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Berlin, den (?.Oktober 1903.
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Koch-Dippold.
MieBerkäuserineinesWaarenhausesistMutter geworden.TrotzdemEmil
« ihr hundertmal lachend geschworenhatte,beiihm habe sie nichtszu fürchten;erkenneden Rummel undseinichtvongestern.Als keineSelbst- täuschungdannmehr half,alssieihmdassüßeGeheimniß,wiesimRoman- stilheißt,insOhr flüsternmußte,wardderUebermüthigeblaß;einstiller Abend und einefrüheTrennung. Daß seinVaterinsolchenSachenkeinen Spaß verstandundeinstweilen deshalb nichtszumachen-war, wußtesie ja.
»Alvavpfhoch,Brust’raus...undsoweiter!FauleKiste;aber wirwer- densschonfingern.«Alleswarauchglimpflichabgegangen.JmMai hattendie MädelimRayondieKöpfe zusammengesteckt.Enger ließdasKorsetsichnicht schnürenzundeinesTages,beistarkemFremdenandrang, gabseine kleineOhu- macht.»Dieisdrani«Dochsieerholtesichschnell,thatbiszumGeschäftsschluß strammihrenDienstundgestand,siehabesich,zumersten Mal,verleitenlassen, inHalenseebisnachEins zutanzen. Nachundnachkamen diebösenZünglein zUkRuhe.UndEmilhatteeinensamosenEinfall. ,,Wozusinddenn die blöd- sinnigenReformkleiderda ?M.W.Fug-onRegentonne.«Sogings; und Ende AugustlagdervierzehntägigeUrlaub gerade günstig.FünfTage Verspätung: dergemüthlichealte DoktorhattedieBerstauchungdeslinkenFußesgern be- scheinigtFräuleinwar emsigunddieKundschafthatte nichtzuklagen.Das Kindwarin demLandstädtchengeblieben;bei derwürdigenDame,diees
— »DiskretionEhrensachet«— demSchoßderMutter entbunden hatte.
AufEwils Rath-»Svnst rennste jeden zweiten Tag hin,dieBande riecht LunteUnd DUstiegstaufsPflaster.«DieHaltesrauverpflichtetsich,jedenMo- natmindestenseinmalBerichtzuerstatten.»Sie sind dochankeineEngel-
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macherin nich gekommen-«Der Doktorverspricht, vonZeit zuZeit nachdem Rechtenzusehen. Auchlebt eineFreundinim Ort. Die meldetimOktober, das Kleinesehenicht besonders aus;siewollegewißnicht hetzen,aberdas ewigeWimmern könne Einem dasHerzabdrücken und mit der Sauberkeit seis nicht allzu weither.AmselbenAbendnoch mußEmilsichhinsetzenund andenDoktorschreiben.»Damitdie liebe SeeleRuhe hat: eingeschrieben.«
Antwort: Unsinn;mitdemWürmchenseijanochnichtvielStaatzumachen, aberwirhaben schonkümmerlicheredurchgebracht,undwervonVernach- lässigungrede, lügeinseinenHalszdieFreundin habe sichmit derKostfrau verzanktundfinde seitdemplötzlichkeinengutenFaden mehranihr. »Na also!Wiedermalunnützalarmirt. Seifriedlichundkomm insApollo.«
DerNovemberberichtlautetgünstig. »MeinOskar holtjeden Morgendie besteMilch;undüberhaupt...«ZwischenWeihnachtenundNeujahrkommt dieTodesnachrichtzaufeinerPostkarte: »Soeben sanftimHerrnentschlo- sen. Näheres brieflich.BittenAnweisungsürBegräbnißkosten;auchwegen demSarge. WirfindAlleuntröstlich.«Derjunge Arzt,derwährend derFestwochenden altenvertritt, machtmit demTotenscheinSchwierig- keiten. Die Obduktion ergiebt: völligungenügendeErnährung,Mangelan nothdürftigsterReinlichkeit, AnwendungvonSchlafpulvern;unmittelbare Todesursachex Zufiihrungverdorbener Milchund alsFolgeBrechdurch- fall,die dergefchwächteOrganismusnicht mehrzuüberstehenvermochte.
DieStaatsanwaltschafterhebtdieAnklage aufGrund des§222 StG B:»Wer durch FahrläffigkeitdenTodeinesMenschen verursacht, wird mitGefängnisbiszudreiJahren bestraft.WennderThäterzu der Aufmerksamkeit,welcheerausden Augen setzte,vermögeseines Amtes,Be- rufesoderGewerbes besonders verpflichtetwar,sokanndieStrafebis auf fünf Jahre Gefängnißerhöhtwerden« DieHaltefrauwirdverhaftet.
