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Geisteskultur und Volksbildung. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben, 1920, 29. Band, Heft 6-7

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Geisteskultur und Volksbildung

M onatshefte d e r Comenius~ Gesellschaft

H e r a u s g e b e r u n d S c h riftle ite r:

Ferd. Jak. Schmidt und Georg Heinz

INHALT:

E rck m an n , Entartung und Pessimismus W o lfs tie g , Altlogen und Reformlogen

Streiflichter — Rundschau Bücherschau Zeitschriftenschau — Gesellschaftsnachrichten

29 . Jahrgang Sechstes und

siebentes Heft Ju n i-Ju li 1920

Verlag von ALFRED UNGER in Berlin C2

(2)

C O M E N I U S - G E S E L L S C H A F T

FÜ R G EISTESK U LTU R U N D V O L K SB IL D U N G

B egründet von O eh. A rchivrat D r. Ludwig K eller

V orsitzender: Oeschäftsfflhr. V orstandsm itgl.: G eneralsekretär:

Prof. D r. Ferd. Jak. Schm idt A lfred U n ser D r. G eorg H einz

B erlin -O ru n ew ald V erlagsbuchhändler B erlin 0 3 4

H ohenzollem dam m 55 B erlin C 2, Spandauer Str. 22 W arschauer Str. 63

D ie Mitgliedschaft wird erworben durch Einzahlung des Jahresbeitrages von M. 15. — auf das Konto der C.-G. bei der Mitteldeutschen Creditbank, Depositenkasse K, Berlin C2, Königstraße 25-26; oder auf das Postscheck-Konto der C.-G. Nr. 212 95 beim Postscheckamt Berlin NW7; oder durch direkte Einzahlung bei der Geschäftsstelle der Comenius-Gesellschaft, Berlin C2, Spandauer Str. 22; oder bei jeder Buchhandlung.

Für Mitglieder aus den nachgenannten Staaten ist der Jahresbeitrag festgesetzt wie folgt:

D änem ark 6.50 Kr., Norwegen, Schweden 6.— Kr., Schweiz 7.50 Fr., Spanien 7.50 Pes., H olland 4 . - G u ld e n , E ngland 1 0 .- Shill., Belgien, Luxem burg, Frankreich 15.— Fr., Italien 15.— Lire, V ereinigte Staaten von Amerika, M exiko 2.— D oll., Japan 3.50 Yen.

Die Mitglieder der Gesellschaft erhalten die Zeitschrift»Geisteskultur und Volksbildung«

k o ste n lo s. Diese erscheint jährlich in 10 bis 12 Heften im Umfange von je 2-3 Bogen.

Die Einteilung in .Monatshefte für Kultur und Geistesleben« und »Monatshefte für Volkserziehung* entfällt vom neuen Jahrgang ab. Die Hefte sind auch einzeln käuflich zum Preise von M. 2.50.

Die Mitarbeiter erhalten drei Hefte als Beleg kostenlos zugesandt.

Bücher, die in »Geisteskultur und Volksbildung“ besprochen werden sollen, sind durch die Post oder auf Buchhändlerweg an den Verlag oder an den Schriftleiter Dr. Georg Heinz, Berlin 034, Warschauer Str. 63 zu senden.

Preise für Anzeigen in »Geisteskultur und Volksbildung« auf besondere Anfrage.

I N H A L T (Fortsetzung)

Streiflichter ... Seite 176 ... ...

n

184 ... 190 Rundschau .

Bücherschau

Eucken, W as bleibt unser H alt ?/ Deutsche Freiheit—

Litt, Individuum und Gem einschaft — Rausch, Ele­

mente der Philosophie - Lambeck, Philosophische Propädeutik im Anschluß an Problem e der Einzel- wissenschaften — Lipsius, N aturphilosophie und W eltanschauung - Kutzner, D er W eg zur Kultur — Spranger, Kultur u. Erziehung - D lederichs, Politik des Geistes — Freyer, Antäus — Pfadw eiser-B iblio- th e k : 1. Tinius, W eltanschauung u. Selbstbildung;

2.Schultze, Der Segen des W issensdurstes — Feiner, Gewissensfreiheit und D uldung In d e r A ufklätungs- zeit — Scher, Friedr. Nietzsche als Mensch, Denker, Antichrist / Ist der Atheismus heilbar? / Die Seelen­

wunden des modernen Kulturm enschen und ihre H eilung / Der Kampf um die Persönlichkeit — Pfennigsdorf, Im Kampf um den Glauben — Max H erzog zu Sachsen, D as christliche Hellas — Bode, W ann Kommst Du, heimlicher Kaiser? — Seeberg, W ir heißen Euch hoffen — T raub, Kirche und Reh-

f

ion — Fell, Die U nsterblichkeit der menschlichen eele — Kiefl, Foersters Religionsphilosophie u. der Katholizismus — König, Israels Religion nach ihrer

Stellung in der Geistesgeschichte der Menschheit — W erner, D er W eg zu r Seligkeit — Wenske, Die Völkerlüge ln Krieg und Frieden — Niebergall, Ide­

alismus, Theosophie und Christentum — Albrecht, D er Buddhism us - H eiler, Die buddhistische Ver­

senkung — Dessoir, Vom Jenseits der Seele — Hoff- m ann, Das Fortleben nach dem Tode als Experimen- tal-W issenschaft — Meebold, D er W eg zum Geist — Bischoff, Das Jenseits der Seele / Btücke zum Jen­

seits, H eft 3-4: Zöllner, Gelöste W elträtsel —„Gra- binski, G eheim nisvolles aus dem Reiche des Ü ber­

sinnlichen — Schmidt, Das Unbegrenztsein des Naturerkennens — Kroll, Das denkende A11 - Hagall, Im Lichte deutschen Glaubens — Herbst, Die V erwirklichung der G ott-Idee — M artens, Die Lebenskunst — Pralap, Das Buch der Religion der Liebe / D as W ort der Liebe — W egener, D er Zauberm antel - Schräder, Die Indogerm anen — Oncken, Das alte und das neue M itteleuropa - Lion, Kurzgefaßtes Lehrbuch der niederländischen Sprache fü r den Selbstunterricht.

Zeitschriftenschau ... Seite 207

D ie T a t - Stimmen der Zelt — D eutsches Volkstum — Sozialistische Monatshefte.

Gesellschaftsnachrichten ... . . Seite 208

V e r l a g v o n A L F R E D U N O E R , B E R L I N C2, S p a n d a u e r S t r a ß e 22

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Geisteskultur und Volksbildung

M o n a t s h e f t e d e r C o m e n i u s - G e s e l l s c h a f t

S c h r iftle itu n g :

P rof. D r. F erd . Jak. Schm idt

B erlin - G ru n e w a ld . Hohenzollerndamm 55

D r. G e o rg H einz

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V erlag von A l f r e d U n g e r , B e r lin C 2

Spandauer Straße 22 Jährlich TO-12 H efte

Preis für den Jahrgang M. 15. —

Einzelhefte M. 2.50 Bezugspreise fü r das Ausland

auf d e r 2. Unuchlagseite

29 . Jahrgang Sechstes u. Siebentes H eft Juni-Juli 1920

E N T A R T U N G U N D P E SS IM IS M U S Von F r i t z E r c k m a n n

ur D urchführung irgendw elcher sozialen Verbesserungen sind zwei Klassen Menschen nötig. Zur ersten Klasse gehören die Philosophen, die die Sache studieren, den Ursachen nachgehen und die allgemeine Lage überblicken und beschreiben. Die M änner der zweiten Klasse stellen einen Arbeitsplan auf, nach dem die gewünschte Verbesserung angestrebt werden soll und beschäftigen sich mit der A usführung des Planes. Das sind die Propagandisten der Bewegung. Beide Klassen ergänzen sich.

Die Tätigkeit des Philosophen bliebe unfruchtbar ohne die Energie des P ropa­

gandisten. Um gekehrt w ürde das Publikum ratlos sein, wenn der T ätigkeit des Propagandisten die philosophische G rundlage fehlte.

Die Klasse der Propagandisten überwiegt an Zahl bei weitem die der Philosophen, denn für die meisten Menschen ist das Handeln angenehm er als das Denken.

Die propagandistische Methode bringt den Beifall der Menge und gewöhnlich mehr B erühm theit als die grüblerische Methode des Philosophen. Der Mann der T at heimst meistens m ehr Ehren ein als der Mann des Intellekts.

W ir haben Bismarck m ehr D enkm äler errichtet als K ant. Die Franzosen haben die Ju n g frau von Orleans in Erz und Stein geehrt und Descartes vernachlässigt.

