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Die Naturwissenschaften. Wochenschrift..., 11. Jg. 1923, 5. Oktober, Heft 40.

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DIE NATURWISSENSCHAFTEN

E lfter Jahrgang. 5. Oktober 1923. H eft 40.

Johannes v. Kries.

Z u seinem sieb zigste n G ebu rtstage (6. O k to be r 1923).

V o n W ilh elm Trendelenburg, Tübin gen.

K u rz nach

A lb rec ht Kossel

fe ie r t auch der V e rtre te r der P h ysiologie au f der südlichen ba­

dischen U n iversitä t seinen siebzigsten Geburtstag.

F ern vom G etriebe des Tages gela n g t eine P e r ­ sönlichkeit von selten hoher Begabung und wissen­

schaftlicher Bedeutung im vollen B esitz ihrer geistigen und körperlichen R ü s tig k e it an einen Lebenstag, an dem Freundte und V ereh rer des G efeierten gern ein w en ig halt zu machen p fle ­ gen, um rückschauend zu sehen, was auch der M itw e lt ein reiches, der W issen sch aft g e w id ­ metes Leben geschenkt hat. ö fte r s hat

v. K r ie s

in diesen B lättern das W o rt e r g r iffe n , und sg haben w ir allen Anlaß, an dieser S telle ihm ein ige Zeilen in dankbarer Gesinnung zu widm en. Um so mehr B erech tigu n g haben w ir dafür, als das Lebenswerk eines Mannes von erstaunlicher V ie l­

s eitigk eit und H öhe der geistigen K u ltu r v o r uns liegt, Physiologie, P sych ologie und Philosophie, M athem atik und P h ysik umspannend, und' auch in der K u n st verw urzelt.

Johannes v. K r ie s

wurde am 6. Oktober 1853 in Roggenhausen i. W estpr. geboren. E r genoß

■den ersten U n terrich t bei einem H ausleh rer auf dem Lande, kam m it acht Jahren a u f das G ym na­

sium in M arienw erder und verließ es im Jahre 1869 m it dem R eifezeu gn is. E r studierte in H a lle, Zürich, L e ip z ig und B erlin und le g te in B erlin die Staatsprüfung und D ok torp rü fu n g ab. D arau f arbeitete er ein Jahr lang im In s titu t von

H e l m ­ holtz

und w eiterh in bei

L u d w i g

in L eip zig. Im Jahre 1880 wurde er zunächst als E xtraordin ariu s a u f den Lehrstuhl der P h y sio lo g ie in F re ib u rg i. B. berufen, den er je tzt einer jü n geren K r a ft überläßt, bis zuletzt in unveränderter F risch e wnd ivliarheit seine A u fgab en als akademischer Leh rer erfü llen d . In F re ib u rg konnte

v. K r i e s

in den neunziger Jahren das auch heute noch muster­

g ü ltig e In s titu t eröffn en , welches unter seiner L e itu n g neu errich tet wurde, nachdem bis dahin der P h y sio lo g ie in F re ib u rg nur sehr bescheidene

Käume zur V e rfü g u n g gestanden hatten.

V o n den beiden großen M eistern der P h ysio ­ logie,

Helmholtz

und

Lu divig,

hat

v. Kr ie s

en t­

scheidende Anregungen fü r seine w eitere wissen­

schaftliche E n tw icklu n g erhalten. So sehr das fü r

Helmholtz

zutage lieg t, so sehr ist es auch fü r

L udwig

der F a ll. H a t

v. K r i e s

auch w en iger dessen experim entelle R ich tu n g des Tierversuches in erster L in ie w eiter ve rfo lg t, so beherrschte er doch1 auch schw ierige Tierexperim en te vollkom m en

und konnte auf seine Schüler, die zum T e il w ieder mehr in dieser R ich tu n g ihren A n la gen und N e i­

gungen folgten , die K u n st des sauberen und g e­

wissenhaften A rb eiten s übertragen, durch welche zu vorbestim m ter Z e it ein größerer V orlesu n gs­

versuch bereitet, durch welche in unerm üdlichem Ausprobieren eine Fragestelllung zu klarer B eant­

w ortu n g gebracht w ird. D en Ü b erlieferu n gen des M eisters entsprechend arbeitete dabei auch

v. K r i e s

m it einfachen M itteln , vom lan gjäh rigen Institutsm echaniker

K ö p f e r

getreu unterstützt.

Es ist gut, sich auch heute w ieder daran zu er­

innern, daß es vor noch nicht so w eit zurück­

liegender Z e it ebenso w ie heute A u fga b e war, m it bescheidenen M itteln Großes zu leisten.

E in e R eih e von A rb e ite n w idm ete

v. K rie s

den Problem en der Muskel- und Nervenphysio- logie. U n ter anderem w urde der V o rg a n g der Sum m ierung zw eier Zuckungen näher untersucht und festgestellt, daß wesentlich verw ick eltere T a t ­ sachen vorliegen , als dem ein fach en Sum m ierungs­

schema entspricht. In die M eth odik der N erven - reizung wurden die „ Z e itr e iz e “ (S trom an stiege von veränderlicher S te ilh e it) ein g efü h rt und die davon abhängige V erän deru n g des R eizerfo lges untersucht. Bedeutsam sind w e iter die kritischen Übersichten, die

v. K r ie s

in späterer Z e it über Fragestellu ngen der M uskelphysiologie und der B ew egungskoordination gab, in denen sich die in allen seinen A rb eiten h ervortretende große Selb­

ständigkeit des U rteils und der A u ffa ssu n g zeigt, die bei ihm ein bloßes B erichten und Zusammen­

stellen ausschlossen.

W e ite re experim entelle A rb eiten befaßten sich m it der P h ysiologie des H erzens und des K r e is ­ laufes. In den Studien zur P u lsleh re w ird die periphere W e llen reflex io n und ih re B edeutung fü r das normale und veränderte P u lsb ild eingehend untersucht, 2 iich t nur experim entell, sondern auch m it den H ilfs m itte ln der M athem atik, die

v. K r ie s

hervorragend beherrscht. D ie M ethode der Flam m entachograpliie, m it der sich unm ittelbar die bisher nur m ittelbar erhaltenen K u rv e n der G eschwindigkeitsänderungen der B lutström ung gew innen lassen, ist hier des w eiteren als bedeu­

tend hervorzuheben. Das gleich e g ilt fü r eine A rb e it zur T h eo rie des Manometers. A m H erzen wurden eigentüm liche Störungen des Rhythm us und der K oord in a tion gefunden, die sich durch besondere Maßnahmen h ervorru fen lassen und die

Nw. 1923. 105

(2)

818 T rendelen burg: Johannes y. Kries.

fü r die T h e o rie der H erzstöru n gen überhaupt von B edeutung sind.

Schon im Ludw igschen In s titu t hatte

v. K ri es,

zum T e il in G em einschaft m it seinem F reu n de

v. F re y ,

A rb eiten aus dem G ebiet der physiolo­

gischen Opti'k unternommen, die ihn, in späterer Z e it so eingehend beschäftigten und in w elcher er das W erk eines

Hel mholt z

fortsetzte und er­

gänzte. Im Jahre 1882 erschien eine größere A rb e it über d ie An alyse der G esichtsem pfindun­

gen. H ie r w ird1 der w ic h tig e Gedanke ausgeführt, daß die peripheren E in rich tu n gen des F arb en ­ sinnes von .anderer A r t sind als die zentralen, und daß h ierin die Besonderheiten der Ergebnisse der objektiven und subjektiven U ntersuchungs­

methode des Farbensinnes begrü ndet ist, eine Anschauung, die von ihm späterhin als Z onen­

th eorie bezeichnet wurde. Schon h ier w endet sich

v. K r ie s

gegen die A nw endu ng der H erin gsch en T h eo rie auf die peripheren V o rg ä n g e 1).