SensationimStädtchen.UnterzweihundertKlatschereienwirdderBehörde auchdieGeschichtevondemAlarmbriefderFreundin zugetragen. »Sie habendieunverehelichteRunge also gewarnt?« ,,Jawohl,Herr Richter.«
»Eindringlich?«»Jawohl,HerrRichter.«»MitdemHinweisaufdiefür Leib undLebendesKindesdrohende Gefahr«-M»Jawohl,HerrRichter-«
»Und trotzdem hatdieMutternicht Veranlassunggenommen, ihrKind in SicherheitzubringenP«»Nein,Herr Richter; fiehatmir’nenpitirten Brief geschrieben.«,,WoraufführenSiediesunmenschlicheVerfahren zurück?«
»Gott,HerrRichter,DiegingmitEinemunddahatte fie wohl mehr ihr VergnügenimKopf;schonals KindwarsieimmerfürTheaterundsowas.«
Koch-Dippold. 89
»DaSieJhre PflichtinvollstemMaß erfüllt haben, brauche ichSieauf dieHeiligkeitdesEidesnicht ausdrücklichhinzuweisen.Es wirdIhnen,wie ich sehe,schwergenug,eineJugendfreundinzubelasten.Gerichtsschreiber, nehmenSie zuProtokol: ,Jchkenne dieunverehelichteRangevonKindes- beinenanundwirfindbiszudieserStunde befreundet. Doch muß ich derWahrheitdieEhre geben und, nachdrüeklichaufdieHeiligkeitdesZeugen- eideshingewiesen,aussagen, daß sie schoninderSchulzeit durchboden- lvchLeichtsinnoft Aergernißerregteundichmichnicht wunderte,alssie sich inBerlinspätereinemlüderlichenLebenswandel ergab.Alsihre Unzucht Folgenhatte,kamsiehierherundfandbeiderMohrAufnahme,einerlängst derEugelmachereiverdächtigenFrauensperson, diesie, ohne nähereEr- kundigungeinzuziehen,lediglichaufGrundeinesZeitunginserates,alsKost- kinderpflegerinwählte. Ich muß hier noch betonen, daßdieRange sichnicht schämte,siehinunsererStadt öffentlichimZustande höchsterSchwangerschaft mit demGenossenihrerUnzuchtzuzeigen.JhreKleidungwar so,wieman siebeiLustdirnen finden soll.Siewärealsoin derLagegewesen,auskömm- lich für ihrKindzusorgen. AusmeinenBrief,derihr meldete,das Kind seiingrößterGefahrund werdenichtamLebenbleiben,wennesnichtschleu- UigvonderMohrweggenommen werde,hat siemirfrechgeantwortet: ich wollenur wieder Stänkereien machenundihr Angst einjagen;dasKind könnegarnicht besseraufgehobensein.DaichdieBriefederRungemeinem Bräutigamverheimlichenmußte,wurden sie gleichverbrannt undkannich sie deshalb nichtanGerichtsstelleschaffen.Jch mußaberversichern,daßsie auf michden denkbarschlechtestenEindruck machtenundichmirschonda- malssagte,dieRangemüssenichtdasgeringste Muttergefühl.haben.Na- mentlich istmirpeinlichaufgefallen, daßsieinderAntwort aufmeineWar- UUngweitschweifigvoneinemvergnügtenAbenderzählte,denfiemitihrem UUzUchtgefährtenin einemsogenannten Tingeltangelverlebt undin einer Kneipebeschlossenhabe. Ich habedavonauchmeinerTanteMittheilung gemacht,derwachtmeisterscöitwePapie,die esbeschworenkann.MeinBrief hat«oanhlerin denstärkstenAusdrückenabgefaßtwar undandasGewis- senaPellirte,nichtdieWirkung gehabt,dieRungezu derAufmerksamkeitan- zuhalten-zUwelchersie vermögeihres Mutterberufes besonders verpflichtet wars Vielmehrhatsie mirincynischroher Weise geantwortet, ihre Pflicht aUchfekUekvernachlässigtunddamit,wieichfestüberzeugtbin,ausbloßer VergnügungsuchtdenTod ihresKindesverursacht«...Einwendungenha- ben Sienatürlichnicht?Schön.DasProtokol istalso gemäߧ186StPO
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vorgelefenundvonder-Zeuginunterzeichnetworden.Siekönnengehen.'«Der AssessorbringtdemStaatsanwalt felbstdieAlte.»Habe’nefeineNummer ab- gezogenundhoffe,imnächstenBerichtEinen’raufzukommen.KegclnSie abends?«UnderzähltbeimFrühschoppenschmunzelnd,inderSacheMohrwer- de esnochUcberraschungengeben-AmnächstenTagwirdauch dieRungeverhaf- tetzvomLadentischweg.DadieHausordnungfürfolcheFällefofortigeEntlaf- fungvorfieht,weißsie,daßsienichtzurückkehrenund derGrundderEntlassung imAbgangszeugnißvermerktwerdenwird. Sieist dringendderfahrlässigen Tötung-,begangenameigenenKinde, verdächtig;.undaus aktenkundigge- machtenThatfachen(ihrem unzüchtigenVerhältnißzu demBuchhulterEmil Schirmer)istzuschließen,daßsie SpurenderThat vernichtenundZeugen zu einerfalschenAussageverleitenwerde;auch ist Fluchtverdacht vorhan- den.Gemäߧ112StPO war alsoeinHaftbefehlzuerlassen«
Hauptverhandlungin derStrafsachewiderMohrundRunge...