Die sich mit dem Problem der E ntartung beschäftigende Literatur weist die gleichen Eigentüm lichkeiten auf. Im allgemeinen konzentriert sich das Interesse auf die Fragen: Wie kann der E ntartung vorgebeugt, wie kann sie aufgehalten w erden? W elche M aßnahm en sind zu ergreifen?

W enn diese Fragen in den folgenden Zeilen auch nicht erschöpfend behandelt werden können, so ist doch die V erbreitung der Tatsachen eine w ertvolle E r­

rungenschaft. W ie das Kind die D unkelheit fürchtet, so beschleicht auch den Erwachsenen das Gefühl der Angst, wenn er m it Erscheinungen in B erührung kommt, die m enschliches W issen bislang nicht erklärt haben.

W issen ist die M utter des Mutes und Selbstvertrauens, Unwissenheit gebiert Angst und M ißtrauen.

M onatshefte d er C. G. 1920. 13

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Erckmann

Heft 6/7 D aher kom m t es, daß das T hem a der E ntartung, das so vielen völlig Neues bringt, das beunruhigende Gefühl der M achtlosigkeit einer grausam en N atur gegen­

über erzeugt. Dieser geistige Zustand beeinflußt das U rteilsverm ögen. Es ist d ah er notw endig, das Gesam tgebiet der E n tartu n g vom intellektuellen S tandpunkt aus zu betrachten.

H ier entdecken wir zu unserer Freude, daß die Tatsachen ganz anders sind, als die erhitzte E inbildungskraft sie gem alt hatte.

Es ist ein w eitverbreiteter Gedanke, daß die G esam tentw icklung des Lebens einem geraden, regelm äßigen F o rtsch ritt unterliegt, einem Fortschritt, an dessen Anfang vielleicht die Muschel und an dessen Ende der Mensch steht. Man huldigt vielfach der A nschauung, daß jedes T ier Bedingungen der allm ählichen E nt­

w icklung unterw orfen ist.

F ür diese A nnahm e gibt es keine Beweise. Ein Tier kann in Tausenden von Ja h re n einem W echsel unterliegen^ bis es sich seiner Umgebung völlig angepaßt h a t. D ann tritt ein Stillstand ein, oder neue U m gebung kann einen W echsel in um gekehrter Linie, also die Schaffung eines prim itiveren Zustandes hervorrufen.

Der U rahne des Pferdes hatte fünf Zehen, von denen vier verküm m erten, der der Schlange hatte Füße, die im Laufe der Zeit abstarben.

An diese Beispiele denkt m an, w^enn m an Sätze hört w ie: „Die Augen des Menschen w erden schlechter“ , — „D ie Zähne verschw inden“ — „Die H aare fallen au s“ . W enn es w ahr wäre, wäre die Erscheinung nu r von untergeordneter Be­

deutung.

Der Mensch ist eine Art haarloser Affe. W enn die K opfhaare verschw inden, wie die H aare des Körpers verschw unden sind, wäre es ein natürlicher Fortschritt d e r Entw icklung.

Aber „die Zähne w erden schlechter und fallen aus“ , heißt es weiter. N un,

■der Mensch hat weniger stark entw ickelte Kiefer und weniger stark entwickelte Z ähne als der Gorilla, weil er ihrer nicht bedarf. Drum ist kein G rund zur Be­

ängstigung vorhanden, wenn die Zähne des Menschen an Güte verlören oder ganz verschw änden. Die Zähne der Vögel sind auch im Laufe der Zeit verschw unden, o hne daß diese ihren V orfahren an Lebenskraft nachstehen.

Viele Tiere haben die Augen verloren und leben glücklich ohne sie.

Es wäre allerdings von Vorteil, Zähne zu besitzen, mit denen man eine K okosnuß öffnen konnte, wenn unser Geruchssinn dem des H undes gleich wäre oder w enn m an, um einen schlechten Redner besser verstehen zu können, die O hren so richten und stellen könnte, wie es das Pferd tu t. Aber diese Vorteile w erden durch andere Vorteile aufgewogen, so daß die diesbezügliche allm ähliche E n tartu n g uns die H errschaft über alle Tiere verschafft hat.

Der hohe Zustand geistiger E ntw icklung h a t die E ntartung gewisser Organe im Gefolge gehabt, deren wir nicht m ehr be'dürfen.

W iedersheim zählt in seinem B uche: Der Bau des M enschen, 15 Organe auf im Zustande der Entw icklung gegen 17, die nur noch teilweise V erw endung finden, und 107, die vollständig gebrauchlos sind.

Vor H underttausenden von Ja h ren h at der pessimistische Affenmensch sich wohl

G edanken gem acht über das allm ähliche Verschwinden von K rallen, H aaren und

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1920

E ntartung und Pessimismus

163 Schwänzen. Wie sollte er auch ohne Haare der W interkälte trotzen, ohne Schwanz die Reise über die Bäume antreten können!

Di« Geschichte lehrt, daß m it dem A usdruck „ E n ta rtu n g " nicht unbedingt

v erh ä n g n isv o lle F olgen Z usam m enhängen.

Die Erfindung des W ebstuhls vertrieb die H andw erker, und die Folge war von ungeheuerm Vorteil für den Menschen.

E ntartung ist eine notwendige Begleiterscheinung des Fortschritts. W enn be­

wiesen werden kann, daß gewisse menschliche Organe Zeichen von E ntartung aufweisen, so liegt kein G rund vor, den Vorgang als verhängnisvoll zu bezeichnen, und daß man sich nach M itteln um schauen m uß, ihn aufzuhalten.

Ehe wir uns dem Pessim ism us anheim geben, müssen wir ausfindig machen, ob eine E ntartung stattfindet und ob sie schädlich für uns ist.

Es ist schon oft beobachtet w orden, daß nam entlich alte Leute mit W ohlge- a en an die alten Zeiten zurückdenken zu U ngunsten der Gegenwart. Sie ver­

gessen dabei, daß jene Zeit Gegenwart war, über die ihre Väter schon klagten, lese Klagen findet man in der L iteratur aller Zeiten. Eine der frühesten rop ezeiungen kom m ender E ntartung stam m t von Gildas in De excidio Britanniae, em ntischen Jerem ias und Pessimisten des 6. Jah rh u n d erts.

mmer wiederholt sich die Klage über eine kom m ende A bnahm e der Bevölkerung.

ie E ntartung des m enschlichen Geschlechts beruhte auf dem Glauben, daß wilde Völker degenerierte Menschen seien. Die W ilden selbst hielten Gorillas für e n t­

artete Menschen.

Schopenhauer (in Parerga und Paralipom ena) weist auf die Schwierigkeit der e sterkenntnis hin. W ie sich ein Mensch nicht in einem Spiegel vom objektiven an dpunkt aus studieren kann, ebensowenig kann er seine Zeit oder sein Land wie ein A ußenstehender beurteilen. Eine Landschaft nim m t sich durch Über- ragung eines Skioptikons schöner aus als sie in W irklichkeit ist. Ebenso ist es mit früheren Ereignissen, die durch die Zeitentfernung einen angenehm eren An- bekommen, indem sie die

u n a n g e n e h m e n

Beitaten und Eigenschaften Der Gegenwart gehen diese Vorteile ab, und sie erscheint deswegen voller Mängel.

Karl Bleibtreu (in Paradoxe der konventionellen Lügen) weist darauf hin, daß 16 Frankreichs im 18. Ja h rh u n d e rt am schärfsten betont wurde, also f.V*" ü*eze>t M irabeaus und Napoleons. Eigenartig muten die Klagen Rousseaus u er den Rückgang seiner Zeit an, einer Zeit, der eine unglaublich große Zahl M änner von Genie das Gepräge gab.

Am Beginn des 19. Jah rh u n d erts verm ißt der englische Dichter W ordsworth große M änner der V ergangenheit wie Sidney, Marvel, H arrington, Vane „ und andere, die Milton ihren Freund n an n ten “ und vergißt der großen Zeitgenossen W ellington, Byron, Scott, Schelley, Canning — die zum mindesten jenen, denen seine Jerem iade gilt, die W age halten.

Im Ja h re 1842 w ar in D eutschland die Furcht vor der E ntartung so ausgeprägt, daß der Naturforscher Christian Gottfried Ehrenberg sich veranlaßt fühlte, in W ort und Druck dagegen aufzutreten, und darauf hinwies, daß die Furcht, fortschreitende

13*

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164

Erckm ann

Heft 6 /7 intellektuelle Entw icklung m öchte zu einer körperlichen, nationalen E ntartung führen, vollständig unbegründet ist.

So gehen die Klagen fort bis in die jüngste Zeit.

