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Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben, November 1915, 24. Band, Heft 5

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C O M E N IU 5-G E5E L L SC H A FT X X IV * B A N D ö ö ö ö - h EFT 9

M o n a t s h e f t e

für

Kulfurund Geistesleben

191$ November H eft 5

Herausgegebenvon Ferd. Jak.Schmidt Neue Folge der Monatshefte derCQ.

Der ganzen Reihe 24.Band.

...

Im Buchhandel nnd bei der Post beträgt der Preis für die Monatsschriften (jährl. 10 Hefte) M. 12,—, für die Monatshefte der C. G. für Kultur und Geistes*

leben (jährl. 5 Hefte) M. 10,—, für die Monatshefte der C. G. für Volkserziehnng (jährl. 5 Hefte) M. 4,—.

Einzelne Hefte der MH f. K. u. G. kosten M. 2,50, einzelne Hefte der MH f. V. M. 1,50.

(2)

Seite

Georg Lasson,

Pastor: Der preußische Staat und die englische V erfassung nach

dem Urteil H e g e l s ...147

Dr phil.

Else Hildebrandt:

D ie bleibenden W erte der Bildungsideale N .F.G rundtvigts 163 Dr.

Adolph Kohut:

Herder und M oses M e n d e ls s o h n ... 169

Dr.

W . Zuidema:

Eine Stimme aus H o l l a n d ... 176

F. Schoenberner:

Heimat den H e im k e h r e n d e n ... 181

S t r e if lic h t e r ... 183

Zentralstelle fü r das V olksbibliotheksw eseo. — G edenkblätter für Gefallene. — Deutschlands sittlicher Beruf. — Plagiator Bergson. — Sem per der Mann. — Neu hinzugetretene Mitglieder vom Jahre 1915.

Inhalt Literatur - Berichte (B eiblatt)

Seite K arl B ecker, Religion in Vergangenheit und Z u k u n f t ... 47*

Ju liu s Bode, Vom D e u tsc h tu m ...48*

G eorg B onne, H eim stätten fü r unsere Helden . 48* B e rn h ard von H indenburg, P aul von H indenburg 49* E rn s t H orneffer, Die Schicksalstunde d er deut­ schen F r e im a u r e r e i... 50*

M ahm ud M ukhtar, Die W elt des Islam im Lichte des K o r a n ... 51*

Seite M ax R udolf Kaufm ann, P era u n d Stam bnl . . 51*

H erm ann M ulert, D er C hrist und das V aterland 52* E w ald R einhard, K arl Ludw ig v. H aller . . .53*

E rn s t Schultze, Die Mobilmachung d er Seelen . 53* G eorg S teindorff, Ägypten in Vergangenheit und G e g e n w a rt...54*

Anmeldungen zur C. G. sind zu richten an die Geschäftsstelle B e r l i n - G r u n e w a l d , Hohenzollemdamm 55; dorthin sind auch die Rezensionsexemplare und Manuskripte einzusenden. — Die Bedingungen djer Mitgliedschaft siehe auf der 4. Umschlagseite.

Dem Heft 9 (November) liegt folgender Prospekt bei:

Verlag von Philipp Reclam jun. in Leipzig, betr. Otto Ernst, „Semper der Mann“, eine Künstler- und Kämpfergeschichte.

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MONATSHEFTE

DEKCOMENIUS-GESELLSCHÄFT

FÜR KULTUR GEISTESLEBEN

I^H R IFT L E rrUNG-^^^^^HOHENZOLLERNDAMil 55 FERD-JAK S C H M ID T ^ S ^ B E R L IN -G R U N E W A L D

VERLAG EUGEN D1EDERJCHS IN JENA

N. F. Band 7 Novem ber 1915 H eft 5

Die Monatshefte der C. G. für Kultur und Geistesleben erscheinen Mitte Januar, März, Mai, September und November. Die Mitglieder erhalten die Blätter gegen ihre Jahresbeiträge. Bezugspreis im Buchhandel und bei der Post M. 4. Einzelne Hefte M. 1,50. — Nachdruck ohne Erlaubnis untersagt.

DER PREUSSISCHE STAAT UND DIE ENGLISCHE VERFASSUNG NACH DEM URTEIL HEGELS

Von P asto r G e o r g L a s s o n

Eft fT5WSs^ ie verzehrende Flam m e des fu rch tb aren W eltkrieges, der die ersten K u ltu rm äch te E uropas wider einander in W affen gerufen h a t, tilg t nich t n u r in der W irklich­

keit vieles, was als kraftvoll u n d gewaltig gegolten und auf die Berechnungen der P olitiker wie auf die Em pfindungen der Völker den stärk sten Einfluß g eübt h a tte . Sie w irft auch einen neuen hellen un d oft zunächst blendenden Schein in die W elt der Ideen hinein, stü rz t langgehegte V orurteile um, lä ß t langverkannte W ahrheiten zu ihrem R echte kom m en und zeigt dem erstaunten Blick eine ganz andere A nsicht der Dinge, als er sie bisher vor Augen zu haben gem eint h a tte . W ie standen nicht E ngland als das M usterland des P arlam entarism us, F ra n k ­ reich als das Bollwerk der D em okratie bei allen F reunden s ta a t-

ic

er reiheit in Ansehen, wie schien es nich t jedem aufrechten

i eralen notwendig, die deutschen politischen Zustände jenen

10 Monatshefte der C. G. leie

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148

Georg Lasson

Heft 5 d er W estm ächte anzunähern! U nd n u n offenbart der K rieg, daß die Lage tatsächlich gerade um gekehrt ist, daß die F reiheit d o rt ein Trugbild ist, h in ter dem sich die rücksichtslose H errschaft einer m achthungrigen u n d beutegierigen M inderheit verbirgt, w ährend das deutsche Volk als ein von einem Geist u n d W illen innerlich beseelter Organism us sich en th ü llt, der in der staatlich en Ordnung die sachgem äße B ürgschaft seiner F reiheit besitzt un d anerkennt.

Die Prinzipien der allgemeinen Schulpflicht, der allgemeinen W ehr­

pflicht, der allgemeinen sozialen H üfspflicht, die n ich t als Joch au f dem Nacken eines w iderstrebenden Volkes liegen, sondern in das Volksbewußtsein eingedrungen sind und ihm sein geistiges Gepräge gegeben haben, u n d die einheitliche Zusam m enfassung des gesam ten Staatslebens u n ter einer nationalen Monarchie, die, a n keine P a rte i gebunden, das Interesse des Ganzen verkö rpert un d w ahrnim m t, diese dauernden W esenselem ente der Volks­

gem einschaft erweisen sich je tz t als das einzig Entscheidende, neben dem die besonderen B estim m ungen äußerlicher R echte und Freiheiten unerheblich bleiben oder zum Blendw erk in der H an d geschickter M achthaber werden. D aß im Preußischen S ta ate von jeher diese großen volksbildenden u n d den w ahren F o rtsc h ritt begründenden G edanken gepflegt u n d festgehalten worden sind, das h a t ihm die innere K ra ft verliehen, die F ü h ru ng D eutsch­

lands zu übernehm en. D aß D eutschland durch den Preußischen S ta a t m it diesen G edanken wirklich durchdrungen ist, das h a t ihm seine Stellung im R a te der Völker verschafft. D er gegenwärtige K rieg m acht es vor aller Augen offenbar, daß die Staatsidee, wie sie von D eutschland v e rtrete n un d vom ganzen deutschen Volke einm ütig em pfunden u n d verw irklicht wird, die höchste u n d entw ickeltste Form m enschlich-sittlicher F reiheit im S ta ate darb ietet, zu der die geschichtliche K u ltu r der M enschheit bis je tz t gekom m en ist.

N atü rlich ist der Preußische S ta a t n ich t m it einem Schlage auf die H öhe seiner inneren D urchbildung gelangt. D as Hohen- zollernjubiläum , das w ir kürzlich gefeiert haben, h a t uns reichen Anlaß zum N achdenken d arü b er gegeben, wie vieler Mühe es b ed u rft h a t, diesen S ta a t zu errichten. So darf m an sich auch n ich t d arü b er wundern, daß er lange verk an n t u n d die in ihm wohnende Lebens- u n d G eisteskraft auch ausgezeichneten deutschen P a trio te n nich t zum Bew ußtsein gekommen ist. Um so bem erkens­

w e rte r sind die Beispiele solcher D enker, die n ich t bloß im Ge-

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fühl u n d in der Begeisterung, sondern in der klaren begrifflichen E rk en n tn is den überragenden W ert des preußischen Staatsw esens zu einer Zeit ausgesprochen haben, d a m an seine politisc en Ideale sich von ganz ändern M ustern herholen zu müssen glaubte.

