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Geisteskultur. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben, 1924, 33. Band, Heft 7-9

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(1)

<$ciftogfultuc

M onatshefte der Comenius» Gesellschaft

für

Geisteskultur und Volksbildung

H e r a u s g e b e r :

Dr. Artur Buchenau

33. Jahrgang Siebentes bis neuntes Heft

S c h r i f t l e i t e r :

Dr. Georg Heinz

Jährlich 12 Hefte

August-Oktober 1924

I n h a l t :

S e it e

M a c u s e , A d o l f , Friede auf E r d e n ... 201

M e s s e r , A ug., Kant und die geistige Krisis der G e g e n w a r t . . 203

S a l i n g e r , R., Lessing und N i e t z s c h e ... 220

V a e r t i n g , M a t h i l d e , G egenw artsfragen der Frauenbildung . 228 M i e 's e s , M a t t h i a s , Konfessionelle I n t o l e r a n z ...240

O b e n a u e r , K. J., Das Märchen des Novalis von Eros und Fabel 254 B u c h e n a u , A., Zur philosophischen Literatur der Gegenw art 280 W a g l e r , Die G egner der F r e i m a u r e r e i ... 287

S treiflichter... ... 291

Erlesenes aus alten und neuen B üchern... ... . 297

B ü c h e r b e s p r e c h u n g e n ... 299

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C O M ENI U S - G E S E L L S C H A F T

fiirGeiSteskultur und V olksbildung.

Beg r . 1892 von Geh. A r c h iv r a t Dr. I i u d w i s K e l l e r V or s it z e n d e r: t. s t e llv. V o r s it z e n d e r : 2 . st e ll v . V o r s it z , und Guschäftsf.:

S t a d t s c h u l i a t Dr. Buchenau Obe rstudiendir. Dr. Arnold Reimann Alfred Unger, V p i la g s b u e h h ä n d l e r Oh arl ot ten bg. 5, S ch lo ß s tr . W \V B5 . B lu m e s h o f 15 B er lin 0 2 , S p a n d au er Str. 22

D i e M itg lie d s c h a ft w ird in n erh a lb D e u ts c h la n d s , der F r e ie n S t a d t D a n z ig un d des M e m e lg e b ie ts d u rch E in z a h lu n g v o n 20 G old m ark erw o rb en . D ie B e it r a g s ­ z a h lu n g k a n n e rfo lg e n :

1. a u f das K o n to der C o m e n iu s -G e se lls c h a ft b. d. P o s ts c h e c k a m t B e rlin N r .2 1 2 9 5 . 2 d irek t an d ie G e s c h ä fts s te lle der C.-G. in B e r lin 0 2, S p an d au or Str. 22.

3. b e i jede)- B u c h h a n d lu n g in F orm d es Z e its c h r ift-A b o n n e m e n ts.

F ü r das A u s l a n d ist der M itg lie d s b e itr a g e in s c h lie ß lic h P o rto w ie fo lg t fe s tg e s e l v.\ :

24

G o ld m a ik —

6

D o lla r —

27

F rs.

D ie M itg lie d e r erh a lte n d ie Z e its c h r ift k o s t e n l o s S ie e r s c h e in t jä h rlich e tw a in 12 H efte n im U m fa n g e v o n je 2 — 3 B o g e n . D ie H e f t e s in d a u ch e in z e ln k äu flich .

B e i d irek ten Z a h lu n g e n v o n

Behörden

oder

Vereinigungen

an d en V erlag, d ie für an d ere E m p fä n g e r g e le is t e t w e rd en , is t zu r V e r m e id u n g v o n M iß v er­

s tä n d n is s e n u n d k o s ts p ie lig e n R ü ck fra g e n d ie A n g a b e

dringend

erford erlich , für w e n d ie Z a h lu n g g e lte n so ll.

D ie Z e its c h r ift w ir d in D e u ts c h la n d und au ß erh alb D e u ts c h la n d s u n te r K reu z­

band v ersa n d t. K e in P o s tb e z u g . G e n a u e A n s c h r ifts a n g a b e n u n bedingt, n ö lig !

Eine neue Einrichtung der Comenius-Gesellschaft

M itg lied er, w e lc h e e in e n J a h r e s b e itr a g v o n M. 50,— , a lso M. 30.—

üb er d en g e w ö h n lic h e n B e itr a g h in a u s z a h len , w e r d e n in d en L iste n der C.-G. an e rster S te lle als

„ F ö r d e r e r “

der C.-G. g efü h rt. D ie s e F örd erer e rh a lte n für d a s M ehr v o n M. 30.—

r e c h tz e itig v o r d em W e ih n a c h ts fe s t, e in e L is t e v o n e tw a 3 —4 h erv o r­

r a g e n d e n u n d a u c h im P r e is e g le ic h w e r t ig e n W e r k en , d ie ih n e n d ie C.-G. a ls J a h r e s g a b e zu r A u s w a h l zu r V e r fü g u n g s te llt. D er der G e s e lls c h a ft e t w a v e r b le ib e n d e U e b e r s c h u ß w ir d u n se r e r Z e its c h r ift z u g u t e k o m m en , die sic h , w ie w o h l je d e s u n se r e r M itg lied er erk en n en w ird , im la u fe n d e n J a h r d u rch d ie G e d ie g e n h e it ih rer D a r b ie tu n g e n , qn d ie erste' S te lle der g e is t e s w is s e n s c h a f t lic h e n B lä tter g e s t e llt h at.

V o m n e u e n J a h r g a n g an h o ffe n w ir u n se r e n tr eu en L e se rn n o cli a n d ere N e u -E in r ic h tu n g e n zu b ie te n . J e d e n fa lls w ir d u n se r B e m ü h e n darau f g e r ic h te t se in , d ie Z e its c h r ift r e g e lm ä ß ig m o n a tlic h e r s c h e in e n z u la s s e n u n d so o ft w ie e s a n g e h t, m it d e m B ild n is e in e s u n se re r A u to re n 'z u sc h m ü c k e n .

Wir bitten die Vermögenden unter unseren Mitgliedern, uns statt des einfachen Mitgliedsbeitrages

den Fördererbeitrag zu schicken.

Verlag von A L F R E D U N G E R , B E R L I N C 2, Spandauer Straße 22

D em H e ft lie g t j e ein P r o s p e k t des V e r la g e s K u r t S t e n g e r in E r f u r t un d des V e r la g e s E . A . S e e m a n n in T jeipzlg hei.

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(Seilhgfultuc

M onatshefte der C om enius-G esellschaft für Q eisteskultur und Volksbildung

Schriftleitung:

D r . A r t u r B u c h e n a u

Hln.-Charlottcnburg, Scblofistr. 46

D r . G e o r g H e i n z

Berlin O 34, "Warschauer Str. 63

V erlag von

A lf r e d U n g e r , B e r lin C 2

Spandauer Straße 22

J ä h r l. ca . 12 H e fte Gm .20.-

F i i r d a s A u s l a n d M. 24.—

3 3. J a h r g a n g 1 9 2 4 Siebentes bis neuntes Heft

Friede auf Erden.

Ein Zukunfts-Ideal von Univers.-Prof. Dr. A d o l f M a r c u se .

berühmter Dichter verglich einmal sinnig und pessi­

mistisch zugleich das Ideal mit einem Stern, so weit von der Erde entfernt, daß sein Licht erst dann zu unserem Planeten gelangt, wenn die letzten Menschen leben. Und er schloß sein Gedicht mit dem Wunsche: Wann dieser schönste und fernste aller Sterne einmal leuchtet, verkündet ihm, ihr Letzten des Menschengeschlechts, wie sehr ich ihn liebte.

Ein solches Ideal ist nach Ansicht vieler auch der ewige Friede, dessen Segnungen erst den letzten Menschen auf Erden zuteil werden sollen. Denn, leben heißt kämpfen, und Friede bedeutet Ruhe nach dem Kampfe. So wäre denn der Friede nur eine Fata morgana, die täuschend aus der Ferne lockt, in der Nähe aber zerfließt wie ein Phantom. Dies ist jedoch nur scheinbar der Fall, und es hält vor strenger Kritik nicht Stand.

Wenn auch leben kämpfen heißt, so müssen doch vor allem die W a f f e n maßgebend sein, mit denen gekämpft wird. Sind es Waffen des G e i s t e s und der G e d a n k e n , so bedeutet Friede in der Tat die lebensvernichtende Ruhe des Todes. Handelt es sich jedoch um materielle Waffen der G e w a l t , so wirkt der Friede wie eine segens­

reiche Befruchtung aufbauenden Lebens. In solchem Sinne ist Friede gemeint, wie er auf Erden sein Echo finden soll. Es sei ein Friede, der alle Menschen über dem Erdenrunde brüderlich eint, ohne ihre

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geistigen Verschiedenheiten auszugleichen, oder ihre seelischen Kräfte einzuschlummern. Sie sollen vielmehr im gegenseitiger, ehrlichen Kampfe für alles Wahre, Gute und Schöne unsere Erkenntnis fördern und unsere Lebensziele erhöhen.

