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Geisteskultur und Volksbildung. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben, 1920, 29. Band, Heft 3-4

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Academic year: 2022

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Geisteskultur und Volksbildung

Monatshefte der Comenius~ Gesellschaft

H er a u sg eb er und Schriftleiter:

Ferd. Jak. Schmidt und Georg Heinz

T u c k e rm a n n , Der Ursprung der gotischen Dombauhütten in Isle de France (Schluß)

M anz, Lüge und Wahrheit

Streiflichter — Rundschau — Bücherschau Zeitschriftenschau — Sprechsaal

INHALT:

29. Jahrgang Drittes und viertes Heft März-April 1920

Verlag von ALFRED UNGER in Berlin CZ

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C O M E N I U S - G E S E L L S C H A F T

F Ü R G E IS T E S K U L T U R U N D V O L K S B I L D U N G Begründet von Geh. Archivrat Dr. Ludwig Keller

Ehrenvorsitzender: Vorsitzender: Qeschäftsffihr. Vorstandsmitgl.: Generalsekretär:

Prinz zu Schönaich- Prof. Dr. Ferd. Jak. Schmidt Alfred Unser Dr. Georg Heinz Carolath, Durchlaucht Berlin - Grunewald Verlagsbuchhändler Berlin 0 3 4

Schloß Arntitz, Kr. Ouben Hohenzollerndamm 55 Berlin C 2, Spandauer Str. 22 Warschauer Str. 63

D ie Mitgliedschaft wird erworben durch Einzahlung des Jahresbeitrages von M. 1 5 . - auf das Konto der C.-G. bei der Mitteldeutschen Creditbank, Depositenkasse K, Berlin C2, Königstraße 51; oder auf das Postscheck-Konto der C.-G. Nr. 21 2 95 beim Postscheckamt Berlin NW7; oder durch direkte Einzahlung bei der Geschäftsstelle der Comenius-Gesellschaft, Berlin C2, Spandauer Str. 22; oder bei jeder Buchhandlung.

Für Mitglieder aus den nachgenannten Staaten ist der Jahresbeitrag festgesetzt wie folgt:

Dänemark 6.50 Kr., Norwegen. Schweden 6.— Kr., Schweiz 7.50 Fr., Spanien 6.75 Pes., Holland 3.60 Gulden, England 6,6 Schill., Belgien, Luxemburg, Frankreich 10.50 Fr., Italien 12.— Lire, Vereinigte Staaten von Amerika, Mexiko 1.50 Doll., Japan 3.50 Yen.

Die Mitglieder der Gesellschaft erhalten die Zeitschrift »Geisteskultur und Volksbildung"

k o s t e n l o s . Diese erscheint jährlich in 10 bis 12 Heften im Umfange von je 2 -3 Bogen.

Die Einteilung in »Monatshefte für Kultur und Geistesleben« und »Monatshefte für Volkserziehung* entfällt vom neuen Jahrgang ab. Die Hefte sind auch einzeln käuflich zum Preise von M. 2.50.

Die Mitarbeiter erhalten drei Hefte als Beleg kostenlos zugesandt. Bücher, die in

»Geisteskultur und Volksbildung" besprochen werden sollen, sind durch die Post oder auf Buchhändlerweg (Leipz. Komm.: Volckmar — Berliner Bestellanstalt) an den Verlag oder an den Schriftleiter Dr. Georg Heinz, Berlin 0 3 4 , Warschauer Str. 63 zu senden.

P reise für Anzeigen in »Geisteskultur und Volksbildung“ auf besondere Anfrage.

I N H A L T (Fortsetzung)

Streiflichter...Seite 9 5

R u n d sc h a u ... » 100 B ü c h e rs c h a u ...

107

Sternberg, Einführung in die Philosophie vom Standpunkt des Kritizismus - Wagler, Frei­

maurerei als Entwicklung der Persönlichkeit — Bischoff, Die Sozialisierung des Oeistes — Ernst, Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus - Muckle, Das Kulturideal des Sozialismus - Hasse, Der kommunistische Oedanke in der Philosophie

— Müller, Der Sozialismus in Deutschland - Paquet, Im kommunistischen Rußland - Hoff- mann, Die Religion des Sozialismus - Bischoff, Sozialismus als Religion - Messmer, Katholi­

zismus und Revolution - Emböh, der soziale Umsturz - Federn, Zur Psychologie der Revo­

lution: Die vaterlose Gesellschaft - Walzel,

Wechselseitige Erhellung der Künste - Dehio, Oeschichte der Deutschen Kunst - v.Oleichen- Rußwurm, Die gotische Welt - Scheffler, Der Geist der Gotik — Reisinger, Griechenland, Landschaften und Bauten — Istel, das Buch der Oper - Brandes, Miniaturen — Diekmanns Denkwürdigkeiten- und Erinnerungen-Bflcherel, Bd. 1-5 - Schmidt, Der Weg zur Erlangung sittlicher Kraft — Oehlke, Geschichte der deutschen Literatur — Händel, Führer durch die Muttersprache — Vorländer, Unserer Kinder deutsche Oeschichte — Seellng, Zur Methodik des Unterrichts in Lebens- und Bürgerkunde.

schrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts — Grüne Blätter.

Zeitschriftenschau...Seite 118

Der unsichtbare Tempel — Die Tat — Der Vortrupp — Deutsches Volkstum

- Sozialistische Monatshefte - Zeit-

S p re c h s a a l...Seite 119

V e r la g v o n A L F R E D U N O E R , B E R L IN C 2, S p a n d a u e r S t r a B e 22

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Geisteskultur und Volksbildung

M o n a t s h e f t e d e r C o m e n i u s - G e s e l l s c h a f t

S ch riftleitu ng:

Prof. Dr. Ferd. Jak. Schmidt

B erlin - G ru n e w a ld , Hohenzollerndamm 55

Oberlehrer Dr. G eorg Heinz

B erlin 0 3 4 W arschauer Straße 63

Verlag von A lfr e d U n g e r , B e r lin C 2

Spandauer Straße 22 Jährlich 1 0 -1 2 H efte

Preis für den Jahrgang M. 15. —

Einzelhefte M. 250 Bezugspreise fü r das Ausland

auf d er 2. Uinschlagscite

29. Jahrgang Drittes v . viertes Heft M ärz-April J920

DER URSPRUNG DER GOTISCHEN DOMBAUHÜTTEN IN ISLE DE FRANCE

Von W . P. T u c k e r m a n n f (Schluß)

h n e die nachfolg ende symbolische D eu tu n g der beiden Bilder sind diese die im m er als u n v e rstä n d lic h mystischen Inhalts galten, wie viele geradezu kom is ch w irkende E rk lä r u n g e n zeigen, eines Dürer oder B e h am gar nic h t würdig, wogegen doch herv o rzu h e b en ist, d a ß beide u n a b h ä n g ig v o n e in a n d e r den gleichen Stoff b e h a n d e lte n . Nach diesen Bildern stellt sich die geheim gehaltene H ü tte n le h re als eine edelste Morallehre dar, jedoch — u n d darin liegt w ieder das H äretische — mit einer Spitze gegen die B e v o r m u n d u n g der K irche u n d Priesterschaft u n m it te l b a r vor Gott. Somit also bestehen die in beiden K upfern an die T e m p lerle h re und T einpierbauten e rin n e rn d e n Sym bole in M a h n u n g e n einer gewissen, d u r c h eigene Kraft und im C hristenglauben erreichbaren V ollendung, m it der Darstellung eines großen, eigenartigen W erksteines, dem Schlußstein eines sechsseitigen K lo ste rk u p p e l­

gewölbes — des T em pels — , aus dem k reisru n d e n , mit besonderer Mittelfigur bezeichneten P latten stein , der Mitte des T em p elfu ß b o d en s, der Kugel als Zeichen der Vollendung u n d vielen Meß- und Arbeitsgeräten. Somit war, w orauf beson­

deres Gew ic ht zu legen ist, noch 20 0 J a h r e nac h der V ern ic h tu n g des T e m p e l­

herrenordens die Begeisterung u n d V ereh ru n g der deutschen B a u h ü tte n über ein von altersher überliefertes V erhältnis zu ih nen resp. der französischen B a u h ü tte n in der Zeit ihrer G rü n d u n g so groß, d a ß sie als H a uptz eiche n ihres Z u s a m m e n ­ hangs die beiden von je nen dem heiligen Grabesbau e n tn o m m e n e n S ymbole in die Mitte ihrer Lehrtafel setzten. Obgleich D ürer a u f die „V is ie ru n g “ dieses Steines ein ganz besonderes G ew icht legt un d ihn offenbar nac h der N a tu r gezeichnet hat, wie ein Bild seines in Dresden a u fb e w a h rte n S kizzenbuches erweist, wo er sogar den A u g e n p u n k t seiner P erspektive festgelegt hat, so h a t er ihn doch etwas zu massig gezeichnet, wie m a n sich überzeugen k a n n , w enn m a n nac h der d a r ­ stellenden Geometrie seine begrenzenden F läc h en abw ic kelt, ein Modell des Steines

