XVII Jahrg. Berlin,den18.Yeptkmltrr1909. Alt-.51.
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Herausgehen
Maximilian Hardew
Inhalt:«
Seite
Ueberxpuguugetr. VonFriedrich Akten ...........·....895
parlamentarismum VonWilhelm Hagbach ..............401
Dualiømui inderWeltderweyklxr. Vonsind-via Fiel-c .........412
Philipp Egalik6. VonCrit-tu giebt-gu- ................417
Zell-stampfng VonZchukzexyerqpohsauq,3epker,geichek .....422
Kunstfür-Vollr. Vonsakczeutfth .. ..-............425
Ghin-Melke-Jsinanxwesen .......................426
Nachdruck verboten.
f Erscheint jedenSonnabend.
Preisvierteljährlich5Mark,die einzelneNummer«50Pf.
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Berlin.
Verlagder Zukunft WilhelmstraßeZa.
1909.
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Berlin, den 18.Hepkember 1909.
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Ueberzeugungen.
ÆllesRecht bestehtnur unterundfür Menschen.Anders ausgedrückt:in derNatur ensprichtkeinemRechtirgendein sinnlich wahrnehmbaresOb- jekt.Wenn man dahervon RechtiknobjektivenoderimsubjektivenSinn spricht, so bezeichnetman damitmenschlicheGedanken.
FastalleJuristen sindderUeberzeugung,esgebe Rechte; sie glauben, diese Rechte entstünden,verändertensich,gingenunter, undvergessen,daß sie dabei Ausdrückegebrauchen,die,strenggenommen, unerlaubter Weiseaus der realen WeltindierechtlicheBegriffswelt hinübergenommensind.Wasaber wirklichentsteht, sichändertund vergeht, isteinemenschlicheUeberzeugung, daßdasfragliche Recht entstanden sei, sich geänderthabeoderuntergegangen sei.Mandenkesich,dieBevölkerung Deutschlands stürbean einemTage, so
,bleibtvondemgesammten deutschenRechtgenausovielübrig,wie dieNachbar- völker davon anzuwenden für gut halten«
Wennichvon Xbehaupte,ersei EigenthümereinesBuches, so heißt Das: inirgendeinem für michalsUrtheilenden maßgebend-nPersonenkreis (der übrigensinAusnahmefällensich aufeinenUrtsheilendenbeschränkenkann) lebtdieUeberzeugung, daßXEigenthümereines Buchesist. Dieser Personen- kreisistbald dasganzeVolk, baldeinbestimmterStand, balddieSumme allerGerichte einesVolkes, baldeinige solche«Gerichte,baldeinsdavon.
Wenndie Frage gestelltwird, ob eineFrau,die,sich irrthümlichfür schwanger haltend,einAbortivmittel eingenommen hat, nach §218StGB bestraftwerden dürfe, sokannman ebenso gutmitJawiemitNeinant- worten. Jmersten Fall istderfürdenUrtheilenden maßgebendePersonen- kreisdasReichsgericht nebstdenihmfolgenden Gerichten,imzweiten Fall derKreisderDissentienten.
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396 DieZukunft
DiegroßeMehrzahlallerJuristenwirdhiermitdemEinwand kom- men: VerschiedeneAnsichten giebtesüberall,abernur eineAnsicht ist richtig und was dierichtige Ansichtsagt, istebengeltendes Recht. Hierbei setztman aberdaszuBeweisendealsbewiesenvoraus.
DerGlaubesdaßdasgeltende Rechtbeijeder schwierigenStreitfrage miteinerdermöglichen(oft unzähligen)Lösungenzusammenfalle,isteingut- müthigerWahn,deresaberjedem Schriftsteller ermöglicht,seine Meinung fürdieeinzig richtige auszugeben. Jn jedem Gesehe isteineUnmengewich- tiger Fragen einfach nichtbeantwortet undmanchmal sagendieMotivedes Gesetzes,dieEntscheidungeiner Frage habederWissenschaftüberlassenwer- denfollen.DieWissenschafthatesinsolchem Fallnieweiter alsbis zu einercommunis opiniogebrachtundkonnte esauch nicht,dajuristische Beweisenicht mathematischeBeweise sind,diejeden nichtVerrücktenüberzeugen.