U nter diesen D enkern ste h t H e g e l an erster Stelle, der in seiner Rechtsphilosophie, ohne Preu ß en zu nennen, die G rund­

lagen des m odernen Staates in einem Geiste entw orfen h a t, wie er u n ter den wirklichen Staatsgebilden seiner Zeit n u r in Preußen zu finden war. Hegel h a t d am it der W eiterbildung dieses Geistes den größten D ienst geleistet; er h a t ihm zum Bew ußtsein seiner selbst verholfen un d ihn befähigt, sich in der äußeren G estalt des Staates im m er reiner auszuprägen. D arum h a t ihn Friedrich Meinecke neben R anke u n d Bism arck einen der drei großen

Staatsbefreier D eutschlands nennen können.

Zwar h a t m an Hegel oft d am it herabsetzen wollen, daß m an ihn den „Königlich preußischen Staatsphilosophen“ genannt und ihm vorgeworfen h a t, er habe m it seiner Philosophie liebedienerisch die P olitik der dam aligen M achthaber rechtfertigen wollen. N ichts ist unbegründeter als ein solcher Vorwurf. D as Gemälde des konstitutionellen Staates, das Hegel in seiner Rechtsphilosophie entw irft, ist gerade im Vergleich zu dem dam aligen Preußen vollkommen ein Z ukunftsbild. „N icht dem vorm ärzlichen Zu­

stande P reußens h a t sein System den wissenschaftlichen H a lt geboten; wohl aber ist es ein W egbereiter für das moderne P reußen geworden lte. I s t doch das M erkwürdige an Hegels V er­

h ältnis zum preußischen S ta ate dies, daß er n ich t etw a seine Auffassung vom S taate erst dem preußischen Vorbilde v e rd a n k t oder sie ihm angeglichen h a t, sondern daß er ganz unabhängig un d vielm ehr im Gegensätze gegen seine vorgefaßte Meinung von preußischen V erhältnissen eine Staatsidee entw ickelt h a t, von der er hernach erkennen m ußte, daß für ihre V erw irklichung nirgends so wie in Preuß en die Gewähr gegeben sei. Als echter Süddeutscher h a tte er lange eine kräftige Abneigung gegen P reußen m it sich herum getragen u n d noch als ein zweiund­

dreißig jähriger M ann, zu einer Zeit, d a seine staatsphilosophischen Ansichten schon völlig fest standen, zwar die bedeutende M acht Preußens anerkannt, aber seinen inneren W ert höchst abschätzig beurteilt. E r schrieb dam als: „W elche D ürre im preußischen

1 Siehe d. V erfass. E in leitu n g zu H eg els R ech tsp h ilo so p h ie. S. X X X X I . (Leipzig 1911, F e lix M einer.)

10*

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150 Georg

Lasson

Heft 5 S ta ate herrscht, das fällt jedem auf, der das erste D orf des­

selben b e tr itt oder seinen völligen Mangel an wissenschaftlichem u n d künstlerischem Genie sieht oder seine S tärke n ich t nach der ephem erischen Energie b e tra ch te t, zu der ein einzelnes Genie (Friedrich d. Gr.) ih n fü r eine Zeit hinaufzuzw ingen gew ußt h a t I n an b etrach t, daß diese W orte auf das P reußen vor der Schlacht von J e n a gehen, sind sie n ich t einm al ganz u n ­ b erechtigt. M an w ird es Hegel kaum sehr übel nehm en können, w enn er dam als urteilte, d aß Preu ßen wohl M acht un d O rgani­

sation habe, aber keinen Geist, der sie belebte. E rs t u n te r dem D rucke der fu rchtb aren napoleonischen H eim suchung w ar dieser Geist dan n wieder hervo rg etreten und h a tte in den Steinschen Reform en die M ittel em pfangen, sich zu b etätig en und praktisch zu werden. E s w ar n u r n atü rlich, daß sich Hegel nu n zu P reu ß en auf das S tärk ste hingezogen fühlte. Seine H ingabe an den S ta at, der ihm fü r die H öhenjahre seines Lebens bis an sein E nde zum V aterlande geworden war, m ußte um so au f­

richtiger u n d gründlicher sein, als sie auf dem U rteil der V er­

n u n ft u n d auf der E insicht denkender Ueberzeugung ru h te.

E in st h a tte Hegel die Forderung, die er an einen gebildeten S ta a t stellte, in den W orten ausgesprochen: „D en W iderspruch, daß der S ta a t die höchste Gewalt sei, u n d daß die anderen durch sie nich t erd rü ck t seien, löst die M acht der Gesetze. Auf der Lösung dieser Aufgabe b eru h t alle W eisheit der O rganisation der S taaten 2“ . In dem Preuß en der Steinschen Reform en m it seinem besonders an der U n iv ersität Berlin m ächtig aufstreben ­ den geistigen Leben, m it seiner vielseitigen E n tfa ltu n g u n d sorg­

fältigen Pflege von w irtschaftlicher u n d künstlerischer T ätigkeit, fan d er nun den S ta a t, der sich der Lösung dieser A ufgabe am reinsten fähig zeigte, u n d erkan n te auch richtig die geschicht­

lichen G rundlagen, au f denen ein S ta a t von dieser A rt sich h a tte bilden können. Die Befreiung des sittlichen Bew ußtseins in der R eform ation gilt ihm als die w ichtigste Bedingung für d as E n tsteh en eines S taates der gesetzlichen F reih eit und selbst­

bew ußten S ittlichkeit. „D ie p ro testantische K irche“ sagt er,

„ h a t ihre politische G arantie d arin vollendet, daß einer der ihr angehörigen S ta ate n sich zu einer selbständigen europäischen M acht erhoben h a t. Diese M acht m ußte m it dem P ro te s ta n ­

1 H e g e ls S ch riften zur P o litik u n d R ech tsp h ilo so p h ie, L eip zig 1913, F . M einer, S. 31. 2 Schriften zur P o litik u n d R ech tsp h ilo so p h ie, S. 71.

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tism us neu en tsteh en : es ist P reußen, das, am E nde des sieb­

zehnten Ja h rh u n d e rts au ftreten d , in Friedrich dem Großen sein, wenn nich t begründendes, doch fest- u n d sicherstellendes In d i­

viduum , u n d im siebenjährigen Kriege den K am pf dieser F est- un d Sicher Stellung gefunden h a t. Friedrich I I . k ann als der R egent genannt werden, m it dem die neue Epoche in die W irk­

lichkeit tr itt, worin das wirkliche Staatsinteresse seine Allgemein­

heit un d seine höchste Berechtigung erh ält. Friedrich I I . m uß besonders deshalb hervorgehoben werden, daß er den allgemeinen Zweck des S taates denkend gefaßt h a t u n d der erste u n te r den R egenten war, der das Allgemeine im S ta ate festhielt u n d das Besondere, wenn es dem Staatszw eck entgegen war, n ich t w eiter gelten ließ. Sein unsterbliches W erk ist ein einheitliches Gesetz­

buch, das L andrecht. W ie ein H a u sv a te r für das W ohl seines H aushaltes und der ihm U ntergebenen m it Energie sorgt u n d regiert, dafür h a t er ein einziges Beispiel auf g e s te llt1.“ Die Ereignisse h a tte n Hegel belehrt, daß dem Preußischen S taate das E rbe Friedrichs n ich t verloren gegangen war. So konnte er denn beim A n tritt seines Berliner Lehram tes 1818 von seinem neuen V aterlande, in dem, wie er sagt, „die B ildung u n d die B lüte der W issenschaften eines der wesentlichen M omente im Staatsleben selbst4‘ ist, den A usspruch tu n : ,,Es ist insbesondere dieser S ta at, der mich in sich aufgenom m en h a t, welcher durch das geistige U ebergew icht sich zu seinem Gewicht in der W irk­

lichkeit u n d im Politischen emporgehoben, sich an M acht und

‘Selbständigkeit solchen S taaten gleichgestellt h a t, welche ihm an äußeren M itteln überlegen gewesen w ä re n 2.“

M it dieser klaren E insicht in die Ü berlegenheit der Prinzipien des Staatslebens in P reußen verb an d sich für Hegel naturgem äß eine ebenso klare E rken n tnis der Mängel in dem Staatsw esen der beiden N ationen, die bisher als die politischen Lehrm eister Europas gegolten h a tte n , F rankreichs u n d E nglands. F ü r F ra n k ­ reich h a t er zwar im m er eine gewisse Vorhebe sich bew ahrt, weil d o rt im B eginn der großen R evolution der Begriff der F reih eit zur ausschlaggebenden M acht in der W irklichkeit er­

hoben worden war. „E s w ar dies ein herrlicher Sonnenaufgang“ ,

1 H eg els V orlesungen über P h ilo so p h ie der G eschichte, herausgegeb. v o n F . B runstädt, L eipzig, R ecla m S. 542, 545 f. 2 H e g e ls E n cy clo p ä d ie der p h il.W issen sch aften , herausgegeben v . G eorg L a sso t, L eip zig 1905, F M einer, S. L X X I I .