M o n atsh e fte d e r C. G. 1920. 7

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82 Tuckermann Heft 3/4 h ie rn a c h plastisch h e r s t e l l t 1) u n d von d em gleichen S ta n d p u n k t wie Dürer eine neue P erspektive zeichnet. Der Stein h a t 2 Dreiecks- un d 6 F ünfecksflächen, von d e n e n 3 von dem unte re n Dreieck au s g e h e n d au f r e c h t u n d 3 a b w ä rts geric htet sin d. Die Spitzen der beiden Dreiecke stehen gegenüber, so d a ß ihre P roje ktion d en sechsspitzigen Stern, das H a u p ts y m b o l der Gnostiker, bildet. S icher ist es, d a ß dieser Stein baulich keine a n d e re V er w e n d u n g gestattet, als wie als S c h lu ß ­ stein eines sechseckigen K losterkuppelgewölbes. A uch der k reisrunde P lattenstein ist sowohl v o n Dürer, wie von B e h am besonders h e rvorgehobe n, indem ersterer ihn, mit reichem F r a n z e n tu c h b e h ä n g t, zum Sitz eines Engels, des Sym bols der W e ish e it Gottes, w äh lt, u n d B e h a m ih n als Sitz der M elancholia selbst, dem s y m ­ bolischen R e p rä se n ta n te n der S c h ö n h e it (M ela ncholia ist n u r eine geheim e D eck­

b e z eichnung), der eigentlichen P a tr o n in u n d F ü h re rin der B a u h ü tte n le u t e v e r ­ w e n d e t . 2) Diese beiden bauliche n Sym bole s ta m m e n m it größter W a h r s c h e in lic h ­ keit, wie e r w ä h n t, von den französichen T em p lern , von denen sie in der zweiten H älfte des XII. J a h r h u n d e r t s d u r c h die französichen B a u h ü tte n ü b e rn o m m e n sind, d e n n d a der O rde n 1307 v e r n ic h te t w u rd e u n d die gegen Mitte des XII. J a h r ­ h u n d e r ts fast überall in F ra n k re ic h sc hon fertigen K o m m e n d e n te m p e l auf s y m ­ bolischen G ru n d riß fig u ren fußen, so k a n n nic h t eine anderweitige Beeinflussung d e r d eutschen oder englischen B a u h ü tte n d u r c h die T em p ler s ta ttg e h a b t habe n.

Bis zum XII. J a h r h u n d e r t sind die N am e n der B e g rü n d e r der n eue n K u n s t völlig in D unkel gehüllt. Man n en n t, wie schon e rw ä h n t, den A b t S ugerius beim U m b au d e r A bteikirche vo n St. Denis, (der älte s tb e k a n n te n gotischen K o n str u k tio n ) um 1 1 4 0 — 4 4 als ersten Gotiker un d m it ihm den die G rü n d u n g der Notre Dame vo n P aris 1160 v e ra n lass en d en Bischof Maurice de J u l l y . U nter d em Bischof E v ra r d de F ouilly w u rd e 1220 der L aien arc h itek t R obe rt de L uzarehes m it der E r b a u u n g der Notre D am e d ’Am iens betra ut. Das ist der erste b e k a n n te A rc h ite k te n ­ n a m e u n te r den D o m b a u h ü t te n l e u te n . N ac h ihm w a r T h o m a s de C orm ont Meister u n d n a c h ihm dessen S ohn R e g n au lt. Bei d em C horbau der K ath e d r a le von Reim s 1 2 1 2 — 1241 w ird Robert de Coucy als Meister g e n a n n t un d 1240 engagiert K önig L udw ig der Heilige den Meister Pierre de M ontereau oder M ontreuil für den Bau der S t Chapelle d u roi ä Paris, der entzüc kendste n Blüte französischer F rü h g o tik . W ie auc h schon bem erkt, s ta m m t die d eutsche Gotik von F ra n k re ich , wie die Dome vo n K öln u n d Trier auf direkte V er w e n d u n g französischer V oib ilder hin w eisen. Man k a n n sich d a h e r n ic h t w u n d e r n , w en n in der d eutschen Schule, die in die neue K u n s t erst eintritt, da in F ra n k re ic h schon die Höhe der E n t ­ w ic k e lu n g erreicht w ar, eine schem a tisc here B e h a n d l u n g der F o rm e n P latz greift, eine m e h r d o k tr in ä re Auffassung, in w e lc h e r die schon ausgebildete Stilistik, als eine Regel, über die freie E rfin d u n g siegt. Nichtsdestowenig er ist m a n c h e selb st­

stä n d ig e W e ite re n tw ic k lu n g , m a n c h e den d eu tsch e n Meistern d er Gotik eigenartige S c h ö n h e it den deu tsch e n B a u h ü tte n als V erdienst zuzuschreiben, jedenfalls ist die k onsequente, m e hre re J a h r h u n d e r t e die K u n s t fortgesetzt fördernde in ternationale

J) Es ist also nicht, wie geurteilt ist, ein Würfel mit zwei Abstumpfungen, sondern ein prismatischer Körper mit acht Flächen, von denen zwei dreieckig und sechs fünfeckig sind.

2) Die speziellere Beschreibung der beiden Kupferstiche erfolgt am Schluß.

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1920 Der Ursprung der gotischen Dombauhtitten in Isle de France 83 O rg anisation der B a u h ü tte n ein deutsches W e rk . Der Köln er D om plan von 1248 soll d e m Meister G erh a r d von Rile, der 1302 starb, a n ge hören. Sein Nachfolger w ar 1296 der Meister Arnold, dem 1308 sein Sohn J o h a n n e s folgte. Ein großer R uf begleitete die K ölner D o m b a u h ü t te , und groß w a r ihre W irk sa m k e it. Sie lieferte die Meister für U trec h t 1254, A lte n b u rg 1255, Metz, Cleve, O ppenheim , Soest. K em pe n, X a n te n , selbst nac h Burgos in S panien. Zu ihrem h o h en Ruf trug wese ntlich bei, d a ß der D om in ik a n erp ro v in zial Graf von Ballstädt, b e k a n n t unte r dem N am e n Alb ertu s M agnus ihr an g e h ö rt un d ihre S te inm etz ordnung geschaffen (oder wohl n u r reorganisiert?) hab e n soll. Auch der 1328 in Köln verstorbene D o m inika nerprovinzial von Sachsen, Meister E c k h a rd t, h a t der Kölner D om b au h iitte a n g e h ö r t u n d soll die (sicher sc hon v o r h e r bek a n n te ) K onstruktion d e r T u r m - und F iale nanlage n aus dem „ A c h t o r t “ , das ist d em achtspitzigen Stern, als D urc h flec h tu n g zweier Q uadrate, gelehrt haben. Von beiden soll a u c h die sym bolische A usdrucksform des ethischen L e h rin h a lts der D o m b a u h ü tte n nac h der A rt der frü h c h ristlic h en gnostischen Geheim gesellschaften eingeführt, oder v ie lm e h r w eitergebildet sein. Das Sym bol als Ausdrucksweise ist in diesen gotischen sta tu a ris ch en D arstellungen vorerst eine besonders auf das V erstä ndnis des H a n d ­ werkers, der ja m it der K u n s t des Lesens im allgem einen n ic h t v e r tr a u t war, berechnete poetische Lehrform , abgesehen d av o n , d a ß im arischen Volk sbewußtsein alte E rin n e ru n g e n u n d pantheistische Vorstellungen w urzeln, welche die Beseelung der W e lt n u r vergleichsweise darstellen k ö nnen. D ann ab e r ist es eine Deckform fü r die im V ortrag leicht m iß z u v e rste h e n d e n philosophischen G edanken. Schon bei der V erbre itung des C hristentum s u n te r den Griechen u n d Röm ern w a r es nötig gewesen, die m e taphysische n Ideen in einer m ythologisch-sym bolischen Form d em Volke zugänglich zu m a che n, wie beispielsweise Christus als O rphe us d a r g e ­ stellt wird, um ihn, wie er die Tiere d u r c h Saitenspiel um sich h e ru m versam m elt, als den Ein ig er der g anzen W e lt zu symbolisieren. D an n m a c h t sich aber au c h eine h um orvoll angelegte T ie rsym bolik geltend zur C hara kte risierung der bösen D äm o n e n , wogegen die göttlichen T u g e n d e n in Engelsgestalt erscheinen.