S e it dem Jahr 1895 erschien eine große R eih e von physiologisch optischen' A rb eiten , d ie sich in erster L in ie m it denjenigen Erscheinungen be­

fassen, die w ir je tzt als Dämmeruhgssehen nach

v. K rie s

zu bezeichnen gew ohnt sind. F ern er wurden systematische Untersuchungen, über die abweichenden Form ensystem e angestellt, über die sogenannten D ichrom aten („R o t-G rü n -B lin d e “ ) , die Totalfarben blin den und die anomalen T ric h ro - maten. B ei den D ichrom aten ist die Feststellu n g von grundlegender Bedeutung, daß sich bei ihrer Durchuntersuohung m it der M ethode der spektra­

len Farbenm ischung zwei, getrennte Typen er­

geben, deren V erhalten der H elm holtzschen T h eo rie entspricht, den H erin gsch en Annahm en aber nicht. A u ch bei der Untersuchung der ano­

malen Trichrom aten ergab sich d ie U n h altb ark eit einer von H e r in g entw ickelten V orstellu n g, daß näm lich die A n om a lie au f abnormen ph ysikali­

schen Absorptionsverhältnissen beruhe. F ö rd e rt

v. K r ie s

in diesen A rb eiten die W e iteren tw ick lu n g der You n g-H elm h oltzsch en T h eorie, so geht er bald über diese hinaus und ergänzt d ie bisherigen V orstellu n gen durch eine T h eorie, die er später als D u plizitätsth eorie bezeichnete. D ie Gesam t­

h eit dieser A rb eiten , die unter dem T it e l A b ­ handlungen zur P h ysio lo gie der G esich tsem p fin ­ dungen2) auch gesondert erschienen, b ildet eine systematische Untersuchung eines neuen A rb e its ­ feldes. D ie Ergebnisse seien kurz im Zusam m en­

hang dargestellt. Glaubte man bisher, daß im Gesichtssinn ein einheitlicher, wenn auch d re i­

fach g e g lied erter „A p p a ra t“ vorliege, den man sich des näheren nach

H e l m h o lt z ’

oder

H e r i n g s

V orstellu n gen gebaut dachte, oder nach sonst­

weichen theoretischen V orstellu n gen , so ist das W esentliche der neuen V orstellu n g, daß neben

!) Das Auge ist hier als peripherster, die Occipital- rinde als zentralster Abschnitt des ganzen Sehorgans bezeichnet. Die Gegenüberstellung von Netzhaut- peripherie und Zentrum stellt hier nicht in Erörterung.

2) H aft 1 bis 4. Leipzig, Barth, 1897— 1918.

[

Die Natur­

wissenschaften

den genannten E in rich tu n gen noch ein zw eiter, vom vo rigen fu n k tion ell abgrenzbarer Apparat vorliegt. Aus noch zu erörternden Gründen w er­

den als peripheres Au fn ah m eorgan des ersteren die Zapfen, des letzteren die Stäbchen der N etz­

haut betrachtet. H ierd u rch läßt sich eine Reihe m erkw ürdiger Erscheinungen erklären. S tellt man fü r das liellangepaßte A u g e und die Fovea der N etzhau t Farbengleiohungen an, so z e ig t sich, daß diese u n gü ltig werden, w enn man sie m it dunkelangepaßten seitlichen N etzh au tteilen be­

trachtet. U nd zwar werden dabei die Farben ein ­ drücke v ie l weißlicher. Farben, d ie in d'er hell- angepaßten Fovea den E in dru ck gleich er H e llig ­ keit machen, sehen verschieden h ell aus, wenn sie m it dunkelangepaßten seitlichen N etzh au tteilen betrachtet werden (

Pu r k in je s

Ph än om en ). B ietet man dem dunkelangepaßten A u g e ein sehr lich t­

schwaches Spektrum dar, so kann man keine Farben erkennen, alle 'Strahlungen sehen weißlich aus, m it einem im G rün liegenden H elligikeits- maximum. A u ch im heMiangepaßten A u g e kann man bei Beobachtung in der N etzh au tp erijd ierie einen Zustand der F arb en b lin d h eit beobachten, der dem eben erwähnten in v ieler B eziehung ähn­

lich ist, sich von ih m aber dadurch scharf u n ter­

scheidet, daß nun das H elligk eitsm a xim u m im Gelb liegt. Geht man zu g erin g eren Lich tstärken und Dunkelanpassung über, so z e ig t ,nun auch die Netzhautperipherie das H elligk eitsm axin n n n im Grün. E igen tü m lich ist fe rn e r noch, daß das Pu rkinje-Phänom en in der F o vea fe h lt und daß sie an der großen S teigeru n g der N etzh a u t­

em pfin dlich keit, die im D unklen e in tr itt2), keinen wesentlichen A n te il hat. N u n ist anatomisch die F o vea dadurch ausgezeichnet, daß sie nur Zapfen, keine Stäbchen enthält. H iera u s erg ib t sich die schon oben erwähnte Annahm e. E in w eiterer S ch ritt ergab sich aus der von

K ü h n e

entdeckten Tatsache, daß an den Stäbchen ein purpurner lich tem p fin d lich er F a rb s to ff vorkom m e, der Seh­

purpur. E r w ird nach

v. K r i e s

als R eizü b erträger des Stäbchenapparates au fgefaß t, und es konnte g ezeig t werden, daß diese An n ah m e m it den B leich w erten verschiedener S tra h lu n gen au f den Sehpurpur übereinstim m t. D ie B leich w erte der L ic h te r entsprechen ihren D äm m erungswerten auf das dunkelangepaßte A u ge, also ihren W ir ­ kungen au f den Stäbchenapparat.

L ie g t so ein neues Lehrgebäude vor, so kann

schon heute g e fra g t werden, was von ihm als

bleibend bezeichnet werden darf. N ach der ebenso

sachlichen w ie überzeugenden K r it ik , d ie

v. K r i e s

selber erst kürzlich an den A n sich ten seiner

G egner übte, kann kein Z w e ife l sein, daß seine

A r b e it im wesentlichen zum bleibenden Bestand

der physiologischen O ptik gehören w ird 1 . Es ist

eben nicht angängig, alle E rscheinu ngen des

Farblossehens etwa d er H erin gsch en Schwarz-

Weißsubstanz zuschreiben zu wollen. D am it läßt

sich die V ersch ieden h eit der P erip h erie- und

D äm m erungsw erte niem als erklären, welche sich

(3)

Trendelen burg: Johannes v. Kries. 819

in der verschiedenen L a ge des H ellig k eitsm a x i- mums ausspricht. Auch andere genau festgestellte Tatsachen verm ag die H erin gsch e T h eo rie nicht zu deuten. Die Annahm e ein er Doppelanordnung der Einrichtungen des L ich t- und Farbensinns ist unumgänglich. A b er h ier mögen diese A n ­ deutungen genügen. W ir können es ru h ig der Zukunft überlassen, F ra g en zu entscheiden, die einstweilen noch in E rö rteru n g stehen.

Von w eiteren A rb eiten aus der physiologischen O ptik seien noch die zusammenfassende D arstel­

lu ng im

Nagels

Handbuch der P h y s io lo g ie er­

wähnt, sowie die Neuherausgabe der p h ysiologi­

schen O ptik von

Hel mholtz

(m it

N a g e l

und

G ull- slrand) .

Sie ist m it ergänzenden A u fsätzen des H erausgebers versehen, in welchen S tellu n g zu entgegenstehenden A n sich ten genommen, aber auch den Ansichten vom

Helm holt z

gegenüber kein ein seitiger Standpunkt vertreten w ird . Es seien nur die A u sfü hru ngen über psychologische F ra gen aus

Hel mholtz’

D arstellu n g erwähnt.

A uch in der physiologischen A k u stik hat

v. K r ie s

Bleibendes geschaffen. D ie Bedeutung der doppelten A n la ge des G ehörorgans fü r die W ahrnehm ung der S ch allrich tu n g w urde au fge­

k lärt und den eigentüm lichen1 Leistu n gen des

„absoluten Gehörs“ nach gegangen'.

E in en allgem einen Abschluß fanden die sinnes­

physiologischen A rb eiten von

v. K r i e s

im seiner

„A llg em ein en Sinnesphysiologie“ 3), die unlängst erschien. K e in anderes Wenk au f diesem G ebiet kaum ihr an die S eite g estellt werden. D ie E r ­ fah ru n g eines laugen Forscherlebens, eines tie fe n und selbständigen Nachdenkens ist darin nieder­

gelegt. D ie D arstellu n g ist- abgeklärt, so leicht verständlich, als der sch w ierige Gegenstand es zuläßt, und doch w eit e n tfe rn t von flacher „ A l l ­ gem ein verstän d lich k eit“ .

