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Verzauberte Seele. Bd.1, Annette und Sylvia : Roman.

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Academic year: 2022

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R O M A I N R O L L A N D

© E t î a u t i r r t r « Seel e

E R S T E R B A N D

Ü B E R T R A G E N V O N P A U L A M A N N

K U R T W O L F F V E R L A G

MÜNCHEN

(9)

R O M A I N R O L L A N D

S t nnet t e unb ¿ êpl bi a

R O M A N

3 0. B I S 41. T A U S E N D

K U R T W O L F F V E R L A G

(10)

L f c f l r u c t t I I U J i l l r s i y i ¡j

r a n d e r S p i i u b r ) l; Il : u U u t l l l r L i L i l C e r s i l u L s l p i l f f

C o p y r i g h t 1 9 2 5 b y K u r l W o I f f V e r l a g A > & ,

M ü n c h e n f P r i n t e d i n l i : r 1 1 1 i u y

(11)

A N N E T T E U N D S Y L V I A

(12)

*

(13)

L i e b e , E r s t g e b o r n e a l l e r D i n g e , L i e b e , d i e d a n n d a s D e n k e n g e b a r . . .

K i g - V « d a

(14)

t ' .

J t i .

(15)

A N D E N L E S E R

1

~ N D E M wir uns zu einer neuen Reise an­

schicken, die, ohne so lang zu währen wie Johann Christofs Erdenwallen, doch manchen Tagmarsch wird bewältigen müssen, bringe ich meinen Lesern die freundliche Bitte in Erinne­

rung, die ich während meiner Musikanten­

geschichte an sie richten mußte, als wir bei einer W egbiegung angelangt waren. An der Spitze des „A u fleh n u n g“ betitelten Bandes wies ich sie darauf hin, jeden Band als Abschnitt eines innerlich stark bewegten Gesamtwerkes aufzu­

fassen, dessen treibender Gedanke sich erst all­

mählich mit dem darzustellenden Leben ent­

hüllen werde. Ich habe dort das alte Spi schwort abgewandelt: E rst am A b e n d d a r f m a n den T a g lo b e n o d e r t a d e ln , und fügte hinzu:

W e n n w ir am Z i e l e s t e h e n , w e r d e t ih r e r k e n n e n , w ie v ie l o d e r w ie w e n ig u n s e r S tre b e n w e r t war.

Allerdings gedenke ich jedem Bande sein be­

sonderes Gepräge zu geben, so daß er als Kunst­

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werk für sich aufgenommen werden kann. Aber es wäre verfrüht, nach einem solchen Teile Bin Urteil über den Grundgedanken des Ganzen aus­

zusprechen. W enn ich einen Roman schreibe, wähle ich mir e.n Wesen, dem ich m ich inner­

lich verwandt fühle — (vielmehr ist es dieses Wesen, dessen W ahl auf m :h fällt). — Ist diese Vi ahl einmal getroffen, so lasse ich es in völliger Freiheit schalten und walten und hüte mich sorgfältig, ihm meine Persönlichkeit aufzu- drängen. Eine Persönlichkeit, die man seif mehr als einem halben Jahrhundert tragt, ist keine be­

queme Last. Die göttliche W ohltat der Kunst besteht gerade da .n, uns von dieser Bürde frei zu machen, indem sie uns andere Seelen trinken und in andere Leben hineinschlüpfen läßt — (unsere indischen Freunde würden sagen: „in andere u n s e r e r L e b e n “ : denn alles ist nallen).

Sobald ich also Johann Christof oder Colas oder Annette Riwäre erwählt habe, beschränkt sich meine Rohe darauf, einfach ihre Gedanken niederzuschreiben. Ich behorche sie, sehe ihrem Treiben zu, schau’ mit ihren Augen in die Welt.

In dem Maße, wir sie ihr eigenes Herz und die anderen Menschen kennenlernen, lerne ich m ii Jinen; wenn sie irren, strauchle ich mit; wenn sie S’ ch wieder aufraffen, erhebe auch ich mich und selbander setzen wir unsere Wanderfahrt

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fort. Ich behaupte nicht, daß w ir im m er die beste Straße wählen. Aber es ist eben unsere Straße. Mögen nun Christot, Colas und Annette immer im Rechte sein oder nicht, jedenfalls s in d sie alle drei. Daß etwas lebt, ist seine stärkste Rechtfertigung.