»Selbst diesesverthierteWeibsbild aber, hoherGerichtshof,kann alsstraf- mildernd noch für sichanführen, daßesin drückenderArmuthlebteund vonderSorgeumsein eigenesFleischundBlut,vonderschwerenArbeitsür MannundKinderinAnspruchgenommen war.Wirhaben gehört,daßdie Schlafpulver gegebenwurden,weil derEhemann Mohr,derErnährerdes Hauses,sonstumseine Nachtruhe gekommenundnichtim Stande gewesen wäre,dasfürdenHaushalt Uncrläßlichezuverdienen;undferner ist that- fächlichfestgestellt,daßderjüngsteKnabe derAngeschuldigtenMohr ohnedau- erndeSchädigungmitderselbenMilch genährtwordenistwie dasKostkind.
Dasentfchuldigtnichts,erllärtaberManches. DochwiesollichWortefinden, umdenLeichtsinn,dieGewissenlosigkeit,diehimmelfchreiendniedrigeGe- sinnungderRungezuschildern,die,umihr Lasterlebenungestörtfortsetzenzu können,zurRettung ihresKindesnichteinenFinger rührte? Jhres eigenen Kindes. DasistderwesentlichsteUnterschied.Wirhaben gelernt, daßzu den ele- mentarsten EmpfindungendesWeibesdasMuttergefiihl gehört.Mehrnoch:
wirwissen,daßsogarimThierreichdie MutterBlutund Lebenfreudig für ihr Junges opfert.Das Geschöpf,dashiervorIhnen sitztund— auch darausbitteichzuachtenl— imVerlauf dieser Verhandlung nochkeine Thräne vergosfenhat, istunterdieStufederThierheit herabgesunken.Ent- setztenBlickesfehenwir das BildihresLebenssichvor unsentrollen. Jcher- innereandieAussagedesFräuleins Eppler,einerJugendfreundinderAn- geklagtenRange,undderWitwePäpte,einerechten,kernigenSoldatenfrau.
Diese Zeuginnen,dieso offenbar bemühtwaren, soweitesdieEidespflicht
Koch-D?ppotd. 91 irgend gestattete,auschristlicherNächstenliebedieRungezuentlasten,haben im ganzenGerichtssaalohneZweifeldenEindruckderTreue, ehrenwerther ZuverlässigkeitundstrengsterWahrhaftigkeit gemacht.Unddennochergab auch ihrZeugniß,daßdieRunge geradezu frevelhaft gehandelt hat.Sie wargewarnt undschlugdieWarnungin den Wind. Siewurdefür leichte Arbeitüberreichlichbezahlhhatte—dieZiffern,diederdurchausglaubwürdige ZeugeSchirmerunsvortrag, sind nichteinmal vonderVertheidigungbe- strittenworden— vonihrer UnzuchteinenErtrag,derihreinen weit über ihreVerhältnissegehenden Luxus ermöglichte,undließihr Kind,dieFrucht il)rerLüste,inSchmutzundElend verkommen. Aufgedonnertwie eineöffent- licheDirne,schrittsie,amArmihres Buhlen,alshabesiekeinAugezuscheuen, amhellenTagmit densichtbarenZeichenderMutterschaft durchdieStraßen einesvomSpülichtderGroßstadt,GottseiDank, nochverschontenOrtes.Und währendihrKindsichinKrämpfen wand, saßsieunteranderen Freuden- mädchenundlachteüber dielplumpenSpäßederClowns,über dieZotenbe- malterFrauenzimmer.Dasgeschah,nachdemsieebenerstvonderFreun- dindringend gewarntund dieLebensgefahrihresKindesihrzurKenntniß gebrachtwordenwar.Jch vermuthe wohlnichtohneGrund, daßsieschamlos in den Armen derWollust lag,alsderTodesengeldem kleinenBettnahte.
