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Das Beispiel der Umformung der romanischen Namenwelt des Exarchats von Ravenna im frühen

1. Zur Einführung

Józef Wiktorowicz geht davon aus, dass veränderte soziale Bedingungen auch unsere Denkprozesse verändern/beeinflussen, da „das sprachliche Weltbild, das in den Texten zutage tritt, Wandlungen unterworfen ist“ (Wiktorowicz 2010: 146). Dies wiederum führt zu Veränderungen der sozialen Struktu-ren und damit auch zur Veränderung der Mentalität sozialer Gruppen, u. a.

ablesbar am Verhältnis zwischen Mann und Frau und deren Stellung in der Gesellschaft. Der Mann galt als das Familienoberhaupt mit den Eigenschaf-ten weise, vernünftig, verständig, redlich und rechtschaffen. Die Frau sollte hübsch, artig, liebenswürdig, treu und dankbar sein (vgl. Wiktorowicz 2010).

Diese Grundeinstellung gegenüber dem anderen Geschlecht zieht als eine Mischung aus Liebe, Verehrung und Ergebenheit durch alle vorliegenden Verlobungsbriefe, teilweise auch Brautbriefe genannt – je nach Einstellung der Herausgeber -, denn dieser Briefverkehr war das festigende Band zwi-schen den Liebenden, besonders wenn der Verbindung Steine in den Weg gelegt wurden oder äußere Umstände entgegenstanden, etwa die wirtschaft-liche Situation des Mannes, ein anderer Protegé der Eltern oder räumwirtschaft-liche Entfernungen, häufig von den Eltern organisiert, so dass nur noch heimli-che Briefkontakte möglich waren, teilweise von Freunden und Verwandten unterstützt oder auch verhindert. Diese selten erhaltenen Briefwechsel zwi-schen den zukünftigen Brautleuten geben einen wichtigen Einblick in die Veränderungen des bürgerlichen Wertesystems im 19. Jahrhundert. Das 18.

Jahrhundert ist dagegen als Jahrhundert des Briefes in die Historie eingegan-gen: „Der vielbeschworene Mischcharakter von Briefen an der Schnittstelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen historischer Quelle und Artefakt, zwischen Adressierung und Selbstbezüglichkeit, zwischen manifes-ter Mamanifes-terialität und vom Schreiben gelösmanifes-ter Botschaft ermöglicht es, Fragen

… zu stellen“ (Briefe um 1800 – Zur Medialität von Generationen, Konfe-renzankündigung Berlin, 24.1.2013).

Es ist nun zu fragen, wie es zu dieser Briefschreibeeuphorie gekommen ist.

Dazu ein kurzer Rückblick auf die Textsorte/das Textmuster/die Kommunika-tionsform ‚Brief‘. Wiktorowicz stellt fest, dass ‚Brief‘ ursprünglich die Bezeich- nung für ‚Urkunde‘ war (vgl. Wiktorowicz 2011: 165) mit der der Schuld-ner seine Schuld bestätigt und eine Frist für die Rückzahlung angibt, so dass aus dem ‚Schuldbrief‘ aus der Sicht des Verkäufers ein ‚Mahnbrief‘ wurde (ebenda, 166). Das Gutachten des Sachverständigen sei formal eine Urkunde, im Stadtbuch erscheine dann quasi eine Kopie eines Originalschreibens (vgl.

Wiktorowicz 2011: 151). Diese Konstellation führe zu Text-Allianzen zwischen Protokoll und Schuldbrief, wodurch die ursprüngliche Bedeutung der Texts-orte ‚Brief‘‘ aufgehoben wird in einer deklarativen TextsTexts-orte einer 3. Person, dem Stadtschreiber bzw. Kanzlisten (ebenda, 171). Wir wissen, „dass der Stadt-schreiber die Aufgabe hatte, die Schaffung neuer institutioneller Tatsachen schriftlich zu fixieren“ (Wiktorowicz 2011: 140).

Ähnlich argumentiert Ziegler (2003), dass die Stadtschreiber aufgrund ihrer juristischen Verantwortung oft in Personalunion als Notare und Stadt- bzw. Ratsschreiber „durch Eid und Vertrag an den Stadtrat gebunden“ einen sozialen Aufstieg „vom Schreiber zum geachteten Fachmann“ durchlaufen konnten (Ziegler 2003: 198/199). Sie gaben durch Briefsteller und Formular-bücher Vorgaben für „das korrekte Verfassen von Urkunden, Briefen und an-derem städtischen Schrifttum“ (ebenda, 205). Dabei werden ’Urkunde‘ und

‚Brief‘ als Einheit angesehen „stehen doch beide Textklassen in einem engen historisch bedingten Verhältnis zueinander“ (ebenda, 266) und werden beide

„von einem Schreiber im Auftrag verfertigt“ (ebenda, 268) und sind demzu-folge ähnlich in der Form bis hin zur Formengleichheit.