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Georg Lasson

Heft 5 schreibt er. „AJle denkenden W esen haben diese Epoche m it­

g e fe iert1“ . Sein eigenes politisches D enken h a tte durch jene U m wälzung, die gerade in die Zeit seiner begeisterten Jünglings­

jah re fiel, einen bleibenden A nstoß em pfangen. Aber wie ihn dam als n u r zu b ald „die Schändlichkeit der R obespierroten“ e r­

n ü ch terte, so h a t er im m er m it schneidender K ritik den a b stra k te n Liberalism us gegeißelt, das „Form elle der F re ih e it“ , das in F ra n k ­ reich „nichts Festes von O rganisationen aufkom m en l ä ß t 2“ . Ohne jede Vorliebe dagegen h a t Hegel allezeit dem e n g l i s c h e n S t a a t s w e s e n gegenübergestanden. E s h a t ihn von frü h an interessiert. W ährend seiner H auslehrerzeit in F ra n k fu rt a. M.

h a t er als Siebenundzw anzig jähriger in englischen Zeitungen die P arlam entsverhandlungen über die A rm entaxe verfolgt u n d sich E x cerp te d araus gem acht. B ald darauf h a t er einen kritischen K om m en tar zu Stew arts S taatsw irtsch aft niedergeschrieben.

Englische Zeitungen h a t er bis an sein Lebensende fleißig ge­

lesen u n d sich alle möglichen Einzelheiten daraus auf seine M erk­

zettel n o tiert. Schließlich h a t es sich so gefügt, daß er wenige M onate vor seinem Tode v e ran laß t worden ist, eine Schrift über den englischen S ta a t zu verfassen, die n ich t bloß, weil sie seine letzte A rbeit w ar, ein besonderes Interesse beansprucht, sondern von höchstem sachlichen W erte ist, sowohl wegen der genauen K enntnisse der englischen Z ustände, wie wegen des gesunden U rteils über das englische S ta ats wesen, w om it H egel ü ber die landläufigen M einungen seiner Zeit sich turm ho ch erhob.

Gerade gegenwärtig d ürfte es sich lohnen, auf diese Schrift Hegels wieder hinzuweisen, die m it dem größten N achdruck die M inderw ertigkeit und R ückständigkeit der staatlichen V erhält­

nisse des Inselreiches schon dam als hervorgehoben h a t, als in D eutschland alle Freiheitsfreunde in der Schwärmerei für England als das P aradies u n d die Z uflu chtsstätte politischer F reih eit lebten. Diesen W ahn allgem ein beseitigt zu haben, ist erst das V erdienst des gegenw ärtigen Krieges. Bis dah in war die bessere E insicht im Besitz verhältnism äßig weniger historisch geschulter Personen geblieben. Die schreckliche E nttäuschu ng , die das V erhalten E nglands in diesem Kriege der M ehrzahl gerade u n te r den gebildeten D eutschen gebracht h a t, m acht es begreiflich, daß n u n alles Englische ebenso maßlos und wahllos

1 V orlesungen über d ie P h ilo so p h ie der G eschichte, S. 552. 2 E b e n d a S. 557.

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verdam m t wird, wie es vorher gepriesen und zur ac a m ung empfohlen zu w erden pflegte. D a k an n es n u r dien

ic

sein, wenn wir uns m it Hegel auf die hohe W arte der sachlic en un geschichtlichen B etrachtu n g stellen, um deutlich zu erfassen, was unsern fu rch tb arsten F eind groß gem acht un d was ihn h in ter uns h a t Zurückbleiben lassen.

D aß die Stim m ung der Friedem acherei m it ihrer utopischen V erkennung der politischen R e a litäte n u n d m it ihrem bedenk­

lichen Entgegenkom m en gegen d as britische Selbstgefühl ihr E nde gefunden h a t, d arüb er k an n m an n u r sehr froh sein. D aß aber die entgegengesetzte H aßgesangstim m ung, die je tz t die Gem üter beherrscht, auch vorübergehen wird, ist gewiß, un d m an wird auch d am it zufrieden sein dürfen. Es geht doch wirklich n icht an, deshalb, weil die englische N atio n als politi­

scher K örper sich in der ganzen N ied ertrach t en thü llt h a t, die für die englische P olitik von jeher kennzeichnend war, nu n alles, was englisch ist, in Bausch un d Bogen zu verwerfen u n d zu tu n , als habe E ngland in der Geschichte der europäischen K u ltu r imm er n u r das Prinzip der H em m ung u n d des V erderbens ver­

treten. Shakespeare muß m an wohl u n an g etastet lassen; aber

m an färb t ihn zu der A bstraktion eines allgemein-menschlichen

oder allgemein-germanischen Genius um , als ob er nicht gerade

deshalb ein ewiger T ypus der H u m a n itä t un d des germ anischen

Geistes wäre, weil er ein vollsaftiger V ertreter des elisabethani-

schen E ngland ist. U nd was E ngland w eiter für deutsche

Geistesbildung b ed eutet h a t, davon scheint m an ü b erh au p t

nichts m ehr zu wissen. D aß die Anfänge unserer neuzeitlichen

N atio n alliteratu r ohne die Einflüsse von E ngland, ohne die Pope,

Young u n d Richardson gar nich t d enkbar sind, daß unsere

Biederm eierzeit, m it dem W eim ar der alten Exzellenz Goethe

angefangen, aus Byron, W alter Scott und Dickens ein g ut Teil

ihrer geistigen N ahrung gesogen h a t, daß N ew ton, Locke, H um e

für die wissenschaftliche A rbeit D eutschlands die w ichtigsten

Anreger gewesen sijid, ja, daß die ganze Denkweise, die m an

bisher — es sei preisend oder verw erfend — die moderne genann t

h a t, durchaus auf Darwin b eru h t, das solltem an doch n ich t plötzlich

vergessen wollen. N im m t m an die m annigfachen tiefen A ntriebe

auf dem religiösen Gebiete dazu, die von dem B i b e l v o l k e , wie

m an die E ngländer m it R ech t genan n t h a t, ausgegangen sind,

u n d das Vorbild für eine w eltum spannende zivilisatorische A rbeit.

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Georg Lasson

Heft 5 das E ngland m it der A usbildung seiner In dustrie, seines H andels u n d seiner Schiffahrt gegeben h a t, d an n w ird m an der gefähr­

lichen Täuschung n ich t verfallen, als habe E ngland für die K u ltu r der W elt nichts zu bedeuten.

D as alles ä n d e rt freilich nichts d aran, daß in dem W eltgerichte des gegenw ärtigen Krieges sich die M i n d e r w e r t i g k e i t Englands, n ich t bloß seiner politischen G rundsätze, sondern auch des eng­

lischen N ationalcharakters u n d der englischen Geistesbildung jedem unbefangenen B eurteiler unwiderleglich e n th ü llt h a t.

F ragen w ir aber nach dem Grunde, der ein für die europäische K u ltu r so wertvolles Glied in der Reihe der G roßstaaten soweit h in te r anderen h a t Zurückbleiben lassen, so gibt uns bereits Hegel d a ra u f die richtige A n tw o rt: E n g l a n d h a t e s v e r s ä u m t , s i c h z u e i n e m w a h r h a f t m o d e r n e n S t a a t e f o r t z u b i l d e n . Seine politische G estaltung h a t m it dem F o rtsc h ritte der geistigen K u ltu r nich t S ch ritt gehalten, u n d darum h a t die N ation keine würdigen politischen Ideale in sich, die sie innerlich einen u n d sittlich erziehend auf sie wirken könnten. E s w äre tö richt, wollte m an zu leugnen ver­

suchen, daß die p riv aten Tugenden u n d persönlichen Vorzüge, wie sie eine sorgfältige Erziehung und eine jahrhundertelange H errsch aft g u ter S itte hervorbringt, in den oberen Schichten E nglands n ich t in bestechendem Maße vorhanden seien. Aber schon, daß ü b erh au p t n u r die oberen Schichten in B etrach t kom m en u n d zwischen ihnen und der besitz- u n d bildungslosen Masse eine K lu ft g ähnt, die d auernd u n ü berbrückbar scheint, ist ein Beweis fü r die innere O hnm acht des Staatsgedankens in E ngland gegenüber den befestigten Interessen der herrschen­

den K lassen.