Wennjemals, so hat hier Fahrlässigkeitunter erschwerendenUmständenden TodeinesmenschlichenWesens verursacht. Fahrlässigkeitistdiepflicht- widrigeNichtkenntnißderverursachendenBedeutungdesThunsoderUnter- laffens.DaßdiegeistigenFähigkeitenderAngeklagtenhinreichten,umden ErfolgalsWirkungdesUnterlassens vorauszusehen,kannnichtbezweifelt werden. Wirhaben nichteinstumpssinnigesDienstmädchenvoruns,son- dern einegebildete,ja, rasfinirte Person,derenScharsblickeinenMangel anKausalitätvorstellungausschließtTrotzdemichfelsensestüberzeugtbin,
dFßsie gleichnachderGeburtdenVorsatz hatte, ihrunehelichesKind,als eIUHUUmnißihres lüderlichenTreibens,ausdemWegezuräumen,erlaubt derBuchstabedesGesetzesleidernicht, hier §217StGB anzuwenden.Um sp Mehrabersindwirverpflichtet,die volleStrengedesGesetzesgegendiese UnsittlichePcrsonwaltenzulassen.Giebt es einenernsterenBeruf,einheili- gekesAmt als das der Mutter? JnmeinerlangenPraxis istmirkeinFall
kagekvmmemdersoalle Kriterien des§222 StGB,Abs.2, deckt wiedieser;
kfmehder diemattherzige UnzulänglichkeitunserervonfalscherHumanität eingegebenenStrafgesetzesodeutlichzeigt.HumanitätiGottes Ebenbildern wollen Wirsie-auchwennsieirrten,niemals verweigern.Diesesentmenschte,
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jeder natürlichenRegungbareWesenaber...«»Die Straskammer hat, entsprechenddemAntragdesHerrnStaatsanwaltes, gegen dieAngeklagte Runge ausdashöchsteStrafmaßvonfünf Jahren Gefängnißeikannt.«
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HerrKommerzienrathRudolf Koch,Direktor derDeutschenBank in Berlin, suchtfür seineSöhneHeinrichundJoachim,Knabenvondreizehn undelf Jahren,einenHauslehrer.Aufdemnichtmehrungewöhnlichen WegedesJnserates. Erwürde einemnichtJahrelang vorher erprobten- Manne nicht füreineViertelstundedenKassenschlüsselanvertrauen,würde in dieCsfektenabtheilungderBankselbstzuuntergeordneterArbeitkeinen Menschenaufnehmen,dernicht klippundklar-bewiesenhätte,daßerzuver- lässigundinseinemBeruftüchtigist.WennerseinenKindern einen Er- ziehersucht, begnügtersichmit einemJnserat.Erkönnte,miteinemJahres- einkommenvondurchschnittlichzweihundetttausendMark,einenreifenMann engagiren,einen Doktor oderProfessorgar:erfahndetnacheinemStudenten.
Vierzig Offerten laufenein.Wären in der Annonce etwa»glänzendeBe- dingungen«verheißenworden,dannhättensich,stattdervierzig,vierhundert Bewerbergemeldet.DieWahl fällt aufdenStudiosusDippold, »weilerdie bestenEmpfehlungenhat«.Woher? Danachwirdnicht ängstlichgefragt. Dip- pold hatimerstenSemester wüstgebummelt,dieNächtemitProstituiiten verbracht, sicheinerLehrerstochterverlobt,denVaterderBraut umzwei- tausendsechshundertMarkangepumptund dasGeld mitgemiethetenWei- bern verlüdert.Als derDarleiherdavonhörte,hoberdieVerlobung auf.