Sind alsoin einerStreitfrage füralleAnsichtengleich guteGründe vorhanden, so giebteseinfachkeingeltendes Recht,weilweder dasGesetz sichdazuäußert nocheineauchnur annähernd allgemeine Ueberzeugungsich bildet. OhneZweifel sinddieGerichte,wenn sieeineStreitfrageandersent- scheidenalsdieWissenschaft,ineinervielgünstigerenLagealsdieseund habenvielmehr Aussicht,ihreMeinungmitderZeit geltendesRechtwer- denzusehen.
Aber kannnichteinejetzt vielleichtnur von einem Schriftstellerver- theidigteAnsichtbaldzurallgemeinenwerden? Gewiß;unddann ändertsich ebendasgeltende Recht.Das Recht istimFluß.DasRecht istkeine,,Jdee«.
DerGrund, weshalball Diesheute noch befremdendklingtundwarum dashiergestellte Problem bisherkaumberührtwurde, ist, daßderGlaube andieExistenzdesRechtes sich praktischalsnützlicherwiesen hat.Erver- stärktdieAchtungvor demGesetzundsichertvor zuschnellemAufgebenver- alteterUeberzeugungen JnderTheoriemußteaberderSchadederfalschen Grundüberzeugungendlich dochzuTagetreten.
Jch sagte, Das,was.man gemeinhineinRechtnennt,müßteeigentlich dieUeberzeugungvom Bestehen dieses Rechtes genanntwerden. Der vom Be- stehendesRechtes Ueberzeugtekannaberwiedernur zuseiner Ueberzeugung kommenundbeiihr bleiben,wenn erglaubt, daß Rechte,,bestehen«.Und weilerdiesenGlauben hat,wirderdashier gestellteProblem nicht verstehen·
Dieses Problemmuß daheralseinsvon vielen ähnlichenaufgefaßt werden. DerStaat,dieKirche sind auch nichtsalsUeberzeugungen.Noch kein Staat hat jeeinemMenschenEtwas befohlenodergeboten,aberfastalle Menschen habenesgeglaubt;und damit war der selbe Erfolg erreicht,als wenn eswirklicheinengebietendenStaat gäbe.Worin liegtdenndie bin-
Ueberzeugungen. 3 97 dendeKraftder-Gesetzes Dochnur darin,daßdieMenschensie fürbin- dendhalten.
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EinvollständigerJrrthumaberwäre es,hierauszuschließen,daßall dieseUeberzeugungenvergänglicherundverächtlicherseienalsdie Sinnesob- jekte. Eher dürftedasGegentheil richtig fein.Esgiebtkaumetwas weniger leicht ZerbrechlichesalsmenschlicheUebergeugungenxUndmitwelchemRecht wollteman dasRecht,den Staat unddieKirchedeshalb verachten,weilman sienicht sieht?
Allgemeinverbreitet istleider in dermodernen Rechtswisfenschaftder Hang,alldiese Ueberzeugungenzuobjektiviren.SosolldieKirchedie Ge- meindederGläubigen sein;aberausdenGlauben undnicht aufdieGe- meindekommtesan. DerStaat wird viel zusehrmitseiner Bevölkerung undseinemGebietidentifizirt. EinStaat ist ohne festesGebietdurchaus denkbar.Undwas sollman erst sagen,wenn dasRechtimsubjektivenSinn alsAntheilandenLebensgiitern desinirtwird?
WennicheineuneinbringlicheForderung habe, so habe ichdamitan denLebensgüterngarkeinenAntheiLNursovielist wahr: Jn»maßgebenden Kreisen«wird nichtdaran gezweifelt,daßichvon meinemSchuldnervon RechteswegeneineLeistung beanspruchendars. Wievielfeiner istdie alte Definition: Recht isteinWollendürfenznur stammt sieausderirrigenAn- nahme, daßeseinenerlaubenden Staat gebe.
Wiebildetsichnun dieRechts-,dieStaats-, dieKirchenüberzeugungs Wirstehen hier ohne Zweifelvor einem Grundgeheimnißdermenschlichen Natur. Anlage, Gewohnheit, Zwang, Hoffnung, EinsichtundInstinkt:Alles bautmitandemWerk,das schließlichinso imposanter Größe dasteht, daß dereinzelne TrägerdesGedankens esalssichfremd,alsewig,alsfür sich seiend,als,,Jdee« auffaßt. Zu ihrer Anbetung istdann nur ein weiterer Schritt. InallendreiUeberzeugungenisteineMengeMystizismus enthalten, wasman soforterkennt,wenn man denSpruch: ,,Recht muß Rechtbleiben«
mitBegeifterung ausspricht.