Hegel h a t den eigentüm lichen Beruf, den E nglan d in der neueren Zeit für die K u ltu r der M enschheit g eh ab t h a t, in den W orten zusam m engefaßt: „E nglands m aterielle E xistenz ist auf den H andel u n d die In d u strie begründet, und die Engländer haben die große B estim m ung übernom m en, die Missionarien der Zivilisation in der ganzen W elt zu sein; denn ih r H andelsgeist tre ib t sie, alle Meere u n d alle L änder zu durchsuchen, Ver­

bindungen m it den barbarischen Völkern anzuknüpfen, in ihnen Bedürfnisse u n d In d u strie zu erwecken un d vor allem die Be­

dingungen des V erkehrs bei ihnen herzustellen, näm lich das

Auf geben von G ew alttätigkeiten, den R espekt vor dem Eigentum

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un d die G astfreundschaft1 “ . W ie m an sieht, sind es m aterielle Interessen u n d die V orteile w irtschaftlich-tec nisc er ivi^sa ion, worin H egel den In h a lt der englischen M itarbeit an der Mensc - heitsbildung seiner Zeit erblickt. D aß an das Sc

1

es au

m anns, der G üter zu suchen ausgeht, sich das G ute an nup , leugnet er n ich t; aber von

i r g e n d e i n e r

höheren geistig-sittlichen K u ltu r, die E n glan d in der W elt v e rträ te , weiß er nichts zu sagen. U nd das ist leicht zu begreifen; denn die Bestim m ung, die er E ngland d rau ßen in der W elt zugewiesen findet, e n t­

spricht genau der G eistesbeschaffenheit des E ngländers zuhause.

N icht die großen allgem einen Interessen der sittlichen Gemein­

schaft des Staates sind es, die diesem am H erzen liegen, sondern die besonderen seiner eigenen persönlichen Existenz in seinem nächsten Kreise. So sagt Hegel d e n n : „E nglands Verfassung ist aus lauter p artik u laren R echten un d besonderen Privilegien zu­

sam m engesetzt; die Regierung ist wesentlich verw altend, d. i., das Interesse aller besonderen Stände u n d Klassen w ahrnehm end, und diese besondere K irche, Gemeinde, Grafschaften, Gesell­

schaften sorgen für sich selbst, so daß die R egierung eigentlich nirgend weniger zu tu n h a t als in E ngland. Dies ist h a u p t­

sächlich das, was die E ngländer ihre F reih eit nennen, u n d das Gegenteil der Z entralisation der V erw altung, wie sie in F ra n k ­ reich ist2“ . Aus dem H ängen des E ngländers an dieser Freiheit, die m ehr eine F reiheit vom , als im S taate ist, erk lärt Hegel die auffallende T atsache, daß auf ein Land, in dem P a rla m en t u n d öffentliche R edefreiheit so lange schon bestanden, die große Umwälzung der staatlichen G rundsätze seit der französischen R evolution gar keinen E influß geübt h a t u n d es n ich t gelungen ist, den französichen G rundsätzen der F reiheit u n d Gleichheit bei allen Klassen des V olkes Eingang zu v erschaffen. E r fra g t:

,;Is t die englische N ation in ihrer B ildung zu stum pf gewesen, um diese allgemeinen G rundsätze zu fa sse n 1? Oder ist die eng­

lische Verfassung so ganz eine Verfassung der F reiheit schon gewesen, w aren jene G rundsätze in ihr schon realisiert3 ?“ Beide Fragen schiebt er zunächst durch die E rk lärung zur Seite, daß d ie englische N ation ihrer eigenen Verfassung u n d ihrer F reiheit m it Stolz gewiß gewesen sei u n d s ta tt das Frem de nachzuahm en, die eingewohnte feindselige H altu n g dagegen b e h a u p te t habe.

1 V orlesungen über d ie P h ilo so p h ie der G esch ich te, S. 561. 2 eb en d a S. 560.

3 ebenda S. 559.

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Georg Lasson

Heft 5 Aber wie er hernach diese Verfassung als einen „ganz vollkom men inkonsequenten u n d verdorbenen Z u stan d “ schildert un d die U nfähigkeit der E ngländer für a b stra k te u n d allgemeine P rin ­ zipien b eto n t, die „ihnen n ic h ts sagen und ihnen leer in den Ohren liegen1“ , ergibt sich doch, daß er die erste F rage b e ja h t u n d die zweite vern ein t wissen will.

A usführlicher sich über die englische Verfassung auszusprechen, ist H egel d urch den A uftrag v e ran laß t worden, in der P reuß i­

schen Staatszeitu n g 1831 eine B eurteilung des In h alts und der A ussichten des dam als im englischen P arlam en t verhandelten Gesetzentw urfs zu einer Reform des Parlam entsw ahlrechts zu geben. Von dieser oben schon erw ähnten Schrift ü b e r die eng­

lische Reform bill sind n u r zwei D ritte l in jener Zeitung erschienen;

m an hielt es doch für bedenklich, in einem am tlichen B la tt eine so schonungslose K ritik der englischen Zustände zu bringen.

D er letzte Teil der A bhan dlung ist d ann in einem Sonderabdruck an die Interessenten v erteilt, u n d erst in Hegels gesam m elten W erken ist sie vollständig, wenngleich noch n ich t in d e r u r­

sprünglichen G estalt des Hegelschen M anuskriptes, herausgegeben w orden2. Aus ih r spricht in jeder Zeile das berechtigte Selbst­

gefühl des P reußen, der in seinem V aterlande eine Stufe s ta a t­

licher O rganisation und bürgerlicher F reih eit e rre ic h t sieht, hinter der das stolze B ritannien hoffnungslos weit zurückgeblieben ist.

D enn in P reußen ist der S ta a t auf den G rundsätzen des R echts u n d auf der Idee des Staates aufg ebau t; E ngland dagegen wird durch die K onservierung von Privilegien u n d durch die Ge­

wöhnung an überlieferte, zum U nsinn gewordene B räuche zu­

sam m engehalten u n d e n tb e h rt eines w ahrhaft nationalen Staates.

So sieht denn Hegel auch in der geplanten Parlam entsreform , deren B erechtigung freilich n u r zu offen am Tage lag, nu r den ge­

fährlichen Versuch, ein altes K leid d urch einen neuen Flicken zu bessern, w odurch die bestehenden Schäden nich t wirklich würden beseitigt werden können, dagegen neue u n d vielleicht noch schlimm ere hervorgerufen werden würden. W enn wir Hegels A usführungen im folgenden ein wenig näher beleuchten, so soll gewiß n ich t vergessen werden, daß, seitdem er sie niedergeschrieben h a t, in der Verfassung E nglands vieles sich zum V orteil der

1 V orlesu n gen über d ie P h ilo so p h ie der G esch ich te, S. 561, 560. 2 D er a u th en tisch e T e x t is t z u fin d en in „ H eg els Schriften zur P o litik und R e c h tsp h ilo so p h ie “ . L eip zig 1913, F r. M einer, S. 285— 326.

(13)

Sache v eränd ert h a t. Aber m an wird doch zugleich m it E r ­ staunen w ahrnehm en, wie treffend Hegel die insulare Selbst­

zufriedenheit un d B eschränktheit des nationalen Geistes in E ngland gezeichnet h a t, der sich bisher noch im m er gleich ge­

blieben ist.

Bei keiner Verfassung, m eint Hegel, wird das U rteil so sehr v eran laß t, zwischen bloß geltendem un d sachlich vernünftigem R echte zu unterscheiden, als bei der englischen, „nachdem die K ontinentalvölker sich solange durch die D eklam ationen von englischer F reiheit und durch den Stolz der N ation auf ihre Gesetzgebung haben im ponieren lassen“ . In E ngland sind die S taatsrechte bei der privatrechtlichen Form ihres Ursprunges

— als allerlei von K önigen oder P arlam enten erteilte, verkaufte, geschenkte oder ihnen a b g e tro tz te Rechte, Freiheiten, P riv i­

legien — u n d d am it bei der Zufälligkeit ihres In h alts stehen geblieben. „Dieses in sich unzusam m enhängende Aggregat von positiven Bestim m ungen h a t noch n ich t die E ntw icklung und U m bildung erfahren, welche bei den zivilisierten S taaten des K o ntin en ts durchgeführt worden un d in deren Genuß z. B. die deutschen L änder sich seit längerer oder kürzerer Zeit befinden.4’

Den Vorteil davon hab en die Privilegierten, die englische A ristokratie, die zugleich die S taatsgew alt in H änden h a t, da es an einer stark en M onarchie gänzlich fehlt. Die H errschaft d e r A ristokratie ist auch der G rund dafür, daß an eine E r ­ neuerung des Staatsw esens aus dem Geiste der neuen Zeit nicht zu denken ist. „E n g land ist so auffallend in den Institutionen des w ahrhaften R echts h in ter den ändern zivilisierten S taaten Europas zurückgeblieben, weil die Regierungsgewalt in den H änden derjenigen liegt, welche sich in den Besitz so vieler einem vernünftigen Staatsreclit un d ein er w ahrhaften Gesetz­

gebung widersprechenden Privilegien befinden.“ Die zwei h a u p t­

sächlichsten M omente, die auf dem Festlande zur H erstellung vernünftiger staatlicher Ordnungen geholfen haben, fehlten bis- er in E n g la n d : einerseits die wissenschaftliche B earbeitung des ec ts, andererseits d er große Sinn von F ürsten, die ihre m onarc ische Gesinnung dazu b e n u tz t haben, in ihren S taaten 1 ^re° 8egen die Privilegien durchzusetzen. I n Eng- an ist „die Eifersucht gegen die M acht der K rone wohl das

ar nac ’gste V orurteil“ . Eine Verfassungsreform lä ß t deshalb

eine so weitgreifende E rsch ü tteru n g alles Bestehenden befürchten .