Rousseau w ar von der E ntartung des M enschengeschlechts m ehr überzeugt als irgendein Schriftsteller von gleichem R uhm e. Er betrachtete alle Züge der Z ivili­

sation als Symptome der E n tartu n g und verlangte die R ückkehr zur N atur.

Rousseau hat keine Schüler hinterlassen.

Eine der geistreichsten D arstellungen pessimistischer A nschauung finden wir in der Philosophie Schopenhauers, der behauptet, daß die Leiden in der W elt bei weitem die Freuden überw iegen. Indem er die Lehre von Leibniz bekäm pfte, daß das Böse eine negative Sache und n u r die Abwesenheit des Guten sei, stellte er den Satz auf, daß das Böse eine positive Sache und das Gute einfach die A bw esenheit des Bösen sei (in Studien in Pessimismus.)

Er übersieht die W eisheit der W elteinrichtung über dem Elend der W elt, und wenn er sie auch nicht ganz leugnen kann, so läßt er sie doch m öglichst unbe­

achtet und schätzt sie gering. Er träg t den Begriff der Schuld in die W elt­

schöpfung hinein und folgert aus dem Elend des Daseins, daß sie ihren ersten U rsprung einem vernünftigen Akte verdankt, d. h. einem solchen, bei dem die Vernunft nicht m itgew irkt hat, also dem bloßen grundlosen W illen.

Der Lust legt Schopenhauer einen ausschließlich negativen C harakter bei, in , dem Sinne, daß der Schm erz allein das direkt Entstehende sei, die Lust aber nur indirekt, durch A ufhebung oder V erm inderung des Schmerzes möglich w erden soll.

Auch H artm ann (in der Philosophie des U nbew ußten) ist der A nsicht, daß jede A ufhebung oder V erm inderung eines Schmerzes eine Lust ist, aber er bestreitet die A nnahm e, daß jede Lust eine Aufhebung oder V erm inderung des Schmerzes sei.

Das ganze Leben, sagt Schopenhauer, ist auf Ziele eingestellt, m it der Hoffnung auf die Erlangung von Glückseligkeit. Dieser K am pf ist nicht angenehm , und das Ziel w ird selten erreicht. W enn es aber erreicht wird, bleibt die erhoffte Glückseligkeit aus. Gerade wie einer, der einen Berg ersteigt und, oben ange­

kom m en, noch höhere Spitzen entdeckt, so weist die E rlangung eines m enschlichen Zieles auf weitere Ziele hin. W enn aber selbst alle W ünsche befriedigt w erden, dann stellt sich die Langeweile ein, die oft unerträglicher ist als das frühere Sehnen und Kämpfen.

W enn die W elt w irklich so ist, wie sie Schopenhauer schildert, dann wäre sie ein trauriger Platz.

Schopenhauer weist auf zwei Tiere hin, von denen das eine das andere T ier frißt. Die Schmerzen des einen sind so groß, wie sie n u r sein können, w ährend das andere nur sein Mahl einnim m t. Das Überm aß des Schmerzes über den G enuß ist ungeheuer. Schopenhauer betrachtet anscheinend den Fall als ein typisches Beispiel für das Leben im allgem einen, und eine Um schau in der N atur scheint ihm R echt zu geben. Mehr als die Hälfte der Tiere lebt als Schm arotzer auf und in den Leibern anderer Tiere, und die entsetzlichsten Tragödien spielen sich vor unseren Augen ab.

Der Tod im Tierreich ist beinahe immer von großen Schmerzen begleitet. Das

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1920

Entartung und Pessimismus

165 Tier stirbt vor Hunger, vor Kälte, oder es wird von anderen Tieren, oft ei

lebendigem Leibe, verzehrt.

Der Mensch kann sich gegen die Gefahren, die ihm in der N atur drohen, zum großen Teil schützen, aber das Bewußtsein des Todes begleitet ihn das ganze Leben.

Auch E duard von H artm ann ist der A nsicht, daß die m enschlichen Leiden die Freuden überwiegen. Er schreibt in seinem W erke „Philosophie des Unbew ußten .

„ F a ß t man dann die allgem eine und spezielle B etrachtung zusammen, so ergibt sich das unzweifelhafte Resultat, daß gegenwärtig die Unlust nicht nur in der W elt im allgem einen in hohem Grade überwiegt, sondern auch in jedem einzelnen Individuum , selbst den unter den denkbar günstigsten Verhältnissen stehenden. . . .

„E rfahrungsgem äß sind die Individuen der niederen und ärm eren Klassen und rohen N aturvölker glücklicher, als die der gebildeten und w ohlhabenden Klassen und der K ulturvölker, w ahrlich nicht deshalb, weil sie ärm er sind und m ehr Not und E ntbehrungen zu tragen haben, sondern weil sie roher und stum pfer sind. . .

„So viel beneidenswerter wie das Fischleben als das Pferdeleben ist, mag das Austerleben als das Fischleben und das Pflanzenleben als das Austerleben sein, bis wir endlich beim H inabsteigen unter die Schwelle des Bewußtseins die indi­

viduelle U nlust ganz verschw inden sehen“ .

Der B uddhism us ist vom Pessimismus d u rch trän k t, und die altindische Poesie des B hartrihari klagt:

„D as m enschliche Leben ist auf hu n d ert Ja h re beschränkt: Die N acht nim m t die Hälfte davon in A nspruch, die Hälfte der zweiten Hälfte fällt in die K ind­

heit und das A lter; der Rest w ird durch K rankheiten, T rennungen, W iderw ärtig­

keiten, durch W arten auf andere und ähnliche Beschäftigungen verlebt.“

Das Leben lügt, gleich verstockten Verbrechern, bis auf den letzten Augenblick und bekennt seine Betrügereien nicht eher, als bis es stirbt. Seine kleinen Freuden verlöschen eine nach der ändern und lassen endlich den arm en Menschen in

einer .völligen N acht zurück.“ (Yoneg.)

Selbst das glücklichste Leben w indet sich oft zwischen Dornen und Hohlwegen.

„W enn der zarte, weiße, die ganze N atur überzaubernde Nebel der K inder­

jahre herunter ist, so bleibt der Mensch nicht im Sonnenschein, sondern der ge­

fallene Nebel kriecht wieder als dichtere Gewitterwolken unten rings am Blauen herauf, am Jünglingsm ittag steht er Unter den Blitzen und Schlägen der Leiden­

schaft, und abends regnet der zerschlitzte Himmel noch fort.“ (Jean Paul.) „Es gibt Menschen, denen das Geschick immer den Rosenkranz der Freude zeigt, nähern sie sich, so drückt sie ihnen eine Dornenkrone auf das zu sehr schlagende Herz“ . (Lafontaine.)

„D er Unglückliche, der m it Mut sein Unglück träget, gegen das Schicksal selbst erscheint er wie ein Sieger. „Ich bin, so spricht er schweigend, größer als du bist.“ (Balde.)

„U nser Leben ist eine dunkle Kam m er, in welche die Bilder der ändern W elt desto heller herabfallen, je stärker sie verfinstert w ird.“ (Jean Paul.)

So klingt es allüberall her über die Leiden und Trübsale des Menschen. P hilo­

sophen und D ichter neigen zu der Ansicht, daß die Freuden die Leiden nicht

aufwiegen. Die Philosophie des Hegesias ist darauf eingestellt, und in neuerer

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Erckmann

Heft 6/7 Zeit fü h rt K ow alevsky (in Studien zur Psychologie des Pessimismus) das ganze Arsenal seiner Beobachtungen ins Feld, um denselben S tandpunkt zu verfechten.

W enn diese Theorien auf T atsachen beruhten, so wäre eine schleunige Auflösung des Lebens ein ersehntes Ziel, und der wäre der größte Bösewicht, der die M acht hätte, m it einem F ingerdruck die ganze W elt zum Einsturz zu bringen, wodurch M yriaden von Lebewesen von ihren Leiden erlöst w ürden, und übte sie n icht aus.

Aber die bisher angedeutete A nschauung gründet sich nur auf einen Teil d er Tatsachen. Sie beruht auf dem objektiven Leben und läßt das subjektive Leben außer acht. Man darf nicht den Einfluß der Um gebung auf den Organismus allein in B etracht ziehen, sondern m uß sich der E inw irkung des Organism us auf die Um gebung bew ußt sein.

Auf jedes m it gesundem Nervensystem ausgestattete Geschöpf w artet jeder A ugenblick m it neuen Freuden. Dem A lter sind die Freuden m it schw arz v e r­

bräm t, aber der Ju g en d erstrahlen sie im rosigen Lichte. Auch nu r oberflächliche Beobachtung ergibt die T atsache, daß verschiedenartig veranlagte Menschen au s derselben H andlung verschiedene Mengen von Freuden herausholen.