Siehtman von diesenmystischenBestandtheilenderRechtsüberzeugung ab, so ließe sichdasRechtimsubjektivenSinn desinirenalsdievonmaß- gebenden Kreisen gehegte Ueberzeugung, daßman vonRechteswegenbefugt sei, sein Verhaltenindieseroderjener Weiseeinzurichten,insbesondereivon einemAnderen einThun,DuldenoderUnterlasfenzuverlangen.Die Worte:
»vonRechtes wegen« dürfenaus derDefinition nicht ausgelassen werden;
dennnebenderBefugnißvon RechteswegengiebtesaucheineBefugnißnur von Moral wegen. Diese Desinition ist sofort hinfällig,wenn nicht mehran dasBestehendesRechtesimobjektivenSinn geglaubtwird,wenn«man in denmaßgebendenKreisen sich alsodurch dieRechtssatzungen nicht mehr ftlr
IF-
398 DieZukunft.
gebunden erachtet.DerGlaube aber,an Rechtssatzungengebundenzusein, darswederalsfalsch nochalsrichtig bezeichnetwerden« Zwar läßt sichaus derNatur nicht nachweisen,daß MenschenanRechtssatzungengebunden seien;
um so weniger,als Diesnur eineGleichnißredeist.DieUeberzeugung,geistig gebundenzusein, ist vollständiggleichbedeutendmitdemgeistigenGebunden- sein.WerdieUeberzeugung nicht hat,vongewissenRichtssatzungengebunden zusein,Deristnur inderUeberzeugungAnderer, nicht mehrinseiner eigenen
andieseRechtssatzungengebunden.Solange nichtdienicht Ueberzeugtenin derRechtsprechungirgendwelchen Einfluß haben, ist ihre Ansicht fürdieAn- derengleichgiltigzsobald ihre Anschauung maßgebendwerden sollte, sind so- wohldiese Rechtssatzungenalsdiedaraus fließendensubjektiven Rechtebe- seitigt.Mandenkehier nicht zunächstandieAbschafsungallerRechtssatzungen, die überausunwahrscheinlichist;dasGesagtewirdvielbesserklar,wenn man an einvon denGerichten manchmalanerkanntes,manchmalverneintes Ge- wohnheitrechtdenkt,dasendlichvom höchstenGericht für nicht bestehender- klärt undseitdemvon keinemGericht mehranerkannt wird. Vielleichtnoch lehrreicher istderFall,daß eineausdrücklicheBestimmung unserer Gesetze durchdieRechtsprechungweginterpretirtwird.JnsolchemFall ist ,,geltendes«
RechtundklareGesetzesbestimmungnichtgleichbedeutend:einsprechenderBe- weis, daßdasgesammte geltende Recht nichtsalseinGedankenerzeugniß einiger maßgebendenKreiseist.
SoistderGlaube andasGebundensein durchdieGesetzeimGrund eineFragederMoral(imweitestenSinn), sicherkeinelogischeSchlußfolgerung, nochwenigereine,,Thatsache«.-WersichandieGesetzegebunden fühlenwill, wirddaran gebunden sein, ungefährso, wie,weranGott glauben will,an ihn glaubenwird. DasRecht ist nicht sicherer begründetalsdieMoral,der Staat, dieKirche,Gott. DaßeseineMenge Menschen giebt,diewohlan dasRecht, nichtaberanGottglauben, liegt daran, daß siedieWirksamkeit desRechtes-mit Händen greifenzu könnenwähnen, diejenigeGottes nicht.
AbereinerealeWirksamkeithabenalldieseUeberzeugungennicht.Die Ueber- zeugtenwirkennur gemäßihren Ueberzeugungen. .