W ie v o re rw ä h n t, h a t S tra ß b u rg die f ü h re n d e Spitze u n te r den deutschen B a u h ü tte n e in g e n o m m e n un d w ar als Vorort na m e n tlic h seit E rv in von S tein b a ch 1217 a n e rk a n n t.

Aus den m ancherlei Schicksalen un d K äm pfe n dieser H ütte tr itt die große G egner­

schaft hervor, welche diese freie O rganisation in den S täd te n d u r c h die Bauzünfte fand, so d a ß sie zeitweise von letzteren selbst u n te rd r ü c k t w u rd e n . Dennoch erreichte die S tra ß b u rg e r B a u h ü tte einen solchen Einfluß, d a ß 1459 eine Zahl von 22 H ü tte n ihr zugehörte u n d die Kaiser sie m it Privilegien ausstatteten, d a r ­ u n te r m it der eigenen Geric htsbarkeit, zu deren Zeichen der Vorsitzende Meister das bla nke S chw ert f ühre n durfte. Als H a u p to rg a n isa to r in dieser Zeit der höchsten Blüte des deu tsch e n V erbande s ist der Meister Dolzinger v o n S tra ß b u rg anz use hen, dessen S treben d u rch die 1498 erfolgte S ta tu te n b e stä tig u n g seitens des Kaisers M axim ilian I. g ek rö n t w urde. Der Kais er n a h m sogar die Mitgliedschaft u n d das P a tr o n a t der B a u h ü tte an u n d verlieh ihr ein eigenes W a p p e n . W e n n au f dieses w eiter unten n ä h e r eingegangen wird, so sei hier schon d ara u f hingewiese n, d a ß es in seinen h eraldischen F ig u re n w iede rum eine Beziehung a u f den T e m p e lh e rre n ­ o rd en e n th ä lt u n d somit a u c h h ie rd u r c h die v o rh er beha ndelte M u tm a ß u n g eine

7*

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84 Tuckermann Heft 3 4 weitere U n te r stü tz u n g erhält, beziehungsweise zu einer an G ew ißhe it grenzenden W a h rsc h e in lic h k e it wird. Die Zeit des XV. J a h r h u n d e r t s bildet die G lanzperiode der d e utsche n H ü tte n , w ä h r e n d sie in F ra n k re ic h zu dieser Zeit en tw e d er schon v e r s c h w u n d e n , oder im V erschw inde n zu sein scheinen. Auch d a d u r c h k a n n der ursp rü n g lich e Z u s a m m e n h a n g m it den T em p le r n einen G ru n d hergeben, da seit 1307 m it der Z erstö ru n g des T em p lero rd e n s die kraftv olle B een d ig u n g der D o m ­ bau ten in F ra n k re ic h au fh ö rt. D an n ab e r beg in n t b e k a n n tlic h im XV. J a h r h u n d e r t von Italien aus die große R e n aissancebew egung, welche die Gotik v e r d r ä n g t. Trotz dieser Beeinflussungen bleib t das geheim e W esen der B a u h ü tte n doch darin g le ic h ­ artig, d a ß die N am e n der leitenden Meister wie bisher zu rü c k tra te n und n u r gelegentlic h g e n a n n t w e rd en , dagegen die P ersö n lic h k eiten sich h in te r S tein m etz­

zeichen verb e rg e n , die aber n ic h t zu verw echseln sind m it den äh n lic h e n Versatz­

m a rk e n der Steinm etzgesellen. Dem als W a n d erg esellen auszie hende n Lehrling w u rd e n ä m lic h ein aus rec h tw in k lig z u s a m m e n ste h e n d e n Linien gebildetes Zeichen m it gegeben, welches bei den älteren Gesellen m it schiefwin kligen Strichen gem ischt wird, bei Meistern aus Kreisteilen, beim magister operis, dem W e rkm eister, aus Vollkreisen besteht. Aber es gib t viele A u sn a h m e n , wie Meister Roritzer n u r Kreuze m it schiefwin kligem Ansatz führte, M atthias von Arras dagegen W in k el u n d Zirkel, P ete r von G e m ü n d den D oppelw in kel, H ans von L a n d s h u t zwei sich gegenseitig d u r c h d r in g e n d e W in k e l u. a . 1).

Man darf allerdin gs nic h t vergessen, d a ß ein A u se in a n d e rh a lte n der Zünfte und B a u h ü tte n oft se hr se hw e r ist. Letztere w u rd e n von den G ewerken als W a n d e r ­ gesellschaften b etra ch te t, den e n n u r die E x tra -B a u g e le g e n h e it des K a th e d r a lb a u e s zugehöre, w ä h r e n d sie als se ßhafte B ürger die städtischen B a u au fg ab e n , die Zivil­

b a u k u n s t, zu b e a n sp ru c h e n h ä tte n , ferner d rü c k t sich, w orauf .beide Teile str e n g ­ stens h alten, ih r Unterschied in der V erschiede nheit des S ch u tz h eilig en -P a tro n ats aus, worin sich, je nach der kirchliche n B e d e u tu n g des einen oder a n d e ren , auc h die V o rn e h m h e it der K orporation a u s d rü c k t, ja, das Zeichen des S chutzheilig en gilt gle ichsam als eine sta n d esa m tlich e U rk u n d e über F a m ilie n a n g e h ö rig k e it und V erw andtsc haft. So wird beispielsweise in S tra ß b u rg nac h einem Streit der beiden Gesellschaften, bei w elchen die B a u h ü tte genötig t w ar, sich 70 J a h r e lang der Z u n ft u n te rz u o rd n e n u n d ihr anz usc hließe n, so d a ß sie erst 1402 u n te r Meister U lrich w iede r ihre alte S elbständigkeit zu r ü c k b e k a m , die D o m b a u h ü t te als eine

„ J o h a n n e s b r ü d e r s c h a f t “ g e n a n n t, w o d u rc h gesagt ist, d a ß ihr h o h er P atron J o h a n n e s , und zw ar, w i e d a s M a xim iliansw a ppen zeigt, J o h a n n e s E v a n g e lis t a 2) sei, dessen P a tr o n a t s c h a ft sich bisher n u r der T em p le r o rd e n r ü h m e n durfte. Dagegen h atte die Steinm etzirinung den heiligen R e in h o ld als P atro n , von dem die Legende erzählt, d a ß er als Aufseher eines Baues von bösen Gesellen erschlagen sei. Das B a u h ü tte n w a p p e n S tra ß b u rg s vom K ais er M axim ilian v e r d ie n t u m s o m e h r in seiner beziehungsreichen S pra che g ew ü rd ig t zu w erden, als Kaiser M axim ilian, „ d e r letzte R itte r“ , auf die richtige A ngabe der H erald ik , auf die zutreffende W a p p e n z e ic h - riung u n d F ü h r u n g , wie eine genealogische U rkunde , den höchsten W e r t legte.