Dippold ließsichdanninBerlinimmatrikuliren,arbeitete aberauch hier wenig undwarunter den Kommilitonen alseinroher,jähzorniger,größenwahn- sinnigerLümmelverrufen.Nicht fähig,einenlateinischenSatzohnegrobe Fehlerzu bilden.Verlumptundverlogen.DabeieinFrömmler.DesMor- gensbei demBranntewein,desMittagsbei demBier,desAbendsbei den MädchenimNachtquartier;in derZwischenzeitschricberBriefeübcr den gottseligenWandeldesChristenmenschen.Einzige Leistung:ein paarNach- hilfestunden,dieihm nichteinmaldieFortsetzungdesStudiums ermöglich- ten; alsoohneDoktorhut Kehrt.Abererhatte »diebestenEnipfehlungen«
undbekam,alserknappeinhalbes Jahrin derReichshauptstadtwar, dieStelle, fürdieHunderteredlicherJünglinge,Hundertegereifter cDäda- gogenzuhabenvgewesenwären. Nach kurzer Zeit schon wirddemUnbe- währten,fast noch Fremden gestattet,mit denZöglingennachZiegenberg beiBallenstedtüberzusiedeln.DasisteinGut desHerrnBankdirektors und
Koch-Dippold. 93
Kommerzienrathes.Dahausterohne jedeKontrole mit den Knaben. Papa istvonGeschäftenzusehrinAnspruchgenommen undkannsichumdieEr- ziehungder Kindernichtkümmern.MamahatnichtdasgeringsteVerständ- UißfürdieKinderpsyche,nichtdiedunkelsteAhnungvon denGrundsätzen moderner,«halbwegsmodernerPädagogieundglaubt einfach blind,wasder Hauslehrersagt. Jhre Jungen sollenlernen,vorwärtskommemRenommiw föhnesein. Gehts ohne Prügel nicht, so mußebengeprügeltwerden. Dieses Elternpaar,daseinenThiergartenpalast bewohntund einstattlichesLand- guthat, sorgt nichteinmal dafür, daßHeinzundJojo— Kosenamenge- hörenauchinsolcherzärtlichenFamiliezumThiergartenstil— so gut genährt werden wie derSohnihregHausdienersoderPsörtnerQDie Knabenhun- gern undfrieren;eine mit MusbeschmierteSemmelistfür sieeinLeckerbissen UndsiewerdenausReisenin die vierteWagentlassegepfercht.Wiesollten PapaundMama daran denken,inZiegenbergjedenMonat mindestensre- vidiren odersich etwagarjede WochedenKüchenzetteloorlegenzulassen?
Wozuhatman dennschließlicheinenHaustehrerPUnd Mama hatte sichja anfangswirklichselbstnachZiegenbergbemüht.Dippold berichtetFiirchter- liches.Beide KnabentreibenTagundNacht Manustuprationundsind durch keineErmahnungvondiesemLaster abzubringemSiesindungeberdig,faul, frech,ohnedieleisesteSpur sittlichenGefiihles.DerAeltestehat gestohlen;
zuerstimElternha118,woerdieKassedesVaterserbrachundEdelsteinebei Seite brachte,danninRestanrationenundLäden. Erhat mitFalschmiinzen Automaten geplündert,in Kreditvereinen allerleiWaarengekauft, ohnezu zahlen,nnd daserschwindelteunderstohleneGeldbenutzt,um—einDreizehn- jähriger— heimlichmitProstituirtenzuverkehren.Denenhat erGoldiinge geschenktund das Luderlebenerstausgegeben,alservondenFrauenzimmern fyphilitischangestecktwar. DasAllesgestehterselbst. Zweifel?Hierist feineNamengunterschriftgPäpaistvonGeschäfteninAnspruchgenommen.
UndMamaglaubt,»tieserschüttert«,Alles,wasHerrDippold berichtet.
Siekennt ihreKinderso gut, daßsies glaubenkann. Sieerkennt,mitdem FalkenblickwachsamerMutterliebe,denLehrersogenau,daßsieihm schreibt:
»Ich bedaurenur, daßGottSienicht zwei Jahre früherinunserHaus geführthat; manchesHerzeleidwäreuns dann erspartworden.« Eines TagesWirdihr gemeldet, Dippold habedie Knaben grausam geschlagen.