D en N aturw issenschaftler w erden w eiter noch kleinere A u fsätze interessieren, von denen dei' über Goethe als N a tu rforsch er4), ein N a c h ru f auf H elm h oltz. ein A u fsa tz über das physikalische W eltb ild erwähnt seien. D ie beiden letzteren sind in dieser Z e its c h rift v e rö ffe n tlic h t. In ersterem bewundern w ir die E in fü lilu n gsfäh igkeit.

des V erfassers nicht nur in d ie naturwissen­

schaftlichen Gedankengänge Goethes, sondern in sein ganzes W esen als „D ich terp sych olog“ . Über­

zeugend w ird dann dargelegt, w ie Goethe durch seine G rundauffassung von der W esensgleichheit der Sinne m it der durch sie aufzufassenden W ir k ­ lichkeit, durch seine naiv-sin n liclie anstatt ab­

strakt-mathematische Anschauungsweise zu seinem Irrtu m gegen

Neioto n

kam. G erade in heutiger Z eit, in welcher man w ied er Goethes A u ffassu n g gegen

N e w t o n

zu h alten versuchte, w ird

v. K r i e s ’

A u fsatz ein w ertvo ller F ü h rer sein, um so mehr, als auch er in Goethe einen großen N atu rforsch er sieht. Und so seien abschließend ein ig e W o rte aus dem A u fsa tz hergesetzt: „ A lle s Reichtum s

H eft 40. ] 5. 10. 1923J

und aller Schönheit uns zu erfreuen, vor allem Großen und G ew altigen uns in D em ut zu b eu gen : das ist der Gewinn, der uns aus der B esch äftigu n g m it Goethe erwächst“ .

Sehen w ir so, w ie tiefes Verständnis

v. K rie s

fü r die M ethode des rein anschaulichen Erfassens hat, so zeigen w eitere W erk e ihn als M eister der abstrakt-mathematischen M ethode, die ja auch den schon berührten Arbeitern von A n fa n g an zu­

grunde liegt. Seine „P rin z ip ie n der W ah rsch ein ­ lichkeitsrechnung, ein e logische U ntersuchung“

aus älterer Z e it (1886)5) und seine „L o g ik . Grundzüge einer kritischen und form alen U r te ils ­ lehre“ aus dem Jahre 19166) sind hier zu nennen.

S o ll das erstere W erk in erster L in ie die A u f ­ merksamkeit der Ph ilosop h ie au f die logischen G ru ndlagen der W ahrscheinlichkeitsrechnung len ­ ken, so kann das zw eitgenannte, großangelegte W erk, der E rlan ger philosophischen Faku ltät, deren Ehrendoktor

v. K r ie s

ist, gew idm et, gerade dem N atu rforsch er ungem ein t ie fe B eleh ru n g bieten. M it erstaunlich umfassendem W issen und, man kamn nur sagen, hoher W eish eit werden hier die schw ierigsten erkenntnistheoretischen Problem e behandelt, Und' das aClles in einer D a r­

stellungsweise von w underbarer K la rh e it. Da gib t es keine gesuchten W ortneu bildu ngen, kein In -A nfü hru ngszeichen-Setzen alltäglich er A u s­

drücke, um anzudeuten, daß sie im ganz beson­

derem Sinne gebraucht werden — , hier ist alles klar auseinandergesetzt, w ie es gem eint ist, und eine Sprache amgewendet, die dtern fein sten A b ­ stufungen von M einu ngen und F ra g en nachzu­

kommen im stande ist. Einzelnes näher auszu­

führen, hieße den Zusammenhang zerreißen. Ich kann es hier nur als meine A u fg a b e ansehen, d ie­

jenigen, welche diesen allgem einen F ra gen nach­

gehen wollen, anzuregen, das v. K riessche Buch zur H an d zu nehmen, in welchem sich z. B. ein ­ gehende Auseinandersetzungen über das Kausal- pvinzip, die Energiegesetze, über die F ra g e der a p rio ri-G ü ltig k e it solcher Gesetze, über psycho­

physische Zusammenhänge und vieles andere finden, D in ge, die ganz unm ittelbar dem Id een ­ kreise des Naturw issenschaftlers angehören.

Ich verlasse dam it die D arstellu n g der wissen­

schaftlichen Lebensarbeit vom

v. K r i e s

und bin m ir wohl bewußt, nur A ndeu tu ngen ihres G e­

habtes geben zu können. U nd nun die P ersön lich ­ k eit! D eren Zauber hat jed er in reichstem Maße an sich erfahren, der

v. K r i e s

näher stehen, ihn näher kennen lernen du rfte. Stets freu n d lich und verbindlich, und doch bestim m t in der S tellu n g­

nahme, stets bereit, ein verstän dn isvoller B erater zu sein, stets voll höchster Selbstbeherrschung, bei aller H öh e der Begabung bescheiden und nach der Tagesarbeit gern gen eigt, auch harm los er­

holende und ablenkende Gespräche zu führen.

Dabei hat er eine überraschend schnelle A u f ­ fassung und die B efä h igu n g, eine behandelte

3) Leipzig, Vogel, 1923. 299 S.

4) Jahrb. d. Goetlie-GeselLschaft 7, 1920.

5) Freiburg d. B., Siebeck, 1886. 298 Seiten.

8) Tübingen, Sielbeek, 1916. 732 Seiten.

(4)

820 B öker: Die Bedeutung d. Gesan ges d. V ö g e l in biologisch-anatomischer Behandlung. [ D ie N a tu r - Lwissenschai'tei»

F ra g e m it dem Bestand seines großen Wissens zu vergleich en , in dasselbe aufzunehm en und den ganzen Wissensbestand in geordneter B ereitsch a ft zu haben. Eine besondere F reu d e hat

v. K r i e s

an der Musik, fü r die er große Begabung besitzt und die er auf dem K la v ie r auch heute noch h ervo r­

ragend beherrscht. M it V orlieb e der klassisch- romantischen R ich tu n g sich zuwendend, hat er aber auch fü r neuere Erscheinungen der M usik großes Interesse. In seiner G attin fin d e t sein W esen eine schöne Ergänzung. In langer, glü ck­

lich er Ehe ist er m it ihr verbunden, Glück im Sinne des tiefen , verständnisvollen Zusam m en­

lebens m iteinander und m it lieben K in d ern und Enkelkindern. Doch schweres L e id blieb nicht erspart. E r ertru g es m it bewundernswerter und

vorbildlich er S tan d h aftigk eit. U nd so tru g e r auch den gew a ltigen Schmerz um den N iedergan g des Vaterlandes.

■So steht eine ganze P ersön lich k eit vor uns.

Seine W irk u n g auf seine Schüler ist n ich t die des zündenden Rhetorikers, sondern die v ie l tie fe re W irk u n g des klaren Verstandes, des w arm ­ herzigen Gemütes, der V orn eh m h eit der G esin ­ nung. So kam sein im besten W ortsin n fesselnder V o rtra g zustande. Und so hat ihm auch die be­

geisterte A n h än glich k eit seiner Schüler nicht;

gefeh lt.

E in seltenes GUlück ist uns in ihm beschert, daß er auch heute noch g e is tig e W e rte säen und ern ten kann. M öge ihm und uns dies Glück noch lange erhalten bleiben!

Die Bedeutung des Gesanges der Vögel in biologisch-anatomischer Behandlung1).

V o n H a n s Böker, Fr eib urg i. Br.

D er Gesang der V ö g e l ist eine Lebenserschei­

nung, die seit alters her in den weitesten K re is e n lebhaftes Interesse gefu n d en hat. U nd m it Recht, denn die Vogelstim m enkunde ist w irk lich eine liebensw ü rdige W issenschaft. F ü r den w issen­

schaftlich Denkenden geht aber m it der F reu d e an den Schönheiten des Gesanges H an d in H and dais F ra gen nach seiner Bedeutung und nach dem

Zweck, der ihm innewohnt.