J) Die Steinmetzzeichen und die deutschen Dombaumeister des Mittelalters von Alvin Schultz.

Grüber, Mainz 1872.

2) In den englischen Baulogen ist das P atronat au Johannes Baptista übergegangen.

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Die Sym bolik u m f a ß t hier die Z eich n u n g un d die Farbe. Letztere ist gold und blau, die V olle ndung und Reinheit sy mbolisierend. Die W appenfigur zeigt vier im W in k el des gleichseitigen Dreiecks a ufge spannte Zirkel über einer Kugel (dem Sym bol d e r V ollendung), und zwar ragen sie mit dem einen Zirkelfuß in die Kugel, m it dem an d e re n in das blaue Feld hin ein , sym bolische A n d eu tu n g e n über die zur m eisterhaften V o lle n d u n g fü h re n d e Zirkelarbeit des Einzelnen, wie der G esa m the it des Bundes, in te chnischer, wie au c h m oralischer Beziehung. Die v'ier Zirkel deuten nach eine^ sp äteren U rk u n d e des alten T o rg a u e r B a u h ü tte n v e r - bandes auf die in der Sage m e hrfac h b eh a n d elten vier gekrönten M ärtyrer, die q u a t u o r coronati, w elche a u c h in den B a u h ü tte n v e r e h rt w u rd e n : Severus, Severinus, C ä rpophorus und V ictorianus. Die Legende h a t hier w ahrsche inlich m ehrere Sagen z u sam m engeschm olzen, den n es h e iß t einmal, d a ß u n te r Kais er Diokletian sich fünf Stein m etz en weigerten, eine S tatue Aesculaps für die O pfe rve rehrung a n z u ­ fertigen, wofür sie in Bleisärgen ins W a sse r geworfen w urde n. Dann wiederum w aren es vier Krieger, die sich w eigerten, dem Aesculap zu opfern, wofür sie zu T ode gepeitscht w u rd e n . So sind in der Sage aus den fünf S tein m etzen und den vier Kriegern vier S tein m etzen geworden, die, wie bei den Kriegern üblich, mit E hre nze ic hen, goldenen A rm spange n u n d K ro n e n g e s c h m ü c k t w aren, un d d a ru m coronati hie ßen. ') Unter dem Symbol der vie r Zirkel w u rd e n zweitens auc h

') W ahrscheinlicher als diese etwas gezwungene Kombination erscheint die Herleitung des heiligen Reinhold und der quatuors coronati aus den frühesten mittelalterlichen Dich­

tungen den französischen von fränkischem Geist besonders beeinflußten „gestes“ aus dem Anfang des XII. Jahrhunderts, also zu gleicher Zeit mit dem Auftreten der gotischen Bau­

kunst in Frankreich. Ich nehme bezug auf die „vier Haymons Kinder“ Les quatre fils d Aymon, Aymon de Dordon (Dourdon) avait envoye ses quatre fils ä la cour de Charle- magne. Par leur beaute ils s’attirerent les faveurs de l'empereur. Mais Tun d’eux Renaut {Reinhold) ayant dans une querelle tue le neveu de Charles, Bertolais, tous quatre durent s enfuir. Ils se refugierent dans les Ardennes, mais poursuivis par Charles et forcös par la faim ils s’enfuirent de nouveau et errerent 7 ans. Arrives ä Dordon ils se virent refuser I liospitalite par leur pere, partage entre son am our paternel et son devoir de vassal, Gräce ä leur mere ils purent continuer leur voyage et trouverent enfin asile chez Ie roi.

Yon de Bordeaux. Renaut epousa meine la soeur du roi. Charles vint les y attaquer, La paix s’etant faite Renaut fit un pelerinage en Terre Sainte et apres la mort de sa femme, prit part comme ouvrier ä la construction du Dome de Cologne. Plus fort et plus habile, que les autres ouvriers il s'attira leur haine, fut tue par eux et jet6 dans le Rhin. Mais le peuple fit de lui un Saint. Son cadavre qui etait rest£ ä la surface de l’eau portd par des poissons, fut depose ä Dortmund.

Zum wenigsten ist diese „geste“ eine der wenigen Urkunden über die Vorbildung eines Steinm etzen der alten Dom bauhütten, so daß der heilige Reinhold nach seiner Pilgerschaft im heiligen Lande, während er bisher nur ein streitbarer Ritter war, die Steinmetzkunst erlernt, am Kölner Dom ausübt, geschickter geworden ist als die übrigen, welche ihn aus Neid ermorden. Dieser Streit der neidischen Gesellen gegen den Aufseher Reinhold wird auch von einer weiteren Bauhüttensage behandelt, so daß seine Verbindung mit ihnen wohl unzweifelhaft ist. Ob nun seine drei Brüder, von deren enger, jahrelanger Verbindung mit ihm bis zur Hochzeit mit der Schwester des Königs Yon berichtet wurde, sich weiter würdig gezeigt haben, an Reinholds Ruhm als Heiliger Teil zu nehmen, ist unbekannt, immerhin hat aber das Mittelalter die vier Haymons Kinder in ungetrennten Ehren gehalten.

1920 ü e r Ursprung der gotischen Dombauhütten in Isle de France 85

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86 Tuckermann Heft 3 /4 ab s tra k te Begriffe v e rsta n d e n , die vier göttlichen T u g e n d e n der W eisheit, S c h ö n ­ heit, T a p fe rk e it oder Stärke u n d Religiosität. Über dem bisher beschriebenen W a p p e n s c h ild ste h t d e r geschlossene T u r n i e r h e lm m it seiner flatternden Helm zier in vie lverteilten A k a n th u s r a n k e n . Schließlich folgt als H elm - u n d W a p p e n k r ö n u n g ein Adler m it ausgebreitete n Flü geln un d vo m H eiligenschein um schlossen. Das ist n u n der stolzeste Besitz der B a u h ü tte n , ihr R uhm estitel, den n es ist hie rm it ih n e n als Schutzheiliger u n d P a tr o n der J o h a n n e s E vangelista, dessen Zeichen der A dler m it d em H eilig enschein ist, un d der zugleich S chutz heiliger des T e m p le r ­ ordens w ar, z u e r k a n n t. Diese J o h a n n is b e z ie h u n g g e h t auf den S pruc h ,,Est aq u ilae similis de verbo sermo J o h a n n i s “ . Som it treten d o k u m e n ta r isc h die B a u h ü tte n in eine Z u sa m m e n g e h ö rig k e it m it den T e m p le rn , die bisher allein den J o h a n n e s E v ange lista zu eigen h a tte n . W a s in der vo rau sg e g an g e n en B e tr a c h tu n g als n o t­

w endig k o n je k tu r ie r t w u rd e , ist also hier bestätigt. Trotz des fast in te rn atio n a le n Z u s a m m e n h a n g e s der B a u h ü tte n w ird m a n diese W a p p e n a n n a h m e doch n u r für die d eutsche n B a u h ü tte n gelten lassen, da von den französischen B a u h ü tte n aus dieser Zeit ü b e r h a u p t keine N a c h ric h te n v o rh a n d e n sind, u n d die englischen B a u ­ h ü tte n sta tt der vier gold enen Zirkel als Schildfigur die vier Evangelisten, Löwe, Stier, Engel (ungeflügelt) u n d A dler führe n. Eine gewisse I d e e n v e r b in d u n g ist also zwis chen den englischen un d deu tsch e n H ü tte n doch a u c h v o rh a n d e n . W ie schon f rü h e r bem erkt, w a r in der ersten Zeit des A uftretens der Gotik in E n g la n d die F o rm e n - g e b u n g die gleiche m it F r a n k r e i c h , dem M utterlande , wie ja au c h die Übersiede­