So aufgefaßt, wird das Symbol des Friedens zum gigantischen Leuchtturm, der weithin über alle Grenzen der Völker sein mildes Licht ausstrahlt. Aber nicht nur über Nationen und Rassen hinweg sollte ein gesunder Friede sich ausbreiten, frei von verschwommenem Inter­

nationalismus und erhaben über engherzigem Chauvinismus. Noch viel mehr muß geschaffen werden! Auch im engeren Rahmen der K o n ­ f e s s i o n e n und innerhalb der Stände muß ein strahlendes Wahr­

zeichen des Friedens aufgerichtet werden, ohne das die Menschheit niemals eine Bruderkette werden kann.

Das aber ist heilsam, für den Fortschritt der Menschheit sogar unbedingt notwendig. Denn, mag man Religion im philosophischen, moralischen oder auch im kirchlichen Sinne auffassen, immer bleibt es ihre vornehmste Aufgabe, den Menschen nach Wort, Tat und Ge­

danken wahrhaft gut und edel zu formen. Und dieses hohe Ziel ist denn auch allen Religionssystemen innerlich gemeinsam, mögen ihre äußeren Schalen noch so verschiedenartig sein.

Nicht im erhaben-großzügigen Wesen oder im eigentlichen Kern der Religion, sondern in einer oft engherzig konfessionellen Auslegung liegt die Ursache dafür, daß noch immer religiöse Kämpfe die Menschen entzweien. Sonst hätte ihr Blick auf das gemeinsame, hohe und edle Ziel längst alle Erdenbewohner einigen müssen.

Die großen Religionsstifter, sollten sie heute nochmals auf die Welt kommen, würden jede Kirche und jeden Tempel auf v i e r Säulen errichten, die über den Fundamenten der W e i s h e i t , S c h ö n h e i t , S t ä r k e und D u l d u n g ruhen müßten. Und diese vier Säulen ließen sie schrankenlos überstrahlen von dem schützenden und leuchtenden Dache allgemeiner M e n s c h e n l i e b e , die das Trennende im Leben des einzelnen wie der Gesamtheit weitherzig versöhnt, die jedes Erden­

kind großzügig nach der Summe seiner Eigenschaften beurteilt.

In solchem Sinne sollte jede Kirche und jeder Tempel wirken, walten und arbeiten, um ein Friedenshaus zu sein, das wertvoll zur Urbarmachung der W<jlt beiträgt. Nur so werden die von Menschen­

hand, also sinngemäß in engen Grenzen, erbauten Kirchen, ebenso wie der in des Weltalls unendliche Weiten reichende Himmelsdom versöhnend über allen Menschen leuchten und dazu beitragen, daß die Bewohner dieser Erde wirklich „ein einzig Volk von Brüdern“

werden. —

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203

Kant und die geistige Krisis der Gegenwart.

Von Universitätsprofessor Dr. A ug. M esser.

In der Gegenwart ist es vielen zweifelhaft geworden, ob nicht die überkommene Ansicht von dem „sittlichen B eruf“ und der dam it ver­

knüpften „W ürde“ des Menschen leere W orte seien, ob nicht die Menschen völlig abhängig seien, von überm ächtigen F aktoren, wie Rasse, B lut, wirtschaftlichen Verhältnissen, so daß ihnen freie Selbstbestim m ung nicht eigentlich zugesprochen werden könne. Angesichts der weittragenden Bedeutung solcher Zweifel, die ja auch die religiösen Überzeugungen in ihren Grundfesten erschüttern, darf von einer ^geistigen K risis“ der Gegen­

w art gesprochen werden.

Sie entspringt aber hauptsächlich aus jener Ü berspannung n a tu r­

wissenschaftlicher Betrachtungsweise, die man als „N aturalism us“ bezeichnen kann. Wie m ächtig dieser N aturalism us auf uns einwirkt, offenbart sich in mancherlei Erscheinungen, so in einer w eitverbreiteten „Lebensphilo­

sophie“ , die dazu neigt, im Leben, auch im geistigen Leben, nur einen N aturvorgang zu sehen; so in dem riesenhaften Erfolg des Werkes von Oswald Spengler, der alles Geistes- und K ulturleben lediglich als einen naturgesetzlichen Prozeß gleich dem Pflanzenleben d eu tet; so darin, daß sich naturalistische Theorien wie der „historische M aterialismus“

und die Rassetheorie bei uns breitm achen, die unsere Arbeit an der L äu te­

rung und Erneuerung deutschen Wesens aufs schwerste hemmen und gefährden.

N un h a t nach unserer Ansicht K a n t den N aturalism us bereits g ru nd ­ sätzlich überwunden. K a n t darf und m uß also zu Hilfe gerufen werden, wenn wir uns aus dieser geistigen Krisis herausarbeiten wollen, in die uns der N aturalism us gestürzt hat.

I. K a n t a ls Ü b e r w i n d e r d e s N a t u r a l i s m u s .

ie streng sachliche, gleichsam unpersönliche Darstellungs- weise der H auptw erke K ants bedingt es, daß wir erst mühsam und nach langem, eindringendem Studium zur Einsicht gelangen, daß auch diese W erke herausgeboren sind, aus den geistigen N öten einer lebendigen, tief fühlenden Menschenseele.

Es ist bekannt, daß dem Erscheinen der „K ritik der reinen V ernunft“

1781 eine „schöpferische Pause“ in dem schriftstellerischen Schaffen K a n ts von m ehr als zehn Jah ren vorausging. Briefliche Äußerungen aus dieser Zeit aber offenbaren uns, daß K a n t dam als nicht n u r m it rein theoretischen U ntersuchungen über Wesen und Tragweite unserer Erkennt*

nis beschäftigt war, sondern daß er um die Grundlagen seiner ganzen W elt- und Lebensanschauung, um die Überzeugung von G ott, Freiheit und Unsterblichkeit, gerungen hat. W enn er nun zu der Einsicht kam , daß

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die Geltung dieser Überzeugung nach dem Verfahren der bisherigen M eta physik nicht bewiesen werden könne, so stand dam it für ihn auch fest, daß diese Überzeugung auf jenem Wege auch nicht widerlegt werden könne.

Wie sehr er das als positive Leistung im Sinne seiner religiös-sittlichen G rundanschaunug empfand, zeigt seine E rklärung in der Vorrede zur 2. Auflage der V ernunftkritik von 1787: „D urch die K ritik kann nun allein dem Materialismus, Fatalism us, Atheismus, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben, die allgemein schädlich werden können, . . . die Wurzel abgeschnitten werden.“

Wenn er hier an erster Stelle Materialismus und Fatalism us nennt, so v errät dies zugleich, welche geistige Macht er vor allem als seinen Gegner fühlte: es war, m it einem W ort gesagt, der ,,N a t u r a l i s m u s “ .

,.N aturalism us“ ist nicht dasselbe wie „N aturw issenschaft“ ; m an kann die letztere hochschätzen und den ersteren aufs entschiedenste ab- lehnen, wie wir beides auch bei K a n t finden.

Der N aturalism us erwächst aber aus der Schätzung der N aturw issen­

schaft dann, wenn m an zu der Meinung kom m t, die naturwissenschaftliche A rt, die W irklichkeit zu betrachten und zu erforschen, sei die einzige, die den Nam en „wissenschaftlich“ verdiene, m ithin müsse alle Wissen­

schaft nach naturw issenschaftlichen Methoden verfahren; die ganze W irklichkeit sei als „N atu r“ aufzufassen; auch der Mensch sei nichts weiter als ein Naturwesen, ein Erzeugnis der N atu r, und er stehe in allen seinen Lebensäußerungen, auch in seinem Wollen und Handeln, u n ter den N aturgesetzen und ihrer Notwendigkeit, er sei also insofern u n f r e i , eine von der N a tu r unterscheidbare G ottheit gebe es nicht; wenn m an aber an dem Gottesglauben festhalten wolle, so sei eben die N a tu r gleich G ott zu setzen. Deus sive natura, d. h. G ott gleich N a tu r — das war ja bereits Spinozas (f 1677) Form el gewesen.

Schon er h a tte der naturalistischen W eltanschauung die G estalt eines philosophischen Systems von scheinbar imponierender Geschlossenheit gegeben. Noch h atten seine Zeitgenossen dies System als Atheism us überwiegend m it E ntrüstung abgelehnt. Aber je m ehr die von K opem ikus, Galilei, Kepler begründete neuere Naturw issenschaft ihren Siegeszug fortsetzte, von Entdeckung zu Entdeckung fo rtsch ritt und sich durch staunensw erte Erfindungen praktisch bew ährte, um so m ehr wuchs auch die Schar der Anhänger naturalistischer W eltanschauung. H a tte schon der Begründer der neueren Philosophie Descartes (f 1650) unter dem E in ­ fluß jener Naturwissenschaft denV ersuch gemacht, alle Lebewesen, auch den Menschen, nach ihrer körperlichen Seite lediglich als Mechanismen, als „M aschinen“ aufzufassen, so h a tte n manche radikaleren und beschränk­

teren Anhänger n u r noch Blick für die körperliche Seite der W irklichkeit;

der „N aturalism us“ verengte und vergröberte sich so zum „M aterialismus“

und dieser gipfelte schließlich in dem S atze: Auch der Mensch ist bloß eine

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Kant und die geistige Ki*isis der Gegenwart 205 Maschine (wie es der Titel eines Buches des französischen Philosophen La M ettrie besagte: „l’homme m achine“ — erschienen 1748).