Sucht hier keine Theorien und Doktorfragen.

Seht d'ese Bücher einfach als Seelengeschichte eines unverstellten, langen Lebens an, dem Freu­

den und Schmerzen überreich zugemessen w er­

den, das oft genug widerspruchsvoll erscheint und voller Irrtümer, dabei aber doch stets, da die eine unbedingte W ahrheit in unerreichbarer Höhe thront, wenigstens nach jenem inneren Gleichgewichte strebt, in dem unsere tiefste Wahrheit beschlossen ist

August 1 9 3s R. R.

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E R S T E R T E I L

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(21)

S

IE saß mit dem Rücken zum Fenster; der Hals, der kräftige Nacken badeten im Glanz der untergehenden Sonne. Annette war eben nach Hause gekommen. Zum ersten Male seit Monaten hatte sie einen ganzen Tag im Freien zugebracht, im Wandern allem Licht, der Sonne des Vorfrühlings völlig hingegeben. W ie unge­

mischter W ein berauschte sie diese junge Sonne:

die dünn belaubten Bäume streuten noch keine schweren Schatten in diese Lebensflut, der schei­

dende W inter hauchte von fern mit prickelnder Schärfe darüber hin. Jetzt summte es ihr im Kopfe, hämmerte durch Hals- und Schläfenadern, ihre Augen überwogte ein Schwall des draußen eingesogenen Leuchtens. Gold und R ot unter den gesenkten Lidern. Rot und Gold durch ihren ganzen Körper. W ie sie so dasaß, verfiel sie in reglose Starre, einen Augenblick wich ihr Bewußtsein:

Ein W aldweiher; mitten darauf, wie ein Auge, ein Fetzen Sonnenglast. Rundherum moosum- pelzte Baumsäulen. Unwiderstehliche Lust, in dies glatte Dunkel mit dem ganzen Leibe ein­

zutauchen. Da ist sie auch schon entkleidet. Mi, frostigen Fingern betastet ihr das Wasser Füße und Knie. Hing jgebenheit aller Sinne. Die rot­

goldene Flut spiegelt ihre Nacktheit. . . Dumpfes, verschwebendes Gefühl des Unbehagens: wie

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wenn fremde Augen sie im Bade belauerten.

Darum geht sie tiefer hinein, bis ihr das Wasser ans Kinn reicht. Das Wasser, das sie m it Krcis- wellen umfließt, wird lebend je Um schlingung:

fettige IJanen winden sich ihr um die Beine.

Sie will sicn frei machen — da versinkt sie im schlammigen Grunde. H och oben schimmert träge der Fetzen Sonnenglast. Zornig stößt sie mit der Ferse sich vom Grunde ab und taucht wieder auf. Jetzt ist das Wasser grau, trub, schmutzig. In zerstückten Schuppen glastet aber noch immer die Sonne auf der F lu t. . . Annette klammert sich an den vorhängenden Arm einer Weide, um sich dem schlammigen Naß zu ent­

reißen. W ie eine Schwinge hüllt ihr der dicht­

belaubte Ast die Blöße der Schultern und Hüften.

Nächtliche Schatten sinken, und kalt w eht es ihr an den Nacken.

Sie taucht aus der Versunkenheit auf. Die Entrückung hatte kaum ein paar Sekunden ge­

dauert. .■ Die Sonne verschwindet gerade hinter den Höhen von Saint-Cloud. Die Abendkühle ist da.