lung des ersten gotischen Meisters von F ra n k re ic h nach E n g la n d , des W ilh e lm von Sens, es n a tü rlic h m a ch t. Bald aber m a che n sich sowohl in der G ru n d r i ß ­ gestaltung, wie a u c h in der F o rm e n g e b u n g Verschiedenartigkeiten geltend, die der englischen Gotik eine besondere Stellung verleihen. Die inneren B eziehungen der festländischen zu den englischen B a u h ü tte n sind noch ganz u n b e k a n n t, h ö c h s t­

w ah rsc h e in lic h w ird sich au c h eine V erschiede nheit der B a u h ü tte n geltend g e m a c h t h ab e n , obgleich sich darin w ohl S c h w a n k u n g e n zeigen w erden, da bei dem großen B ran d von London 1666, als m a ssenhaft Steinm etzen herangezogen w erden m u ß te n , die d eutschen v o r n e h m lic h hin zogen, da in Folge des dreiß ig jäh rig e n Krieges und d er vollen V e r w ü stu n g des L ande s hier alle B a u tä tig k e it d a r n ie d e r lag. V e r m u t­

lich w ird dieser Zuzug deu tsch e r B a u h ü tte n le u t e auf die englische Lage eingew irkt h ab e n . Im übrigen gleicht die englische Gotik n a m e n tlic h der frühe re n französischen in d e r A u s b ild u n g des O rn a m e n tes, e n tn o m m e n der heim ischen Flora, die im G egensatz zu dem frühe re n S c h em atism u s zur u n b e s c h r ä n k te n E n tfa ltu n g der eigenen I n d iv id u a litä t der neuen Meister führte. F ern er w ar die Arbeitsteilung überall die gleiche : M e isterarchitekten leiten die G esa m the it des Baues, B ild h au e r (im agier) besorgen u n te r ihnen den figürlichen S ch m u c k , S tein m etzen bearbeiten in der e igentliche n B a u h ü tte den W e rk stein , zu dessen Darstellung das A ustragen der einzelnen F lä c h e n m it Hilfe der „ d a r ste lle n d e n G eom etrie" gelehrt wird, un d M aurer versetzen vo n den R ü s tu n g e n aus die W erksteine, kurz es ist die rationellste Arb eitsteilung eingeführt, so d a ß eine e rsta unlic h schnellste B a u a u s f ü h r u n g erm ög­

licht war.

Bei diesen L aien k ü n stlern b estand eine von der G ed a n k en w elt der K lo sterbildner gänzlich abw e ic h e n d e K u n s tr ic h t u n g , die zw a r a u c h vo n den geistlichen B a u h e r re n

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1920 Der Ursprung der gotischen Dombauhütten in Isle de France 87 p ro gram m atisch angegeben wird, aber doch von den B ildnern m it voller in divi­

dualistischer F re ih eit z u r D u r c h f ü h r u n g gelangt. Bei den Klöstern galt es, die Verdienste ihrer Klosterheiligen zu schildern, m it ih ren E n tsa g u n g en u n d E n t ­ behrunge n. Man stellte m it Vorliebe den heiligen B enedikt u n d den heiligen Antonius dar, im K a m p f m it V ersu ch u n g e n aller A r t 1). Aber die L aienkünstler der Gotik ergehen sich m it Vorliebe in der V e rh errlich u n g der H im m elskönigin, der Maria, der die neuen Dome zum eist g ew e ih t w erden, als des f ü rbittende n Mitleids für die leid ende W e lt. F e rn e r k o m m t zur Darstellung auf breitester d em okratischer Basis der G leichheit v o r dem R ichter, der T ag des jü n g sten Ge­

richts. Sie benutzen hie rfür die F läc h en der P o rta le der K a th e d r a le n , die zugleich die für alle B e d rä n g te n geheiligten S tadta syle bilden. Sie b e h a n d e ln ferner Christus als W e lte n rich te r, die h im m lisc he Gerechtigkeit u n d die V ergebung der Sünden in sym bolische n Darstellungen, ln den d eutsche n B a u h ü tte n , welche bis zum 3 0 j ä h ri g e n Kriege ein reges Leben zeigen u n d denen ihr V erkehr mit Stra ßburg, n a c h d e m noch alle Nachfolger des Kaisers M axim ilian das S ta tu t von 1498 bestätig t h atten , erst 1707 n a c h d e r V ereinigung des E lsaß m it F ra nkre ich untersagt w u rd e (d u rc h den Reichstag von R e gensburg, das ist das eigentliche Ende der B a u h ü tte n ) findet sich noch m ancherlei weitere A n d e u tu n g auf die symbolischen G ehe im le hre n derselben (2 S äulen pp.), keine abe r ist so vollständig wie die schon e rw ä h n t e n beiden, m it Melancholie bezeichneten Kupferstiche von Dürer u n d B eham , a u f deren I n h a lt n ä h e r einzugehen ist. Zuerst die B eschreibung des Dürer-Bild es: Es sitzt a u f einer erh ö h te n P lattform , der U nterbaustufe eines tu rm artigen poly gonalen Baues, von dem n u r zwei Seiten dargestellt sind, ein geflügelter w eib licher Genius, in n a c h d e n k lic h e r Stellung. Es ist die S ym bolisierung der S chönheit, angegeben d u r c h die reiche F estk leid u n g u n d den K ra n z sc h m u c k nn aufgelösten H a a r! W e r die schwere Zeichena rt Dürers k en n t, w ird den sinne nden Zug in dem h a lb v e rd e c k te n Gesicht nic h t als ausgesprochene M elan­

cholie des T em p e r a m e n te s d euten k ö n n en , d a n n w ü rd e Dürer auc h ande re Begleit­

symbole g e w ä h lt h ab e n , wohl ab e r ist sie die als Melancholie bezeichnete F i g u r 2).

Auf den K nien tr ä g t der Genius, d u r c h die w agerechte F a ltu n g des G ewandes angedeutet, so nst ab e r u n sic h tb a r, eine Tafel, auf welc her der im W in k e l au f­

gespannte Zirkel, den der Geniu s in der R echten fü h rt, a u fru h t. Den rechten Arm stützt noch ein dickes, d u r c h Spangen verschlossenes B uch, an s ch e in en d eine Bibel. Es ist klar, d a ß der Zirkel, dieses bedeutendste W e rk zeu g des H ü tte n ­ bruders g e n a n n t caber, nac h w elchem Meister Roritzer au c h sein berü h m tes Büchlein betitelte „D e s Zirkels K u n s t u n d G erec htigke it“ , hier in der H a n d des Genius m e h r ist, als die K o n stru k tio n des M aßwerks, sondern ethische B ed eu tu n g hat. F erner ergib t der A ugenschein, d a ß der klein e geflügelte K nabe, der Engel, der Bote Gottes, der sc hre ibend göttliche Offenbarungen zu verm itteln schein t,

*) Die spätere Zeit des 13. Jahrhunderts nimm t durch die beiden in heftiger Konkurrenz miteinander wetteifernden Orden der Franziskaner und Dominikaner eine andere Stellung ein, indem sie selbst in Italien die sonst unbeliebte Gotik fördern, wie beispielsweise die Orderiskirche des heiligen Franz von Assisi in gotischem Stil um 1228—53 von dem deut­

schen Meister Jakob gebaut wird.

2) Die Zeit Dürers verstand unter Melancholie aber auch noch den geistigen Ernst.