Fa st ein stim m ig ist man der Überzeugung, daß der Gesang ein Zeichen der Brunst, ein Paarungsgesang ist. Man hat sich wohl so aus­

gedrü ckt: die Gesangsäußerungen geschlechts­

r e ife r V ö g e l sind der direkte A u sflu ß des G e­

schlechtslebens, den G rad der geschlechtlichen E rre g u n g erkennt man an der relativen Stärke des Gesanges, ein in der F r e ih e it singendes Männchen steht unter der E in w irk u n g des Ge- s eh lech t-s tr ieb es und der Gesangistrieb geh t m it dem Geschlechtstrieb parallel

{H a g e n ) .

Den Zweck hat man gesehen in dem Anlocken d e r W eibchen, im Ü berwinden seiner S p rödigkeit, im A b ­ schrecken der Nebenbuhler und in anderem mehr.

Ic h gehe wohl nicht fe h l, wenn ich verm ute, daß auch die M ehrzahl der Leser m it diesen D eu ­ tu ngen durchaus einverstanden sein w ird. W ü rd e man nach den G ründen fü r diese Ü berzeugung fragen , dann würde man w ohl hören, daß durch d ie Beobachtungen am Lebenden die zeitlich e Übereinstim m ung der F ortp flan zu n gsp eriod e m it der Hauptgesangesperiode doch so klar zutage trete, daß man darin den eindeu tigen Bew eis e r­

blicken könne. T rotzd em w urden im m er w ieder Z w e ifle r laut, ich nenne vor allem

K le insch m idt

und

B . H o f f mann,

die besonders d arau f h in ­ wiesen, daß man von v ielen V ogela rten , z. B. von Rotkehlchen, Rotschwänzchen, Zaunkönig, W as­

1) Nach einem V ortrag am 23. Februar 1923 im der med. - na tur w. Gesellscha ft zu Jena.

seramsel und auch vom B u ch fin k neben vielen anderen, regelm äßigen H erbst- ja W in te rg e s a n g hören könne, zu Z eiten also, wo sicher keine B ru ten stattfinden. U m aber diese Z w e ifle r zu beruhigen, sagte man, das seien E rin n eru n gen an Zeiten, in denen auch noch zu diesen Jahres­

zeiten B ru ten gemacht worden seien, oder aber es seien d ie ersten Anzeich en davon, daß diese V ö g e l in fern er Zu ku n ft w eitere B ru ten machen würden

( H a g e n

und

B r a u n ).

Scheinbrunst und un vollstän dige B ru nst nannte man diese E r ­ scheinungen. M an brachte also zur E rk läru n g des Gesanges d ie eine biologische Beobachtung m it einer anderen in B eziehu ng — Gesang und B runst — und erk lä rte die ein e durch die andere.

Es w ill m ir scheinen, als ob unserem D ran g nach E rkenntnis diese M ethode heute n ich t mehr genügen könne, und daß man fü r seine E rk lä ­ rungen bessere G rundlagen haben müsse. Man w ird es nicht verw u n derlich finden, wenn ich als A n atom diese G rundlagen in der M orp h ologie suche, wenn ich die biologischen Beobachtungen m it anatomischen Untersuchungen in P a ra lle le bringe, die Lebenserscheinungen also anatomisch zu erklären versuche. Da 'dieser W e g in gew isser H in s ic h t neu ist, muß ich auf diese M ethode, w elche Lebendbeobachtunge 11 und anatom ische Untersuchungen ursächlich vereint, m it ein paar W o rten eingehen2).

D ie vergleichende A natom ie soll nach dieser M ethode

in J

Z u ku nft ihre A u fg a b e im V e rsteh en - lernen von Lebenserscheinungen sehen. B isher sah sie ih re A u fgab e auf anderem G ebiet. D ie vergleichende A n atom ie der letzten Jahrzehnte suchte zu erkennen, was m orphologisch g le ic h ­ w e rtig ist, denn nur das w ar fü r sie vergleichbar.

2) Ausführlich in der Zeit sch r. fiür Mor-ph. und Anthrop. 1923: Begründung einer biologischen M or­

phologie.

(5)

Böker: D ie Bedeutung d. Gesanges d. V ögel in biologisch-anatomischer Behandlung. 821

Heft 40. ]

5. 10. 1923J

S ie fand das morphologisch Gleiche in 'dem, was g leich er Abstammung- ist. G leiche Organe nannte sie homolog. Sie brauchte und 'benutzte diese H om ologienforschung fü r ih r Z iel, die natürlichen Verw andtschaftsbeziebungen der Organismen aufzudecken, sie lebte also gan z in der Phylogenese. D ie m orphologischen E rk lä ­ rungen waren phylogenetische E rkläru ngen. — D ie Erforschung der Lebenserscheinungen ist in erster L in ie A u fgab e der P h ysiologie. D iese da­

gegen erklärt, indem sie die Lebensvorgänge auf physikalische und chemische Gesetze zurück­

führt. D arin lie g t aber eine gew isse E in s e itig ­ keit, deren F o lg e eine V ernachlässigu ng v ieler Lebenserscheinungen ist. Problem e w ie etwa die Bedeutung des Vogelgesanges interessierten also w eder den M orphologen noch den Ph ysiologen . A lle Beziehungen des Organism us zur U m gebung und zu den Wesen, m it denen er leben muß, die C horologie, E th ologie und Ö kologie w urden von ihnen überhaupt n ich t oder nur ganz nebenbei beachtet. Doch schon

Haeckel

schrieb in der gen erellen M orphologie 1869: „d e r außerordent­

lichen Bedeutung dieser V erh ältn isse entspricht aber ih re wissenschaftliche B ehandlung nicht im m indesten“ . D ie P h ysio lo gie hat „d ie B e­

ziehungen (des Organism us) zur Außenw elt, die Stellung, welche jeder Organism us im N a tu r ­ haushalt, in der Ökonomie des N atu rgan zen ein ­ nimmt, in hohem G rade vernachlässigt und die Sam m lung der h ie ra u f bezüglichen Tatsachen der kritiklosen N atu rgesch ich te überlassen, ohne einen Versuch zu ih rer mechanischen E rk läru n g zu machen“ . W ie vor 50 Jahren so noch heute, d ie anatomischen G rundlagen fü r biologische V o rgä n ge werden n icht erforscht. D ie Lücke k la fft zum Schaden des F ortsch rittes der E r ­ kenntnis nach w ie vor. S oll sie a u sgefü llt w e r­

den, so muß der An atom sich dieser A u fgab en annehmen. A b er es nützt nicht, Avenn der A n a ­ tom sich den K o p f darüber zerbrich t, welche F unktion eine von ihm erforsch te Stru ktu r wohl besitzen möge. Dabei kommt er v ie lfa c h über unfruchtbare theoretisierende Betrachtungen n ich t hinaus. Sondern es g i l t die cliorologischen, ethologischen und ökologischen B eziehungen der Organism en zu beobachten und zu analysieren, und nun nich t nach den Funktionen, welche den

B etrie b

des Organism us erm öglichen, sondern nach denen zu suchen, welche die

Gestalt

bedin­

gen, die F o rm beeinflussen. Lebensw eise und Körperbau sind in ih rem ursächlichen V erh alten zu einander zu erforschen, es ist

die für jeden Lebensvorgang typische anatomische K o n s t ru k ­ tion

zu erkennen! Ic h habe diese Forschungs­

richtung eine

biologische A n a t om ie

genannt;

„A n a to m ie“ , w eil sie in erster L in ie in den Arbeitsbereich des M orphologen, nich t des P h y ­ siologen gehört, und „b iologisch “ , w e il sie in einem historischen Gegensatz zur bisherigen

„gen etisch en “ M orphologie steht.

D ie genetische M orphologie

Gegenbaurs

und

JLaeckels

soll durch die biologische A n atom ie n icht als w ertlos bezeichnet und fü r überwunden gelten, sondern die neue R ich tu n g soll einen S ch ritt w eiter tun, indem sie dabei auf den E r ­ gebnissen der bisherigen R ic h tu n g fußt, nicht w ie die genetische M orp h ologie selbst v o r fast 70 Jahren durch

D a rw in s

W e rk her vor g e­

rufen, die idealistische M orph ologie

Goethes

ab­

löste und sich v ö llig an ih re S telle setzte. N u r der Gesichtspunkt, unter 'dem m orphologisch und auch phylogenetisch g ea rb eitet w erden soll, muß geän dert werden. W ie d ie idealistische M orpho­

lo g ie h inter der F orm d ie Idee, den Typus suchte, w ie die genetische die H om ologie, die Abstam ­ mung, so sucht d ie biologisch gerich tete M orpho­

lo g ie

die für einen Leben svorgang typische ana­

tomische Konstruktion.