Die weltgeschichtliche Bedeutung von K ants „V ernunftkritik“ b e­

steht darin, daß durch sie der N a t u r a l i s m u s a ls W e l t a n s c h a u u n g g r u n d s ä t z l i c h ü b e r w u n d e n ist — bei aller Anerkennung der relativen Rechte naturw issenschaftlicher Forschung.

U nd zwar erfolgt diese Überwindung durch eine entscheidende W en­

dung im philosophischen Denken. In unserem gesamten erkennenden Verhalten lassen sich stets die beiden Momente Subjekt und Objekt — oder (was hier dasselbe bedeuten soll) Ich und Gegenstand (Nicht - Jch), Person und Sache (Ding) — unterscheiden. Von N atur neigt der Mensch dazu, im Gegenständlichen sich gleichsam zu verlieren, in den Dingen au f­

zugehen, und so alles Wirkliche, auch sich selbst (wenn einmal die Reflexion darauf sich richtet), als Sache, als Ding aufzufassen. So war auch die neuere Philosophie vor K a n t im wesentlichen D ing-P hilosophie gewesen.

Descartes h a tte die Seele als „denkendes D ing“ (res cogitans) einfach neben das körperliche Ding (res extensa) gestellt und eine Wechselwirkung zwischen beiden angenommen; Spinoza h a tte die G ottheit m it der allbefassenden dinghaften N a tu r gleichgesetzt, die M aterialisten h atten gar das Vorhanden­

sein besonderer Seelenwesen b estritten und gelehrt, daß die gesamte W irk­

lichkeit lediglich in körperlichen Dingen besteht. So war denn das Ich, das Subjekt, geradezu aus der W irklichkeit hinausphilosophiert worden.

D a brachte endlich K a n t die erlösende W endung, indem er g ru nd ­ sätzlich den S tandort seines Philosophierens im erkennenden Subjekt nahm und so an Stelle seiner Ding-Philosophie eine ,,I c h “ -Philosophie setzte. E r brachte zum Bewußtsein, daß die Dingwelt, die N atur, zunächst und zweifelsfrei ja nur im Bewußtsein des Ich gegeben ist. Indem es die Em pfindungen (die anschaulichen Sinneseindrücke) als geordnet in R aum und Zeit auffaßt und sie als Eigenschaften und W irkungen von Substanzen denkt, schafft es sich gleichsam für sein Bewußtsein eine „ N a tu r“ . W ürde eine solche auch ,,an sich“ bestehen, so würde sie für uns doch nichts be­

deuten, für uns gar nicht da sein, wenn nicht unser Geist die Fähigkeit besäße, aus Sinneseindrücken (die immerhin von „Dingen an sich“ h er­

rühren mögen) sich eine N atu r sozusagen aufzubauen. W ären wir etwa Wesen, die lediglich Em pfindungen (wie Helligkeits-, Farb-, Geruch-, T ast-, Tem peratureindrücke) erleben könnten, so bestände für uns gar keine N atur, keine Dingwelt in bestim m ter gesetzlicher Ordnung, sondern lediglich ein Chaos Zusammenhang- und bedeutungsloser Erlebnisinhalte.

So ist also nicht die Dingwelt das erste, sondern das Ich m it seinem

Wissen um die Dingwelt. Mag es „Dinge an sich“ geben, sie bedeuten

für uns nichts und bleiben uns unerkennbar. Die Dinge, um die wir wissen,

die uns unm ittelbar anschaulich gegeben sind, sind nicht, wie der Naive

m eint, „Dinge an sich“ , sondern „Erscheinungen“ für unser Bewußtsein,

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von diesem nach strenger Gesetzmäßigkeit aus den Em pfindungen kon­

struiert. Eben darum sind sie auch nicht „Schein“ oder Einbildung, sie sind w i r k l i c h , existieren objektiv. Aber O b j e k t i v i t ä t ist eben n ich t eine gleichsam geistesfremde Dinghaftigkeit, brutale, massive M aterialität, sondern G e s e t z m ä ß i g k e i t des Vorstellens.

Das sind alles Sätze, die dem, der m it Philosophie noch wenig v ertrau t ist, höchst verwunderlich Vorkommen. Man kann aber heute, auch bei sonst hoch Gebildeten, nicht allgemein voraussetzen, daß sie m it Philosophie näher v ertrau t sind. E rst in den letzten Jah ren schenkt m an ja wieder dem philosophisch-propädeutischen U nterricht an den höheren Schulen größere B eachtung, aber vielfach fehlt es für ihn an den geeigneten Lehrern.

Daß Studierende, die nicht den Lehr- und etw a noch den Pfarrberuf einschlagen wollen, sich auf der U niversität m it Philosophie beschäftigen, ist eine seltene Ausnahme.

W enn m an aber eine H auptschwierigkeit für eine V erstärkung und Vertiefung des philosophischen Elem ents unserer höheren Bildung darin erblickt, daß es heute so viele und widerstreitende philosophische R ich­

tungen gäbe, so scheint m ir dieses Bedenken wenig zu bedeuten: m an einige sich n ur darauf, die Beschäftigung m it K an ts Philosophie zum wesentlichen In h a lt eines propädeutischen U nterrichts zu machen. Das heißt nicht, K a n t zum allein maßgebenden Philosophen erheben, wohl aber unsere Jugend zu einem Meister in die Schule führen, bei dem sie wirklich philosophieren lernen kann, und durch dessen Philosophie allein der Weg zu einem tieferen Verständnis der heutigen philosophischen Lage führt. K an ts „K ritik der reinen V ernunft“ m üßte jedem wirklich Ge­

bildeten so v ertrau t sein, wie Goethes „ F a u st“ . Aber wie w eit sind wir davon noch entfernt! H a tte n wir doch z. B. bis vor kurzem noch keinen K om m entar dieses K antischen Werkes, der für weitere Kreise verständlich geschrieben war.

Ü berhaupt — wieviel Schätze unserer philosophischen L itera tu r sind noch ungehoben, auch fü r unsere G ebildeten! W ir sind w eit reicher, als wir wissen und ahnen!

Die Beschäftigung m it K a n t ist aber auch deshalb als M ittelpunkt eines propädeutischen U nterrichts geeignet, weil er ja nicht n u r E rkenntnis­

theorie gibt, sondern ein ganzes philosophisches System, wenn sich dieses System ihm auch erst allmählich aufgebaut h at.

Das bedeutsam ste Ergebnis fü r die W eltanschauung, das ihm seine scharfsinnige Zergliederung und „K ritik “ menschlichen Erkennens, ins­

besondere des N aturerkennens ergab, w ar eben die Einsicht, daß dies

letztere n i c h t die W irklichkeit in all ihren Tiefen, daß sie nicht das „Ding

an sich“ erfaß t; daß es n ur Scheinwissen ergibt, wenn m an w ähnt, m it

den Methoden des naturw issenschaftlichen Denkens die Fragen nach

G ott, F reiheit und U nsterblichkeit bejahend oder verneinend beantw orten

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Kant und die geistige Krisis der Gegenwart 207 zu können. „Ich m ußte das Wissen auf heben, um zum Glauben P latz zu bekom m en.“

Dieser Glaube aber gründet sich auf unser s i t t l i c h e s Bewußtsein.

W ir s o lle n — so sagt uns der kategorische Im perativ unseres Gewissens ■ —, also müssen wir auch „ k ö n n e n “ , wir müssen in diesem Sinne f r e i sein.

Dieser F reiheit zum G uten und dam it unserer V erantw ortlichkeit dürfen wir unm ittelbar gewiß sein, denn die E rkenntniskritik h a t uns ja überzeugt, daß wir nicht, wie der Augenschein predigt, lediglich ein winziges N a tu r­

ding u n ter weit überlegenen Massen sind, gleich ihnen der blinden N a tu r­

notwendigkeit unterliegend, sondern daß wir ein g e i s t i g e s Wesen sind;

daß aber der Geist nicht ein Nebenergebnis des Naturprozesses ist, son­

dern die ganze N a tu r „m it ihren Sonnen- und M ilchstraßen“ ein Erzeug­

nis und In h a lt des Geistes.

So kann uns nicht die Erforschung der N atur, der Dingwelt, die letzten Aufschlüsse geben über die Tiefe der W irklichkeit und ihren Sinn; der Geist muß diese Lösung der W elträtsel aus sich selber schöpfen. N icht unser Wissen, nein, unser Gewissen h a t hier das letzte W ort zu sprechen.