(14)

158

Georg Lasson

Heft 5 weil die regulierende M acht einer m onarchischen Zentralgew alt n ich t vorhanden ist.

Die S o u v erän ität k o m m t in E ng lan d dem M onarchen n u r noch dem N am en nach zu. I n W ahrh eit liegt sie bei dem P a rla m en t;

aber wegen der A rt, wie das P a rla m en t zusam m engesetzt wird, ist auch dieses n ich t eigentlich im Besitze der S taatsm acht, sondern ein ganz kleiner K reis von S taatsm ännern aus der herrschenden A ristokratie, die leitend „über der Masse unfähiger u n d unw issender, m it dem F irnis der gewöhnlichen V orurteile u n d aus der K onversation geschöpfter B ildung — auch oft nicht einm al hierm it — versehener“ P arlam en tarier stehen. „N irgends ist das V orurteil so fest u n d unbefangen, daß, wem G eburt un d R eichtum ein A m t gibt, ihm auch den V erstan d dazu gebe, als in E n g la n d .“ Infolge der englischen P arlam ents Verfassung ist die R egierungsgew alt , teils der rohen Ignoranz der L andjunker u n d Fuchsjäger, teils einer bloß in Gesellschaften, durch Zeitungen u n d P arlam en tsd eb atten erlangten Bildung, teils der m eist n u r durch R outine erw orbenen Geschicklichkeit der R echtsgelehrten“

üb eran tw o rtet. Eine W ahlreform , die w eiter nichts als die schlim m sten B estechungsfälle bei den W ahlen beseitigen u n d den Zensus der W ahlberechtigten herabsetzen will, b iete t auch keine Gewähr dafür, daß die gründliche E insicht u n d wirkliche K enntnis im P a rla m en t das Ü bergew icht gewinnen könnten. „Soviel als in D eutschland eine m eh rhundertjährige stille A rbeit der wissen­

schaftlichen Bildung, der W eisheit un d G erechtigkeitsliebe der F ü rste n bew irkt h a t, h a t die englische N atio n von ihrer Volks­

repräsen tatio n n icht erlangt, ein einheitlich nach vernünftigen Prinzipien ausgebildetes S taats- u n d P riv a tre c h t ist ihm noch im m er vo ren th alten geblieben.“

Um zu zeigen, wieviel Anlaß zu gründlichen R efo rm en in E n g la n d vorhanden sei, fü h rt Hegel eine Reihe von öffentlichen M ißständen auf, die dam als in D eu tsch lan d bereits beseitigt w aren, aber u n ter der Adelsherrschaft in E ngland fortbestanden.

W as er da im einzelnen über die Sinekurenw irtschaft, über das

P frün den wesen d e r S taatskirche, über die gutsherrlichen und

die Jag d rech te u n d über d ie M ißhandlung Irland s berichtet,

ist noch heute lehrreich zu lesen, wenngleich inzwischen die

Dinge sich auch in E ng lan d gründlich geändert haben. Die

Em pfindung h a t m an doch, daß die Stim m ung der N ation un d

ihr V erhältnis zu den Prinzipien des Staatslebens sich n ich t

(15)

wesentlich geändert h a t. Noch im m er ist der p riv a te V orteil und die überkom m ene Gew ohnheit der ausschlaggebende Gesichts­

p u n k t, u n d um die Idee der G erechtigkeit oder der W ohlfah rt aller küm m ert sich der E ngländer nich t im m indesten, sobald das nächste Interesse seiner Klasse un d seines Erwerbszweiges in Frage kom m t. So w ird noch h eu te Irlan d , das ein blühender G arten sein k ö n n te, aus F u rc h t vor der irischen K onkurrenz in H andel u n d W andel auf S ch ritt u n d T ritt gehem m t; und was Hegel voll E m pörung über die dam alige B ehandlung Irland s u rteilt, k an n auch heute noch gesagt w erden: es ist „ein in einer zivilisierten u n d christlich-protestantischen N ation beispiel­

loses V erhältnis.“ Auch heute b e ste h t fü r die niederen Klassen in E nglan d die vielgerühm te englische F reih eit neben dem R echte der m öglichst ungehinderten Rede u n d Bewegung in der F reiheit zu verhungern un d zu verkom m en ganz nach Belieben. U nd das Grauen der Ostbezirke Londons w irft auf die Zivilisation des freien Englands einen fu rchtbaren Sch atten — ein Beweis dafür, daß im G runde sich die englischen Z ustände gleich geblieben sind seit den Tagen, d a Hegel die W orte schrieb: „So enorm innerhalb Englands der K o n tra st von ungeheurem R eichtum und von ganz ratloser A rm u t ist, so groß, u n d leicht noch größer ist der, welcher zwischen den Privilegien seiner A ristokratie un d ü b erhau pt deit In stitu tio n e n seines positiven R echts einerseits und zwischen den R echtsverhältnissen un d Gesetzen andererseits, wie sie sich in aen zivilisierteren S taaten des K o n tin en ts um gestaltet ,. 6n’ Unc^ ^ en G rundsätzen sta ttfin d e t, die, insofern sie auf ie allgemeine V ernunft gegründet sind, auch dem englischen V erstand nicht wie bisher, so im m er frem d bleiben können.“

egel red et von diesen G rundsätzen als von „Ideen, die wie in

Frankreich m it vielen w eitern A bstrak tio nen verm engt und m it

en bekannten G ew alttätigkeiten verbunden, so unverm ischter

111

a

^ SC- an<^ zu festen Prinzipien der innern Überzeugung

un er öffentlichen Meinung geworden sind und die wirkliche,

ru ige, allm ähliche, gesetzliche U m bildung jener veralteten

ec tsverhältnisse bew irkt h aben, so daß m an hier m it den

ns

1

utionen der reellen F reiheit schon w eit fortgeschritten, m it

den w esentlichsten bereits fertig u nd in ihrem Genüsse ist,

wä rend die Regierungsgewalt des Parlam ents kaum noch

ernstlich d aran erinnert w orden ist u n d England von den

dringenden Forderungen jener G rundsätze und von einer ver­

(16)

160

Georg Lasson

Heft 5 langten raschen Verwirklichung derselben in der T a t die größten E rsch ü tteru n g en seines gesellschaftlichen un d des S taatsverbandes zu fürchten h ä tte .“ Diese E rschü tterungen sind ja im ganzen glücklich verm ieden worden, weil die E ngländer in ihrem von Hegel richtig e rk an n ten prak tisch en Sinne den Weg der allm äh­

lichen F o rtsc h ritte durch wiederholte Kom prom isse dem Wege der K onsequenz, d. i. der radikalen Um wälzung vorgezogen haben. Aber dabei sind sie auch bis heute noch nich t soweit gekommen, daß m an von einem englischen S taate in dem Sinne sprechen kann, wie m an von den m odernen S taaten des euro­

päischen Festlandes spricht.

Fragen wir nun, woran es liegt, daß der E ngländer sich m it einem staatlich en Z ustande zufrieden gibt, der m it dem Schein der F reiheit die tatsäch lich e U nterw erfung der N ation u n ter eine eigensüchtige Oligarchie b ed eutet, so g ib t Hegel vor allem die A ntw ort, daß „d er sogenannte praktische, d. h. auf Erw erb, Subsistenz, R eichtum gerichtete Sinn“ der britischen N ation an den F ragen des reinen S taatsrech ts wenig A nteil nim m t. ,,Noch weniger ist d urch ganz formelle Prinzipien a b stra k te r Gleichheit etw as bei ihm auszu rich ten .“ Die glückliche Lage des Insel­

reiches, die E ngland zur B eherrscherin der Meere gem acht und

*dem englischen B ürger den W eg zu R eichtum u n d W ohlleben geöffnet h a t, n ä h rt diesen p raktischen Sinn beständig un d läß t ihn die U nebenheiten der öffentlichen Z ustände und die A b­

scheulichkeiten der ausw ärtigen P olitik gleichm ütig übersehen

— h eu te noch wie von jeher. Ob es aber nach den E rfahrungen dieses Krieges noch so bleiben wird, das ist schon eine andere Frage. Jedenfalls h a t Hegel den ungeheuren Stolz des B riten auf sein glückliches E ilan d m it den treffendsten W orten geschil­

dert. E r sagt : „D er N ationalstolz ü b e rh a u p t h ä lt die Engländer ab, die F o rtsch ritte, die andere N ationen in der A usbildung der R echtsin stitu tio n en gem acht, zu studieren und kennen zu lernen;

der Pom p u nd L ärm der form ellen F reiheit, im P arlam ente und in sonstigen V ersam m lungen aller Klassen u n d Stände die S ta ats­

angelegenheiten zu bereden un d in jenem auch darüber zu be­

schließen, h in d ert sie oder fü h rt sie nich t darauf, in der Stille des N achdenkens in das W esen der Gesetzgebung und Regierung einzudringen. Bei wenigen europäischen N ationen herrscht solche ausgebildete F ertig k eit des R aisonnem ents im Sinn ihrer Vor­

urteile u n d solche Seichtigkeit über G rundsätze. D er R uhm und

(17)

der R eichtum m acht es überflüssig, auf die Grundlagen der vor­

handenen R echte zurückzugehen. E ngland wird dem Herzog von W ellington beistim m en, daß vom J a h re 1688 an bis je tz t durch den Verein von R eichtum , T alenten und m annigfachen K enntnissen, der die großen Interessen des Königreichs (im Parlam ente) repräsentierte, die Angelegenheiten des Landes auf das beste un d ruhm vollste geleitet worden sind.“

W er erk än n te nicht in diesem Bilde das E ngland von heute m it seiner Ü berhebung u n d seiner U nw issenheit über die Zu­

stände der anderen S taaten wieder! F ü r Hegel lag kein Anlaß vor, die ausw ärtige P olitik Englands in B etrach t zu ziehen.