Gegenbaur

und die ih m folgen d en M orpho­

logen mußten m it R ech t diese biologische B e­

trachtungsweise zunächst ablehnen, w e il in ihr große G efahren lagen zu einer Z eit, als inan noch g e n e ig t war, O rgane gleich er F u n k tion auch als m orphologisch gleich zu betrachten.

Gegenbaur

schrieb deshalb 1870, die vorw iegen d e B erück­

sichtigu ng .der physiologischen V erh ältn isse der O rgane sei das größte H em m n is fü r die E n tw ick ­ lung der vergleich en den A n a tom ie gewesen. A b er nachdem 'die morphologische B eu rteilu n g der Organe heute dank der H om ologien forsch u n g so w eit gediehen ist, daß w ir in der B erücksichti­

gu n g der F u n k tion keine G efah ren mehr er­

blicken können, da ist es d ie P flic h t der M o r­

phologie, sich .der biologischen Betrachtungsw eise zuzuwenden. T u t sie das nicht, so w ird sie, da­

von bin ich überzeugt, an Interesse noch v ie l mehr verlieren und danach in ih rer Bedeutung ganz verkannt werden. S e it einer R eih e von Jahren ist die M orph ologie, w e il sie nu r die Phylogenese sah, im m er mehr in den Schatten gedrän gt worden und hat der Vererbungslehre und der d ie E m bryologie im m er mehr b eein flu s­

senden Entw icklungsm echanik P la tz machen müssen, wodurch eine kausal-analytische F o r- scüungsperiode zur H e rrs c h a ft gela n gt ist. W ie die menschliche A n a tom ie als L eh rfa ch durch die biologische Betrachtungsweise, w ie sie vor allem

H . Brau s

ein gefü h rt hat, außerordentlich belebt worden ist, so w ir d die vergleichende A n atom ie als biologische A n atom ie ebenfalls einer neuen Blüte entgegengehen.

Daß die phylogenetische Forschu ng durch sie nicht vernachlässigt, sondern ebenfalls neues I n ­ teresse gew innen w ird , sei hier nur angedeutet.

D ie biologische A n atom ie w ird sich nämlich nicht nur auf die E rforsch u n g der anatomischen K o n ­ struktion eines sich vor unseren A u g e n abspielen­

den Lebensvorganges beschränken, sondern w ird H and in H a n d m it fder P a lä ob iologie,

O. Abel,

dem

Werdegang

der Lebenserscheinungen nach­

gehen. Dabei w ird sie sich ganz besonders au f d ie H om ologien forsch u n g stützen. A b er die biologische A n atom ie wdrd ih r dabei nicht b lin d ­

Nw. 1923

109

(6)

822 B ö k er: D ie Bedeutung d. G esanges d. V ö g e l in biologisch-anatomischer Behandlung. [ Die Natur- Lwissenschaften

lin gs folgen , sondern sie w ird als W egw eiser, als

K o rrig e n s der H om ologienforscbu'ng auftreten.

]n P a ra lle le zum Stammbaum d er O rgane und O rganism en w ird sie einen Stammbaum der Lebensw eise aufstellen, beide müssen sich logisch decken, sonst ist die A b leitu n g falsch. V o rerst jedoch kann die E rforsch u n g .der Phylogenese fü r die biologische A n atom ie nur von u ntergeordne­

ter Bedeutung sein, bis die Lebenserscheinungen in ih rer fü r eine jede 'Erscheinung typischen und durch sie ursächlich bedingten anatomischen K on stru k tion erforsch t sein werden.

K eh ren w ir je tzt zu unserem eigen tlich en P rob lem zurück und stellen w ir die F ra g e n : W as fü r eine Lebenserscheinung ist d er Gesang der V ö g el und w orin lie g t die fü r ihn typische anatomische K on stru ktion , die in ursächlichem Zusammenhang m it ihm steht? — D ie anatom i­

schen W erkzeuge, m it denen der Gesang h ervor­

geru fen w ird , sollen uns hier n icht be­

schäftigen. —

A lle Lebenserscheinungen, die w ir am leben­

den T ie r wahrnehmen, stehen unter dem E in flu ß von drei Trieben, dem E m äh ru n gstrieb , F o r t ­ pflanzungstrieb und dem T rieb , sich zu schützen.

D azu kommen bei den höheren W irb e ltie re n unserer W ahrnehm ung in steigendem Maße zu­

gän glich e Äußerungen seelischer E rregu n gen . Es b edarf keiner Erörterungen, daß der E rn äh ru n gs­

trieb und der T rieb , sich zu schützen, m it dem Gesang nicht in Zusammenhang gebracht w er­

den können. W ie aber einleitend auseinander­

gesetzt wurde, w ird fast allgem ein der Gesang

hatte. D abei w ar es am besten, wenn alle V ö gel, die man dazu benutzte, von derselben A r t waren, am selben O rt und m öglichst während eines Jahreszyklus zur Beobachtung gelangten.

D ie biologischen Beobachtungen mußten sich er­

strecken au f das erste A u ftre te n des F rü h ja h rs­

gesanges, au f den letzten Gesang im Som m er, auf H erbst- und W in tergesan g, fern er mußten D aten gesam m elt w erden über d ie V o rg ä n g e der Paarung, die ersten B egattungen, E iablagen und über etw a ig e Bruten im H erbst. B e i Zugvögeln w äre dazu noch der A n k u n fts- und Abzugsterm in festzustellen und zu erforsch en gewesen, w ie sie sich im W in terq u a rtier verhalten. Zu den ana­

tomischen Untersuchungen! mußten V ö g e l e rle g t werden beim B egin n des Gesanges, heim A u f ­ hören, bei H erbst- und W in tergesan g, dann vor der Brunst, heim B eginn, dem H öhepu nkt und dem A b fla u en der Brunst und schließlich beim B egin n und während der B eendigu ng der Mauser.

Ich habe dies M aterial, so gu t es gelin gen w ollte, vor allem am B u ch fin k in F re ib u rg i. B.

gesammelt. D er B u ch fin k ist ein so h ä u fig e r und sich so rasch verm ehrender S in gvogel, daß man sich kein Gewissen daraus zu machen brauchte, wenn man ein ige von ihnen tötete.

A u sfü h rlich habe ich dies M a te ria l im Journal f. O rn ith ologie 1923, H . 2 u. 3 besprochen, w o ra u f h ierm it verw iesen sei.

D ie Beobachtungen am Lebenden und die E r ­ gebnisse der anatomischen Untersuchungen bringe ich der Ü bersichtlichkeit halber in F o rm folgen d er Tabelle zur D arstellu n g:

M onat I I I I I I

I V V V I V I I V I I I I X X X I X I I

- 1 . i 1

Samenbildung... 1 23 + 45 1

Gesang'...

! ■

_____

1

als A u sflu ß des F ortpflanzu ngstriebes bezeichnet.

Is t das zu treffen d , dann muß sich dieser Z u ­ sammenhang auch anatomisch im B ereich der Geschlechtsorgane zeigen. W ir müssen also vor allem an den K eim drüsen nach der „typischen K on stru k tion “ suchen, die den Gesang ursäch­

lich 'bedingt, oder m it anderen W orten , in den K eim drü sen müßten sich anatomisch nachweis­

bare V orgä n ge abspielen, welche die Veranlassung fü r den Gesang darstellen.

Zu dem Zweck, dies zu erw eisen oder als n ich t .zutreffend zu erkennen, mußte ein reiches .M a teria l gesammelt werden, das aus biologischen Beobachtungen und erlegten V ö g e ln zu bestehen

Das bedeutet: 1. D ie Fortpflan zu n gsperiode beim B uch fin ken beginnt in F re ib u rg in der d ritten M ärzwoche m it der B ild u n g der Paare und dem A u ftre te n der Brunstkäm pfe, A n fa n g A p r il sind die ersten B egattungen zu beobachten, die bis M itte Juli, 13. J u li 1922, w ied erh olt w erden kön­

nen. 2. W ährend des W in ters b efin d en sich die H oden in v ö llig e r Ruhe, d ie Sam enzellen sind Sperm atogon ien (1). In der letzten F eb ru a r­

woche setzen Z ellteilu n gen u n ter diesen ein und

vergröß ern sich die Z ellen zu Sperm atozyten^2),

bis M itte M ärz sind d a ra u f durch d ie beiden

R eife te ilu n g e n d ie P rä s p e rm a tid e n (3) und die Sper-

m a tid en (4) gebildet, die sidh dann in der d ritten

(7)

Heft 40.]