In den Anfängen war die städtische Kanzleisprache „noch sehr stark lo-kal und regional gebunden“ (Ziegler 2003: 89). Metzler (1987) geht davon aus, dass in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zwischen der lateinischen Kodifizierung und der entsprechenden Kanzleisprache durch den wachsen-den Einfluss der Alltagssprache eine Veränderung der Formen eintritt. Die Kanzleiprägung von Briefen sei noch erkennbar, aber nicht mehr prägend (vgl. Metzler 1987: 64). Deswegen ist es nachvollziehbar, dass in den städti-schen Kanzleien ‚Brief‘ und ‚Urkunde‘ z. T. als Beweismittel synonym verwen-det wurden, was aus meiner Sicht in so unterschiedlichen Benennungen wie

‚Kaperbrief‘, ‚Schutzbrief‘, ‚Frachtbrief‘ den Status von Dokumenten belegt und bis heute erhalten ist. Auch heute noch gelten Briefe (besonders hand-schriftlich verfasste) als Beweismittel im Sinne von Urkunden. Allerdings ist diese Doppeldeutigkeit, diese gegenseitige Übernahme von ‚Brief‘ und ‚Ur-kunde’ in vielen Benennungen erhalten geblieben (bei Mater findet man über 100 Beispiele mit dem Grundwort ‚Brief‘). Bei anderen ist der Charakter eines

‚Briefes‘ als Sendschreiben eher erhalten, z. B. Dankbrief, Eilbrief, Feldbrief, Liebesbrief usw.

Festzuhalten ist, dass die Textform (nicht die Textsorte) ‚Brief‘ schriftlich, zeitversetzt zwischen Produktion und Rezeption kommunikativ verifizierbar ist. Wiktorowicz (2011: 128) findet auch (wie schon vorher Gaberell und andere) keinen Sinn in einer Klassifikation historischer Textsorten, sofern man da-von überhaupt schon sprechen kann. Einen Grund sieht er darin, dass Texte nicht vorrangig informativ sind, sondern Ausdruck sozialen Handelns (was sicher auch Informationshandlungen einschließt), aber eine soziale Handlung voraussetzt, die schriftlich fixiert wird. „Wenn man das Sprechen und Schrei-ben als eine Art soziale Handlung auffasst, dann müssen die Textsorten von diesem Standpunkt aus als Vollzug bestimmter Typen sozialer Handlungen verstanden werden“ (vgl. Wiktorowicz 2011: 156). Das heißt auch, dass Verän-derungen der sozialen Strukturen zu VeränVerän-derungen in den Wissenssystemen führen und damit auch zur Veränderung der Mentalität sozialer Gruppen, was wiederum zum Wandel sprachlicher Weltbilder beiträgt, nicht zuletzt zu Fa-milienstrukturen und zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Demnach sei also Textsortengeschichte Sozialgeschichte: „Bestimmte sozial relevante Handlungen werden allmählich zu konventionellen sprachlichen Handlun-gen (vgl. Wiktorowicz 2011: 129). Daraus kann man auch ableiten, dass in den entsprechenden Stadtbüchern zuerst Textsorten auftauchen, die solche sozialen Handlungen in bestimmten Situationen sprachlich festhalten.

Texte der Stadtkanzleien – so kann man schlussfolgern – haben auch eine informierende Funktion, um neue Tatsachen (etwa in Rechtsstreitigkeiten) amtlich zu belegen, etwa im Falle von Testamenten, die erst im Todesfalle zu einem Rechtsfall werden und aus den vorliegenden Akten nach Recht und Gesetz entschieden werden.

2. Verlobungsbriefe

Verlobungsbriefe sind intimste Privatbriefe, weil sie Stärken und Schwächen der Partner ausloten müssen und partnerschaftliche Liebesbeziehungen ent-wickeln sollten, die auch bei Trennungen Bestand haben. Belastungen wie in den vorliegenden Briefen sind teilweise extrem und fordern die Standfestig-keit der Partner heraus oder sie zerbrechen daran. Andererseits haben Verlo-bungsbriefe auch etwas von der ursprünglichen Textsorte ‚Urkunde‘ erhalten, weil sie ein Versprechen beinhalten, das juristisch kaum einklagbar ist, aber bei Nichteinhaltung Familien zerstören konnte.

Im 19. Jahrhundert scheint sich der Urkundencharakter von Verlobungs-briefen abzuschwächen, da Eltern oft selbst an der Auflösung einer Verlobung

interessiert waren, vor allem aus Standesdünkel oder aus wirtschaftlichen In-teressen. Die Verlobungsbriefe geben damit auch einen tiefen Einblick in die Prämissen der bürgerlichen Gesellschaft.

Man kann bei der Textsorte ‚Brief‘ – und mit Abstrichen – auch bei der Textsorte ‚Urkunde‘ von Textsorten-Artefakten ausgehe, die sich den histo-rischen Gegebenheiten und Notwendigkeiten sprachlich anpassten und den sich schnell entwickelnden Geschäfts- und Schreibgewohnheiten nur neue Konzepte lieferten, die einfach „zur Hand“ waren und durch Kompositabil-dung in den Sprachschatz übernommen wurden, gefördert – oder im Einzel-fall auch unterdrückt – durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Handlungs-bereichen (vgl. Ermert 1979: 67).