Es versichert uns, daß sittliches H andeln der höchste Sinn unseres Daseins ist, und daß unsere Sehnsucht nach sittlicher Vollkommenheit und nach Glück, im Diesseits stets unbefriedigt, in einem Jenseits durch eine gerechte G ottheit ihre Erfüllung findet.

Aber ist dieser In h a lt des K antischen Vemunftglaubens nicht auch der wesentliche In h a lt des christlichen Glaubens ?!

II. K a n t a l s P h il o s o p h d e s L e b e n s , m philosophischen Denken der Gegenwart kom m t der Begriff

des Lebens so stark zur Geltung, daß m an starke Ström ungen IM n r l ^ er heutigen Philosophie geradezu als „Philosophie des In lu n I^ b e n s“ bezeichnet h a t (vgl. Heinrich R ickert, Die Philo- JLe!— sophie des Lebens, Tübingen, Verlag Mohr, 1921 u. ö.).

Es mag darum erlaubt sein, K a n t im Lichte dieses Begriffes zu betrachten.

Gewiß werden wir dam it seine B edeutung für die Gegenwart nicht e n t­

fernt erschöpfen. Aber wenn es sich zeigen sollte, daß wir bei ihm auch Aufschluß finden können über Fragen, die aus so ganz „m odernen“ A n­

schauungen und Problemstellungen erwachsen, dann wäre das ein besonders einleuchtender Beweis, daß K a n t für uns nicht bloß eine geschichtliche Größe, sondern ein „ L e b e n d e r “ ist.

Freilich — vergewaltigen wir K a n t nicht, wenn wir seine Philosophie unter den Begriff der Lebensphilosophie rücken ? Tragen wir nicht k ü n st­

lich etwas in ihn hinein, was ihm fremd ist ? So könnte es in der T a t scheinen, wenn die Auffassung zutreffend wäre, die m an vielfach von K a n t hat. „Verwachsener Begriffs-Krüppel“ so schm äht ihn der „Lebens­

philosoph“ Nietzsche. U nd viele, die nicht so respektlos von ihm denken

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und reden, werden doch der Meinung sein, er stelle den Typus des durchaus lebensfremden, abstrakten, weitabgewandten Denkers dar. Allerdings darüber war sich K a n t immer im klaren ■ — was bei m anchen unserer philosophierenden Jünglinge heute nicht der Fall ist — , daß m an zum Erkennen seinen — V e r s t a n d gebrauchen müsse, daß unklare Gefühle plötzliche Schauungen („Intuitionen“ ) zwar wertvolle Vorstufen echter E rkenntnis sein können, aber solche E rkenntnis erst werden, wenn sie in kritischer Prüfung sich bewähren. Auch bildet gerade die Erkenntnis selbst ihr Wesen, ihre Tragweite und Geltung den Gegenstand seines bekanntesten Werkes, der „K ritik der reinen V ernunft“ . Solche Reflexion über das Erkennen selbst ist gewiß ein lebensfremdes Tun, das sich weit über alles naiv-natürliche Leben und Erleben erhebt. Aber gerade, indem sich K a n t in einer unerhört abstrakten D enkarbeit zur vollen K larheit über das Erkennen durchgerungen hat, ist ihm auch die Einsicht au f­

gegangen, daß menschliches Geistesleben weit m e h r ist, als bloßes E r­

kennen, daß dieses n u r e in e , und nicht einmal die höchste von den F u n k ­ tionen des Geistes ist, daß somit das Erkennen im Geistesleben wurzelt und ihm zu dienen hat.

Vom „ G e is te s le b e n “ rede ich dabei, denn jene R ichtung der Lebens­

philosophie die im „Leben“ vor allem den a n i m a l i s c h e n Prozeß sieht und schätzt und dessen Gipfelpunkt im Sexuell-Erotischen erblickt — sie kann sich freilich auf K a n t nicht berufen. Zwar liegt ihm alle

„Sinnen“ -Feindschaft fern; in seiner Anthropologie liefert er geradezu eine „Apologie der Sinnlichkeit“ . Ihm gilt eben das Sinnliche, d. h. der Inbegriff der Em pfindungen und Neigungen, als etwas einfach N a tu r­

gegebenes— d ie sse its von „G ut und Böse“ — ohne das wir gar nicht leben, erkennen und handeln könnten. D aran freilich h ält er fest, daß alles Sinnliche, wie überhaupt alles N aturgegebene für das Geistesleben nur Stoff, zu bearbeitender, zu formender, zu beherrschender Stoff sei.

Philosoph des Lebens also ist K a n t nie im Sinne des bloß anim alisch­

sinnlichen, aber in dem des g e is tig - s in n lic h e n Lebens.

Die tiefste und wertvollste Tendenz unseres Lebens aber sieht er nicht in dem E rkenntnistrieb, sondern in dem D rang nach s i t t l i c h e r Betätigung.

Das eben bedeutet seine Lehre vom „P rim at (Vorrang) der p r a k t i s c h e n V ernunft“ ; sie e r h e b t ih n ü b e r a l le n l e b e n s f r e m d e n „ I n t e l l e k ­ t u a l i s m u s . “ *

Übrigens sollten doch alle, die m it diesem Schlagwort heute so gerne arbeiten, nicht übersehen, daß auch der In tellekt eine — L e b e n s fu n k tio n ist. Es wäre eine trostlose Verkümmerung des Lebens selbst und der von ihm geschaffenen K ultur, wollte m an die B etätigung des Intellekts m ißachten und hemmen. D arin freilich h a t der K am pf gegen den soge­

nannten Intellektualism us recht, daß der In tellekt nicht die Führung

haben kann. Das ist aber auch K ants tiefste Überzeugung. Sein jah re­

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Kant und die geistige Krisis der Gegenwart 209 langes Nachdenken über den Intellekt und dessen große Leistung, die

Erkenntnis, wurzelt gar nicht in einem intellektuell-theoretischen, sondern in einem praktisch-sittlichen Interesse. E rst von K a n t als sittlich ringendem Menschen aus versteht m an K an t, den großen theoretischen Denker;

erst das tiefste Anhegen des sittlich-religiösen Erlebens gibt uns den Schlüssel zu seiner Erkenntnistheorie. — Von diesem Gesichtspunkt aus habe ich es versucht, das Verständnis für K ants System zu erschließen in meinem 1924 erschienenen Buche ,.K ants Leben und Philosophie“ , S tu ttg a rt, Verlag Strecker & Schroeder. —

Jenes tiefste Anliegen aber ist der Glaube an Freiheit, G ott und Unsterblichkeit. Ohne Freiheit kann es überhaupt keine Sittlichkeit geben; völlig auf das diesseitige Leben beschränkt aber m ag sittliches Streben leicht als ein ganz hoffnungsloses Beginnen erscheinen angesichts unserer Schwäche und der überwältigenden W iderstände.

Indessen, ist jener dreifache Glaube nicht fromm er W ahn ? H a t die Naturwissenschaft nicht bewiesen, daß es keine Freiheit gibt, daß alles Geschehen, auch das menschliche Wollen notwendig erfolgt; daß ferner alle W irklichkeit „N atur" ist und für ein „Jenseits“ keine Stelle bleibt?

Is t dieses Bedenken berechtigt, so bricht das F undam ent von K ants Persönlichkeit und Philosophie, seine sittlich-religiöse Überzeugung zu­

sammen. Aber doch darf er es nicht einfach abweisen; das verbietet ihm seine intellektuelle Redlichkeit; er muß geistig, einsichtig, darüber Herr werden. U nd so ei wächst ihm hier, an diesem innersten Problem seines geistigen Lebens, seine „kritische“ Philosophie; und von hier aus verstehen wir auch seine „K opem kus-T at“ , die „R evolution der D en kart“ , die ihm die Überwindung jenes Bedenkens ermöglicht. W orin aber be­

steht sie ?

Nach der gewöhnlichen „naiven“ Auffassung ist die N atu r als Gegen­

stand unserer Erkenntnis — „Ding an sich“ , d. h. etwas absolut, ohne unser Z utun fertig Existierendes, das wir im Erkennen aufnehmen, gleichsam abbilden, wie es an sich ist. I s t a b e r a lle W i r k l i c h k e i t „ N a t u r “ , so i s t F r e i h e i t n i c h t zu r e t t e n .

Jedoch nun zeigt K a n t in seiner „K ritik der reinen V ernunft“ , daß die N atu r ala Objekt unseres Erkennens nicht „Ding an sich“ ist, sondern eine W elt der „Erscheinungen“ und dam it gleichsam nur eine bestim m te Seitenansicht der W irklichkeit, die — in sich berechtigt — doch nicht die letzten Tiefen der W irklichkeit erschöpft. Diese „Seitenansicht“

aber schaffen wir selbst, indem wir das in der sinnlichen Erfahrung Ge­

gebene von bestim m ten G esichtspunkten her, von einer bestim m ten

nneren „Einstellung“ aus auffassen und deuten. Jen e „ E i n s t e l l u n g “

aber ist das, was in K an ts Sprache das „a p r i o r i “ heißt. Von ihr aus

gesehen, stellt sich uns erst die W irklichkeit als „ N a tu r“ d ar; in diesem

Sinne richtet sich unser Vorstellen nicht nach dem Gegenstand, sondern

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der Gegenstand nach dem Vorstellen, sofern wir durch eine bestim m te A rt des Vorstellens der Fragestellung oder D eutung die ,,N a tu r“ aus dem Gegebenen für uns erst schaffen.