DieNormen,die derStaat angeblich seinen Unterthanen vorschreibt, sindkeineBefehle,dieerihnen ertheilt (wären siees,so dürftekeinMensch bestraftwerden,derdieRechtsnorm nichtkannte), sondern Verhaltungmaß- regeln,an diedieUnterthanen sich gebunden erachten; richtiger:von denen maßgebendeKreise urtheilen, daßdieStaatsbürgerdaran gebunden seien.Das VorhandenseinderGesetzeistinderRegel zureichenderGrund fürdieAn- nahmeeinesGebundenseinsandie inihnen enthaltenen Normen;aberdas Vorhandenseinoder,,Bestehen«derGesetzeist selbstverständlichwiedernichts alsDieses: maßgebendeKreise sind überzeugt,daßdieUnterthanenvoneinem
Ueberzeugungew 399 gewissen Zeitpunktab(gegebenenFallsbiszueinemgewissenZeitpunkt)an dieindemGesetz enthaltenenNormen gebunden seien.Damit einRichter
§242StGB anwenden könne, mußerfolgende Ueberzeugungen haben:
Erstens bestehtdasDeutscheReichundhat bestandenderNorddeutscheBund;
zweitens istdasDeutscheReichundwar derNorddeutscheBund imStande, Gesetzezuerlassen;drittens ist dasStrafgesetzbucheingiltiges Gesetz,früher desNorddeutschenBundes, jetztdesDeutschenReiches.Biertens enthältdas StrafgesetzbuchdieNorm: Dusollst nicht fremde beweglicheSacheneinem AndereninderAbsicht rechtswidriger Zueignung wegnehmen. DieserNorm hat jederimDeutschen Reich Vefmdlichezugehorchen. Fünftens istder WilledesStaates, daß Derjenige,derihr nicht gehorcht,mitGefängniß bestraftwerde.
Jm praktischenRechtslebendenktfreilichkeinMenschanallediese Prä- missenundJeder hältesfür genügend,daßerineinemGesetzdenpassenden Paragraphen sindet.
Sehr beträchtlicheSchwierigkeiten entstehen jedesmal,wenn dasGesetz eineLückehat. Danun jedes Gesetz unzähligeLückenhat,dafernerstets unzähligeFällevorkommen oder sichdoch erdenkenlassen, fürdieesanaus- drücklicherRegelung fehlt,daschließlichdieGerichtejeden praktischen Fall irgendwie entscheiden müssen,sobleibtgarnichts übrigalsderVersuch,die LückendesGesetzesauszustopfen. FürdieJuristen,dieoffenoderheimlich an dieRechtsidee glauben, istderWeg hierzu vorgeschrieben:derWegder Deduktion. DasRecht istnur scheinbarlückenhaft;thatsächlichsind auch diese Fälleallegeregelt,undwer von denObersätzendieUntersätzeabzuleitenver- steht, gewinnteinlückenlosesgeltendes Recht.
Gegen dieses Prinzipwärenichts einzuwenden,wenn man die Ober- sätzekennte. Jm Gesetz stehen sienur ganzselten,undsobald sie nichtdrin stehen, ist ihre Konstruktion stets willkürlich.Wirhaben,zumBeispiel, fast unzähligeTheorienvom ZweckderStrafe, so viele, daßkeineeinzige richtig seinkann. Jenachdemman nun AnhängerderBesserungtheorieoderder Vergeltungtheorieist,wirdman füreinesehr verschiedenepraktischeBehand- lungderZuchthäuslersein. Jm Gesetz klaffendabesonders großeLücken.
DasErgebnißist, daß jeder Einzelne je nach seiner Individualität sieganz verschiedenausfällt. Dasyer kpsoöoebei AlledemistdieAnnahme, daß dieStrafeüberhaupteinenZweck habe. Könntesienicht tausendZwecke haben?Könntesienicht vielleicht ohne Zweck entstandenundimLaufder Zeit ihr Zweckeuntergeschobenworden sein?Oderkönntesie nichtzu einem Zweck entstanden seinund diesen Zweck geändert haben? JedeGeneration wirddieZwecke,diefür sieimVordergrund stehen,indieStrafe hinein- dichten (wie jedeGeneration bisherdie Bibelnach ihren Zweckenausgelegthat).
400 DieZukunft.
DieAussüllungderGesetzeslückenist also nichtnur ungeheuer schwer, sonderninvielenFällen unmöglich,daderObersatz unaufsindbar ist.
