• Nie Znaleziono Wyników

Heimat: Zur Semantik einer Wortkarriere

zu einer Sub-Semantik

1. Heimat: Zur Semantik einer Wortkarriere

Jörg Meier (2011) hat in seinem Beitrag „Heimat – Zur Semantik eines schwie-rigen Begriffs“ auf die aktuelle, ja gerade erstaunliche Wortkarriere dieses viel-fach gebrauchten Wortes aufmerksam gemacht. Wer die Sprachgebrauchs-geschichte von Heimat Revue passieren lässt, wird kaum umhin kommen, ihm bei seiner folgenden Diagnose zuzustimmen: Lange „galt der Begriff in Deutschland fast als ein ‚Unwort’ unter „modernen“ Menschen. Er galt als nicht zeitgemäß oder – neudeutsch formuliert – sogar als ‚politically incorrect’

[…] Doch daran hat sich in den letzten Jahren einiges geändert. Im Gegenteil:

Die Sehnsucht nach Heimat war für viele noch nie so groß wie heute, denn die Heimat zu verlieren scheint, im Zeitalter der Globalisierung, das Schicksal der ganzen Gesellschaft zu sein“ (Meier 2011:  129). Es folgen entsprechen-de Belege von zeitgenössischen Publizisten und Wissenschaftlern ebenso wie von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen bis hin zum Pop-Sänger Gröne- meyer, der eine heute weithin dominierende Bedeutungsnuance in einem sei-ner Songs auf den Begriff gebracht hat: „Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl“ (vgl. Meier 2011: 130).

Die (öffentlich-mediale) Verwendung des schillernden Begriffs Heimat ist ein gutes Beispiel für eine von vielen Wortkarrieren der Jetztzeit. Aus der Perspektive einer angewandten Linguistik ist dabei besonders dasjenige an der Sprachgebrauchsgeschichte von Heimat interessant, was Meier im Hinblick auf ihre Semantik so umschreibt: „Heimat ist ein viel benutzter, vieldeutiger und oft auch missbrauchter Begriff, mit dem jeder meint, etwas anfangen zu können und der sich andererseits durch seine Vielfältigkeit jedem Zugriff zu entziehen scheint“ (Meier 2011: 131f.). Insofern überrascht es nicht, dass der Autor den verschiedenen Bedeutungsnuancen in den verschiedenen Sprach-gebrauchskontexten nachgeht: in der Belletristik (Bernhard Schlink, Horst Bienek), im Film („Heimat“ von Edgar Reitz), der Zeitgeschichte („Kalte

Heimat“ von Andreas Kossert), in der Philosophie (Martin Heidegger, Ernst Bloch, Peter Sloterdijk, Christoph Türke) oder in der Soziologie (Hartmut Rosa).

So sehr dieses Beispiel auch überzeugen mag: Für die (synchrone) Lin-guistik ist die analytische Auseinandersetzung mit Wortkarrieren sozusagen unterhalb ihrer „Wörterbuch-Bedeutung“ ein Problem – für die kognitive Semantik mit ihrer Annahme von Konzepten sogar mehr noch als für die Ge-brauchssemantiken (vgl. dazu Fritz 2011). Wie soll man erklären, warum gro-ße Gruppen einer Sprachgemeinschaft innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit mit folgenden gängigen Wörtern und Wendungen sehr Unterschiedliches verbinden: Schallplatte gehört dazu oder „bedrohte Wörter“ wie Kassetten- recorder oder Videokassette, die dem technischen Wandel zum Opfer gefallen sind (Mrozek 2008). Oder doch nicht? Glaubt man der Szene, so erlebt zu-mindest die Schallplatte momentan als Kultgegenstand ein Comeback. Ist die-se Karriere eine Hoffnung auch für technische Alltagsgegenstände wie Laptop, PC oder Handy, deren Verschwinden sich bereits jetzt abzuzeichnen beginnt?

Mit Blick auf die (deutsch-deutsche) Zeitgeschichte lassen sich schnell ähnliche Beispiele finden: Volkslied scheint als vitale Bezeichnung noch zu-kunftsfähig. Aber gilt das auch noch für die scheinbar unverfänglich klin-gende Bezeichnung wie Volksbefragung? Dass völkisch und Volksarmee samt vielen entsprechenden familienähnlichen Bezeichnungen keine Zukunft mehr haben werden, geht sicherlich völlig in Ordnung. Was aber zugunsten von Mitbürger und Mitbürgerinnen aus der Bezeichnung Bürger werden wird, muss offen bleiben. Es scheint, als ob der Mitbürger bald den Bürger ersetzen könnte. Und wie steht es nach einer wechselvollen Karriere heute mit der angemessenen lexikographischen Erfassung von bürgerlich oder sozialistisch, von Plattenbauweise, Villa, Verbraucher 1? Wie verwirrend eine Wortkarriere sein kann, lässt sich exemplarisch an der Bezeichnung Ehre zeigen: Ehre war sowohl in der BRD als auch in der DDR ein weitgehend obsolet gewordenes gesellschaftliches Wertkonzept, das bekanntlich im Adel, dann in Übernahme durch das Bürgertum, vor allem aber völlig pervertiert im Nationalsozialismus als eine soziopsychische Zentraltugend galt. In Auseinandersetzung mit Men-talitäten und Handlungsweisen von Migranten feiert es jedoch heute nicht nur in Verbindungen wie Ehrenmord eine mehr als problematische Wieder-auferstehung.