Aber seine W orte werfen ein helles L icht auf die T atsache, daß noch bis h eute die englische ausw ärtige P olitik eine K a b in e tts­

politik, nich t eine nationale P olitik ist. So ist auch der Krieg, den E ngland je tz t gegen das D eutsche Reich begonnen h a t, ein K abinettskrieg nach A rt der Kriege des achtzehnten Ja h rh u n d e rts u n d wird merkwürdigerweise auch m it den M ethoden geführt, die seit b eträchtlich m ehr als h u n d ert Ja h re n auf dem euro­

päischen F estlande längst als überw unden galten. Das ganze Gespinst von In trig en , der ganze Berg von Lügen, m it denen die englische D iplom atie operiert, die Unw issenheit, in der m an das englische Volk über die w ichtigsten S taats vertrage m it den Bundesgenossen u n d die englischen Soldaten darüber gehalten iat, daß sie in F rankreich gegen die D eutschen zu käm pfen aben würden, das alles sind M erkmale eines inferioren sta a t- ic en Zustandes und gem ahnen uns an die halbvergessenen K üm m erlichkeiten einer fernen V ergangenheit ■.

ng ands K ulturaufgabe ist es gewesen, auf der Grundlage des

»r° 1S” 1US as Ideal der persönlichen F reiheit, der vielseitigen usbildung des p rivaten Individuum s zu einer Zeit zur G eltung zu ringen, a sonst überall der P ro testantism u s noch in

d e n

schwersten vam pten um seine Existenz begriffen war. D er Seehandel und die Seeherrschaft Englands, deren glorreiche Anfänge in die Zeit '?ac e* -R’öförniation fielen, m ußten das Selbstbew ußtsein und en reiheitsdrang des britischen Bürgers erhöhen. Der Wohl- s an u n d die Sicherheit des D aseins bot dem Einzelnen die

H ierzu u n d zu d em F olgen d en vergl. d es V erfs. A u fs a tz „ D ie Schuld S m se*nevn B ü ch lein : „ In der S chule d es K rieg es“ B erlin 1915.

och n ften v ertrieb p a n sta lt, S. 35 ff.

(18)

M öglichkeit der persönlichen V erfeinerung un d der Pflege geistiger Interessen. So w urde E n gland die H eim at der bürgerlichen Freiheit, die etw as wesentlich anderes als die staatliche Freiheit ist. Die w ertvollsten A nregungen zu durchgeistigter Lebens­

g estaltung sind von E ng lan d ausgegangen. Zugleich w urde es der T räger der Zivilisation über die Meere hinweg un d der W eg­

bereiter des W eltverkehrs. Aber in diesen verhängnisvoll auf das egoistische u n d m aterielle Interesse gegründeten Geistes­

richtungen ist das englische Volk befangen geblieben. Englands Schuld ist es, daß es den F o rts c h ritt des staatlichen Lebens nich t m itgem acht h a t, den die K u ltu rsta a te n des europäischen Festlandes vollzogen haben. D er englische Volksgeist h a t sich in seiner Eigenheit, in dem einseitigen B etonen der privaten Freiheit un d des behaglichen Gehenlassens, eingesponnen und versäum t, sein Staatsw esen m it höheren Idealen, m it dem Geiste nationalen Opferm utes u n d dem B ew ußtsein geschichtlicher V er­

antw ortlichkeit zu erfüllen. So ist der englische S ta a t aus Mangel an höherem geistigem In h a lt zum R a u b tie r e n ta rte t; u n d selbst wenn die einzelnen E ngländer m it seinen M ethoden unzufrieden sein m öchten, so haben sie doch ihre eigene Innerlich h eit von staatlichen G esichtspunkten so g etre n n t gehalten, daß sie ihm keinen höheren In h a lt einflößen können und willenlos von ihm sich auf seine R aubzüge fortreißen lassen müssen. U n d n un w irkt die M inderw ertigkeit des Staatsw esens ze rrü tte n d zurück auf Gesinnung un d H altu n g auch der Einzelpersonen. Gehässig­

keit, H eim tücke, U n w ahrhaftigkeit u n d H erzenskälte werden m ehr u n d m ehr die M erkmale des englischen N ationalcharakters.

D as haben wir, das h a t die W elt, wenn n ich t früher, d ann in dem jetzigen Kriege erfahren. Aber schon ist es auch deutlich, daß in diesem K riege über E ngland das G ericht sich vollzieht, dessen U rteilspruch in dem Buche der W eltgeschichte w ird v er­

zeichnet bleiben m it den W o rten: gewogen un d zu leicht be­

funden.

G e o r g L a s s o n .

162

Georg; Lasson, Der preußische Staat und die englische Verfassung usw.

Heft 5

(19)

1915

d i e b l e i b e n d e n w e r t e d e r b i l d u n g s i d e a l e

N. F. GRUNDTVIGS

Von Dr. phil. E l s e H i l d e b r a n d t

3

dänische Volkshochschule ist noch h eu te n verständlich ohne das Studium der Gedanken des _ _ Philosophen, D ichters, H istorikers un d religiösen 0 l P S f } R eform ators N. F. G rundtvigs1.

D e n n

diese A nstalten

(A

suchen noch im m er seine Ideen m Leben un d U n te r­

rich t zu verwirklichen. U nd auch die skandinavischen Schwestern­

organisationen in Schweden, Norwegen u n d ^ m n la n d srnd ihrem Streben zum größten Teil innig J u l e bildnerischen Zielen des V aters der no rdlSc b e n V

0

lk A o c h s c h u l:

obgleich sie sich gem äß der Geschichte u n d den s o z ia le « p o l tischen u n d w irtschaftlichen V erhältnissen ihres Landes selbständig

entw ickelt haben. ,

Der w ahre Volkserzieher m uß sein ganzes W ir en ’ seine ganze Seele hingeben für das eine Ziel, as ^ au

seines Volkes. So t a t u n d wollte es G rundtvig. e er e ist nach G rundtvig — wie es auch Fichte war — Volkserzieher.

D am it er zu diesem Ziele gelange, b rau c h t er n icht in erster inie gründliche K enntnisse, sondern eine stark e Begeisterung, ie

Streben nach allseitiger E rleuchtung durchglühen

11111

sein

1 N . F . S. G rundtvig w urde 1783 in S ü d -S eelan d im v ä terlich en P farrhause geboren. N a ch A b solvieru n g der L a tein sch u le u n d n ach d em B esu ch der U n iv e r sitä t b esta n d G ru n d tvig 1803 d as th eo lo g isch e E x a m en . N ach d em er ein e H au sleh rerstelle b ek leid et h a tte , ließ er sich zu m P riester w eihen u n d w urde darauf sein em V ater a ls G ehilfen b eigegeb en . Später berie m an ih n als Pfarrer n ach K o p en h a g en . N a ch ein em th eo lo g isch en S treite le g te er 1826 sein A m t nieder. Er b e sc h ä ftig te sich n u n ern eu t m it h isto ri­

sch en , p h ilosop h isch en u n d th eo lo g isch en S tu d ien , er gab seine P red igten h eraus u n d w id m ete sich d ich terisch en A rbeiten. S p äter w urde er w ieder a ls Pfarrer zurückberufen u n d versa m m elte ein e große G em einde u m sic , deren M itglieder sich n ach ih m G rundtvigianer n a n n ten . D urch p o litisch e T ä tig k e it war er län gere Z eit M itglied d es R eich sta g es, starb er im A lter v o n 91 Jahren. D u rch sein e v olk serzieh erisch en f n, w urde er — w enn au ch n ic h t der Gründer — so d och der V ater der anis V olk sh och sch ule. N eb en sein en ly risch en u n d h istorisch en ic _ h a lten seine W erke m y th o lo g isch e, h isto risch e u nd archäo ogisc e

A m v o lk stü m lich sten v o n a llen sein en W erk en sin d sein e sa m sich in d en H ä n d e n fa s t jed es D ä n e n befinden.