Schopenhauer wie auch H artm ann m achen die Bem erkung, daß m an unter den Armen m ehr glückliche Gesichter ,sieht als unter den Reichen. Aber ober­

flächlich betrachtet, m üßte der M illionär zu den glücklichsten, die Fabrikarbeiterin, deren Leben eine Kette eintöniger V errichtungen ist, zu den elendesten Sterb­

lichen gehören. Die E rfahrung lehrt aber das Gegenteil. R eichtüm er sind keine Mittel gegen die Jem eriaden über das Elend des Lebens, denn das Glück hängt nicht von den äußeren V erhältnissen, sondern von der inneren V eranlagung ab.

Auch die geistige B ildung scheint das menschliche Leben nicht glücklicher zu m achen. Im Gegenteil. Schon im Prediger Salomo [I i 8] lesen w ir:

„W o viele W eisheit ist, da ist viel G räm ens; und wer viel lehren m uß, der m uß viel leiden."

W eisheit ist der Klage und den Leiden zugänglicher, weil ihr die unangenehm en Tatsachen offen vorliegen. Diese werden untersucht m it der Absicht, Mittel zu ihrer Bekäm pfung zu suchen. W enn sie so tief in der N atur verw urzelt sind, daß sie nicht entfernt werden können, dann kann der Geist so beeinflußt werden, daß sie einen angenehm en A nstrich bekom m en und eine Quelle des Schm erzes in eine Quelle des V erjüngens verw andelt wird.

A ufklärung und W eisheit können also die T rauer vertreiben unter der Vor­

bedingung, daß m an den Tatsachen furchtlos ins Auge schaut und n icht mit leichter H and über das U nangenehm e hinw eggeht.

Manche mögen durch körperliche Gebrechen dem Pessimismus in die Arme ge­

trieben werden. Auf der ändern Seite ist Tuberkulose gar oft m it Optim ism us vereint, und außergew öhnliche Glückseligkeit und Optimismus sind zuweilen d ie Begleiterscheinungen allgem einer Paralyse.

W enn Glückseligkeit ein H auptziel im Leben ist, dann w irft sich uns die wichtige Frage auf, ob das neuzeitliche Nervensystem ein großes Maß von Glück­

seligkeit ertragen kann oder ob eine diesbezügliche E ntartung eingetreten ist.

Die also gestellte Frage ist nicht leicht zu beantw orten.

Freuden verm ißt m an, wenn sie ausbleiben. Schmerzen vergißt m an gern. In

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1920

E ntartung und Pessimismus

167 em Maße, als auch die Genüsse zunehm en, nim m t die Em pfänglichkeit für sie a . as Gewohnte wird nicht m ehr als Genuß em pfunden. Eben dadurch aber

h &

^ mP ^ n£ ^ chkeit für Schmerzen zu, denn das W egfallen des Gewohnten

wird schmerzlich gefühlt. (Schopenhauer, W elt als W ille und Vorst. 3. Aufl.

Bd. 2, S. 657.)

„W ie wir die

G e s u n d h e it

unseres ganzen Leibes

n i c h t

f ü h l e n , sondern nur

ie k le in e

Stelle, wo uns der Schuh drückt, so denken wir auch nicht an unsere gesamten, vollkom m en w ohlgehenden A ngelegenheiten, sondern an irgend eine unbedeutende

K le in ig k e it ,

die uns v erd rieß t." (Derselbe. Parerga. 2. Aufl.

Bd. 2, S. 312.) v

K ann der Schmerz durch die Freude aufgewogen w erden? Petrarca behauptet, a a^ s^n . Genüsse nicht eine Qual w ert seien, und Schopenhauer ist der Mei- h r C11? ^ c*lm erz n *e u n d durch keinen Grad von Lust aufgewogen werden 3

o

S° 6*ne *n der überhaupt der Schmerz

Vorkom men

könne, bei

noch so großem

Glück

sc h le c h te r sei als das N ichts.

M inute11 !jsi^ er W ahl hat, entw eder gar nichts zu hören, oder erst fünf n 3n^ und D isharm onien und dann fünf M inuten lang herrliche i , so wird er sich auf alle Fälle zu dem N ichthören entscheiden.

g etrü b t ^eWÖ*ln ^ c*1 das U rteilsverm ögen d er M enschen, die S chm erzen leiden,

„Die kleinere Qual, die für den Augenblick den Menschen quält, vertauscht er gern, um sie nu r los zu werden, m it der großem : W er Zahnw eh hat, w ünscht, a n es °P we^ ^ ar

>

und w är’ es Kopfweh, wurde er Zahnweh w ünschen." (Grabbe.) h h+6r C ^ er2: ist der PfluS> der den Acker der Seele aufreißt. Der starke Mann t ^ r v 6S*e n . den ^ h m e r z selbst auf m it dem Entschluß, den Schmerz zu ragen. ie meisten Menschen aber nehm en oft ein kleines Ungemach viel sc ^ e re r a ^ und tragen es ungeduldiger als ein großes Unglück.

ei er esundheit ist alles ganz von selbst einleuchtend. N iem and fühlt ein ie , a s wenn er krank ist, nur der N ervenkranke fühlt, daß er Nerven, nur u8enkranke, daß er Augen h a t ; der Gesunde aber nim m t nur durch

„G er

S1C s.' Tastsinn w ahr, daß er einen Leib h a t." (H artm ann, a. a. 0 . S. 583.) üc licherweise kann der Mensch nu r einen gewissen Grad des Unglücks fassen, as arüber hinausgeht, vernichtet ihn oder läßt ihn gleichgültig.

„ n

starken Menschen werden Schmerzen und Freuden zu überschauenden A n­

hohen

des Lebens." (je a n Paul.)

er sein U nglück m it M ut trägt, erscheint selbst gegen das Schicksal als Sieger, denn er ist größer als es.

„ S tu m m sc h lep p t das K am el das lasten d e G ew icht, u n d sch w eig en d s tirb t d er o , um so n st n ic h t sp ric h t zu uns solch B e is p ie l; trag e n sie ih r Los, erh eb en ie une ern, ro h ern n i c h t : D an n sollen w ir, aus edlerm Stoff, so g ro ß a u c h im E rtrag en sein — fü r einen T ag ist’s b lo ß ." (B yron.)

Die Jugend m it ihrer vollkom m enen Gesundheit und ungehindertem Gebrauch

F " l - ^ ÖrP0rS Un(* ^ eis*es besitzt allein die volle Genußfähigkeit — aber nur die

a igkeit des Genusses. W as nützen die besten Zähne, wenn man nichts zu

essen hat! Hier tritt die A rbeit in die Erscheinung. Sie ist für den, der arbeiten

(10)

168

Erckmann

H eft 6/7 m uß, ein Übel, denn nur der Zwang treib t den Menschen zur A r b e it; diese aber vertröstet wieder auf die Zeit der Muße und hat die Zufriedenheit im Gefolge.

„E s gibt zweierlei G attungen von Z ufriedenheit: Die eine m it der W elt, die andere m it sich selbst. Beide genießen ist freilich schön — aber schwer. K annst du sie aber nicht beide vereinen, so laß die W elt fahren und halte dich an dein H erz.“ (Kotzebue.)

Die Zufriedenheit verlangt kein positives Glück, sie ist gerade die V erzicht­

leistung auf solches ; sie verlangt nu r das Fernsein von Schmerzen.

W as bietet aber die Freiheit vom Schmerz ? Doch

n ic h t m e h r als das N ichtsein !

Der Mensch w ird zur W eltflucht geführt, zur V erachtung und dem Überdruß am irdischen Leben, wie es Jesus Christus bis zu den letzten Konsequenzen d u rch ­ geführt hat.

Das Evangelium hatte der H err nur denen gebracht, die das Elend des Daseins fühlen. Er schreibt keine Askese vor, wohl aber möglichste Bedürfnislosigkeit und rät, dieses Leben der Schmerzen und E ntbehrungen in Geduld und in Hoff­

nung auf ein besseres Jenseits zu tragen. (Jo h . Ev. 16, 33.)

H artm ann (a. a. 0 . S. 638) schreibt, „daß^die W eltanschauung Jesu viel zu naiv und kindlich war, um die T rennung von Leib und Seele und die isolierte Fortdauer der letz­

teren für möglich zu h alten .“

Aristoteles spricht dem unsterblichen Teil der Seele nicht nur Liebe und H aß, sondern auch Gedächtnis und anschauliches Denken ab. Spinoza (Eth. T h. 5.)huldigt derselben A nschauung. Schelling und H artm ann erklären die Hoffnung auf eine individuelle Fortdauer der Seele ebenfalls für eine Illusion.