Diese t h e o r e t i s c h e geistige Einstellung aber, der sich die W irklichkeit als „ N atu r“ m it ihrem Gesetz der Notwendigkeit darstellt, ist n u r e in e Funktionsweise des geistigen Lebens, neben ihr entb lü ht diesem Leben die ä s t h e t i s c h - k ü n s t l e r i s c h e F unktion, und über beiden w altet die s i t t l i c h - r e l i g i ö s e , der eine W irklichkeit höheren Rechtes entspricht, als der theoretisch-naturwissenschaftlichen. Denn so berechtigt es ist, daß ich den Erfahrungsbereich als „N atu r“ betrachte und mich selbst als N aturw esen ansehe und erforsche, so habe ich doch die moralische Ge­

wißheit, daß ich selbst nicht b lo ß Naturwesen, sondern f r e i u n d s i t t l i c h v e r a n t w o r t l i c h b in . Daß es eine N atu r für uns gibt, wurzelt selbst in einer F reiheitstat des menschlichen Geistes. Dieser aber ist nach seinem tiefsten Wesen nicht ein mechanischer Prozeß, sondern s c h ö p f e r i s c h e s L e b e n , das auf seine unendliche Fortentw icklung — im Gegensatz zu allen „U ntergangs“ -Propheten — vertrauen darf, weil die ihm selbstent­

stam m ende Idee des Unendlichen und Vollkommenen ihm voranleuchtet, die es an treib t, über jede erreichte Stufe in Faustischem Drange wieder hinauszustreben. So ist auch für K a n t wie fü r Nietzsche das Leben etwas, das sich selbst überwindet und über sich selbst hinaussteigt. Freilich, bei jenem Höhersteigen m uß das n atu rhafte Ich, „der dunkle D espot“ , sterben, um als geistiges Ich, als sittliche Persönlichkeit neu geboren zu werden. So ist K a n t „Lebensphilosoph“ im Sinne des Jesus-W ortes:

„W er sein Leben verliert, der wird es gewinnen.“

II I. K a n t u n d S p e n g le r .

ollte jem and der Meinung gewesen sein, daß durch die R ück­

wendung zu K a n t , die sich in unserer Philosophie seit den sechziger Jah ren des 19. Jah rh u n d erts vollzogen h at, die H errschaft des n a t u r a l i s t i s c h e n Geistes endgültig ge­

brochen worden sei, so konnte er durch den gewaltigen E r­

folg des Werkes von Oswald S p e n g l e r eines Besseren belehrt werden.

Der erste Band von Spenglers „U ntergang des Abendlandes“ , der im Sommer 1918 erschienen war, h a tte tro tz seines Umfangs und hohen Preises bereits im Mai 1922 eine Auflagenhöhe von 53 0001) erreicht;

der dam als erscheinende zweite B and wurde sogleich in einer Auflagenhöhe von 50 000 gedruckt. Damals w ar auch bereits über Spengler eine ganze L iteratu r erschienen.2)

*) Er wurde alsdann von Spengler umgearbeitet.

a) Einen guten Überblick darüber gibt die Schrift von Manfred S c h r ö te r ,

„Der Streit um Spengler“, München (O. Beck) 1922.

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Kant und die geistige Krisis der Gegenwart 211 Gewiß war der Erfolg durch äußere U m stände gefördert worden.

Ein gut gewählter Titel trä g t immer erheblich zum Erfolg eines Buches bei. Der Titel „U ntergang des Abendlandes“ wirkte aber nicht n u r an sich sensationell, er gab auch treffend die Stim m ung wieder, die bei uns nach den K atastrophen vom H erbst 1918 herrschte. Man beachtete dabei nicht, daß der Titel gar nicht einen katastrophalen Vorgang bezeichnen sollte, sondern ein langsames, jahrhundertelang währendes Versiegen wirklich kulturschöpferischer K räfte; m an sah auch darüber hinweg, daß dieser Titel nicht den eigentlichen Gedankengehalt des W erkes er­

kennen ließ, sondern nur eine Folgerung daraus, daß vielmehr der U n ter­

titel ,,Umrisse einer Morphologie der W eltgeschichte“ den wahren Titel darstellte. Aber dieser, auf ein rein „gelehrtes“ W erk hindeutend, h ä tte seine Verbreitung sicher sehr erschwert.

Endlich soll nicht im geringsten b estritten werden, daß die gewaltige Wirkung des Buches durch wirklich hohe Vorzüge des Werkes — wenn auch wesentlich solche formal-künstlerischer A rt — begründet w ar und ist.

Es bekundet eine bewunderungswürdige Fähigkeit geistreicher, fesselnder, ja packender D arstellung; ein nicht m inder hohes Vermögen, ungeheure Massen gelehrten Stoffes in die Beleuchtung weniger, in sich geschlossener philosophischer Grundgedanken zu rücken. So ist Spenglers Erfolg zu erheblichem Teil ein — K ü n s tle re rfo lg !

Eine ganz andere Frage ist nun freilich die, ob der hohen F o r m ­ vollendung des Werkes der W ert seines I n h a l t s entspricht. Diese Frage aber m uß entschieden v e r n e i n t werden. D a Spengler sowohl zu zahl­

losen Problemen der Fachwissenschaften Stellung nim m t, wie andererseits als Philosoph eine ganz bestim m te W eltanschauung v e rtritt, so m uß auch die K ritik sowohl eine f a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e wie eine p h i l o ­ s o p h is c h e sein.

Auf die e r s t e r e soll hier n i c h t eingegangen werden; es mag der Hinweis genügen, daß die F achkritik den Verfasser eine Menge von Flüchtig­

keiten, Unkenntnissen, künstlichen und gewaltsamen Deutungen des historischen Stoffes nachgewiesen hat.

Aber solche Fehler im einzelnen würden den W ert des Werkes noch nicht entscheidend beeinträchtigen, wenn wirklich die p h i l o s o p h i s c h e n Grundanschauungen Anerkennung verdienten. Indessen, das Gegenteil ist der Fall. Aus Spenglers n a tu ra lis tis c h e r W e lta n s c h a u u n g folgt notwendig, wie wir d artu n werden, seine hoffnungslose, lähmende „U ntergangs­

stimm ung“ , deren V erbreitung unserem deutschen Volke gerade in seiner gegenwärtigen schweren Notlage verhängnisvoll werden m üßte.

Aber philosophische Grundanschauungen werden nicht dadurch wirklich überwunden, daß m an auf ihre bedenklichen, ja verderblichen Konsequenzen hinweist. Sie müssen in ihren W urzeln als krank d ar­

getan werden.

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Zum geistigen K am pf gegen Spenglers N a t u r a l i s m u s und P e s s i ­ m is m u s können wir aber keinen stärkeren Bundesgenossen aufbieten als den großen V ertreter des I d e a l i s m u s und ethischen O p tim is m u s : I m m a n u e l K a n t.

Man vermeine ja nicht, daß wir K ants in diesem Zusammenhange deshalb gedenken, weil die äußere Tatsache, daß er vor zw eihundert Jah ren geboren ist, seinen Namen zurzeit in aller Munde bringt. — Unsere ehrliche und wissenschaftlich begründete Überzeugung ist vielmehr die, daß K a n t in der geistigen Krisis und seelischen N ot der Zeit, die nicht in letzter Linie gerade in jener Sinnesart wurzelt, die im Menschen n u r das N a t u r - wesen sieht, unserem Volke unendlich viel Klärendes, Befreiendes, E r­

hebendes bieten könne. Denn darüber wollen wir uns keinen Selbst­

täuschungen hingeben: die vielerwähnte W endung unserer Philosophie

„Zurück zu K a n t!“ ist bisher noch kaum über Fachkreise hinausgedrungen.

Wollen wir nu n den zahlreichen Kantfeierri, K antreden und K antaufsätzen dieses Jahres eine wirklich tiefe und dauernde B edeutung zumessen, so kann es n ur d ie sein, daß dieses K antgedenkjahr eine neue Epoche ein- leitet, in dem Verhältnis unseres Volkes zu K ant. W ar es bisher nur G e le h rte n s a c h e , die W irkung seines Geistes zu verspüren, so m uß es nunm ehr V o lk s sache werden. Da aber K an ts Werke selbst dem Volke unzugänglich bleiben werden, so m uß es als eine bedeutsam nationale Aufgabe unserer „Philosophen von F ach“ bezeichnet werden, K ants W elt- und Lebensanschauung möglichst weiten Kreisen unseres Volkes verständlich und wirksam zu m achen und ihnen zu zeigen, wie von dieser Anschauung aus zu brennenden Fragen der Gegenwart Stellung genommen werden kann, wie von ihr aus schwer lastende Probleme ganz „m oderner“ A rt gelöst werden können. Es wird also zum wirklichen Segen unseres Volkes sein, wenn nicht n ur in dem Jubiläum sjahr, sondern auch in noch vielen folgenden zu ihm von K an ts Philosophie und im echten Geiste dieser Philosophie gesprochen wird.