ö. 10. 1923J

M ärzwoche in r e ife Sperm ien ( 5) umwandeln. Die H od en schwellen in der Z e it von 1 : 2 mm D u rch ­ messer zu 7 : 9 mm an, d ie Hodenkanälchen mes­

sen in der Ruhe 66

u l

, Ende Februar 166 tx, wäh­

rend die des Brunsthodens sich a u f 500— 800 jx Durchmesser ausdehnen. Y o n der letzten J u li­

woche an setzen die Rückbildungen der Sam en­

zellen wieder ein, so daß Zellen und Maße bald wieder den Ruhestand erreichen. 3. D er Gesang des Buchfinken, die typische „W ü rz g e b ie r“ - Strophe, ist in F re ib u rg regelm äßig schon am 2. oder 8. Februar zu hören und kom m t gew öhn­

lich schon M itte des M onats zur vo llen Stärke.

A n fa n g J u li k lin gt er langsam ab, den letzten Schlag hört man gewöhnlich .am 8. oder 10. Juli.

E nde Juli, den ganzen August, Septem ber und besonders den Oktober hindurch h ö rt man schlechten Buchfinkengesang, und im Dezem ber habe ich das ebenfalls schon m ehrfach gehört.

D iese H erbst- und W in tersän ger sind alles J u n g­

vögel. H erbstgesang alter B u ch fin ken habe ich noch nicht feststellen können, doch halte ich das n ich t fü r ausgeschlossen, kom m t er doch bei v ielen der anderen H erbstsänger, die im Oktober sehr leb h aft singen, Rotkehlchen und R o t­

schwänzchen vor allem, sicher vor. 4. D ie Mauser setzt in der zw eiten Ju liw oche ein und dauert bis Ende September, sie ist bei Erwachsenen eine Vollma.user, bei Ju ngvögeln nur eine Teilm auser.

Daraus lassen sich folgen de Schlüsse ziehen:

D ie Fortpflan zu n gsperiode, die m it dem ersten A u ftre te n der Brunstkäm pfe und der T e i­

lung der V ogelgesellsch aften in P aare beginnt, und m it der letzten B egattu n g ihr E nde erreicht, dauert anatomisch so lange, w ie man r e ife Samen­

zellen in den H odenkanälchen fin d et. D ie Z e it d er S am en reifu n g und die Z e it des Z e rfa lls der Sam enzellen gehört n icht zur B runstzeit. D ie E r ­ gebnisse einer großen U ntersuchung von

Tandler

und

Grosz

über die Sperm iogenese des M au l­

w u rfs stimmen dam it überein, denn sie beginnt schon im Oktober und ist erst im M ärz beendet, und dann erst begin n t die B ru n stzeit des M a u l­

w u rfs. Ebensowenig w ie der M a u lw u rf im - W in te r in Brunst ist, so w en ig ist es der Buch­

fin k vor der dritten M ärzwoche. D a der Buch­

fin k m it seinem Gesang aber schon v ie l früher, bis

zu

6 W ochen früher, beginnt, so kann der

■Gesang kein Brunstm erkm al sein. Derselbe Schluß e rg ib t sich aus der Tatsache, daß die F o r t ­ pflanzungsperiode im J u li länger dauert als die Gesangesperiode, b eim B u ch fin k en etwa zwei Wochen. Das E nde des Vogelgesa/nges im Som­

mer geht dagegen synchron m it dem B egin n der Mauser. Da diese Som m erm auser bei den aus­

gewachsenen B uchfinken eine V ollm au ser ist, w ird der Gesang v ö llig unterbrochen, während d ie den Jungvögeln nur eigen e Teilm au ser es nicht verhindert, daß diese schon bald nach dein Selbständigw erden anfangen zu singen. Dieses S in g en der jungen B uchfinken ist zuerst nur ein Stüm pern, die typische Strophe w ill gelern t sein.

823

Im Oktober jedoch kann man schon recht guten B uchfinkenschlag zu hören bekommen.

Das E rgebnis dieser biologisch-anatom ischen Untersuchung ist bisher also n ega tiv ausgefallen, da w ir d ie fü r den Gesang typische anatomische K on stru ktion nicht gefu n d en haben. Das erste E rgebnis besagt also, daß d er Gesang der V ö g e l m it dem F ortp fla n zu n gstrieb in keinem ursäch­

lichen Zusammenhang steht. Ic h m öchte dabei aber betonen, daß man w oh l unterscheiden muß, daß die „S in g v ö g e l“ , w ie die m eisten V ö g e l über­

haupt, über d ie verschiedensten Lautäußerungen verfü gen , von denen w ir gew isse zw eifellos als

„Paar.ungsrufe“ und „B ega ttu n gsla u te“ aufzu­

fassen haben. D iesen steht aber der „G esan g“

als etwas ganz anderes s c h ro ff gegenüber!

F ra g en w ir uns je tz t aber, wo w ir denn nun die anatomische U ntersuchung anzusetzem haben, welche die „typisch e K o n stru k tio n “ fü r die Lebenserscheinung Gesang aufdeckt, so bleibt uns nichts anderes übrig als das G eh irn als Organ fü r alle seelischen R egu n gen der T ie re . D ie H irn fo rsch u n g is t aber leid er noch nicht so w eit, daß sie uns fü r jeden seelischen V o rg a n g die anatomische U n terla ge dem onstrieren könnte.

Das muß der Zu k u n ft noch überlassen bleiben.

Im m erhin sind w ir wohl b erech tigt zu sagen, daß d ie V ö g e l in ih rer G esam theit und unter ihnen besonders d ie „ S in g “ -V ö g e l und d iejen igen , welche die menschliche Sprache nachzuahmen v e r ­ stehen, au f höherer psychischer S tu fe stehen, als die meisten anderen T ie r e einschließlich der Säugetiere.

Ich komme also zu der A nsicht, daß der G e­

sang der V ö g e l im m er der A u sflu ß höherer psychischer R egu ngen ist, daß er im m er von psychischen R eizen ausgelöst w ird . N u r darin singen die V ö g e l nicht, wenn sie sich körperlich so w e n ig wohl fühlen, .daß psychische R e ize sie nicht zum S ingen veranlassen können. Das ist der F a ll im W in ter, wenn d ie Nahrnngssorgen den V o g e l ganz beschäftigen, und zur Z e it der Vollm auser. Es w ird A u fg a b e der O rnithologen sein, durch Lebendbeobachtung d ie psychischen Reize, d ie den Gesang auslösen, zu erkennen.

Solche R eize können von F reu n d und F e in d und der leblosen U m gebung ausgehen, sie können so stark sein, daß sie Gesang auslösen, auch wenn der V o g e l sich körperlich unw ohl fü hlt, ja wenn er sterbenskrank ist. A u ch in der Z e it des W a n ­ dertriebes w ird der V o g e l unter besonderen psychischen R eizen stehen, welche dann Gesang auslösen, wenn die W an d eru n g etw a 'unterbrochen w ird , oder aber wenn der A n t r it t der R eise im H erb st hinausgezögert w ird . D en starken H erbstgesang der Rotkehlchen und R otschw änz­

chen erkläre ich m ir dam it. D ie Z e it aber, in der die V ögel unter den stärksten psychischen R eizen stehen, ist die B ru nstzeit, deshalb w ird der Gesang in dieser Z e it auch am stärksten erschallen. In der V erk en n u n g dieser Ü ber­

Böker: Die Bedeutung d. Gesanges d. V ögel in biologisch-anatomischer Behandlung.