Das Studium der Philosophie h interläßt weder T rost noch Hoffnung. Sie forscht rücksichtslos nach W ahrheit, unbeküm m ert darum , ob das, was sie findet, dem in der Illusion des Triebes befangenen Gefühlsurteils behagt oder nicht.

W ie viel w ir auch grübeln und forschen, w ir können nichts ergründen, was das Sein so innerlich erfaßt als die Glückseligkeit. Jed er Mensch strebt danach.

Und doch lehren uns die Philosophen, daß die Hoffnung auf die Erfüllung ein leerer W ahn, die Folge einer E nttäuschung sei, daß die W elt weise eingerichtet, aber trotzdem durchw eg elend und schlechter als gar keine sei.

W ir haben gesehen, daß sowohl Schopenhauer als H artm ann grau in grau malen.

W as sollen w ir aber zu Max Nordau sagen, dessen Angriffe auf die neuzeit­

lichen Bestrebungen in K unst, L iteratur und Philosophie so schwerwiegend sind, daß man sich fragt, ob der Mann ernst zu nehm en ist. Mit W ucht fällt er über die Großen der Neuzeit her. Überall sieht er E ntartung, sei es in Ibsen, Tolstoi, W agner, Zola, Nietzsche. Sie sind für ihn die entarteten Aussätzigen einer ent­

arteten Zeit, unw ürdig, als M itglieder eines zivilisierten Gemeinwesens angesehen zu w erden. In den oberen Schichten der G roßstadtbevölkerung sieht er nur ein

„leidvolles K rankenhaus“ .

Er gibt zwar zu, daß E ntartung und Hysterie immer bestanden hätten, aber so schreibt er: „Sie traten früher vereinzelt auf und erlangten keine W ichtigkeit für das Leben der ganzen Gesellschaft. Erst die tiefe Erm üdung, welche das Ge­

schlecht erfuhr, an das die Fülle der jäh über es hereinbrechenden Erfindungen

(11)

1920

E ntartung und Pessimismus

169 un Neuerungen unerschw ingliche organische Anforderungen stellte, schuf die günstigen

e ingungen, unter welchen j ene Siechtüm er sich ungeheuer ausbreiten und zu einer CN d Ür -^*e GeSittung wer(^en k onnten“ . (Max Nordau, E ntartung II S. 470.)

q

. ° r au Irrtum : Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart haben sa IS, CS rank ^ ei*en und besonders die Hysterie ungeheuren Einfluß auf die ge-

m e Ku turentw icklung ausgeübt, indem sie gerade die Massen packten. (Siehe a mai , Der W ahnsinn in den 4 letzten Jah rh u n d e rten . Halle 1848.)

s ist bekannt, daß K ritiker in ihren Angriffen gewöhnlich solche Eigenschaften an erer unter die Lupe nehm en, die bei ihnen selbst am ausgeprägtesten sind.

er vernagelte Abstinenzler ist in größerer Gefahr, ein T runkenbold zu werden, a s er ann, der der Alkoholfrage wenig Beachtung geschenkt hat. Der Moral­

viel ^ ^ Cr *m m ora*‘tät näher, als er sich dessen bew ußt ist, auf alle Fälle W e n n ^ ^ S*C^ ^ en e,nschlägigen Fällen gar nicht befaßt, oben ° C*n ^ r^ e r eine Zahl so verschieden gearteter Personen, wie die artete r*en' *n einen Topf wirft und m it dem allgemeinen Namen Ent-

Anst RCt> S° man 2ene'8 ^

m

dieselbe Kategorie zu werfen.

E ig e n s t ff

^

Nordau nach einer genauen Definition des Begriffes E ntartung die Sätze ° 3 ’h11 ^ 6r V° n a ^S Entartete bezeichneten Autoren klarlegte, führt er viele aus ihren W erken an, die zu scharfer K ritik m annigfacher A rt herausfordern.

d ‘ ^ i h * C*n ^ Gr ,,sc^ warzen Pest von E ntartung und H ysterie“ auf, schildert

p i

! i 6 stmör<^ervereine und einen W eibertypus, wobei einem das Gefühl des Ekels überkom m t.

Nordaus Buch soll eine Entw icklung der Lombroso’schen Theorien sein, om roso behauptet, daß die Verbrechen einem gewissen Typus Entarteter ent­

springen, solcher, die erblich belastet sind. Er bringt zahlreiche Beispiele, um ze'Sen' Verbrecher weit m ehr eine für eine Einfügung in das normale ensc ic e Leben ungeeignete V eranlagung besitzen als ehrliche Menschen und 3 , m l* Gewalt der V erbrecherlaufbahn zugetrieben werden,

er wir brauchen keine Ä hnlichkeit zwischen E ntartung und Verbrechertum aufzusuchen, wie es Lombroso tu t. —

S . ^ ä ^ ren<^ Schopenhauer, H artm ann, Nordau und Lombroso die pessimistische E ntartung betonen, sind W illiam Hirsch (Genie und E ntartung, Berlin ) und Metchnikoff (Etudes sur la N ature H um aine [Paris 1903] — Essais

^LjmiSheS ^ arjs 1907]) die Optimisten der E ntartung.

irsc entw ickelt folgende Gedanken : Es ist noch niem and geglückt, die Be- gri e enie und Irrsinn prägnant zu definieren, denn wir sind nicht im Stande, zwisc en geistiger G esundheit und geistiger Störung scharfe Grenzen zu ziehen.

c on ato sprach von einem göttlichen W ahnsinn der Dichter, und Aristo­

teles s a g t:

^ „D arum sind diejenigen, welche sich in der Philosophie, in der Physik, in der

oesie, in den K ü n ste n au sg ez eic h n et h ab e n , sä m tlich sc h w e rm ü tig gew esen.“

as dichterische Schaffen ist ein Fieber; solange der Anfall dauert, fühlt der ' R *6r au ^ er demselben nichts. Bei den Komponisten ist es ebenso.

yron bekennt, daß er bei der Dichtung des Childe Harold halb w ahnsinnig

gewesen sei.

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170

Erckmann

Heft 6/7 Der Philister, dem alles Ungewohnte auch ungehörig erscheint, bezeichnet K ünstler und Gelehrte als V errückte. Der denkende Mensch ist anderer M einung.

Zwischen hervorragenden M ännern, sogenannten Genies und Geisteskranken herrschen Ä hnlichkeiten, aber keine verw andten Zustände.

„D as Genie gleicht vielfach dem Irrsinn, aber nur so wie etwa das Gold dem Messing gleicht.“ (H irsch, Genie und E ntartung. S. 126.)

Die Erziehung ist vielfach verantw ortlich für die falsche E ntw icklung der Genies- Man denke n u r an die W underkinder, denen die brüllende Menge allabendlich zujauchzt, deren edlere Em pfindungen durch Lobhudeleien und jahrm arktartige Reklam e im Keime erstickt werden und bei denen mit dem Sam m etkittel vielfach der Nimbus des Phänom enalen entschw indet. Die E ntw icklung des Genies erleidet Störungen, und aus dem W underkind w ird ein N arr.1)

W as sich hier im einzelnen vollzieht, kann man auch in großen Gesam t­

erscheinungen w ahrnehm en. J a , gewisse Propheten sehen in der Einbildungskraft schon den offnen Schlund, der die entnervte M enschheit zu verschlingen droht.

Sie behaupten, die N ervenzerrüttung mache sich auf jedem Gebiete m enschlicher T ätigkeit bem erkbar und die neuzeitliche K unst und L iteratur seien das P rodukt allgem einer N ervenschw äche. Aber so schlim m ist die Sache nicht.

Nach dem W iderhall, welchen eine angeblich entartete K unst in der Masse der M enscheit gefunden haben soll, werden

"Wir

uns vergeblich um sehen, und die d a ­ raus gefolgerte „ F ä u ln is“ unserer Zeitgenossen, „die schwarze Pest der E ntartung und H ysterie“ ist lediglich ein Schreckgespenst, welches seine E ntstehung der pessimistischen Phantasie der H erren Nordau und Genossen verdankt. (H irsch, a. a. 0 . S. 212. — S. 340.)

Der Optim ist W illiam Hirsch schließt seine interessanten Betrachtungen folgenderm aßen:

„N ach den angestellten U ntersuchungen müssen w ir notwendigerweise zu dem R esultat gelangen, daß von den erw ähnten Autoren der Beweis einer allgem einen Degeneration der K ulturvölker in keiner Weise erbracht ist. Die M enschheit be­

findet sich nicht in einer „schw arzen Pest von E n tartu n g “ , und die W elt braucht sich durch das M ärchen von der „V ölkerdäm m erung“ ebensowenig in Schrecken versetzen zu lassen wie durch H errn Falbs Prophezeiung vom bevorstehenden U ntergang unseres Planeten . . .“

Zu den erfreulichsten Erscheinungen auf dem literarischen Gebiet der E ntartung gehören die Arbeiten des Jenenser Professors und Propheten Rudolf Eucken und die W erke des Franzosen Je an Finot und des Russen Metchnikoff.