Ehe wir aber K a n t zur Überwindung von Spenglers „U ntergangs" - Philosophie heraiifbeschwören, müssen wir kurz bei dessen p h i l o s o ­ p h i s c h e n G r u n d a n s c h a u u n g e n v e r w e i l e n .1)

Nach Spengler gibt es keine einheitliche Weltgeschichte, in derem Verlauf, von verschiedenen Quellflüssen aus, das menschliche Leben und K ulturschaffen m ehr ijnd m ehr zu einem m ächtigen Strome zusam m en­

fließt, vielmehr bietet ihm die Geschichte das ganz andersartige Bild mehrerer durchaus verschiedenartiger, geistig ganz voneinander isolierter K ulturen in ihrem W erden und Vergehen. Haben wir bisher etwa gemeint, in unsere deutsche K u ltu r sei die Antike als ein bereicherndes Lebens­

x) Eine eingehende Darstellung und kritische Würdigung enthält mein Buch

„Oswald S p e n g le r a ls P h ilo s o p h “, Stuttgart, Strecker u. Schröder. 1922. 6. bis

9. Tausend 1924.

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Kant und die geistige Krisis der Gegenwart

element aufgenommen worden, so bezeichnet dies Spengler als eine grund­

lose Illusion: W ir sind nur „A nbeter“ der Antike, nicht ihre „Schüler“

und Nachkom men“ . Mögen wir uns noch so eingehend m it Philosophen wie P lato und Aristoteles beschäftigen, mögen wir sie in unser geliebtes Deutsch übertragen: sie bleiben uns ihrem wirklichen Geiste nach ewig fremd, ja unverständlich.

Diese Isoliertheit der K ulturen ist aber tief begründet in ihren W e sen . K ulturen sind große n aturhafte Lebewesen. Die „Idee“ einer K u ltu r ver­

hält sich zu ihrer „Erscheinung“ , d. h. ihrer Verwirklichung im Leben und Schaffen von K ulturvölkern, wie Seele zum Leib. Leben heißt „Schicksal haben“ . In allen Organismen w irkt das, was Goethe nenn t: „G eprägte Form, die lebend sich entw ickelt“ . Eine Buche z. B. wird in allen ihren Teilen in Wurzel-, Stam m - und Kronenbildung, in Rinde und B lätter, Blüten und F rüchten g a n z a n d e r s sich darstellen wie eine Fichte oder ein Birnbaum. K ulturen aber sind in W ahrheit nichts anderes als Pflanzen.

Der bisher n ur in der Lyrik beliebte Vergleich von Menschenschicksal und Pflanzenschicksal ist wissenschaftlich und philosophisch tief begründet.

Wie ein gewaltiger Baum aus dem Boden sich erhebt, in langen Zeiträum en seine volle E ntfaltung erreicht und dann — wenn nicht äußere K atastrophen seinem Dasein vorzeitig eine Ende m achen — von innen heraus ganz all­

mählich abstirbt, so gilt dasselbe Werden, Wachsen, Blühen und Welken für die K ulturen, die ebenso wie die Bäume während ihres ganzen Lebens an den Boden ihrer m ütterlichen Landschaft gefesselt bleiben.

Acht große K ulturen bietet so die bisherige W eltgeschichte: 1. die ägyptische, 2. die babylonische (beide um das J a h r 3000 v. Chr. entstehend), 3. die indische (um 1500), 4. die chinesische (um 1400), 5. die antike (um

1100), 6. die arabische (um 300), 7. die mexikanische (um 100 v. Chr.), 8. die abendländische (oder „Faustische“ um 1000 n. Chr.). Als eine w e r d e n d e K u ltu r wird die russische bezeichnet. Jed e K u ltur entfaltet ihre besonderen Mögüchkeiten. Es gibt nicht nur so viele G rundtypen des W irtschaftslebens, des Rechtes und Staates, der K unst und Religion, als es K ulturen gibt, sondern auch ebenso viele Philosophien, Wissenschaften, ja selbst M athem atiken als K ulturen. Allgemeingültige, „ewige“ W ahr­

heiten und W erte gibt es nicht; alle Geltung ist „relativ“ .

Das D enkm ittel der Analogie erschließt uns die metaphysische S tru k tu r jener riesenhaften Kulturpflanzen, ermöglicht uns eine „vergleichende Morphologie“ (Gestaltenlehre). Mit der inneren Einstellung und dem Blick des Naturforschers, der lediglich auf das Gesetzmäßige oder typische achtet, tr itt Spengler seinen acht K ulturen gegenüber. Es ergibt sich ihm dabei eine Gesetzmäßigkeit, die er als „Homologie der Phasen“

bezeichnet. Übereinstimmend sind nämlich die H auptstadien ihrer E n t­

wicklung vom W erden bis zum Vergehen, übereinstim m end Tempo und

Dauer dieser Phasen. Daraus ergibt sich ihm ein neuer Begriff von „Gleich­

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zeitigkeit“ . „Gleichzeitig“ sind Ereignisse oder Menschen, die homologen Phasen verschiedener K ulturen zugehören. „Gleichzeitig“ ist z. B. m it N a­

poleon — Alexander der Große innerhalb der antiken K ultu r, nicht Caesar, m it dem m an ihn so gern verglich, weil Caesar einer späteren, reiferen Phase seiner K u ltu r angehörte. „Gleichzeitig“ sind so Socrates auf der einen, Voltaire und Rousseau auf der anderen Seite.

Ebenso ergibt sich für Spengler aus seiner rein naturwissenschaftlichen Einstellung zu den K ulturen die Meinung, ihren weiteren Verlauf m it B estim m theit Voraussagen, also die Zukunft prophezeien zu können.

D araus versteht m an erst, welches der Sinn seiner „U ntergangs“ P rophe­

zeiung ist, und wie er den M ut dazu gefunden hat.

Als letzte H auptphase jeder K ulturentw icklung gilt ihm nämlich das Z eitalter bloß äußerlicher „ Z i v i l i s a t i o n “ . „K u ltu r“ und „Zivilisation“

verhalten sich nach Spengler zueinander wie das lebendige Kleid eines Seelentums zu seiner „Mumie“ , wie ein aus der L andschaft geborener

„Organismus“ zu dem aus seiner E rstarrung hervorgegangenen „Mecha­

nism us“ , wie die griechische „Seele“ zum römischen „ J n te lle k t“ . Die (Spät-)Röm er waren, verglichen m it den Griechen, wieder — Barbaren.

Aber nicht B arbaren wie etw a die alten Germanen, die noch „Chaos“ , ungezügelte W erdelust und ungebrochene Schöpferkraft in sich trugen, sondern äußer lieh zivilisierte, aber innerlich herz- und seelenlose Barbaren.

Das A uftreten eines solchen Typus starkgeistiger, vollkommen u nm eta­

physischer Verstandes- und Willensmenschen ist nicht ein einmaliges E r ­ eignis, sondern wiederholt sich immer in den Endphasen aller K u ltu r­

entwicklungen. Sie sind auch Träger des „Im perialism us“ , jener politischen Einstellung, die im Machterwerb und in der Machtsteigerung den eigent­

lichen Sinn alles staatlichen Lebens und Wirkens sieht. Sie sind zugleich Träger gewisser endgültiger, abschließender W eltstimmungen, wie der Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus, in denen sich erlöschendes Menschentum bekundet.

Das kulturelle und geschichtlich bedeutsam e Leben zieht sich in diesen Endphasen in ein paar W eltstädte zusammen, die Landschaft sinkt zur Provinz herab. Solche W eltstädte waren in der antiken K u ltu r in Syracus, Athen, Alexandria, Rom ; in der abendländischen: Madrid, Paris, London, Berlin. S ta tt einer W e lt — eine S t a d t , ein P u n k t in dem sich alles Leben sam m elt; der R est verdorrt. Es bedeutet das den entscheidenden S ch ritt zum Anorganischen, zum Ende w ahrhaft organischen Lebens;

wie sich das auch in der zunehmenden physischen un d geistigen „U n ­ fruch tb ark eit“ bekundet. Alles geht eben dann zu Ende. — Wie ist nun

von diesen Grundanschauungen aus u n s e r e Lage zu beurteilen?

