oder kaum um politische Kompetenz im engeren Sinne.

” Bronisław Łagowski, Co jest lepsze od prawdy? (Was· ist besser als die Wahrheit?), Kraków: Wydawnictwo Literackie 1986.

Was hatdiese Diskussion über diePrinzipien der Demokratie mit dem Begriff der Intelligenz als besonderer gesellschaftlicher Gruppe zu tun? Walicki stellt die Verbindung über den Begriff der die Nation hervorbringenden Elite (elita narodotwórcza) her, die seiner Meinung

nach in Polen kaum im frühkapitalistischen Bürgertumund schongar nicht in einer monarchistischen Schicht zu suchen ist, sondern in der Szlachta und später - in der Intelligenz (S. 32). Der Intelligenz des frühen 19. Jahrhundert ist es zu danken, daß die republikanischen Ideale derSzlachtaeben nicht mit dieser untergegangen sind, sondern sich in verschiedenen Sublimationen erhielten und mit modernen republikanischen Ansichten originelleVerbindungen eingegangen sind.

Die Voraussetzung dafür, daß die romantisch gebildete und geprägte Intelligenz des 19. sowie in beträchtlichem Maß auch des 20.

Jahrhunderts diedemokratischen Werte des Adelsder Ersten Republik nahezu der gesamten polnischen Nation einzupflanzen vermochte, ist in einem soziologischen Prozeß von ungeheuren Ausmaßen zu sehen.

DerAnteildes Adels und Kleinadels (szlachta sowie drobna szlachta) an der Gesamtbevölkerung betrug vor der ersten Teilung des Landes ungefähr 10 Prozent - was vor dem Hintergrund der damaligen europäischen Verhältnisse (England 3%, Frankreich 5%, Deutschland 7%) die zahlenmäßig größte Beteiligung einer Bevölkerung an der Machtausübung darstellte. Die Politik der Besatzungsmächte, vor al­

lem die Repressionen nach den Aufständen der Jahre 1830/31, 1846, 1848 und 1863/64, führten zur Verarmung des Adels und zum Ver­

schwinden dieser ehemalsstaatstragenden Schicht. Ein besondersdeut­ licher Ausdruck dieses Prozesses ist die sogenannteGroße Emigra­ tion nach dem Novemberaufstand von 1830/31. Zum einen war das rein quantitative Ausmaßder Wanderbewegung beträchtlich. (Norman

schwinden dieser ehemalsstaatstragenden Schicht. Ein besondersdeut­ licher Ausdruck dieses Prozesses ist die sogenannteGroße Emigra­ tion nach dem Novemberaufstand von 1830/31. Zum einen war das rein quantitative Ausmaßder Wanderbewegung beträchtlich. (Norman