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88 Tuckermann Heft 3 /4 au f einem mit F ra n sen te p p ic h reich geschm üc kten ru n d en P lattenstein sitzt, dessen

B eze ich n u n g m it einem Zw eip aß, wie a u c h sonstige B eziehungen ihn, wie schon

e r w ä h n t, m it dem großen fünfecksflächigen Gewölbestein zu sam m en als E rin n eru n g s- male an die V e rb in d u n g m it dem T e m p le ro rd e n und das heilige Grab c h a r a k ­ terisieren, besondere B e a c h tu n g v e rla n g t. Die offenbar beabsic htigte S tellung des Engels u n te r der a m T u r m b a u befestigten W a ge, d em S ym bol d e r Gerechtigkeit

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1920 Der Ursprung der gotischen Dombauhütten in Isle de France 89 Gottes, besagt, d a ß a u c h er, wie der R e p rä se n tan t der S chönheit einen W e g zur h öhere n, ethischen V ollendung darstelle, zu der ,,göttlichen W e ish e it“ . Als drittes hierzu gehöriges Sym bol ist d a n n noch die ,,S tärk e“ , die K ra ft Gottes hin zugefügt, weil diese D reih eit gnostisch stets zusam m engestellt wird. S y m ­ bolisiert ist letztere hier d u rc h die „ A r b e i t“ , das H aupterfordernis eines ge­

rechten u n d v o llk o m m en e n H ü tte n b ru d e rs , dargestellt d u rch den die Mitte des Bildes behe rrsc hende n vielflächigen Stein m it d em H a m m e r daneben. Im weiteren besagt die Gerüstleiter, die an d em polygonalen, vie lleicht sechseckigen Bauw erk steht, d a ß dieses gleichfalls sym bolisch zu b e tra ch te n d e T e m p e lb a u w e r k noch nic h t beendet ist, d a ß noch im m e r d a r a n gearbeitet wird, w ä h re n d die 7Z ahI der Sprossen sym bolisch hinweist, d a ß eine V o lle ndung ethischer Art erstiegen w erden soll. An den W ä n d e n sieht man a u ß e r der W a g e ein S tu n d en g la s u n d eine Zahlenta fel. Es ist eine soge nannte magische Q uadrattafel mit einer ü b erh ä n g en d en Glocke. Auf dem S tu n d en g la s zeigt ein W eiser zwischen die Zahlzeichen III und IV, w o d u rc h ein Z u s a m m e n h a n g m it der m agischen Q u adrattafel gew onnen ist, da diese die Eigenschaft besitzt, in je der Reihe, wie m a n sie auch aufstellen möge, in ihren vier Z ahlen die S u m m e von 3 4 zu ergeben, wobei, d a in der Z a h le n sy m b o lik 3 die Zahl der V ollendung, 4 die W elt, das H aus oder die B a u h ü tte bedeutet, beide zu s am m en als die Stätte der Vollendung zu erklären sind. W ie die Proportionslehre in den B a u h ü tte n eine große Rolle spielt, mit der Zahlenfolge 3, 5, 7 oder m it der K on stru k tio n des goldenen Schnittes oder an d e ren m a th e m a tisc h e n Gesetzen, so ist au c h hier offenbar eine h a rm onische B augliederung a n g e d e u te t u n d u m so m e h r ist die Stellung dieser Tafel über dem Genius der S c h ö n h e it bedeutungsvoll, weil diese Tafeln au c h E rfa hrungsz ahle n für K o n stru k tio n sa n o rd n u n g e n enthielten. Das Stundenglas, der M a hner an die Unbeständigkeit des Lebens, die Glocke, das Symbol eines W ä c h te rs über der Gemeinde, besagen in diesem ganzen Z u s a m m e n h a n g , d a ß sich die Gesellen in A n b e tr a c h t der F lü ch tig k eit der Zeit d em sym bolischen V ollendungsbau anschließen sollen, wozu Schönheit, W e ish e it u n d Arbeit fü h re n ! Das ist also der ethische Lehrgeda nke der B a u h ü tte n , der a u c h in dem übrigen Bilde au s g e d r ü c k t ist. D a­

ru m b ric h t in dem landschaftlichen H in te rg rü n d e des Bildes die Sonne m it ihren S tra h le n b ü n d e ln d u r c h ein Regengewölk u n te r der B ildung eines Regenbogens, d e m Sym bol des Friedens zwischen Gott und den Menschen. D aru m entflieht, von d em Tem pel des F rie dens a b g e w a n d t, eine Teufelsgestalt in den du n k eln R eg en h im m el. Das ist der U nhold, der zwischen seinen au sgeb reiteten F le d e rm a u s­

flügeln den Inschriftzettel „ M ela n ch o lie“ fü h rt. Somit ist eigentlich, ab gesehen von der D ec k b ez eic h n u n g Melancholie, n u r diese Gestalt die Personifikation der M elan­

cholie als des seelischen Unfriedens u n d das auf dem S p ru c h b a n d stehende Zeichen | w ird n ic h t als Nr. 1 einer an g e n o m m e n e n beabsic htigte n weiteren Kupferstichfolge ) über die T e m p e r a m e n te , so ndern als ein i zu erklä ren sein, e t w a jacet, in dem Z u s a m m e n h a n g „ d ie Melancholie stürzt oder entflieht“ ! O b ­ gleich somit ein Zweifel bestehen k ö nnte , ob n ic h t diese entfliehende Teufels­

gestalt der eigentliche T rä g e r der B ild b ez eic h n u n g „ M ela n ch o lie“ sei, n ic h t aber d e r große Genius, so sc h ein t do ch das allg em ein e Volk sverständnis sc hon früh-

,]) So wird es von Knnstgelehrten gedeutet.

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zeitig den letzteren so bezeichnet zu h ab e n , so d a ß m a n auf eine zweite geheim e B e d e u tu n g der Melancholie zurückgreifen m u ß , n ä m lic h die E r k l ä r u n g des Aristo ­ teles, d a ß die M e lanc holike r die ernsten, zum geistigen Schaffen v era n la g te n N a tu re n seien! Eine solche D oppelsinnigkeit s y m b o lisc h e r D arste llunge n ist aber ein b e k a n n te r G e b ra u c h d e r m ittelalterlichen B a u h ü tte n , D ec kbez eic hnungen zu w ä h le n , welche den ihnen b e k a n n te n S in n für das große P u b lik u m d u r c h eine un v erfän g lich e A usle g u n g u n k e n n t lic h m a c h e n sollen. Ein zweiter, den gleichen G ege nsta nd der B a u h ü tte n le h r e betreffender, wenig e J a h r z e h n t e älterer K upferstich, die M elancholie von H a n s S ebald B e h a m v o m J a h r e 1539, gleichfalls m it der I n schriftbez eichnung „ M e la n c h o li e “ lä ßt keinen Zweifel zu, d a ß die hier allein das Bild b e h e rrsc h e n d e weib liche F ig u r „ M e la n c h o lie “ g e n a n n t s e i.1) T atsäc h lic h ist jedoch, n a c h dem Z u s a m m e n h a n g der gesam ten Z uta ten au c h dieser Genius in n a c h ­ de n k lic h e r H a ltu n g , m it aufge stütz tem Kopf gezeichnet, die S ym bolisierung der S ch ö n h eit. Sehr bez eichne nd für die v e r w a n d ts c h a ftlic h e D arste llung sowohl wie a u c h für die E r k l ä r u n g d e r D üre rsche n M elancholie ist der hier w ieder an g e w a n d te k reisru n d e P latten stein , a u f d em sich ab e r ein alta r a r tig e r Aufsatz e r h e b t m it einer rechteckigen S tufe npla tte davor, a u f w elc her der Geniu s sitzt. Auf dem A lta rp u lt r u h t wieder die Bibel, das Sym bol der W e ish e it Gottes, un d als die zugehörig e Dritte der göttlichen T u g e n d e n , neben der S ch ö n h eit, sind zu F ü ß e n des Genius die als die S tärke oder die A rbeit dargestellten S ym bole aufgestellt. Das sind m e hre re S tein m etz w erk ze u g e, von denen zwei a u c h a u f d em D ürerbilde Vorkommen, n ä m lic h der Bleigußtopf un d die z u r G ro b b e a r b e itu n g des Steines die nende S ch ro t­

säge. Neu sind hier die zugehörigen beiden F äustel oder Klöpfel, flaschenförmige H olz­

h ä m m e r und der S tein m eiß el nebst Steinschleifer. A u ch das Ziel der sym bolischen A rbeit der H ü tte n b r ü d e r gib t der B e h am sch e Genius in gleicher Art wie der Dürersche an, n äm lic h die sym bolische Z irkelarbeit auf der B a hn der vollendeten Kugel. Hierbei tr itt w ieder der Z u s a m m e n h a n g m it dem S tra ß b u rg e r W a p p e n kla r zutage. Auf dem D ürerschen Bilde sind noch weitere S ym bole aufgeführt, das sind a u f dem Boden v erstre ute W e rk zeu g e des eigentlichen H an d w erk sb e trieb s, deren niedriger W e r t gege nüber den sym bolischen W e rk z e u g e n des geistigen Auf­