Auch unsere abendländische K u ltu r ist ein abgegrenztes, endliches

Phänom en, dem lediglich die durchschnittliche D auer aller K ulturen be-

schieden ist, näm lich eine etw a tausendjährige. D a ihr Beginn, wie Spengler

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Kant und die geistige Krisis der Gegenwart 215

— freilich recht „souverain“ behauptet — um das J a h r 1000 n. Chr. anzu­

setzen ist, so wird sie um 2000 sich ausgelebt haben. W ir gehören also schon in die Phase ihres Untergangs, deren Beginn etw a bei dem Ja h re 1800 liegt. Das bedeutet: wir haben gar keine wirkliche „K u ltu r“ m ehr, sondern bloße „Zivilisation“ , zum Beweis dafür nennt Spengler eine Reihe von Zeiterscheinungen. Dazu rechnet er in erster Linie das, was bei Nietzsche die „ U m w e r tu n g a l l e r W e r t e “ und die H eraufkunft des „ N ih ilis m u s “ heißt, w orunter er versteht: „die radikale Ablehnung von W ert, Sinn, W ünschbarkeit“ . Eine entsprechende Um wertung ins Nihilistische setze ein bei B uddha und Socrates wie — innerhalb unserer K ultur — bei Rousseau. An Stelle des alles „selbstverständlich“ Findens trete das Gefühl der Frem dheit gegenüber W elt und Leben. F ü r Rousseau ist der S ta at nichts organisch Gewachsenes mehr, sondern ein bloßer Mechanismus. Man philosophiert über „natürliche Religion“ , über „N atu r­

recht“ ; m an sucht derartiges zu konstruieren — ein W iderspruch in sich;

ebenso wie es eine U nnatur ist, wenn m an K unststile — „erfindet“ . Der buddhistischen, spätantiken, wie auch unserer W eltanschauung liegt

„wissenschaftliches“ Denken zugrunde: das „G ehirn“ konstruiert sie, während die „Seele“ abdankt. Bewegte m an sich früher m it instinktiver Sicherheit im Dasein, so wird je tz t alles „problem atisch“ . Im B auerntum allein findet m an noch einen Ü berrest organischen Menschentums und dam it echter K ultur.

W as für alle K ulturgebiete gilt, das m acht sich ganz besonders auf dem zentralen Gebiet, dem der M o ra l, bemerkbar. F rüher als selbst­

verständlich gültige instinktiv geübt, wird auch sie je tz t völlig proble­

matisch. Bei K a n t (wie bei Plato) dient die E thik, d. h. die Philosophie der Moral, lediglich der Abrundung der M etaphysik: bei Schopenhauer beginnt schon die — sich breitm achende — E thik der „Zivilisations­

periode“ ; die M etaphysik verschwindet vor der praktischen Moral, wie das dann ganz besonders für den ethischen Sozialismus zutrifft. Im Ethischen aber tr itt an Stelle der B etrachtung aus der „Vogelperspektive“ , die aus der „Froschperspektive“ — wofür Spengler ein Beweis u. a. darin sieht, daß m an Probleme wie die Alkoholfrage oder die der richtigen E r­

nährung ernst nim m t — . Eine „tragische“ Moral wird ersetzt durch eine

„Plebejerm oral“ . Das „Faustische“ W eltgefühl der „ T a t", weicht der Philosophie der „A rbeit“ ; die Religion der Jrreligion. Der Sozialismus ist das irreligiös gewordene Faustische Lebensgefühl.

S ta tt wirklichen „Volkes“ , s ta tt „bäuerlicher Menschen” haben wir jetzt als Träger geistigen Lebens einen „fluktuierenden Großstadtpöbel , eine Masse von „G ebildeten” , von „Zeitungslesern” ; der Journalist übernimmt je tz t die „Seelsorge” .

Der Sozialismus, der unser aller Lebensgefühl geworden ist, stellte

die „Faustische” Ausprägung zivilisierter, intellektualistischer E th ik dar.

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Illusion ist es, zu meinen, er sei ein System des Mitleids, der H u m an ität, des Friedens, der Fürsorge. Tatsächlich herrscht in ihm „Wille zur M acht” ; sein Ziel ist im perialistisch; er erstrebt W ohlfahrt nicht der Schwachen und K ranken, sondern der Tatkräftigen. „A rbeit” ist die zivilisierte Form Faustischen W irkens. Das „R echt auf A rbeit” , das schon Fichte p ro ­ klam ierte wird vom Sozialismus in eine „ P f l i c h t zur A rbeit” übergeführt.

Ein Zug von Lebenslüge geht durch ih n ; er schweigt über den vernichtenden E rn st seiner letzten Konsequenzen. —

Es soll natürlich nicht bestritten werden, daß das meiste von dem, was Spengler an Zeitsymptomen anführt, von ihn richtig gesehen und geistreich dargestellt ist. Die Ausdeutung und Bewertung dieser Symptom e aber hängt von seinen Philosophischen Grundanschauungen ab. Auf diese darf sich darum unsere, von K a n t orientierte, k r i t i s c h e W ü r d i ­ g u n g beschränken.

W ir überlassen dabei der F achkritik die Frage, wie weit die von Spengler vorgenommene Unterscheidung und Abgrenzung der acht großen K ulturen m it den geschichtlichen Tatsachen übereinstim m t und ohne künstliche Zurechtbiegung, ja Vergewaltigung von solchen durchführbar ist. Aber wie verhält es sich denn m it der angeblichen „ I s o l i e r t h e i t “ der K ulturen ? S teht diese B ehauptung nicht in allzu schreiendem W iderspruch m it unseren wahrlich doch nicht n u r äußerlichen Verhältnis zur Antike und zum — Christentum Christi und der K irchenväter. (Das ja nach Spengler eigentlich gar nicht unserer, sondern der „arabischen“ K u ltu r zugehört) ? 1 U nd Spenglers W erk selbst, das eine so geniale Einfühlungsfähigkeit in fremde K ulturen und ihren erzeugenden Geist bekundet: ist es nicht ein schlagender Gegenbeweis gegen seine B ehauptung von der Isoliertheit und gegenseitigen Frem dheit der K ulturen ?!

N icht m inder wird Spenglers Lehre, daß die K ulturen wie Naturwesen zeitlebens an den m ütterlichen Boden ihrer Ursprungslandschaft gebunden bleiben, durch die Tatsachen und durch Aussprüche von Spengler selbst widerlegt. Die „m ütterliche L andschaft“ der „ a r a b i s c h e n " Kulturseele ist nach Spengler das Gebiet zwischen E u p h rat und Nil. Aber das Christen­

tum und der Islam , die beide dieser Kultusreele entstam m en, wie außer­

ordentlich weit haben sie über diese Landschaft hinaus ihre W irksamkeit entfaltet, und zwar nicht bloß eine äußerlich beherrschende, sondern eine wirklich kulturschöpferische! U nd endlich die „Faustische“ K ultur!

Ihre m ütterliche Landschaft ist die nordeuropäische Tiefebene. Gleich­

wohl h a t sie sich, wie Spengler ausdrücklich zugibt, über ganz Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Amerika, ja heute über die ganze Erde v erb reitet!

Geht m an nun auf Spenglers obersten m ataphysischen Begriff, die

„ K u l t u r s e e l e “ , näher ein, so m u tet es zunächst ganz „idealistisch“

(im Sinne K ants) an, wenn wir lesen, die N atur sei nur „Schöpfung und

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Kant und die geistige Krisis der Gegenwart 217 Abbild des Geistes“ . Indessen zu dieser spiritualistischen Grundlehre steht die materialistische B ehauptung, daß die Kulturseelen von ihrer m ütterlichen Landschaft bestim m t sind und zeitlebens an sie gebunden bleiben, in unlösbarem W iderspruch. Dazu kom m t, daß Spenglers spiri- tualistische Metaphysik, auch wo sie diesen ihren G rundcharakter w ahrt, gar nicht „idealistisch“ , sondern gänzlich „ n a t u r a l i s t i s c h “ gedacht ist.

Die Kulturseele ist ihm ein N aturfaktor, ihre ganze W irksamkeit ist eine streng naturgesetzliche; insofern gibt es in ihrem Bereich keine echte Freiheit, nichts w ahrhaft Schöpferisches, keine Entwicklungsmöglichkeit ins Unendliche hinaus und hinan.

Gewiß unterscheidet sich Spenglers N aturalism us von dem Haeckels und des landläufigen „Monismus“ : dieser denkt mechanistisch, Spengler vitalistisch; ihm gilt der Lebensprozeß nicht restlos zurückführbar auf lediglich ursächlich bestim m te B ew egungsV orgänge; ihm ist das Leben ein Geschehen b e s o n d e r e r A rt, charakterisiert durch das W alten eines inneren „Schicksals“ (in welchen Begriff er das Kausale und das Teleo­

logische unklar vermischt, wenn er das auch nicht w orthaben will). F ü r uns bedeutsam aber ist, daß seine Begriffe von „Leben“ , „Seele“ , „Schick­

sal“ nicht über den R ahm en des bloßen N a tu rg esch e h en s hinausführen, und daß er somit kein klares Bewußtsein h a t für die eigene A rt des g e i s t i ­ g en Lebens, für seine „In h alte“ , ihre Ansprüche auf objektive Geltung, ihren verschiedenen „W ert“ , die ihnen zugrunde liegende Freiheit und wahrhaftig schöpferische K raft. Es scheint selbstverständlich, es m uß aber gegenüber Spengler ausdrücklich betont werden, daß doch ein ganz wesent­

licher Unterschied besteht zwischen den bloßen N aturprodukten (wie Früchten) und zwischen geistigen Schöpfungen. Auch eine N uß z. B.

hat einen „In h alt“ , aber dieser ist selbst physischer N atu r und besteht nicht aus Gedanken in seinem vollen Zusammenhang wie etw a der „ In h a lt“

eines Buches.