DieübrigenLückenstopfer,die dieJurisprudenz empsiehlt, nämlichdie einengendeund ausdehnende InterpretationunddieAnalogie,könnenauch
von LeugnernderRechtsidee angewendetwerden. Nuristesnützlich,zu fragen,aus welchenGründenman sie überhauptanwenden darf. Werzur RechtfertigungderAnalogie anführt, daß gleicheFälle gleichbehandeltwerden müssen,setzt ohneallenScheinvonGrundvoraus, daßesgleicheFälle giebt;
wer abersagt, ähnlicheFälle müssengleich behandeltwerden,bleibtaufdie Frage ,,Warum?«dieAntwort schuldig,wenn ernichteinenObersatz auf- stellt,ausdemsich seine ThesealsFolge ergiebt. Dieser Obersatzkannaber nur lauten: DieGesetzewollendasmenschlicheLebeninvernünftigerWeise ordnen. Daraus ergiebt sichderUntersatz:Deshalb müssen ähnlicheFälle gleich behandeltwerden.
Wennman dagegen einwendet, daßkeinMensch definirenkann,was untereinervernünftigenOrdnungzuverstehenist, so istDies kein Tadel.
JedesZeitalter hat seine eigenen Ansichtenvon Vernunft,weiljedes Zeit- altereigene Zweckehat·Essollderselbe Geistsein,derdasZeitalter,die Ausfüllungder Gesetzeslückenund dieAuslegungderGesetzeleitet. Daß dieGesetzedemZeitgeist nicht blindlingsdienen sollen, daßdergesetzliche Befehl nicht durch Taschenspielerkünsteweginterpretirtwerden soll,versteht sichvon selbst.Wenn imGesetzeinedemZeitgeist widerstrebendeNormauf- gestellt ist, so mußdieseNorm,wenn sienicht ersichtlichAusnahmebestimmung ist, auch auf wirklich ähnlicheFälle angewendetwerden.
Zeitgeistund Gesetz habeneinander stetsdurchdrungenund werden einander, allenRechtsidealistenzumTrotz,immerdurchdringen.Freilichwäre für unsere Zeiteineinnigere VerbindungBeiderwünschenswerthDerRichter solldenSatz, daßdieGesetzedasmenschlicheLebeninvernünftigerWeise regeln wollen, nichtaus denGesetzenselbst erfahren. Jm BürgerlichenGe- setzbuchwirderihminderbedenklichen FormderVerweisung aufTreue undGlauben entgegengebracht. Freilich sindTreueundGlaubeschöneDinge;
abersobald siezumtäglichenHandwerkszeugderJuristengewordensind,werden sie fest, starr, unveränderlich.UeberdemrömischenRecht schwebt,einem Regenbogenvergleichbar,derGrundsatzderbona tides;so zarte Dinge dürfen nichtinstarre Paragraphen geschmiedetwerden«
Dr. Friedrich Alten-
L
Parlamentarismus 401
Parlamentarismu5.
gründeteGirardin denalten Gedanken vonderNothwendigkeit,sichfrei- willigderHerrschaftderMehrheitzuunterwerfen,wenn Beschlüssege- faßtwerden müssen.EinAnwendungsgebietdieses Satzes ist folglichdas Parlament, nichtderWahlkreis,derdieAbgeordnetenindasParlament sendet, dennderWahlkreis sollkeineBeschlüssefassen,sonderndieUrtheileundWünsche derWählerdurchdenMundseinesVertreters verkünden.GleichsamdieHeere auszurüften,dieimVolkshausmiteinander ringenund ihre Fehden durch Zählen abschließen:hierauf solltedieThätigleitderWahlkreise beschränktsein.