Monatshefte der C. G. 1916

(20)

164

Else Hildebrandt

Heft 5 E ine besondere F orm der O ffenbarung soll die W issenschaft sein.

G rundtvig ist das S tudium allgemeine Sache der Seligkeit. Im H erzen e n ttä u sch t, verließ er die Hochschule, weil sie ihm s ta tt Leben n u r trockene T atsachen gegeben h a tte , die n ich t von d er K ra ft höherer G esichtspunkte durchleuchtet worden waren. W ir wissen, daß die gründlichen K enntnisse, dem G elehrten, dem Volkserzieher n ich t m angeln dürfen. Auch G rundtvig h a tte sie, die Sichtung der Quellen, die er vornahm , wird noch heut« von d er W issenschaft anerk an nt. Allerdings w ar er zu sehr D ichter, um die O b jek tiv ität des W issenschaftlers zu besitzen. Gründliche K enntnisse sind, wie die technischen Fertigkeiten des bildenden K ünstlers, unabw eisbar notw endig. A ber m it technischen F e rtig ­ keiten un d H andw erkszeug allein b a u t m an n ich t das M eisterwerk.

U nd wir wissen, wie wenige die glühende Seele bew ahrten über den Schwierigkeiten, die die A rbeit bot. So aber w urde ihr W erk, das sie schaffen wollten, zum H andw erk, das sie schlicht und rech t betrieben. Gute H andw erker blieben sie, aber zum Volkserzieher fehlte ihnen die Seele, die alles durchglühende Liebe. G rundtvig w ußte es wie F ic h te : die w ahre E rk en n tnis ist nich t vereinbar m it K älte, sie durch drin g t m it ihrem Sein den ganzen Menschen, sie wird ein Teil seines W esens und som it zum A ntrieb seines Lebens.

G rundtvig stellte die Ä ußerungen des „H erzens“ über die des Verstandes, „denn das H erz und n ich t der K opf ist die Quelle des Lebens“ . Das H erz ist ihm die Liebe, die den G edanken erst de»

höheren Flug verleiht, die die W issenschaft e rst zum Leben erweckt.

Im Zusam m enhang hierm it n im m t es n ich t wunder, daß G rundtvig für den L ehrer des Volkes im engeren Sinne zuvorderst leidenschaft­

liche Hingabe, an den Gegenstand, den er dem Volke ü berm ittelt, fordert. E tw as von der E rleuchtung, die alles Große hervorbringt, sollte auf die H örer u nd Schüler übergehen.

W ir vergessen in unseren pädagogischen A bhandlungen häufig über den S treit um die M ethode die lebendige Persönlichkeit des Lehrers. G rundtvig zog die M ethode des U n terrichts im allgemeinen nich t in den K reis seiner D arstellungen. Die d u rfte sich jeder Lehrer wählen. Bei der neuen Schule, deren E n tsteh un g er erhoffte, kam es ihm allein auf den neuen Menschen an, der in tu itiv der w ahre Lehrer ist.

W enn G rundtvig glaubte, daß der L ehrer Liebe zum Gegen­

stände n u r durch das lebendige W ort, durch den von B egeisterung

erfüllten V ortrag auf den Schüler ü bertragen könnte, so können

(21)

wir ihm h eu te darin n ich t m ehr folgen, obgleich der lebendige V ortrag noch heute die U nterrichtsform in der dänischen Volks­

hochschule ist.

Aus der E rk en ntnis von dem W ert der Persönlichkeit des Lehrers zog er die K onsequenzen: N icht derjenige, der durch sein Exam en gewisse K enntnisse gezeigt h a t, soll zum U nterrichte zugelassen werden, sondern der, der sich zum K inder- un d Volks­

erzieher berufen fühlt. W ir aber wollen u n d müssen als praktische Schulleute durch E inführung von Prüfungen der U nvollkom m enheit der menschlichen N a tu r Rechnung tragen. Die dänische Volks­

hochschule v erlangt noch h eute im Gegensatz zu der schwedischen Schwesterorganisation keinerlei E xam en für ihre Lehrer, und auch in den zahlreichen dänischen sogenannten „freien Schulen“

werden K inder von Lehrern im G rundtvigschen Sinne u n ter­

ric h tet; diese Schulen verdanken der W irkung seiner Ideen ih re G ründung. G rundtvigs K ritik an der dänischen Schule seiner Zeit ist n ich t verständlich ohne die K enntnis der dam aligen Zu­

stände des dänischen U nterrichtsw esens, wo das E xam en wesen m it seiner B etonung des leblosen Gedächtnisstoffes einen allzu breiten R aum einnahm . Auch an das Leben G rundtvigs selbst m uß erinn ert werden, der weder d urch die Schule, die von ihm so gehaßte un d angefeindete Lateinschule, noch im großen und ganzen durch die U niv ersität R ichtlinien em pfangen h a tte .

Die Volkshochschule d achte er sich für die Glieder aller Volks­

stände. Eine nationale Erziehung sollte d urch ih r W irken einsetzen.

ine einseitige Berufsbildung ist n ich t vereinbar m it dem In h alte, en er m it dem Begriffe „B ildung“ verbindet, sie ist ihm die

„harm onische Entw ickelung des m enschlichen Geistes ohne R ück- sic au le tägliche A rb eit“ . M it dieser F orm der Allgemein- ung wi er seinen Schülern eine A nleitung geben „zur lebendigen K enntnis des Lebens un d der M enschen“ . W ie notw endig scheint es, wie er einm al auf die Erfolge der dänischenVolkshochschule hinzu­

weisen, die m it ihrer V erm ittelung von Allgemeinbildung ihre Schüler zu den tüchtigsten L andw irten E uropas erzog. Es gib t also nach run d tv ig eine Allgem einheit der Bildung, die unabhängig von er Berufsbildung gegeben werden m uß. F ü r ihn gib t es diese Gem einsamkeit n ich t n u r für bestim m te Kreise, akadem ische, bäuerliche oder A rbeiterkreise, sondern für alle Klassen und Stände.

Es ist n ich t unnötig, in einer Zeit wie die unsrige, auf die G rund­

anschauungen des nordischen Volkserziehers zu schauen, gilt es

11*

(22)

166

E lse Hildebrandt

Heft 5 doch h eute vielleicht bei der M ehrheit des Volkes als Axiom, daß eine einheitliche grundlegende Vorbildung weder für die akadem i­

schen Berufe noch für die A rbeiterklasse noch für andere B erufs­

kreise möglich ist.

Die G rundlage zu dieser Anschauung ist in G rundtvigs Bildungs­

ziel zu su c h en : Ih m schwebte eine harm onische Entw icklung aller K rä fte des Menschen vor. Die Volkshochschule war ihm nicht eine U nterrichtsschule — so könnten wir sagen — sondern eine S tä tte zur sittlichen H eran reif ung des Menschen, sie w ar ihm Erziehungsschule. E r w ar sich bew ußt, daß neben, über der spezialisierten B erufsbildung die allgemeine M enschenbildung stehe. D abei untersch ätzte er den Beruf durchaus nicht, im Gegen­

teil er legte ihm eine so hohe B edeutung für die E ntw icklung des Menschen bei, daß er die Jug en d erst in die Volkshochschule auf­

nehm en wollte, wenn sie gereift durch die praktische berufliche A rbeit fähig sei, die Problem e des Lebens zu fassen und den D rang v erspürte, Stellung zu ihnen zu gewinnen. Gerade die Erziehung, wie er sie sich dachte, sollte eine vertiefte Auffassung des Berufes zur Folge haben, besonders auch bei der handarbeitenden Klasse.

So nehm en noch h eute bekanntlich n ich t n u r die dänische, sondern auch die übrigen skandinavischen Volkshochschulen ihre Besucher durchschnittlich erst nach dem 18. J a h re auf.

N icht wie die A nhänger einer m öglichst spezialisierten Ju g en d ­ ausbildung fragte er nach dem Zweck, nach dem praktischen N utzen dieser Bildung. Die allgemeine M enschenbildung ist Selbstzweck, erst durch sie ist es möglich, die Ju g en d zu w ahren S taatsb ü rg ern zu erziehen. D eshalb sind auch h eute noch m it der A bsolvierung der skandinavischen Volkshochschule keinerlei Berechtigungen verbunden. Alle B ildungsm ittel, in e rster Linie M uttersprache u n d Geschichte, w aren n ich t dazu da, um den jungen Menschen K enntnisse in diesem oder jenem Gebiet zu verschaffen, sondern um ihnen einen festen W illen zu geben, sie zu erfüllen m it dem Gefühl der H ingabe an alles w ah rh aft Große u n d sie so zu Gliedern d er dänischen N ation zu m achen.