Aus Spenglers einseitig naturwissenschaftlicher B etrachtung auch alles geistigen Lebens ergibt sich logisch sein radikaler S k e p t i z i s m u s in der E r k e n n t n i s t h e o r i e . Wie Bäume verschiedene F rüchte, so bringen nach ihm die K ulturen (die ihm ja nur als Pflanzen gelten) verschiedenartige W ahrheiten hervor. Sie gelten ihm n u r „relativ“ , nämlich für die Angehörigen der betreffenden K ultur. Es gibt für ihn keine

„objektive“ , keine „ewige" W ahrheit.

Wie verm ißt m an gerade hier an Spengler die erkenntnistheoretische Schulung, die nirgends besser zu gewinnen ist als durch ein eingehendes Studium von K ants „V ernunft-K ritik“ . Tatsächlich hebt die B ehauptung, Sätze seien n ur für gewisse Menschen oder Menschenarten „w ahr“ , für andere nicht, den Begriff der „W ahrheit“ auf. Ob näm lich ein Satz

„wahr“ ist, hängt gar nicht ab von den Subjekten, die ihn für wahr halten, und von deren Beschaffenheit, sondern von dem Verhältnis seines Inhalts

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zu dem darin gemeinten Sachverhalt. Sollen etwa Spenglers B ehaup­

tungen über die Existenz und die Beschaffenheit von Kulturseelen n u r für Angehörige der „Faustischen“ K u ltu r „w ahr“ sein, nicht aber für solche der indischen oder russischen ? Auf jeder Seite von Spenglers W erk wird m an B ehauptungen finden, die ganz selbstverständlich den Anspruch erheben, objektiv gültig und darum auch für jederm ann und zu jeder Zeit gültig, also auch „ewig w ahr“ zu sein. Will etwa Spengler im E m st behaupten, daß das Einmaleins für Angehörige anderer K ulturen n i c h t „w ahr“ sei. Mögen gewisse M enschenarten nicht fähig sein, b e­

stim m te Sätze zu finden oder auch nur zu verstehen, das ist dann gleichsam deren s u b j e k t i v e s Mißgeschick: m it der o b j e k t i v e n W ahrheit der Sätze aber h a t doch das ganz und gar n i c h t s zu tun. K a n t h a t wie kein zweiter uns den Blick geöffnet für den Anteil des erkennenden Subjekts an dem Zustandekom m en der Erkenntnis, an dem Finden der W ahrheit.

Aber er ist niemals jenem schwächlichen und bequemen Schlagwort „Alles ist relativ“ zum Opfer gefallen; immer h a t er an der Idee objektiver Gültigkeit, an dem V ertrauen auf die wirkliche W ahrheitsfähigkeit des Menschengeistes festgehalten. Freilich h a t er gerade d a s völlig klar ge­

stellt, daß unsere N a tu re rk e n n tn is in dem Sinne n u r „relativ“ gültig ist, als sie die Darstellung der W irklichkeit n ur in R elation zu einer ganz bestim m ten „Einstellung“ des Geistes ausm acht. Die wirkliche W elt ist nur dann für uns „ N a tu r“ und dam it ein Bereich strengster Notwendigkeit und wert- und s in n fre ie n Geschehens, wenn wir sie gleichsam m it dem Blick des Naturwissenschaftlers (man könnte auch sagen: „durch seine Brille“ ) betrachten. Charakteristisch dafür ist, daß uns bei dieser B etrachtungs­

weise n ur das als wirklich gilt, was sich in R aum und Zeit aufweisen läßt, was sich in dem Notwendigkeitszusam menhang von Ursache und W irkung und u n ter das Gesetz der E rhaltung von Stoff und Energie fügt — wobei zugleich von allem W ert und Sinn und allen W ertunterschieden abgesehen wird. Somit ist die „ N atu r“ n i c h t „Ding an sich“ , nicht die W irklichkeit in ihrer T o talität und Tiefe, sondern n u r gleichsam eine Teil und Seiten­

ansicht des W irklichen, die n u r in R elation zu dieser bestim m ten Einstellnng gilt. D arin aber zeigt sich nun aufs klarste der Rückfall Spenglers in die von K a n t überwundene naive und unkritische („dogmatische“ ) D enk­

weise, daß er tro tz seines vielen Redens über „R ela tiv ität“ gerade d i e s e n

„relativen“ C harakter des n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Erkennens n i c h t bem erkt; daß er stillschweigend voraussetzt, s e in e eigene, naturw issen­

schaftliche Betrachtungsweise sei die einzig mögliche und berechtigte, und sie erschließe uns das Wirkliche in seiner G esam theit und in seiner m etaphysischen Tiefe. In dieser Überschätzung und Ü berspannung der (in sich berechtigten) naturw issenschaftlichen B etrachtungsart und E r­

kenntnism ethode ist das Abgleiten Spenglers in den „N aturalism us“

bedingt, der durch K an ts Erkenntnistheorie bereits grundsätzlich über-

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Kant und die geistige Krisis der Gegenwart 219 wunden war, und der, so oft er neu sein H au p t erhebt, durch das Zurück­

greifen auf K a n t immer wieder am sichersten überwunden wird. — Noch verhängnisvoller wie in der M etaphysik und der E rkenntnis­

theorie zeigt sich Spenglers N aturalism us in der E t h i k . Da die „ n a t u r ­ wissenschaftliche Einstellung“ ihrem Wesen nach keinen Blick für Freiheit und w ahrhaft schöpferische K ra ft h at, da sie alles Geschehen nur als n o t­

wendig bedingt zu fassen sucht und so den Menschen wie sein Tun und Lassen nur in seiner ursächlichen Bedingtheit, nur als notwendiges P rodukt betrachtet. Eben diese einseitige Betrachtungsweise m uß lähm end auf den Menschen wirken, ihn zu Schwäche und Müdigkeit in seinem Wollen und Tun, zur Abwälzung seiner sittlichen Verantwortlichkeit, zu pessimistischer Verzweiflung an seinen Idealen und an einer besseren Zukunft verführen.

Auch hier kann uns K a n t Helfer, ja F ührer sein gegenüber diesen ethisch verderblichen Auswirkungen des Naturalism us. E r h a t uns in seiner Philosophie gezeigt, daß neben, — nein ü b e r dem „Reich der N a tu r“

mit seiner Notwendigkeit, das „Reich der S itten “ , das Reich der sittlichen Freiheit und Verantw ortlichkeit liegt. Es ist eine ganz andere innere

„Einstellung“ , aus der heraus sich unsere Überzeugung ergibt, w ahrhaft frei, sittlich verantwortlich und schöpferischen Tuns fähig zu sein. F ü r die „naturwissenschaftliche Einstellung“ sind wir Menschen wie alle anderen Geschöpfe lediglich N a t u r o b j e k t e , „ S a c h e n “ . F ü r die „moralische Einstellung“ , in der wir als Mensch zu Mensch m iteinander verkehren und welche die uns gewohnte im praktischen Leben ist, sind wir freie S u b j e k t e , sittlich verantwortliche „Personen“ . Gewiß können wir — gerade vermöge unserer Freiheit — uns auch „naturwissenschaftlich ein­

stellen“ , selbst gegenüber Menschen und ihrem Verhalten, aber dadurch wird nicht im geringsten die umfassendere Bedeutung und das höhere R echt der moralischen Einstellung in Frage gezogen.

Aber eben weil in alles menschüche Tun und Schaffen die für die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise unseres Verstandes ewig ge­

heimnisvolle Freiheit und schöpferische K raft irgendwie hereinwirkt, kann auch menschliche Zukunft weder im Einzelnen noch im Ganzen prophezeit werden. Spenglers Voraussage des „Untergangs des Abend­

landes" ist also nichts weniger als Ergebnis w ahrhaft wissenschaftlicher Forschung, sie ist n ur eine lähmend wirkende und zahllose schaffensfreudige Menschen entm utigende Suggestion. Im Geiste K ants darf unser Blick vorwärts nicht gehen auf eine unabw endbar herankriechende graue Zu­

kunft, sondern auf ein leuchtendes Ideal, an dessen Erreichbarkeit wir g l a u b e n , weil wir die A rbeit an seiner Verwirklichung unm ittelbar als

„Pflicht“ empfinden. Spenglers leere Drohung m it einem unabw endbaren Schicksal setzen wir die aus Kantschem Geiste gesprochenen W orte Schillers entgegen: „ In deiner B rust sind deines Schicksals Sterne“ . Gegenüber Spenglers Hoffnungslosigkeit und Unglauben, erheben wir uns

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