Erleugnetauch nicht.DieZiichtigung seiunbedingt nothwendig gewesen;
erwerdesieabernicht wiederholen,dennsie reiche aus, um denJungen dasewigeMasturbirenendlichabzugewöhnen.Wenn derSchimmel sich
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aneinerGlasscherbeverletzthätte,wäre eineAutoritätgerufenworden. Doch Kindermußman streng halten.UndPapa,derjetztgeradeBilanzsitzungen hat, darf nicht beunruhigtwerden. Jch dachte,sagtdieFrau Kommerzien- rath, «einenAugenblickdaran,die Knaben nachderhartenZüchtigungvon einemArzt untersuchenzulassen, thatesabernicht, weilHerr Dippoldda- vonabrieth. Jchwollteauchwegender,geheimenSünden«einenArztzu Rath ziehen, unterließesaber,weilHerr Dippoldsagte, erhabe selbstMedi- zin studirt, seiviel inKrankenhäUserngewesenundverstehedieSacheeben so gutwie ein andererArzt.«ObdieseAngabe wahr ist,wirdnicht geprüft.
JneinemHaushalt,dersichfürZeitundEwigkeitgeschändetfühlenwürde, wenn derKutschereinmalbeiTisch mitserviren müßte,wirddieErziehung, Ernährung,Körperpflege,ärztlicheBehandlungderKinder einem ver- bummeltenStudenten anvertraut. Dippold mißhandeltdie Knaben.Dippold wirdvernommen underklärt,dieMißhandlungseinöthiggewesen,eineärzt- licheUntersuchungHeinzensundJojoswürdeeinFehlerseinundausTherapie, HygieneundProphylaxisversteheersichso gutwieirgendein Doktor. Dip- poldsWortentscheidetundMama reist, beruhigt, getröstet,entzückt,nach Berlinzurück.DurchGottesFügungwardeinJuwelihrem Hausegewonnen.
Weihnachtensinddie Knabenbei den Eltern inBerlin. Papa ist of- fenbar auch währendderFeiertagevondenGeschäftenganz inAnspruchge-
nommen. UndMama weißzwar,daßDippold ihreKinderlahmgeprügelt
hat,kommtabernicht aufdenEinfall, sie jetzt wenigstensvomHausarzt untersuchenzulassen; siehtsichnichteinmal selbstdiekleinenKorperchenan.
Ihre mütterlicheSorgebeschränktsichausdieNachforschung,obdieJungen wirklichonaniren. WennsieDippoldsAngabe glaubte,war siezehnfachver- pflichtet,eine,,Kapazität«umRathzufragen;denndaßKnabenvonelfund dreizehnJahren täglichzwölfmal,fünfzehnmalodernochöfterthun,wasJu- dasSohnOnan (1 Mose,38,9,10)mitdem Lebenbüßt,istamEnde kein gleichgiltigerAlltagsvorgangFrauRosalieKochistandererMeinungWahw scheinlichhältsiesichselbstfüreineKapazität;undsie bringtdem gewähltenBe- ruf Opfer,diefastüberdieMenschenkraftgehen.JneinerNacht,sprichtsiestolz, ,,binich wohl fünfmalin dasSchlafzimmerderKnaben gegangen,bindicht anihreBetten herangetretenundhabezuihnengesprochen;ichgewanndie Uebrrzeugung, daßBeidefestschliefen. NachhersagtemirHeinz,sie hätten sichblosverstellt.«DaskomplizirtedenFall.Entweder logderHauslehrer frechoderdieJungen betrogendie Mutter mitGaunerkniffen.FrauKom- merzienrathKoch-fandsichnicht bewogen,dieSachezuuntersuchen,und
Koch-Dippold· 95 ließaueoeurlågerdie Kindermit demLehrerwieder genZiegenbergziehen.
Warumnicht? »UnserGutist sehr idyllisch gelegen.«NeueWarnungen kommen.EinBrief: »DippoldisteinSchweinekerl,dennersrißtdasFleisch mit denHändenvomTellerherunter;eristeinSaukerl,dennerhatsichbe- soffen;eristeingemeiner Kerl,dennerhat unsittlichenVerkehrmitvielen Frauenzimmern.Dippold isteinSchust,einSpitzbube,einSchurke. Dich, Mama,nennt ereinehochmüthigeTrine,Karl(KochsSohnausersterEhe) nennt ereinenhochnäsigenKerl,derVaters Geldverprasse.HeinzKoch.
Gelesen: Jojo Koch·« Wahroderunwahr:ausdiesemKinderbrief spricht sowilderHaß,soleidenschaftlicheRachsucht, daßkeinVater,keineMutter, in derenHerzenauchnureinFunke ernster, vorsorgenderElternliebe glomm, fünfMinuten vordemEntschlußzaudern durfte,dieKleinenauszusuchen unddemunhaltbar gewordenenZustandeinEndezumachen. Selbstwenn Alleserlogen war,-wasdie Knabenschrieben,warderErzieher nicht längerzu brauchen,dersowenig verstanden hatte, ihr Kindergefühlansichzu ketten.