Eucken weist auf den m erkw ürdigen W iderspruch der Neuzeit h in : gewaltige Leistungen in kultureller H insicht auf der einen, M ißm ut und Pessimismus auf der ändern Seite. Die Neuzeit brachte im Zusam m enhang m it der fortschreitenden N aturw issenschaft eine Entseelung der W elt, und indem sie auch den Menschen in diesen seelenlosen M echanismus hineinstellte, eine innere Leere, die keine F ort­

schritte zu füllen verm ochte. So begreift sich die pessimistische, zum Teil auch buddhistisch gefärbte Stim m ung unserer Zeit. Eucken sieht in diesem Pessimismus

*) Vgl. das Streiflicht: Frühreife in der K unst S. 180.

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1920

Entartung und Pessimismus

171 ein Verlangen nach einem Höheren, das uns abhanden gekommen ist, aber doch zu unserm Wesen gehört. Nur ein entthronter König fühlt, daß er eine Krone verloren.

Der Franzose Jean Finot (Die Lehre vom Glück, S tuttgart, Hoffmann 1910.) p ilosophiert in fesselnder Weise über das, was die W eisen Jah rtau sen d er zu er- grübeln versuchten. Er ist Optim ist, gesteht ein, daß das Elend die W elt be- errscht und bekäm pft wie ein siegesgewisser Siegfried m it Zuhilfenahm e der ächte der Güte, der Liebe, des tätigen Lebens und des Glaubens die Erschei­

nungen, die wir m it dem G esam tausdruck Unglück bezeichnen. Er stellte

u n s

ein neues, erhabenes Ziel vor Augen und verkündet, ohne das W ort zu gebrauchen, en

H u m a n it ä t s g e d a n k e n ,

der keine Unterschiede der Religionen und Systeme

k e n n t .

Und schließlich noch der Russe Metchnikoff.

Nach einer K larstellung des Begriffs der „D isharm onien“ im menschlichen e en, wozu er K rankheiten, Altersschwäche und Tod rechnet, betrachtet er die ersuche, die auf religiösem und philosophischem Gebiet zur Linderung dieser is arm onien vorgenom m en w urden. Metchnikoff selbst empfiehlt zur Bekäm pfung er tersschwäche eine B ehandlung m it Serum und behauptet, daß durch E n t­

erbung der Gedärme das Leben auf 150 Ja h re gebracht werden könnte.

wei unheim liche Mächte bedrohen die M enschheit, gegen die der Arzt hilflos is . Aussatz und geistige Störungen. Aber selbst hier ist keine Ursache zum Pessimismus.

Der Aussatz ist eine K rankheit des Alters, und wenn m an bedenkt, daß durch essere Lebensweise Gesundheit und Langlebigkeit erhöht werden, so gibt es jetzt eine größere Zahl alter Leute als es früher der Fall war. Infolgedessen ist auch er Prozentsatz der vom Aussatz befallenen Leute höher als früher. Ferner haben so c e, die dem Aussatz verfallen, irgendwelche organische Schwächen. Sie würden in weniger

zivilisierten Zeiten in jü n g e re n J a h r e n d u rch eine ande re

K rank- eit dahingerafft worden sein, gegen die die neuzeitliche W issenschaft mit Erfolg ankäm pft.

Hier sind also zwei Ursachen, die zu einer V erm ehrung des Aussatzes führen, rotzdem sind Hoffnungen vorhanden auf Mittel zur erfolgreichen Bekäm pfung dieser entsetzlichen K rankheit.

F ür die Zunahm e von G eisteskrankheiten gibt es ähnliche Erklärungen.

s ist nicht richtig, daß geistige K rankheiten ein Ausfluß des neuzeitlichen au reibenden Lebens sind. Die meisten Geisteskranken kommen vom platten an e und nicht aus dem wildwüsten Geschäftstreiben der Groß- und Fabrikstadt.

Der letzte Faktor, der für die E ntartung verantw ortlich sein soll, ist die N ervo­

sität der Neuzeit. Diese verschw indet aber mit dem W echsel der Umgebung, wie überhaupt die nachteiligen Folgen der Lebensverhältnisse nicht ererbt sind, sondern sofort verschw inden, w enn die Lebensbedingungen vorteilhafter sind.

W enn wir also das Besprochene zusammenfassen, so finden wir, daß Beweise

für eine allgemeine E ntartung der M enschheit nicht zu erbringen sind. Zu allen

Zeiten haben Schwarzseher U nruhe in das Volk hineingetragen, und unsere Nach-

ommen werden staunend fragen, wie es möglich ist, daß in dieser Zeit der

niechanischen Erfindungen, der Philosophie und W issenschaften der alte A berglaube

von einer im Anzug befindlichen E ntartung W urzel fassen konnte.

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172

Wolfstieg

Heft 6/7 A L T L O G E N U N D R E F O R M L O G E N

Diskussionseröffnung von A u g u s t W o l f s t i e g .

err Dr. Otto Philipp N eum ann h at unter obigem Titel einige von ihm form ulierte, perlenschnurartig aneinandergereihte Urteile und B ehauptungen über dieses T hem a zur Debatte gestellt1), die zur näheren B etrachtung sehr anregen, obgleich das T hem a Denkende an sich schw erlich zur Diskussion herausfordern w ürde. Denn das weitere Publikum , welches von den Logen nur weiß, daß sie lokale Organisationen des großen über die ganze W elt verbreiteten, in den einzelnen Nationen aber stark unterschiedlich organisierten und nach verschiedenen Prinzipien arbeitenden Freim aurerbundes sind, h at meist von Einzelheiten, von dem A ufbau, den Gegensätzen, Zwecken usw. des Bundes keine A hnung, außer einigen Neu­

gierigen und vielen Gegnern der Freim aurerei auch kein weiteres Interesse, d a es sehr zufrieden ist, von einem Bunde nichts zu erfahren, der sich selber in Schweigen hüllt und von außen den E indruck eines bloßen Konventikels von M ännern m acht, die sich gegenseitig anbiedern und unterstützen. Tieferblickende wissen allerdings, daß dem n icht so ist, daß es sich hier um sehr ernste Dinge handelt, und daß der Bund eine Menge von geistesgeschichtlichen und sozial­

pädagogischen Problem en behandelt, die »der M ühe w ert sind beachtet zu werden;

ab er die Logen m indestens scheinen die reinen Geselligkeitsvereine oder Klubs zu sein, und wer nicht schon aus Lessings E rnst und Falk weiß, daß zwischen Frei­

maurerei und Logentum ein großer U nterschied ist, sieht es gewiß nicht aus dem Augenscheine. W as nennt sich auch nicht alles heutzutage Logen? Tem perenzler­

logen, O dd-Fellow-Logen, Spiritistenlogen, Theosophische Logen, Reformlogen, W inkellogen, Freim aurerlogen — alles nennt sich Logen und h at ein Recht dazu sich so zu nennen, obgleich es doch nur Vereine sind, wie andere auch, nu r mit ein wenig Versteckspielen und nach der Ansicht des Publikum s, nam entlich des gegnerischen Teiles desselben, m it einer guten Portion Einseitigkeit, Falschheit und frommem Betrug. Ihnen nim m t man das nicht übel; aber ich verstehe nicht, wie

€in F reim aurer2) selbst Verw irrung stiften kann, indem er Altlogen, d. h. echte Frei­

m aurerlogen, und die sogenannten Reformlogen in einem Atem nennt, obgleich er weiß, daß sie nicht das geringste m iteinander zu tu n haben: w arum nicht auch Freim aurerlogen, Spiritistenlogen und Pfeifenklub? Und wen gehen diese Interna der Freim aurerei überhaupt a n ? H err Dr. Neum ann will aber das T hem a auch g ar nicht behandeln, sondern , auf die V erschiedenheit der in den Altlogen und den sogenannten Reformlogen betriebenen Art der Freim aurerei aufm erksam m achen und lässt die Logen ganz beiseite. Er erkennt aber m it seiner Fragestellung an, daß in den Reformlogen Freim aurerei betrieben wird. Das m uß ich ganz entschieden be­

streiten. Ich kann den Begriff der Freim aurerei, der übrigens noch strittig ist, hier nicht erörtern, da ich sonst mindestens 100 Seiten Raum gebrauchte, stelle aber

*) Monatshefte für Volkserziehung. Bd. 27. 1918. S. 11 ff.