Jetreuersich ihre StimmungenundMeinungenimHausderAbgeordneten widerspiegeln,umso mehrHoffnung auf RuheundFortschritt.DasheutigeWahl- verfahren trägtaberdasPrinzipdesKriegesindenFriedenderwählenden Bürgerhinein; regelmäßigwird eineMinderheitvon einerMehrheit unterdrückt;
seskannvorkommen,daßdie MinoritätderWählerdieMajoritätderVertreter abordnet;und dieHoffnung aufeineverhältnißmäßigeUebereinftimmungzwischen derZahlderWählerundderGewählten beruhtnur aufderleichtherzigenAn- nahme, daß jede Parteiebenso oft HammerwieAmboßseinwird-
Ausdiesen MißständenisteineschmiegsameBewegung hervorgegangen füreineVertretungderMinderheitenundeinerücksichtloserefüreine der Stärke derParteienunter denWählern entsprechendeZahlvon Abgeordneten: für dieproportionelleVertretung,fürdieVerhältnißwahloder,wieman im Lande GottfriedKellersundKonrad Ferdinand Meyers durchkeinenSprachdämon zusagen abgehalten wird, durchdenProporz; fürbeidefo verschiedeneBe- wegungen kenntdiearme deutscheSprachebishernur dieeinezusammen- fasfende Bezeichnung: Minderheitenvertretung. Jn derSchweiz entzweit sie dieParteien seitdenneunziger Jahren desvorigenJahrhunderts, sie macht immerraschere Fortschritte,dadiefast fünfzig JahrealteAgitation fürdas ReferendumunddiedirekteVolkswahlderStaatsbeamten, die baldihrZiel erreichthaben wird,diepolitischen Bestrebungen nicht mehr zersplittert.Alle ParteienwollenihreweitereAusdehnung,mitAusnahmederfreisinnigsdemoi kratifchen.AufdemluzernerParteitagimMärz dieses Jahres hat sie entschieden Stellunggegen dieAusdehnunggenommen. VorKurzemwurde dasInitiativ- begehrenfür EinführungdesProporzesvom VolkdesKantons Aargaumit großerMajorität verworfenund imGroßrathdesKantons Sankt Gallen haben82Delegirte fürund ebensoviele gegen eineProporz-,,Motion«gestimmt.
DieBefürworterderVerhältnißwahlbringenneue Gründenebendenalten vor: im KantonTessin habe siedenbürgerlichenFriedenwiederhergestellt,
Hi
kaut se compter ou se bat-tre! Mit diesen energischenWortenbe-402 DieZukunft.
sie erschwereBestechungen,die ineinzelnen Wahlkreisen vorgekommen seien, auch ermöglichesie,dieZahlderVertreter zu vermindern. AargausKantons- rath zählt nicht wenigerals142 Abgeordnete,der Kanton jetzt vielleicht 220000Einwohner. Die-MenschenverschwendungimöffentlichenDienst,die durchdasdemokratischePrinzip, möglichstVieleandenStaatsgeschästentheil- nehmenzulassen, besondersinderunmittelbarenDemokratie, gefordertwird, wolleneinsichtigePolitiker einschränken,abersie befürchteneinfehlerhaftesBild derLandesstimmung,wenn derVerminderungderAbgeordnetenzahlnichtdie Minderheitenvertretungvorangeht. AuchinFrankreich kämpftman nichtnur mit Gründen derGerechtigkeitfürdieVerhältnißwahl Auch hiermöchteman dieZahlderAbgeordneten herabsetzen,wenn auchauseinemanderen Grunde:
man hofft,damitdenGrollüber dieDiätenerhöhungzubeschwichtigen.Vor AllemabererscheintdieVerhältnißwahlalseinezweckmäßigeMaßregel,um derschwankendenParlamentarischenRegirungwiderzuKräftenzuverhelfen.
DieErfahrung beweist ja, daß Staatsbeamtenthum undParlamentarischeRe- girung sich nicht vertragen.DerparlamentarischeMinister istvon derUnter- stützungderAbgeordnetenabhängigundderAbgeordnetevonderUnterstützung einerstarken ZahlvonWahlkreisgetreuen.UmdieseLeuteansichzufesseln,·muß erüber die Stellen, die dieRegirungzuvergeben hat (in Frankreichsindes viele), verfügenkönnen,ermußdieMacht haben, unlenksameBeamte heraus- zudrängenund neue Stellen stir seineGeschöpfezuschaffen,er mußinder Lage sein, seinemWahlkreise sllrdenFall, daßerwiedergewähltwird, Ve- lohnungeninGestaltvon Straßen,Kanälen,Brücken,Subventionenin Aus- sichtzustellen,ermuß Strafen erlassen, Prozesse niederschlagenkönnen. Alle dieseMittel sindinFrankreich angewandtworden. EinfranzösischerStudent begründeteseinen DurchfallimExamendamit,daßernichtdieProteition einesDeputirten besessen habe,eineErklärung,dieernstgemeintwar und weniger lustig ist,alssiescheint DaßderAbgeordnetedabeiseineVermögensver- hältnifseverbessert:werwillesihmverdenken? Sind nicht vielevon ihnen
arme Schlucker,dieesin anderen Berufenzunichts gebrachthaben?Undkosten dieWahlengewöhnlichnichtvielmehr,als die Diätenbetragen,diesievorder Einkommenerhöhungvon9000auf15000 FrankeninvierJahreneinstreichen konnten? SchonunterLudwig Philipp hateinFranzosedasSystemingeist- reicher Weise geschildert;unddochwar selbstamEnde derRegirung dieses KönigsdasWahlrecht noch sehr beschränkt.Wenn ich mich rechterinnere, stiegimJahre1848 dieZahlderWählervon 220 000auf10Millionen.