EineProletarierin hätte.nach solcherKundedenNothpsenniggenommen undsichin dernächstenFreistunde aufdieEisenbahn gesetzt.Frau Rosalie KochschreibteinenVries.VonBerlinsindfüns,sechsStundenFahrt;auchdie KosteneinesExtrazugeswärenin demBudgetdesBankdirektors kaum wahrnehmbar. Frau KochschreibteinenBrief. Antwort,wie zu erwarten war: Alleserfunden.Heinzsei überhauptnichtmehr zurechnungsähig;doch hoffederLehrer,eand. jur.Dippold, ihnzuheilen. »WirwollenAllesin dieHanddesAllmächtigenlegen,deressicherzumGutenlenken wird.«
Dann folgen Briefe,diemelden,die Knaben littenanSchwindelanfällen, FolgenderMasturbation. Traurig,denktMama; thutabernichts.Unter ihrem Zeugencidhat sie späterausgesagt,alssievonderSelbstbefleckungder Knaben gehörthabe, sei ihr ersterGedankegewesen,nur derLehrerkönne HeinzundJojozusolchemLasterverleitethaben.Jhr letzterGedankescheint gewesenzusein:WasDippold thut, ist wohlgethan.
Im Januar1903 war Mama einWeilcheninZiegenberg. Sah nichtsundhörtenichts. AuchPapa kam; erfuhr, Dippold sei— geradean dieseMTag—- mit denJungenaufdenBrockengeklettert,undreiste, ohne sie gesehenzuhaben, vergnügtwiederab. »Wenn sie solcheTourmachen können,müssensie ja kerngesundsein.«UngefährdreiWochendanachklopft imMorgengrauausdemidyllischgelegenenGuteinezitterndeKinderhand andasFensterderGärtnerwohnung.Heinz.sFünfUhrfrüh.Eiskälte. Der Knabehalb angezogen.Wimmert um Hilfe.DerLehrer habe ihnundsei-
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nen kleinen Bruder aus tiefem Schlaf gewecktundeinendicken Stockan ihrenLeibernzerschlagen;erwerdesie gewißnoch umbringen.Heinzhat auf demRücken,den ArmengroßeblutigeWunden;Wangen, AugenundHände sind angeschwollen.DasWürmchenbetteltumHilfe,umeinenBissenBrot;
dennesistvonHungerentkräftet.Balddarauf holt Dippold seinen Schü- lerzurück.Der Gärtnerfährt nach BallenstedtunderzähltdemBürger- meisterdasgrasseErlebniß.DertelegraphirtandenHerrnBankdirektor undKommerzienrathRudolfKoch, Berlin, Thiergartenstraße7A.Undnun istsausmit der-Qual NunwirddemHallunlendasHandwerk,dasschmäh- licheHandwerkgelegtundnochamselbenTag sitzendie Kinder sicherim prunkenden Elternhausundwerdenmit Liebegepäppelt. Nicht wahr?
Nein. HerrRudolf Koch hats nicht so eilig.Neunundzwanzigster Januar. Mitten in derHochsaison.Vielleicht GästezuTisch. Vielleichtzu GwinnersMajestätgeladen.AufsichtrathssitzungIrgendeinneuer Con- eernzu bilden. Schließlichists jakeinFall,derEltern zufofortiger Reise drängen müßte.HereRudolf besprichtdieSachemitFrau Rosalie.Das Bestewirdsein,denSchwiegersohnhinzuschicken.Rittrneistera.D. Hat alsoimmerZeit.Famoser Einfall.UndFrau Rosalie thutnoch einUcbriges.
SiebittetHerrnD1-.Vogt,einenGehirnanatomen,SchülerForelsundGünst- lingKrupps, nachZiegenbergzu fahren. Sagtihmabernichtsvonderrohen Mißhandlung.MehrkanndochwirklichkeinGerechterverlangen. DerSchwie- gersohnhats eiligerals derSchwiegerpapa.ErmußschnellnachBerlinnirüeh siehtdenverspäteteintreffendenHirnfchnittmachernurnochzweiMinutenund benutztdieFrist,um ihm zuzurufen: »Der Dippold istentwedereinSchuft odereinJdealmensch!«Diese wundersameAlternative desReitersmannes hätte manchenKontroleur wohlzumMißtrauen gestimmt. HerrnDr.— jetzt,wie esscheint,auchschonProfessor—Vogtnicht.Ein DoktorvomLande hättedenJungen befohlen,sichauszuziehen,nnddanndieSpurderMiß- handlung,die WundenundEiterbeulen,amLeibderGeschundenenentdeckt.