2) Herr Dr. Neumann ist offenbar Freimaurer. Er redet beständig von Br. Möller (wer ist das?), der etwas als Kronzeuge (wofür) gesagt haben soll (wo?), Alten Pflichten (was ist das?), Konstitutionenbuch ( ? ? ) usw. Wer versteht das als Laie?

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1920

Altlogen und Reformlogen

173

fest, d a ß alle F re im a u re r d arin einig sind, d a ß der Begriff a u f eine L eb e n sk u n st hinauslä uft, die es den arb e iten d e n M ä n n e r n d u r c h eigenartige Mittel u n d Methoden ermöglicht, sich u n d die W e lt v o llk o m m e n e r zu m a che n u n d die M enschheit auf möglichst kürzestem W ege zu ihrem Endziele h in z u fü h re n , das P h ilosophe n H u m a n itä t, ristus das Reich Gottes a u f Erde n, dogm atische Theologen die G em ein de der

^ r^ e^ orenen zu n e n n e n pflegen. Dabei hüfen sich die F re im a u re r, den P hilosophen un en Theologen in die Quere zu k o m m e n ; sie b eh a u p te n , d a ß sie m it dem lssen u n d F orschen der P h ilosophe n an sich g a r nic hts zu t u n h ä tte n , sondern a ein m it der W e i s h e i t , d a ß sie a u c h nichts m it der Religion, am w enigsten mit der Theologie u n d ihren Dogm en, zu schaffen h ätten , sondern allein m it der t ä r k e des W illens, m it der K ra ft des G ottsuchens oder des S ich-G ott-N äherns, le sich gleich w eit von blo ßer E th ik u n d bloßer Religion entfe rnt h ä lt u n d die ihr eservoir in nic hts a n d e r e m hat, als dem m enschlichen Gewissen oder besser: in er sittlichen F reiheit, die die F reim a ure re i m it aller Gew alt zu erzeugen u n d zu S , n die K u n s t will die F reim aurerei m it ihrer „ L e b e n s k u n s t“

mc in ein dilettieren, d a sie w e d e r bestrebt ist, Bilder u n d plastische K u n stw erk e erzus e len, noch G edic hte zu fabrizieren, noch a u c h K irchen u n d Schlösser zu bauen, son ern allein a u f die E rb a u u n g eines in ne rlich ged a ch ten „T e m p e ls der W e ish e it“

i r u g en m erk richten will, den sie m it der S c h ö n h e i t aller H a rm o n ie n aus- s a* en m öchte, deren der Mensch fähig ist.

em gege nüber ist der so g e n a n n te F re im a u re rb u n d zur au fg e h en d en Sonne eine erein ig ung von M ä n n ern , welche die P ro p a g a n d ie ru n g des O stw ald ’schen E nergism us anstre bt u n d sich dabei fre im aurerischer F orm e n u n d Organisationen bedient. Das ist ab e r eben n u r reine ä u ß e rlic h e F o rm , da diese A rt von Logen m it der englischen rüderschaft u n d ih rem S treben nichts gem ein h a t u n d sich in ihrem Betriebe zu reim aurerischer K u n s t g e n a u so ve r h ä lt, wie die erfundene S prache zu der gew achsenen, nhaltlic h h a n d e lt es sich also lediglich u m V erbre itung einer rein m e t a p h y s i s c h e n , heute wohl sc hon ziemlich ü b e r w u n d e n e n A nsicht, die m a n in diesen Sonnenlo gen mit einigen ethischen Floskeln ein w enig v e r b r ä m t u n d d u rc h die Z u ta t von frei­

m aurerischen F orm e n ein w enig s c h m a c k h a f t m a ch t. Mit se hr w o hlw olle ndem A us­

rucke k ö n n te m a n diese Reformlogen als eine besondere G ruppe der Gesellschaften ur ethische K u ltu r bezeichnen, denen n a h e g e r ü c k t zu w erden die echte n F re im a u re r im m er u n te r heftigen P rotesten a b g e le h n t h ab e n .

en In h a lt dessen, w as die Reformlogen anstreben, gib t H err Dr. N e u m a n n in em Satze wieder, d a ß es sich um das E t h o s o h n e R e l i g i o n handelt.

D amit ist H err Dr. N. g an z ein v ersta n d en . Gewiß, so sagt er, „ is t das das letzte Ziel, welches am E n d e d e r religiösen E n tw ic k e lu n g liegt''. Man s ta u n t d irek t:

ein Eth os oh n e Religion das letzte Endziel der religiösen E n tw ic k e lu n g ! !! F ür Herrn Dr. N. h a t S c h le ierm a ch e r seine Reden ü b er die Religion offenbar ganz vergeblich geschrieben, er steckt noch m it beiden Beinen in der Auffassung der Zeit vor Lessing. D am als w a r eine V erm isc hung von Moralischem u n d Religiösem ebenso g ew ö h n lich , wie zur Zeit der R o m a n tik die V erm e n g u n g vo n Ästh etischem und Religiösem. Das w a r es ja gerade, was S chleierm acher die F eder in die H a n d rückte, d a ß er den Unterschied des Religiösen betonen wollte von allem M eta­

physischen (cf. F rie drich der Große, M endelsohn usw.) u n d Moralischen (cf. die

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174

Wolfstieg

Heft 6/7 aufklärerische Theologie, Reim arus, Jerusalem usw .); darum wollte Schleierm acher m it dem schneidenden Gegensatz anheben, in welchem sich die Religion gegen Moral und M etaphysik befindet. . . „Die Religion entsagt hierm it, um den Besitz ihres Eigentum s anzutreten, allen A nsprüchen auf irgendetwas, was jenen ange­

hört, und gibt alles zurück, was man ihr aufgedrungen hat. Sie begehrt nicht, das Universum seiner N atur nach zu beslim m en und zu erklären, wie die M eta­

physik, sie begehrt nicht, aus K raft der Freiheit und der göttlichen W illkür des Menschen es fortzubilden und fertigzum achen, wie die Moral. Ihr W esen ist w e d e r D e n k e n n o c h H a n d e l n , s o n d e r n A n s c h a u u n g u n d G e f ü h l . A nschauen will sie das Universum , in seinen eigenen D arstellungen und H andlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unm ittelbaren Einflüssen will sie es in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. So ist sie b e i d e n i n a l l e m e n t g e g e n g e s e t z t , was ihr W esen ausm acht, und in allem , was ihre W irkungen charakterisiert1).“ Diese Ansicht über den Unterschied von Religion und Moral ist seitdem eigentlich allen Gebildeten in Fleisch und B lut übergegangen, zum al die m oderne Philosophie als W issenschaft den scharfen Unterschied von Moral und Religion2) nicht verk en n t: „Beide entspringen aus derselben W urzel, der Sehnsucht des W illens nach dem Vollkommenen. W as aber in der Moral als Forderung erscheint, das ist in der Religion Erfüllung. Das Vollkommene wird von der Moral in abstrakten Form en beschrieben, in dem religiösen Glauben in concreto als göttliches, heiliges und seliges Leben angeschaut.“ Gewiß stellen sich M oralität und Religiosität subjektiv genommen als zwei Seiten derselben Sache dar, indem ein Individuum sittlich ist, sofern sein W ollen und H andeln nach dem Vollkommenen sich streckt, fromm, sofern sein Gefühl, sein Glaube und seine Hoffnung von dem Bilde Gottes erfüllt ist; aber Fröm m igkeit und Sittlichkeit decken sich doch nicht, am w enigsten ist ein Ethos ohne Religion das Ziel, welches am E nde der religiösen E ntw ickelung liegt, da eine religiöse E ntw ickelung niem als auf etwas Moralisches hinauslaufen kann. Das ist eine contradictio in adjecto, daß Religion und Moral Parallelen sind. Und ob es überhaupt eine Sittlichkeit ohne Religion gibt, ist eine sehr zweifelhafte Sache, ein modernes Problem , das man viel erörtert, das aber sich w ahrscheinlich nicht m it einem einfachen J a oder Nein wird entscheiden lassen. Paulsen ist jedenfalls nicht der A nsicht3), daß M oralität und Religiosität, Lebensführung und W eltanschauung gegen einander völlig gleichgültige Dinge sind, die Freim aurerei erst recht n ich t; nu r H err Dr. N., sicher einer der sehr wenigen unter den echten Freim aurern, stim m t darin den „R eform logen“

völlig bei und h ält ein Ethos ohne Religion für das „Endziel aller religiösen E n t­

w ickelung.“

D ennoch will er den „Stupidatheisten“ m it „Br. M öller“ in den Altlogen nicht dulden, einm al weil das so in den „Alten Pflichten“ steht, deren H eiligtum , den W ert der Religion und der Gottesidee, die Altlogen nun einm al hüten müssen, dann aber deshalb, weil, w enn der Gottesglaube unw esentlich sei, auch das G ott­

suchen überflüssig werde.