Verlobungsbriefe sind nicht nur Zeugnisse privater Liebesbeziehungen, sondern sie geben Einblick in sehr intime Beziehungen, Schwächen oder auch Verfehlungen, denn Verlobungsbriefe haben fast bis ins 20. Jahrhundert auch dokumentarischen Charakter, indem sie das Ehegelöbnis offiziell machen und damit für neue Beziehungen „nicht mehr zur Verfügung stehen“. Wurden diese Ehegelübde nicht umgesetzt (vgl. Brahms Verlobung mit Agathe von Siebold 1858) konnte man neuere Liebesbeziehungen und/oder öffentliche Diskretitierung eines Partners vermuten, was im Extremfall auch zum gesell-schaftlichen Ausschluss führen konnte. Im positiven Sinne begann mit der Verlobung ein neuer Lebensabschnitt für beide Familien, die ein neues Fa-milienmitglied bekamen, aber auch eins an eine andere Familie „verloren“, wodurch sich in den oft kinderreichen bürgerlichen Familien neue Allianzen ergaben, die ausgiebig besprochen werden mussten. Verlobung und Heirat waren Familienangelegenheiten, da es nicht selten auch um den Erhalt und möglichst auch um Förderung des Familienbesitzes ging und damit auch der Steigerung des bürgerlichen Ansehens

Es ist verständlich, dass es dafür einen regen Briefverkehr zwischen den ein-zelnen Beteiligten gab, in dem vieles besprochen und geklärt werden musste.

Briefsteller hatten Hochkonjunktur (vgl. Ettl 1984) und gehörten in jeden bür-gerlichen Haushalt. Angemessene Briefe schreiben zu können gehörte zur Kultur des gebildeten Bürgertums und wurde nicht nur als Pflicht verstanden, sondern als vergnüglicher Austausch von Erlebnissen und Gedanken, an denen andere teilhaben sollten, oder auch, weniger vergnüglich, um Sorgen und Kummer nicht allein tragen zu müssen. Briefe dienten auch dazu, sich selbst ins rechte Licht zu setzen und möglichst keine Fehler zu machen, wobei Anreden, Gruß-formeln, Höflichkeitsfloskeln eine wichtige Rolle spielten. Dazu ein Beispiel:

Teuerstes Fräulein Alma! Verzeihen Sie, verehrtes Fräulein, wenn ich Ihnen hiermit schrei-be, was Ihnen mündlich zu gestehen ich nicht den Mut habe. Seit ich Sie kenne, fühle ich

für Sie eine reine, herzliche Zuneigung, die sich noch bedeutend verstärkte und in Liebe verwandelte, seit ich durch den Zutritt zu Ihrem Familienkreise Gelegenheit hatte, Sie näher kennen zu lernen. Die Hoffnung, daß Sie mir nicht ganz abgeneigt sind, ermutigt mich, Ihnen das zu schreiben. Sie würden mich unendlich glücklich machen, wenn Sie sich entschließen könnten, meinem Lebenswunsche zu entsprechen. Einen recht baldigen und hoffentlich zusagenden Bescheid erwartet mit der Versicherung der größten Hoch-achtung und Ergebenheit

Ihr…

(vgl. Der praktische Universal- Ratgeber des täglichen Lebens, 1904, S. 471)

Die hier aufgeführten Originaltexte weichen allerdings von den Briefs-tellern deutlich ab. Sie sind Zeugen des bürgerlichen Familienlebens im 19.

Jahrhundert, aus denen nicht nur Glück und Freude spricht, sondern auch Sorgen und Kummer.

In einem seltenen Fundstück haben wir ein Beispiel für den Fall, dass sich auch Großeltern um das Glück der Enkelin sorgten und zugleich Hinweise dafür gaben, wie sich die neue Familie bitte zum Gefallen der Großeltern und deren bürgerlicher Reputation verhalten möge. Es ist nicht mehr nachzuvoll-ziehen, ob der Großvater ein ‚Recht‘ dazu hatte, allerdings richtet er im De-zember 1890 an den zukünftigen Schwiegervater seiner Enkelin einen freund-lichen Brief mit kleinen Hinweisen, was er in der neuen verwandtschaftfreund-lichen Beziehung für angemessen hält (vgl. Großelternreport 20.12.2006):

Geehrter Herr Seifert, sehr überrascht haben wir durch Ihre freundliche Mitteilung (erfah-ren), dass unsere Enkelin Luise (Ihnen) ihr Zutrauen geschenkt hat… Wir wünschen…, dass der Bund durch Gottes Gnade beschlossen (wird) und geben durch innigliche Liebe unseren Großelterlichen Segen dazu. Es wäre angenehm gewesen… so viel Zeit gehabt hätten, uns besuchen zu können…

Dieser Brief – eher ein indirekter Verlobungsbrief – zeugt von einer en-gen Familienbindung, bei der sich der Großvater als denkbares Familienober-haupt für das Glück der Enkelin verantwortlich zeigt und sich nicht scheut, mit ruhigem Selbstbewusstsein, die zukünftigen Verwandten zu mahnen.