Die Ju g en d sollte aber auch selbst sich fühlen lernen als B ürger

des S taates, als Angehörige des dänischen Volkes. Zu dieser Form

d er N ationalerziehung diente G rundtvig — wie angedeutet —

Geschichte u n d M uttersprache als erste B ildungsm ittel. D urch

D arbringung des W erdens der germ anischen Seele hoffte er die

Ju g e n d zu glühender Begeisterung zu erwecken, zum M itschaffen

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an allem Großen anzuregen, un d dadurch auch eine W iedergeburt un d Erneuerung des dänischen Volkes zu bewirken, das dam als im ersten Ja h rz e h n t des 19. Ja h rh u n d e rts so tief erniedrigt war.

Diese volkserzieherischen Gedanken G rundtvigs sind n ich t verständlich ohne die K en n tn is des Gelehrten G rundtvig. Ih m waren alle W issenschaften der Geschichte untergeordnet. Die Geschichte war ihm aber n ich t die W issenschaft von den T atsachen der V er­

gangenheit, sondern ein Bild von der E ntw icklung des m ensch­

lichen Seins üb erh au p t, sie w ar ihm Sache der W eltanschauung1.

Die Bedingung fü r jedes geschichtliche Forschen lag ihm in dem Bew ußtsein der geistigen E in heit des M enschengeschlechtes.

Aber e rst auf der Grundlage des Gefühls für das eigene V olkstum , durch das Bindeglied der N a tio n a litä t, k ann der Mensch m it dem allgemeinen Menschengeiste in B erührung kom men. Diese A rt des geschichtlichen Forschens t r i t t in seinen eigenen W erken zu tage. Seine G edanken über die nordische G ötterlehre legte er in einem G edicht über die Asenlehre u n d sp äter in seinem großen W erke „N ordens M ythologie“ d ar. Der K am pf der J ö te n u n d Asen ist ihm ein S treit zwischen dem L icht u n d dem D unkel, zwischen Geist u n d Geistlosigkeit. Die Asen müssen zugrunde gehen, weil sie ihre Lebensaufgabe vergaßen und sich dem sinnlichen Genüsse ergaben. W ie das Studium der Geschichte, so wurde ihm die Beschäftigung m it der E d d a zu einem persönlichen Erlebnis.

Aber erst der D ichter in ihm k onnte dem Volke die Geschichte so überliefern, d aß es seine Seele durch V ersenkung in die V er­

gangenheit wiederfand. Seine historischen D ichtungen „Roskilde im ’’ osküde Saga“ fü h rte die D änen zu den H öhepunkten i rer E ntw icklung2. Bei dem S tudium der Geschichte drän gte es

i

n wä rend seines ganzen Lebens zu Ü bersetzungen und

c ensc en N euschöpfungen. Die norwegisch-isländische

r *f.. Ziel® H istorik ers G ru n d tvig sin d u nlösbar v erb u n d en m it dem re lgiosen e orm ator G r u n d tv ig ; d ie H ö h e p u n k te in der G eschichte 2a _-f.n 61 1 m zu sam m en m it den G eistesregungen d es ch ristlichen L ebens.

, *n v o n der sehr eigen artigen D ik tio n G rundtvigs g ib t dem eu sc en eser d as B u ch F .. W arten w eiler-H affter „ E in N ordischer

‘ ° fi Se? Iei, 6r ® ern 1913, der zah lreich e S tellen au s G rundtvigs W erken scher Ü b ersetzu n g g ib t. D ie v o n H olger B egtru p a u sg ew ä h lten bchriften G ru n d tvigs u m fa ssen 10 B ä n d e (K jö b en h a v n 1904— 1909); v g l.

a u ch N . F . S. G rundtvigs P o e tis k e Skrifter, h erausgegeben v o n S v en d ru n d tvig K jö b en h a v n 1880— 89. Sm aaskrifter on den M istoriske h o jsk o le K jö b en h a v n 1872.

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Else Hildebrandt, Die bleibenden Werte der Bildungsideale nsw.

Heft 5 K önigschronik von Snorro Sturleson. die Chronik des Saxo G ram m aticus u n d das Beowulflied gab er in Dänisch wieder.

So w ar ihm. die Geschichte als V olksbildungsm ittel m ehr als d e r bloße U n te rrich t von den T atsachen der V ergangenheit. Sie w ar ihm das M ittel zur W iedererweckung des alten dänischen H elden willen s. Sie diente ihm also zur sittlichen E rziehung der Ju g en d . Noch h eu te bilden in der dänischen Volkshochschule die V orträge über Geschichte die Grundlage des gesam ten Volks- hochschullebens. D urch E rzählungen von der K ra ft des eigenen V olkstum s erfüllt m an die Volkshochschuljugend m it dem Streben, sich einzusetzen für die A rbeit zum Gedeihen des Volkes.

A uch wir haben wieder die Geschichte als vornehm liches Volks­

bildungsm ittel erk an n t. Auch wir wollen d a m it die H erzen der Ju g e n d wecken u n d sie fähig m achen, B egeisterung zu em pfinden.

U nd doch müssen wir noch etw as anderes erstreben neben der W irkung auf das G em üt. K ein B ildungsm ittel ist so sehr im stande, die verstandesgem äße Entw ickelung in richtiger Weise zu fördern, besonders bei der A rbeiterjugend als die Geschichte. Viel m ehr wie die dänische B auernjugend bedarf sie der E ntw ickelung des historischen Sinns. Die Geschichte e rst v e rm itte lt hier den Z usam m enhang zwischen den Ereignissen un d den Ideen un d die A bhängigkeit alles m enschlichen W erdens von der Zeit, in der es geboren wird.

W enn G rundtvig die A usbildung des V erstandes u n tersch ätzte, so lag das wohl zum Teile d aran , daß er bei seinen V olksbildungs­

bestrebungen zuvörderst an das dänische B au erntum dach te, die A rbeiterjugend k onn te er n ich t wie wir vor Augen haben.

W ir aber können von ihm lernen, daß alle U n terrichtsku rse u n d B elehrungsabende für die H erangew achsenen wenig B edeutung hab en, wenn es uns n ich t gelingt, sie zu w ahren M enschen zu e r­

ziehen, die das Gefühl d er V eran tw o rtung in ihrem T un em pfinden

u n d fähig sind, ihr ganzes Sein hinzugeben fü r eine Idee.

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HERDER UND MOSES MENDELSSOHN

Von Dr. A d o l p h K o h u t

ährend der G rundgedanke der Goetheschen W elt­

anschauung die ästhetische Schönheit und das L eitm otiv aller D ichtungen und Schriften Schillers die sittliche Vollkomm enheit ist, ist der M aßstab, den J o h a n n G o t t f r i e d v o n H e r d e r , dieser D ritte im Bunde unserer klassischen D ichter in der zweiten H älfte des 18. Ja h rh u n d e rts, an die gesam te intellektuelle und sittliche W elt anlegt, die H u m an ität, die Menschlichkeit. Dieser H ohe­

priester des H um anism us, dieser geniale und hochverdiente V ertreter der welterlösenden M enschlichkeitsideen, gehört zu den erhabensten E thikern, die je gelebt haben. W as er u n ter H u m a n itä t verstand, darüber h a t er sich in zahlreichen W erken, wie z. B. den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch­

h e it“ , „Briefe zur Beförderung der H u m a n itä t“ usw., eingehend geäußert. Mag aus der Fülle seiner goldenen W orte über dieses K apitel hier n u r einiges m itgeteilt werden. So schrieb er in der ersten Schrift u . a . : „W enn wir die M enschheit betrachten, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ih r liegen, so finden wir nichts ^Höheres als die H u m a n itä t im Menschen; denn wenn wir uns G ötter oder Engel denken, denken wir sie uns auch n u r als

ohere idealische M enschen...Die H u m a n itä t ist die ver- sc lossene Knospe der w ahren G estalt der M enschheit . . . . Dieser

um ani a nac zuforschen ist die erste menschliche Philosophie, e jener eise vom Him mel rief u nd die sich im Um gang wie in der Politik, m den K ünsten wie in allen W issenschaften offenbart.

• • •. lese H u m a n itä t m uß aber erst entw ickelt und en tfaltet er en, denn sie ist uns n u r in der Anlage angeboren und m uß uns eigentlich angebildet werden; wir bringen sie nicht fertig a ie W elt m it; auf der W elt aber soll sie das Ziel unseres Strebens, . e unserer Erkenntnisse, unser W ert sein: denn eine

ge t a t im. Menschen kennen wir nicht, un d wenn der Dämon,

er uns regiert, kein hum aner Däm on ist, werden wir Plagegeister

der Menschen. Das G öttliche in unserem Geschlecht ist also

die Bildung zur H u m an ität. Die H u m an ität ist der Schatz und

die A usbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die

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