»Cesmæurs«, so schriebdamalsHello,,,ont produit dans notre sociåtå
une situation quiaune forte resscmblance avec 1’a.ncicn patro-
nage.«· VorfünfundzwanzigJahren gabEdmondScherer dieseSittendcm Ge- lächterpreisundimletztenWinterwurden von einem bekanntenAnonymusim
Parlamentarismus. 403 .,,Journal des Debats« dieEntsittlichung,dieRechtlosigkeit,der Terroriss mus,dieZerrüttungderFinanzen,dieesimGefolge hat,ernst undwitzig, mitSpottundEntrüstung,mitfast systematischerVollständigkeitbeschrieben.
WiedieWirkungenderParlamentarischen RegirunginItalien sind,darüber belehrt eindemdeutschenReichskanzlernahestehender italienischerStaatsmann schonallein durch den Titel seinerSchrift,1partiti politicj, e laloro jngerenza nella giustizia enell’ amministrazione«. Unddie Lücken Minghettis ergänztBolton King durch seinWerk,1ta1y ofTo-Da-y·,das gewißverdient,nebendemausgezeichnetenWerkeP.Fischers ,,Jtalienund dieJtaliener« genanntzuwerden. Aberwasman aufderApenninenhalbs inselerlebt,istnochnichtderGipfel Dessen,was man erfahren kann; sonst gäbeesimJtalienischen nichtdasWort,L0Spagnuolismoc JnMadrid fragte icheinenSpanier,als geradedieOpposition heftiggegendasMi- nisterium vorging, nachdentieferenGründen desSturmes, woran er ruhigerwiderte: Tengon hambre. Aehnlichwar die Antwort eines EngländersinBukarest aufmeine Frage,wann derSturz der rumäni- schen Ministerienzuerfolgen pflege.Ermeinte: When the opposition
are very hungry. Weshalb hatalsodieParlamentarische Regirungetwa hundertJahreinEngland erträglichgearbeitet?Weil die Bureaukratie un- entwickeltwar, weildieStaatsverwaltung inausgedehntem MaßeimEhren- amtgeführtwurde,weileineweitgehendeSelbstverwaltungeineEinmischung desStaates unmöglichmachte,weil. dieliberale BeschränkungderStaats- zweckeSubventionen derWahlkreise erschwerte,weildieAbgeordnetenzum größtenTheil wohlhabende, ja, reicheLeutewaren,denenihreEondottierepflichten nicht ein Einkommen zuverschaffen brauchten,undweil, alsdas Beamten- thum sich vermehrte,dasParlamentdieKlugheit besaß,dieBesetzungder Stellen durch dieExamenkonkurrenz erfolgenzulassen.’«·)Esisteinenicht biszum KernvordringendeAuffassung,dieunleugbaren Lichtseiten(nebenden
von Engländern deutlichbetonten Schattenseiten)derParlamentarischenRe- girung Englandsdaraus herzuleiten, daß sichinWestminsternur zwei Par- teiengegenübergestandenhätten,undesmachteinen erheiterndenEindruck, dieFreundedesbritischenParlamentarismus alleSymptomeeinerAnnäherung wesensfremder ParteienimDeutschenReichstageals Vorbvten bessererZeiten deuten zuhören. AuchbeiunswürdedieParlamentarische Negirung wahr- scheinlichZustände,wieinFrankreich,schaffen; vielleichtwürdeman sich dem,Spoilssystem«nähern.
Jchscheine michvonderMinderheitenvertretungweitentferntzuhaben;
die)NachdemTies geschriebenwar,ging durchdieZeitungendieMittheils ung,daßman auchinFrankreichinZukunftdieBeamtenanstellurg ausschließlich vomErfolgederWettbewerbsprüfungsnabhängen lassenwolle.