*) Originalausgabe S. 50, Ausgabe von R. Otto S. 26 f.

2) Paulsen: System der Ethik l 7. 1906. S. 421.

3) Ebendaselbst S. 424.

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1920

Altlogen und Reformlogen

175 Nun sind aber die „A lten Pflichten“ in der Freim aurerei keineswegs allgemein anerkannt. Der größte Teil aller Logen in D eutschland lehnen sie als rechtsver­

bindlich überhaupt ab und sehen in ihnen lediglich ein historisch interessantes D okum ent der englischen Großloge von 1717. Auch ist das „H eiligtum “ dieser Alten Pflichten alles andere als der W ert der Religion und der Gottesidee. Deistisch, wie sie nun einmal sind, triefen diese Vorschriften n u r so von Moral, wie eine aschine von Öl, und reden nur an zwei Stellen von einer Religion, in welcher a le Menschen übereinstim m en (catholick religion, in w hich all men agree), also von einer Religion, die es gar nicht gibt, und die auch der reine blaue deistische D unst ist.

Von einer Gottesidee sprechen die Alten Pflichten überhaupt an keiner Stelle, sondern erw ähnen nur, daß, wenn ein Mason seine K unst recht verstehe, er weder ein dum m er A theist noch ein religionsloser Freigeist (Libertine) sein w ird 1). Also m it dem H e i l i g t u m dieser Alten Pflichten ist es nicht weit her, und die Altlogen denken nicht daran, es zu hüten. Denn deren Wesen b eruht w ahrhaftig nicht auf Religions­

etrieb und der Pflege der Gottesideen — das m uß allein den Kirchen überlassen eiben sondern auf der Pflege und W irksam m achung ihrer alten Symbolik, lese m uß d enF reim aurer leiten und ihn beim „G ottsuchen“ führen, auchdieA theisten2) unter ihnen, die ja auch ihren „G o tt“ suchen, nu r in anderer Weise, wie fromme Leute und die Stillen im Lande. Der Unterschied zwischen Altlogen und Reform­

logen ist überhaupt kein religöser, sondern beruht außer in dem oben erw ähnten Festlegen der letzteren auf ein bestimmtes m etaphysisches System lediglich in historischen Tatsachen, im W achsen und W erden, und in Folge dessen auf einer ganz m ißver­

standenen Deutung des H um anitätsbegriffes. N icht derjenige, welcher sich die Mühe genommen hat, m it M enschenantlitz geboren zu werden, gehört der M enschheit im Sinne der H um anitätsideen der Altlogen an, sondern lediglich der, w elcher seine Seele schmiegsam genug gehalten hat und hält, um vollkom m ener zu werden d. h.

um sich unter Leitung der Symbole em porzuringen zu jenem unendlichen W erte der Menschenseele, von welchem Christus spricht. H um anität und U nsterblichkeit sind Aufgaben, die gelöst sein wollen, keine Erbgnaden, die wie gewisse Gesetz’ und Rechte mit dem Menschen geboren w erden. Nicht dieses oder jenes metaphysische System, ebensowenig dieses oder jenes dogm atische System oder diese oder jene juristische K onstruktion von M enschenrechten oder eine gefühlvolle H um anitätsduselei als Ideal des Allgem ein-M enschlichen ist H um anität, sondern allein die K raft der Seele, hinabzusteigen zu den „M üttern“ und sich emporzuringen zur eigenen W ieder­

geburt und zur Em porhebung der M enschheit.

Und so lang du dies nicht hast,

„Dieses Stirb und w erde“

usw.

Herr Dr. N. beschuldigt die Reformlogen der Intoleranz, weil sie jeden ausschließen, der noch auf dem Boden des konfessional-dogm atischen K irchenglaubens steht. W enn

*) Auch darin irrt Herr Dr. N., daß die im H um anitätsgedanken zusammengefaßte Mensch­

heitsreligion in den Alten Pflichten verlautbart sei. Es ist von Hum anitätsgedanken an keiner Stelle dort die Rede.

) Die Pantheisten wie Lessing und Goethe sind in gewisser Weise ja auch Atheisten, da sie in letzter Schlußfolgerung ja nicht auf eine göttliche Person, sondern auf eine Sache kommen.

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176

Streiflichter

Heft 6/7 m an H errn Dr. N. glauben will, sind die Altlogen genau so intolerant, weil sie jeden ausschließen, der ein S tupidatheist ist. In W ah rh eit ist das letztere aller­

dings bei den Altlogen nicht der Fall, aber H err Dr. N. irrt, weil er von der irrigen A nsicht ausgeht, daß die Freim aurerei r e l i g i ö s o r i e n t i e r t sei. Das ist nicht einm al für D eutschland richtig; selbst die Altlogen, die dem sogenannten christlichen Prinzip anhängen, fragen niem anden nach seiner r e l i g i ö s e n Ü b e r z e u g u n g , sondern höchstens nach seiner form alen Zugehörigkeit zu irgendeiner der anerkannten christlichen K irchen, und überzeugen sich durch prüfendeU m fragen, ob der A nsuchende christliche Gesinnung und Bildung genug besitzt, daß er fähig ist, der Erziehungs­

m ethode ihrer B auhütten zu folgen oder nicht. Da diese M ethoden die A ner­

kennung der einfachsten christlichen, überall anerkannten W ahrheiten, die eventuell auch ein Atheist, der nicht an einen p e r s ö n l i c h e n Gott glaubt, anerkennen kann, klar voraussetzt, so müssen sie danach fragen1); Festlegung auf christliche Dogmen verlangen auch die Altlogen m it christlichem Prinzip von ihren Angehörigen nicht.

Mit der Religion hat das Freim aurertum gar nichts zu tun. Ich halte es für eine der Freim aurerei äußerst schädliche und für sie direkt gefährliche Sache, in der Ö ffentlichkeit irrtüm lich die Ansicht zu verbreiten, die Freim aurerei kom m e den K irchen dadurch ins Gehege, daß sie sich m it Religion beschäftige. W enn man sich m it H errn Dr. N. schon auf die Alten Pflichten berufen will, so sollte man es hier tu n : Die Alten Pflichten verbieten den einzelnen Brrn. in den Logen und diesen selbst auf das allerstrengste und auf das bestim m teste die Beschäftigung m it Religion und Politik.

S T R E I F L IC H T E R

Z

u r G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . — Man wird E. Troeltsch sehr dankbar dafür sein können,, daß er seinen am 22. Ja n u ar 1919 gehaltenen, aber in erweiterter und ergänzter Form hier vorliegenden Vortrag2) weiterem Publikum hat vorlegen lassen. Es handelt sich hier um einen der wichtigsten Zentralbegriffe in der Historik, der eigentlich den K ernpunkt des Streites zwischen den Jung-R ankeanern und Lam precht und den Jüngern Comtes bildet,, um den Begriff einer spezifisch historischen Dynamik mit ihrer beständigen Erzeugung und Verschmelzung der Gegensätze, ihrem immer flüssigen Ineinander aller Einzelheiten und ihrem untrennbaren Durcheinanderspielen von V ergangenheit,, Gegenwart und Zukunft.

Dieser Begriff geht auf Hegel und seine Gewährsleute nach rückw ärts zurück, begeisterte aber auch seine Schüler sowohl aus den Kreisen der Rom antik (rechter Flügel), als auch aus den Kreisen der Aufklärung (Hegelsche Linke). Man findet ihn vornehmlich im Marxismus, der es verstand, Collektiv-Einheiten und Entwicklungsübergänge erkenntnis­

mäßig zu fassen und in der inneren Einheit und Lebendigkeit zugleich auch zu erhalten^

man findet ihn bei Voltaire und Montesquieu, bei Möser und Heeren, bei Bacon und St. Simon und vor allem bei Comte und St. Mill. Das Problem Kollektiv- oder Individual.

*) Z. B. den Grundsatz der werktätigen Liebe dem Nächsten gegenüber, derBarm herzigkeitals vornehmster Tugend usw. Freilich wer Gott in gar keiner Form m ehr zu erkennen vermag, wer nicht einen „Vater“ mindestens in dem Walten derG eschichte sehn kann, gehört schon deswegen nicht in die Logen, weil ihm die Grundlage für den Brüderlichskeitsgedanken abgeht.

2) Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus von E r n s t T r o e l t s c h . Berlin: Reuther & Reichhard. 1919. 99 S. 8 ’. M. 3,60. (Philo­

sophische Vorträge, veröffentl. v. d. Kantgesellschaft. Hrsg. von Arthur Liebert. Nr. 23.)

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