baues sc hon d u rc h ihre Lage g ek e n n ze ic h n et ist, Zange, W in k e l, Hobel, Lot, Schiene, Säge un d Nägel. Eine zweite G ruppe von S y m bolen folgt, worin das D ürerbild b ez iehungsreicher in der häretischen R i c h tu n g wird, die den B a u h ü tte n wie dem T em p le r o rd e n gem einsam w ar, u n d d a ß die B a u h ü tte n sich in biblischen S y m b o len v e rb e rg e n d , so u n g efä h rlich erschienen, d a ß selbst die geistliche B a u ­ ob erle itu n g zur M itgliedschaft gelangen konnte. Hier zeigt sich der schlafende H u n d und das nic h t r a u c h e n d e W e ih r a u c h f a ß ! Der H u n d als W ä c h t e r sy m b o ­ lisiert den geistlichen S tand, der schlafende H u n d w ird also das Versagen seiner beglü ck e n d en T ä tig k e it bede ute n. Das W e ih r a u c h f a ß sym bolisie rt das Gott w o h l­

gefällige Gebet, d a h e r das n ic h t in G lut gesetzte W e ih r a u c h fa ß das Versagen der Geistlichkeitsgebete. Dagegen ist ih n e n gegenübergestellt der neben d em D ü re r­

stein s te h e n d e in heller G lut flam m en d e B leig ußtopf der Steinm etzen, h in d e u te n d auf die im B leiguß- u n d M e ta llk la m m e rv e r b a n d e zur vollen E in h e it v e r b u n d e n e n

90 Tuckermann Heft 3 / 4

’) Zu unserem Bedauern war ein Druckstock dieses Bildes nicht zu erlangen.

D ie S c h r i f t l e i t u n g

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H üttenbrüder, denen die im V o rd e rg ru n d ste hende K uppel, das Sym bol der Voll­

endung, das au c h auf dem B e h am b ild e den G egenstand des Vollendungszieles a n - g'bt, als R ic h tu n g dient. So ist in klarer G ru p p ieru n g der S chlußstein, der Plattenstein u n d die Kuppel als A u sd ru c k des ethischen Bildungszweckes der H ü tte n b rü d e r aufzufassen, d u r c h eigene A rbeit u n te r der Hilfe Gottes zur V ollendung!

Daß D ürer von der H ü tte n le h r e so volle K e n n tn is hatte, d a ß er in diesem Bilde sym bolisch ihr L eh rg eh e im n is veröffentlichen konnte, m ag erk lä rb a r sein, wenn er Mitglied der N ü rn b e rg e r B a u h ü tte w ar u n d diese in der siegreichen Renaissancezeit ih re n älteren C h a ra k te r n ä h e r b e k a n n t m a che n wollte. Es stim m en bezüglich Dürers Z u s a m m e n h a n g m it der S tein m etz h ü tte , w orübe r man weitere B ew eise n ic h t a n f ü h r e n k a n n , die J a h re s z a h le n ziemlich überein, da die T ätigkeit der B a u h ü tte am Bau des Chores der N ü rn b e rg e r Lorenzer K irche in die J a h r e 1439— 1477 fällt, w ä h r e n d die Lebenszeit Dürers 1471 — 1528 nicht dagegen spricht, d a ß er noch Mitgliedern der B a u h ü tte n ä h e r sta n d , zum al bei seiner Kenntnis der Geom etrie un d B a u k u n st! Sein u n d B e ham s K upferstich, welche doch für den M a rk tv e rk a u f b ere ch n et w aren , beweisen je doch des w eiteren, d aß das P u b lik u m sich für den Stoff interessierte u n d den ethisch-religiösen, w e n n ­ gleich a n tik irc h lic h e n G ru n d g e d a n k e n w ohl h era u sfü h lte. —

So ist, w enn a u c h n ic h t m it vollem D okum entenbe w e is, so doch m it einer W a h rsch e in lic h k eit, die in einem K a u sa ln e x u s der zugehörig en Beziehungen steht, die E n ts te h u n g der gothischen K u n s t im K a th e d r a lb a u von Isle de F ra nce durch die B a u h ü tte n im Gegensatz zu der d am als herrsch e n d en m önchischen Ü b erm a ch t gezeigt, u n te rstü tz t von einem V erband von gegensätzlichen M ächte n, den S ta d t­

gem einden, der ritterlichen F eu d alitä t, d em K ö n ig tu m u n d dem P a p sttu m , welche die ü b e r h a n d n e h m e n d e M acht der T ote n H a n d bekäm pfen, zugewiesen der Hilfe des päpstlichen W erkzeuges, der T em p elritter, von diesen als Schützlinge benutzt,, aber auch in ih ren orientalischen Gnostizismus eingeweiht, selbst zu ih rer a n t i ­ kirchlichen Häresie der S e lbstverantw ortlic hkeit erzogen, a u c h noch lange nach dem Sturz der Ritter die E ri n n e ru n g an diese V e rb in d u n g tre u b ew a h re n d . W elche Ironie der Geschichte, d a ß der U ltr a m o n ta n is m u s der heutigen Zeit diese gotische B a u h ü tte n b e w e g u n g als kirchlichstes Ideal v erh e rrlic h t, u n d doch w aren es g ew isserm aßen protestantische H äretik er!

LÜGE UND WAHRHEIT

Von J . B. M a n z (W ie n )

ie Lüge k a n n fahrlässig oder ü berlegt sein. Die fahrlässige Lüge ist m it dem Irrtu m identisch u n d b esteh t h a u p tsä c h lic h darin, d a ß m a n Dinge oder Verhältn isse als. gewiß, m it S icherheit festgestellt au sgib t, die m an n ic h t g rü n d lic h d u r c h d a c h t hat, oder d a ß m an W o rte oder anderw eitige Sym bole, deren B e d eu tu n g u n d Tra gw eite m a n n ic h t vollständig e r k a n n t hat, u n d w elche vielleicht n u r Scheinbegriffe sind, so benützt, als wenn ihnen endgültig d eterm inierte Begriffe z u g r u n d e lägen. Dies m ag z w a r ohne die Absicht, Nutzen oder S chade n hervorzurufe n, geschehen, ab e r es geschie ht 1920 Der Ursprung der gotischen Dombauhütten in Jsle de France 9 !

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-92 Manz Heft 3/4 n iem als ganz o h n e das B ewußtsein der U n w a h r h e it. Die fahrlässige Lüge ist so­

m it im m e r h in Lüge, u n d fahrlässige un d gewollte Lüge sind keine absolu te n G egen­

sätze. Die m it vollem W issen u n d W ollen begangene, nic h t mit Irrtum v e r ­ b u n d e n e Lüge v e r h ä lt sich zur fahrlässigen etwa wie die volle G ew ißhe it zum G laube n u n d Zweifeln. Selbst w en n sich in einem m a th e m a tis c h e n Beweise u n ­ bem erkt ein F eh le r einschleicht, so ist das n u r die Folge d av o n , d a ß m an an irg e n d ­ einer Stelle die W a h r h e i t der B e q u em lich k e it opferte, in dem m an etwas als allge­

meingültig oder no tw en d ig darstellte, v o n dem m a n wohl w u ß te, d a ß man es zwar für sehr w a h r s c h e in li c h , a b e r doch nic h t für ganz sicher hielt. Im m e rh in fällt die f a h r ­ lässige Lüge m it dem Irrtum zu s a m m e n , w ä h r e n d die beabsichtigte das ist, was m an im g ew ö h n lich e n Leben als Liige, U n w a h r h e it, Betrug kennz eichne t. Die be­

absichtigte Lüge m u ß n ic h t zum Zwecke des eigenen Vorteils oder des Nachteils a n d e r e r begangen w erden, sie k a n n v ie lm e h r sehr wohl a u c h aus edlen, g e m e in ­ nütz ig en Motiven entspringen. N u r liegt ihr in diesem Falle neben der edlen Absicht noch ein Irrtum zu g ru n d e .