Mit Blick auf solche Beispiele stellt sich die Frage, wie die Linguistik da-mit umgehen soll (und kann): In der Etymologie, der historischen Semantik

1 Vgl. Fix (1997/2014: 218 ff.). Ich danke Ulla Fix für viele entscheidende Anregungen zu diesem Beitrag.

und in der Begriffsgeschichte (vgl. die Ausführungen weiter unten) sind Ana-lysen von Wort- und/bzw. Begriffskarrieren anerkannte Forschungsgegenstän-de. Auch in der synchronen Linguistik werden Wort- und Begriffskarrieren ansatzweise erfasst, zum Beispiel bei Neologismen (vgl. Steffens/al-Wadi 2013, Wortwarte), die heute aufgrund korpuslinguistischer Methoden früher ent-deckt und in ihrem Gebrauch leichter nachverfolgt werden können. Den-noch sind Neologismen, aber auch absterbende Wörter bislang randständige Forschungsgegenstände in der Linguistik, von Wörtern und Wendungen ganz zu schweigen, deren Gebrauch konjunkturell schwankend ist. Dass Wort-karrieren und -konjunkturen in den Medien oder in der Publizistik ebenso wie in der Laienlinguistik (Antos 1996) mitunter auf großes Interesse stoßen, scheint dabei ihrer seriösen Erforschung eher im Wege zu stehen. Das sol-che Wortkarrieren gar theoretissol-che Fragen aufwerfen, mag daher mansol-chen überraschen: Verbindet das Comeback von Heimat, Schallplatte oder Ehre etwas miteinander und wenn ja, was sind die entscheidenden theoretischen Gründe dafür? Oder: Kann man davon sprechen, dass solche Ausdrücke im Sinne der Stilistik eine bestimmte, sich womöglich ändernde „Konnotation“

aufweisen. Heimat und Ehre waren sicherlich einmal „Hochwertwörter“, aber sicherlich nicht Schallplatte, Video oder schwul bzw. lesbisch. Kann man daraus folgern, dass Wortkarrieren und -konjunkturen nicht in jedem Fall stilistisch als „Konnotationen“ erfassbar und wenn doch, dann in welchem Sinne von

„Konnotation“?

Bei anderen damit verwandten Forschungsfragen zum Thema Seman-tik, Mentalität und Sozialstruktur sieht es in der Linguistik besser aus: Einen Zugang bieten Wortkarrieren und -konjunkturen, die als Resultate von „se-mantischen Kämpfen“ oder Sprach-Normierungskonflikten (Felder 2010) 2 aufgefasst werden können. Mit Blick auf Foucaults Dispositiv-Begriff hebt Felder hervor, dass in Diskursen „Macht, Recht und Wahrheit miteinander verknüpft und Praktiken institutionalisiert“ sind:

Mit „Dispositiv“ ist hier eine Akzeptanzvorkehrung für bestimmte Verhaltensweisen, Dis-kurse, Selbstverhältnisse, Wissensformationen etc. gemeint. Das Dispositiv (…) bündelt bzw. funktionalisiert außerordentlich heterogene Elemente wie Gesetze, Diskurse, (staat-liche) Subventionen etc. und fungiert als Analysebegriff, mit dessen Hilfe man erfahren möchte, wie sich eine bestimmte Praxis etablieren konnte und was für Effekte sie ermöglicht.

2 „Der Terminus „Semantischer Kampf“ wird in der politisch interessierten Sprachwissenschaft schon seit einiger Zeit verwendet, aber auch die begriffsgeschichtlich interessierte Geschichts- und Politikwissenschaft arbeitet mit ihm, ebenso wie die auf praktische Macht- und Interessendurchsetzung ausgerichtete Politik“ (Felder 2010: 549).

Durch das Dispositiv wird den Individuen die Aneignung von Wissen ermöglicht, das sie benötigen, um sich auf eine bestimmte (nützliche) Weise zu sich und zur Welt zu verhal-ten. Ein grundlegendes Medium von Dispositiven ist Sprache. (Felder 2010: 550)

Hier gilt natürlich auch die Umkehrung: Sprache beeinflusst die Entwick-lung von Dispositiven nicht zuletzt durch den Wandel von Bedeutungsnu-ancen bis hin zum Bedeutungswandel von Wörtern und Wendungen. Daher soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob wir nicht so etwas wie eine „Sub-Semantik“ postulieren müssen, die die subkulturellen, subkuta-nen, womöglich auch die „subversiven“ Bedeutungsnuancen von Worten und Wendungen unter bestimmten Fragestellungen erforscht sowie deren Verän-derungen, etwa bei Wortkarrieren oder -konjunkturen.