MitsolchenRückständigkeitengiebtder moderne Direktor eineHirnschnitt- mustersammlung sichnicht ab. Untersuchung?Veralteter Blödsinn.Herrn Dr.Vogt genügteinGesprächmit dem Kandidaten Dippold.Dersagt,eine ärztlicheUntersuchungwürde seineAutorität bei denSchülernmindern.
Alleskommevon derewigenMasturbation.(WasdenArzt nichtetwaver- anlaßt, sichwenigstensmaldie Genitalien derKinder anzusehen.) Züch- tigung sei nöthig,dochwerdenurderdafür geeignetsteKörpertheilmanch- mal mit einer dünnen Gerte bearbeitet.DerArzt antwortet, sehr vernünftig,
Koch-Dippold. 97
Prügelnnützenichtunddie übleFolgederOnanie werdevonLaienbeträcht- lichüberschätzt.Läßt sichDippolds Crziehungmethodeschildern,verschreibt einSchlafpulver,räch,HeinzundJojo jedenMonat einemNeurologcnvor- zuführen,unddampftab.GemeinsameMeldungdes Ritt-und desSchnitt- meisters:AllesinschönsterOrdnung. DerLehrer hältmit denSchülern sogar weihevolleAndachtübungenundihrWohl,ersagtesja selbst,liegt ihm TagundNachtamHerzen.HerrDr.Vogt schließtseinen Bericht—- in dem weder vonKontrole nochvonNeurologiemiteinerSilbe dieRedeist-—
mit derFrage: »Wiesind Sie, FrauKommerzienrath,nur zudiesemidealen LMenschengekommenP«Frau Rosalie ist selig.WennihrDippold,derneu-
lichdenWunsch aussprach,wieChristusamOelbergzuruhen,nur erhalten bleibt! Erdrohte, denDienstzukündigen.Mama sendetihm »tausendDank undfünfhundertMarkExtrahonoraralsAnerkennungIhrer großenAus- opferung.«UmdiesesResultatzuerreichen,warHeinzfrühumlFünßblu- tend, halb nackt, halb verhungert,demHaus entlaufen,der Gärtnernach Ballenstedtgesahren,vomBürgermeisterandie Elterntclegraphirtworden.
Noch mehrwirderreicht. Dippold erklärt,nur bleiben zuwollen, wennermit denKnabennach Drosendois,inseineHeimath,übersicdeln dürfe. Jn Ziegenberg,woGärtnerundDienstboteneinErziehungsystem beschwatzen,dassienicht verstehen,sei nichts Rechteszumachen; namentlich nichtmitHeinz,dermoralischganz verlommen sei. DerLehrerbrauchevolle Ruhe;»dieKontroledurchHerrnDr.Vogtwolleersichgerngefallen lassen«.«
(wasmanihmnachsiihlenkann).FrauKommerzienrath willigtein,Herr KommerzienrathschreibtanseineSöhne,erbillige Alles,wasDippoldan- ordne,dersiezutüchtigenMenschen erziehen werde,wenn sieihmaufs Wortgehorchten. Also auf nachDrosendorf,dasauch »idyllischliegt«.Am siebenzehntenFebruar1903wirddieReise angetreten.VonBallenstedtbis Hofvierter,vonHofbisNürnbergdritterKlasse.AchtTage danachschreibt
«
Frau Rosalieanden»idealenLehrer«:»Nun istAllesgeschehen,uinJhren Willenzuerfüllen.Jn Drosendorfwird Niemand Siestören,amWenig- stenJemandausunsererFamilie«.WorausKommerzienraths fröhlichnach Nizza reisen;dennauchein unter derLastderGeschäftefast zufammen- brechenderBanldirektor,der»dieSorge fürdieKinderseiner Frauüber- lassenmuß«,hatdiePflicht,denMärzanderRiviera zuverrepräsentiren.
AmzehntenMärz liegtHeinzKochtotimBett.DerLehrer hattedenSterben- den,derflehentlichbat,liegenbleiben zudürfen,mitFußtritteninBewegung gebracht,zuTurnübungenund einem eiskaltenBad gezwungen. AlsHeinz