(8)

824 Besprechungen. T Die Natur- Lwissensehaften

legung beruhte .das alte V o ru rte il, das im V o g e l­

gesang led ig lich einen Brunstgesang sehen w o llte ! D er Gesang der V ö gel ist ein

A r t m e r k ­ mal

und nicht ein Geschlechtsmerkmal. D aher e rk lä rt es sich, wenn d ie w eiblichen S in g v ö g e l v ie lfa c h rich tigen G:esang hören lassen. Es ist v ie lle ic h t nicht zu v ie l gesagt, wenn man die A n ­ sicht äußert, daß d ie W eibchen es psychisch in Z u k u n ft auch einm al so w eit bringen werden, w ie

es die M ännchen je tzt schon sind, daß sie also ebenso -stark und gu t singen werden, w ie w ir es je tz t in der H egel nur von den m ännlichen V ögeln zu hören gew ohnt sind.

M it exakten biologischen Beobachtungen in P a ra lle le m it genauesten anatomischen U n ter­

suchungen, d. h. also m it H ilf e der biologischen A natom ie, w ird man diese w ie noch v ie le andere Problem e der Lösung zu zu führen imstande sein '

Besprechungen.

Study, E., Die realistische Weltansicht und die Lehre vom Raume. Zweite umgearbeitete Auflage. Erster T e il: Das Problem der Außenwelt. Einzeldarstel­

lungen aus der Naturwissenschaft und der Technik, Bd. öjk Braunschweig, Fr. View eg & Sohn, 1923. X, 83 'S.' Preis Gz. geh. 3,5; geb. 5.

— , Mathematik und Physik. Eine erkenntnistheore­

tische Untersuchung. Tagesfragen aus den Gebieten der Naturwissenschaften und der Technik, H e ft 65.

Braunschweijg,, Fr. V iew eg & 'Söhn, 1923. 31 S. Preis Gz. 1,5.

— , Denken und Darstellung, Logik und W erte, Ding­

liches und Menschliches in Mathematik und N atur­

wissenschaften. Tagesfrageu aus den Gebieten der Naturwissenschaften und der Technik, H e ft 59.

BraunschWeig, Fr. V iew eg & Sohn, 1921. 43 S. P reis Giz. 2.

Die erste S ch rift behandelt, als E in leitu n g in die Lehre vorn physischen Raume, die Frage nach Sinn und Berechtigung unserer Annahme einer m ateriellen W e lt überhaupt. Die ersten drei K ap itel untersuchen, m it (besonderer Bezugnahme auf Vaihinger, die Be­

g r iffe der Hypothese und der F ik tion ; ihr Ziel ist der Nachweis, daß in den Aussagen der Naturforschung zwar durchweg hypothetische und fik tiv e Bestandteile miteinander vermischt auftreten, daß sie sich aber grundsätzlich durchaus voneinander unterscheiden) las­

sen. — Das erste K apitel handelt von den Hypothesen.

Den Zweck der Hypothesenbildung sieht Study m it V a ih in ge r darin, das „Gegebene“ (d. h. vor allem den individuellen Em pfindungsverlauf) in Zusammenhang zu bringen, um die Lücken dieses1 Zusammenhanges, die unsere Erfahrung uns reichlich dlarlbietet, zu schließen.

Zu diesem Zweck stellt .die Hypothese eine „A b b il­

dung“ des Gegebenen auf eine gewisse logische V e r ­ kettung her, wobei einzelnen Kettengliedern gegebene Stücke entsprechen, anderen aber nicht; und zwar werden diese logischen Verkettungen so gewählt, daß sich im ganzen ein möglichst einfaches, d. h,. willkür- freies W eltbild ergibt. Während Va ih in ger nur p ro vi­

sorische Hypothesen anerkennen w ill, d. h. Annahmen, die sich unmittelbar und vollständig an der in d iv i­

duellen iSinneserfahrung bestätigen oder widerlegen lassen, zeigt Study an zahlreichen Beispielen, daß die Hypothesen der Naturwissenschaft im allgemeinen nur mittelbar, nur teilweise und nur im Zusammenhange m it ändern solchen Hypothesen eine empirische P rü ­ fung gestatten, daß sie also höchstens „b e k rä ftig t“ , nicht aber bestätigt werden können. — Das zw eite K a ­ pitel handelt von den Fiktionen. Study versteht dar­

unter m it Va ihinger und Lotze Annahmen, die man m it dem vollständigen Bewußtsein ihrer Unm öglich­

k eit macht, w eil man weiß, daß sie entweder innere W idersprüche enthalten oder dem Er.fahrungsinhalt, auf den sie Sich beiziehen, nicht gerecht werden. N ur

Fiktionen der letzteren A r t sind nach Study in der Naturforschung zulässig und notwendig!, nämlich als bewußte „Idealisierungen“ , schematische Verein­

fachungen der Naturwirklichkeit. Denn m it solchen Vereinfachungen können w ir zur N o t fertig- werden, während1 ein genaues W eltbild nie in unsere K öpfe hineinßiehen würde. Der Gebrauch solcher Fiktionen in 'der Forschung schließt aber stets noch die H ypo­

these in eich, daß zwischen der W irk lic h k e it und dem fin gierten Bilde eine A r t von Parallellsm us besteht:

erst diese Hypothese kann E rkenntnisw ert besitzen, nicht schon die Fiktion als solche, w ie Study an zahl­

reichen Beispielen erläutert. — Im dritten K ap itel w er­

den Tatsachen, Hypothesen und1 Fiktionen als R e la tiv ­ begriffe, nämlich in ihrer Beziehung zum erkennenden

Subjekt betrachtet; insbesondere w ird (im Anschluß an V a ih in ger) die M öglichkeit erörtert, daß eine und die­

selbe Annahme nacheinander im selben oder gleich­

zeitig! in verschiedenen Subjekten als Tatsache, H y p o ­ these un/dl Fiktion bewertet werden kann.

Das vierte Kapitel behandelt nun die realistische Griundhypothase und ihr© Gegner, welche Study unter dem Namen Immanenzphilosopihen zusammenfaßt. Für den sogenannten naiven Realismus des täglichen Lebens und der naturwissenschaftlichen P ra x is ist die Außen­

w elt eine Tatsache schlechthin, für die Immanenzphilo­

sophen ist sie höchstens eine praktisch brauchbare F ik ­ tion „ohne Erkenntniswert“ . Der „theoretische“ oder

„wissenschaftliche“ Realismus hingegen, wie ihn Study vertritt, sieht in der Annahme der Außenwelt (neben der Annahme einer unbedingten Gesetzlichkeit alles Geschehens) die Grundhypothese der ganzen N atu r­

wissenschaft, welche durch alle Erfahrung] unausge­

setzt b ekräftigt wird, während sie durch die E in ­ wände der Imimanenzphilosophen nicht w id erlegt zu werden vermag. Ihren Haupteinwand, daß der B e g r iff einer vom Erkennen unabhängigen R ea litä t logische Widersprüche enthalte, beantwortet Study durch den Hinweis, daß die reale Außenwelt in logischer H in ­ sicht ein im plicite definierter Gegenstand sei, analog den Gegenständen der mathematischen Axiom atik.

Zwar vermögen w ir nicht das D in g an sich zu er­

kennen, wohl alber Beziehungen zwischen Dingen. Das

„tun w ir z. B. schon dann, wenn w ir sagen, daß' nicht zwei physische K örper dieselbe Stelle in Raum und Zeit einnehmen können. Das D in g betrachtet der Physiker als Träger dieser Beziehungien, zahllose Fäden scheinen sich ihm von einem D in g zum ändern zu spinnen, und genau so lie g t die iSache im Grunde auch schon für den naiven Menschen, wenn er sich auch schwerlich m it diesen oder ähnlichen W orten aus- drücken wird. Der B e g riff des Dinges is t 'praktisch unentbehrlich. E r is t aber auch theoretisch unentbehr­

lich, denn ohne die Annahme eines Trägers, an dem alle jene Fäden angeheftet sind, können w ir es durchaus

(9)