Die Lüge ist die U rsünde, das U rp h ä n o m e n der S ünde. Alle S ü n d en können verziehen w erden, soweit sie auf Irrtum b eru h e n ; n u r die gewollte Lüge k a n n nic ht v erziehen un d ausgetilg t werden.

Es erh e b t sich n u n die Frage, ob es für den Menschen praktisch möglich sei, ste ts die W a h r h e i t zu reden. W i r müssen dies m it aller E n tsc h ied e n h eit bejahen, obgleich n ic h t v e r k a n n t w erden darf, d a ß u n te r den gegenw ärtigen Verhältn issen d e r Zivilisation, bei denen trotz aller F o rtschritte der K u ltu r und W issenschaft in fast allen Zweigen des Lebens die Lüge herrscht, der einzelne Mensch, der eine A u s n a h m e m a ch e n u n d überall der W a h r h e i t die E h re geben wollte, auf fast u n ü b e r ­ w indliche H indernisse stoßen w ürde. Z w ar w ü rd e m a n ihn nic h t kreuzigen, man w ürde ihn aber gan z gew iß nac h kurze r Zeit ins Irrenhaus schicken. W ie schon ein den g er m a n isc h e n C h a ra k te r d u r c h a u s n ic h t ehrendes S pric hw ort an d e u te t, pflegt m an es K in d e rn noch zu verzeih en, w en n sie die W a h r h e i t sagen, E rw achsene abe r schilt m a n N arre n. W i r h a b e n eben gesagt, d a ß unsere gegenw ärtige Zivilisation n a c h allen R i c h tu n g e n von der Lüge d u r c h s e u c h t ist. In der W issenschaft gibt m a n H y pothesen un d D ogm en für absolu te G ew ißhe it aus, in der K u n s t v e rf ü h rt eine gewisse K ritik mittels nic htssa gende r Scheinbegriffe den G eschm ack des P u b ­ likum s, in der Religion h ä n g t m an an Ä u ß erlic h k eiten und an s tatt die Leute zu belehren, d a ß der G laube an Christus d a rin besteht, d a ß m a n den W illen dessen, d e r ihn g es an d t hat, tut, schafft m a n eine C hristlichkeit, die noch sc h lim m e r ist als die m it telalterliche W e rk h e ilig k e it un d in bloßer W o rth e ilig k e it besteht. A n ­ s ta tt die m it m a th e m a tis c h e r G ena uigkeit nac h w e is b a re n falschen Dogmen des in tellektuellen u n d ethischen M aterialism us im Geiste un d in der W a h r h e i t zu b e­

käm p fe n , g la u b t m a n genug getan zu h ab e n , w en n m a n sie m it S c h m ä h w o rte n ü b e r sc h ü tte t u n d sie m it k irch lich e r un d sta atliche r E x k o m m u n i k a tio n bedroht. In d e r Politik h errsch t der verlo genste P a r te isc h a c h e r un d das Maß, in welchem ein P o litik e r seine Ansichten zur G eltung bringt, ist n ic h t bedingt d u rc h den inneren G eha lt seiner T heorie n, sondern ist einfach proportional der Zahl un d der W u c h t der Schlagwörter, m it denen er un d seine H in te r m ä n n e r die D en k k raft der w ä h le n d e n S ta a tsb ü r g e r to tzuschlagen v erstehen. Gerade in den S taaten, in denen m an am

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1920 Liige und Wahrheit 9 3 meisten m it der Freiheit und G leichheit p rah lt, wird die F reih eit des denke nden und w ah rh eitslie b en d e n M enschen am sc h m äh lich sten m it F ü ß en getreten.

Die Presse wird au c h in einem großen Teile Europas von T a g zu T a g a m e ri­

kanischer, in dem sie, a n s ta tt T atsac h en in klaren und einfachen W o rte n zu be­

richten, sich zum M u n d stü c k der Klatscherei und V erle u m d u n g u n d zum W e rk - zeug politischen un d p rivaten Ränkespiels hergibt. Die allergrößte Lüge a b e r besteht '*n Geschäftsleben, wo die wie S chm a rotzerpflanz en üppig w u c h e rn d e n Auswüchse e,nes sonst h o c h e h r b a re n un d no tw en d ig en Standes, des H andelsstandes, gegen­

wärtig dreiviertel des Profits aller Arbeit einstreichen u n d obendrein es noch trefflich verstehen, die von politischen M arkts chreie rn v erhetzten Massen an die falsche Adresse zu weisen.

W e n n wir aber auc h das W esen un d T reiben der m enschlichen Gesellschaft für verlogen un d v er d e rb t halten, weil die S chling- und Schmarotzerpflanze der Lüge alles u m g a rn t, so m ein en wir d a m it d u r c h a u s nicht, d a ß alle E rrungenschaften einer vie lta u sen d jä h rig en K u ltu re n tw ic k lu n g wertlos seien un d d a ß unsere m oderne Zivilisation v e r n ic h te t zu w erden v e rd ie n t; wir wollen d u r c h a u s nic h t in die F ehler eines Rousseau verfallen, w ed e r zum N a tu rz u sta n d zu rü c k k e h r e n , noch ü b e r h a u p t von vorn a n fa n g en , wir wollen im Gegenteil alles S chöne und Nützliche, was die K u ltu r geleistet hat, behalten, w ir wollen nic h t den W a ld u m h a u e n , weil es zu viel Misteln un d Schlingpflanzen darin gibt, wohl aber wollen wir die S ch m a ro tzer­

gewächse m it der W u rz el ausrotten.

W e n n wir ferner sagen, d a ß die m enschliche Gesellschaft bis über die O hren in dem Sumpfe der Lüge steckt, so wollen wir d a m it d u rc h a u s nic ht beh a u p te n , daß der einzelne Mensch m it W illen und Ü berlegung hin eingegangen ist u n d gern darin steckt, wir gla uben vielm ehr, d a ß n u r ein ganz geringer Bruchteil der M enschheit mit der Absicht, seinen M itm enschen oder der G esam theit zu schaden, zur Lüge greift. Der w eitaus größte Teil der Menschen lügt aus B e quem lichkeit, weil man mit den W ölfen h eulen m u ß , u n d die meisten Menschen, w enn nic h t gar alle, würden sich au ß e ro rd e n tlic h freuen, w en n in der m enschlichen Gesellschaft ein Z usta nd der reinen W a h r h e i t hergestellt w erden w ürde. Kein er aber will derjenige sein, der der Katze die Schelle a n h ä n g t. Die Lüge ist eine Eig enschaft n ic h t des in div iduellen Menschen als solchen, sondern des sozialen, des Menschen als Gliedes einer Gemeinschaft.

Kehren wir jetzt zu unserer Frage z u rü c k : Ist es möglich, überall der W a h r h e i t die E hre zu g e b e n ? ' W i r bejah e n diese F rage m it aller Entschiedenheit. Allein so lange es ein Einziger oder W e n ig e n u r eingesehen habe n, so werden dieselben w ahrscheinlich ihre soziale Existenz bei ih rem Vorg ehen zu opfern habe n. W ü r d e n jedoch viele M enschen gleichzeitig dies a n e r k e n n e n u n d d a n a c h zu h a n d e ln streben, so w ürde es ganz sicher Erfolg h ab e n . Diese E th ik der W a h r h e i t ist ein w esent­

licher Bestandteil der Lehre Christi gewesen, u n d es ist höchlichst zu bedauern, daß dem C hristentum je n er S tempel der doppelten B u c h fü h ru n g a u fge drüc kt w urde, der das ganze M it telalter cha rakte risiert un d der a u c h heute noch keineswegs v e r ­ wischt ist. U nter der doppelten B u c h f ü h r u n g verstehen wir die Meisterschaft m o­

derner Christen, am S onntage H y m n e n zu singen, den Glauben an Christus und die B e tä tig u n g seiner Lehren als ihr wesentlichstes Interesse zu proklam ieren, an

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