H e ft 40. "I

5. 10. 1923 J Besprechungen. 825

nicht verstellen, warum sie zusammen bleiben. Zwar haben w ir es bei der Außenwelt, anders als bei den Gegenständen der Axiom atik, „m it einer Hypothese zu tun, die auf immer Hypothese bleiben muß — aber m it einer Hypothese, die gerade in dem, worauf es an­

kommt, anderen Hypothesen gleicht, Hypothesen wie der Abstammungslehre, die jeder verständige Forscher annimmt, die aber folgerecht ebenfalls abgelehnt w er­

den müssen, wenn man auf Herbeischaffung eines bün­

digen Beweises (einer meines Erachtens sinnlosen F or­

derung) bestehen w ill.“ Um gekehrt ist es nun das Ziel Studys, den theoretischen Realismus als die ein zig zulässige philosophische Fortbildung des naiven zu er­

weisen und' damit zugleich zu zeigen, daß zwischen der Theorie der Immanenzphilosophen und ihrer Praxis, in der sie alle Realisten sind, ein unlösbarer W id e r­

spruch besteht. Auch der naive R ealist bildet, w ie Study ausführt, beständig, und zwar ganiz instinktiv, Hypothesen und fragt nach ihrer Bewährung: aus dem

„em inent praktischen Grunde, daß es durchaus nicht gelingen will, ohne solche, wenn auch noch so unvoll­

kommene und1 fluktuierende Hilfskonstruktionen der Phantasie und des Verstandes, in den Erscheinungen, besonders auch in denen der anderen Iche, einen ge­

setzmäßigen Zusammenhang zu erkennen: E rs t aus solcher E rkenntnis lassen sich brauchbare M o tive des Handelns ableiten.“ Der theoretische Realismus be­

steht „in der bewußten und planmäßigen, zugleich vor- und umsichtigeren Ausübung desselben bewährten Denkprözesses und in seiner Anwendung auf die E r ­ kenntnis um der Erkenntnis w illen “ . Ihm sind die H ypo­

thesen unvermeidliche Brücken zwischen den Erschei­

nungen, um diese in logischen Zusammenhang m itein­

ander zu bringen. So bleibt er m it der P ra x is des Lebens und der Wissenschaft in bester Übereinstim m ung; seine Gegner aber stehen ratlos vor der Frage, woher es kommt, daß die F iktion einer Außenwelt alle anderen Fiktionen so w eit an Brauchbarkeit überragt; worauf denn der E rfo lg solcher Begriffsbildungen w ie M a­

terie, Atome, Lichtw ellen usw. beruht, wenn w ir doch in ihnen nicht einmal ungetreue A bbilder einer W ir k ­ lichkeit erblicken dürfen. Nach Studys Ansicht kennt der Realismus solche Fragen nicht, während sie für die Immanenzphilosopbie unvermeidlich sind!. E ine g e ­ nügende A n tw o rt auf diese Fragen hält Study gar nicht für möglich; immerhin zieht er einmal den Fall in 'Betracht, 'daß man „dem Ibezeichneten. Problem ernstlich zu Leibe gehen sollte“ . D ie Immanenzphilo- sophen aber, können jedenfalls, w ie er meint, nur dann zu einer Lösung dieses Problems gelangen, wenn sie den Erkenntniswert, den der Realismus jenen B eg riffs ­ bildungen zuschreiben darf, im Widerspruch zu ihrem prinzipiellen Standpunkt nachträglich usurpieret: für sie „d arf ös keine Naturwissenschaft geben, wenn diese mehr als ein Gewebe von Einbildungen sein w ill, keine fremden Iche und keine Psychologie“ .

Eine gesonderte Besprechung erfahren in den beiden nun folgenden Kapiteln noch 'der sogenannte Konven- tionalismus, der sich nach Study höchstens in nebensäch­

lichen Dingen aulrechterhalten läßt („J e miehr K onven­

tionelles und also W illkürliches in einer physikalischen Theorie steckt, desto schlechter ist sie“ ), und endlich der Fiiktionaliismius Vaihingers, welcher allgem ein behauptet, daß unser Denken mit Widersprüchen durchsetzt ist, und daß gerade diese Widersprüche das W ertvollste daran sind. Study wendet sich insbesondere gegen 1 aihin g er s Versuch, seine Lehre an der Mathematik zu erhärten; er findet „die Psychologie dieser W u n­

derlichkeit“ darin, daß Vaihinger zwischen der M athe­

m atik schlechthin und ihrem historischen Embryonal- zuständ (z. B. zur Zeit Berkeleys und K ants) keinen Unterschied macht. D ie reine M athem atik ist, wie Study darlegt, überhaupt nicht fik tiv ; denn alle ihre Aussagen lassen sich, sow eit sie einw andfrei begründet sind, auf Aussagen über natürliche Zahlen zurückfüh­

ren, und der B eg riff der natürlichen Zahl „is t — gleich anderen B egriffen (Säugetier, Vogel, Denken, E m pfin­

den usw.) im agin ativ (id e e ll), aber keineswegs fik tiv.

W er immer ihn anwendet, hat nicht das Bewußtsein, daß sein Denken sich „im Unmöglichen bewegt“ , am wenigsten die Mathem atiker von Fach, die hier doch wohl zuerst gehört werden müssen“ . Der Fortschritt der Mathematik beruht, w ie der wissenschaftliche F o rt­

schritt überhaupt, nicht auf etwaigem inneren W id er­

sinn der Begriffsbildung, sondern gerade umgekehrt auf deren Wahrheitsgehalt. Der Fiktionalismuß geht

„auf Zerstörung alles redlichen Denkens aus“ ; seinen G ipfel erreicht er in dem „kindischen Zerstörungis- trieb “ Nietzsches. Den Schluß dieses K ap itels bildet eine scharfe Absage an einen großen T e il der bisheri­

gen philosophischen Literatur, deren Züge, so w ie sie Study zeichnet, den „au f das Objektive gerichteten schlichten .Sinn des Naturforschers und Mathematikers abstoßen müssen, dem es nicht entgehen kann, wie oft bei solchen Philosophen ein Wunsch der V ater des Gedankens ist“ .

Das letzte K ap itel faßt den Hauptinhalt der bis­

herigen zusammen in der (durch 0. Selz angereg­

ten) Lehre, daß unsere Erkenntnisse eine na­

türliche Rangordnung 'besitzen: In erkenntnistheo- retischer Hinsicht an erster Stelle stehen L o g ik und Mathematik, dann fo lg t das „unm ittelbar Gegebene“ , dann nacheinander die Hypothesen der realen Außen­

w elt und des1 eigenen Ichs, des fremden Seelenlebens, end­

lich der Gesetzlichkeit alles Geschehens (m it Einschluß des psychischen). Hieran schließt sich noch eine Aus­

einandersetzung m it Mach und Russell. Zwar hält auch Study es für eine vernünftige Forderung, zuzusehen, wie w eit sich die Theorie der Naturforschung unab­

hängig von der' realistischen Grundhypothese, allein vom individuell gegebenen Em pfindungsverlauf aus ent­

wickeln läßt; aber er behauptet nicht nur, daß dieser Grundgedanke bei Mach ungenügend diirchgeführt ist (was Mach wohl selbst am wenigsten bestritten haben würde), sondern auch, daß alle weiteren erkenntnis­

theoretischen Prin zipien Machs bereits seinem Grund­

gedanken widersprechen, auch das P rin zip der spar­

samsten und genauesten Symbolisierung des Gege­

benen. E rst das W erk von Russell1) ist nach Study ein ernsthalter Versuch, den Grundgedanken Machs durchzuführen. Auch hier bleiben jedoch eben die in ­ tellektuellen Bedürfnisse unerfüllt, in deren B efriedi­

gung die Realisten „geradezu die Aufgabe der E r ­ kenntnistheorie erblicken“ : es ergib t sich nämlich nur

„eine ungeheuer verwickelte Umschreibung des D in g­

b egriffs“ , wobei das D in g als ein substratloser K om ­ plex von Wechselbeziehungen erscheint. Nach Study existiert die Tatsache, auf die seines Erachtens das größte Gewicht gelegt werden muß, nämlich die Tucd-ngläufigheit, m it der w ir gewisse Vorstellungen bilden, für diese Betrachtungsweise gar nicht. N ichts­

destoweniger w ird Russell im ganzen w eit günstiger beurteilt als Mach. Seine eigene A rb eit hat Study in der Absicht ausgeführt, eine Basis zu gewinnen, von der „eine Untersuchung über die m it den W orten Zeit

i) „Our knowledge of the external worid as a field of scientific method in philosophy“ , 2. Aufl., London 1922.

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