Leicht durchschauert und wieder völlig wach erhebt sich Annette; eine Falte steht zwischen ihren Brauen: sie ärgert sich heftig, daß sie sich hatte ins Bodenlose sinken lassen; sie geht vom Fenster w eg und setzt sich vor den Kamin. Dort

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brennt ein freundliches Holzfeuer, das m ehr die Augen erfreuen und mit behaglichem Knistern Gesellschaft leisten als W ärm e verbreiten soll;

denn durch das offene Fenster dringt vom Garten mit dem feuchten D uft des Vorfrühlingsabends das inelod’ sche Gezwitscher der rückgekehrten Singvögel, die nun bald schlafen wollen. Annette denkt nach. Aber diesmal sinnt sie mit offenen Augen. Sie steht wieder mit beiden Füßen fest in ihrer Wirklichkeit. Sie ist in ihrem Hause.

Sie ist die Annette Rivière. Sie beugt sich gegen die Flammen, die ihr junges Gesicht in roten Schein tauchen, streift mit dem Füße wie in neckender Liebkosung über den Rücken ihrer schwarzen Katze, die den Bauch dicht bis an die goldene Glut der Buchenscheite dehnt: in die­

ser Haltung entfacht Annette ihre glimmende Trauer, die einen Augenblick wie erloschen war;

sie ruft das Bild des W esens auf, das— nicht ihrem Sinn — aber ihrem Herzen entfallen schien. Sie trug Trauerkleidung; an Stirn und M undwin­

keln war freche Wegspur des Grams zu merken, der untere L drand von jüngst vergossenen Tränen noch ein w en 'g angeschwollen; aber bei alledem war sie ein Bild der Gesundheit und Jugendfrische, strotzte von Säften wie die er­

wachende! Natur da draußen; das kräft je junge

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Leibes, mit schwerem, kastanienbraunem Haar und goldigem Sonnenton des Halses, blumen­

frischen W angen und Augen; über ihre w ohl­

gerundeten Schultern suchte sie abgelenkten Blickes die zerflatternden Schleier der Schwer­

mut zusammenzuziehen : so glich sie einer jungen W itwe, die einen geliebten Schatten entschwin­

den sieht. In ihrem Herzen war Annette wirk­

lich verwitwet; aber der Schatten, den ihre Finger vergebens festzuhalten strebten, war der ihres Vaters.

Vor einem halben Jahre hatte sie ihn verloren.

Im letzten Spätherbst war Raoul Rivière noch in jungen Jahren — er war nicht emmal fünfzig - durch einen Anfall von Urämie hinwegger3fft worden; seine Krankheit hatte nur zwei Tage gedauert. Er hatte freilich durch seine Lebens­

weise selbst seine Gesundheit zerrüttet und mußte sich schon seit ein paar Jahren ziemliche Scho­

nung auferlegen— aber daß der Vorhang so plötz­

lich fallen würde, hatte er doch nicht erwartet.

Er war einer der ersten Pariser Architekten ge­

wesen, ehemaliger Rompreisträger; er war ein schöner Mann und mit einer ganz instinktiven Geriebenheit ausgerüstet; nach allen W ünsch- barkeiten des Lebens drängte es ihn mit fabel­

haftem Appetit; in den Salons wurde er ge­

feiert, von der offiziellen W elt mit Gunst über-

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häuft: so hatte er sein Leben lang, ohne sich’s merken zu lassen, einen stattlichen Vorrat er­

gatterter Aufträge und eroberter Frauenherzen zusammengebracht. Er war in Paris eine stadt­

bekannte Figur, und durch Photographien in illu­

strierten W ochenschriften und Karikaturen in Witzblättern wurde er erst recht volkstümlich;

jeder sah ihn deutlich vor sich mit seiner ge­

wölbten, besonders an den Schläfen weit aus­

ladenden Stirn, dem vorgeneigten Kopfe, bei dem man an einen Stier denken mußte, der auf einen losgehen will, den w eit heraustretenden Aug­

äpfeln m it dem verwegenen Blick, dem dichten, kurz geschnittenen Weißhaar, mit seiner „F liege“

unter dem Munde, dem man Hum or und un- bezwingliche Eßlust anmerkte — so war er ein unvergeßliches Bild geistreicher Hoffart und an­

mutiger Unverfrorenheit. In den Pariser Kunst- und Genießerkreisen war er jedem vertraut. Und doch hatte niemand sein Vertrauen; jeder meinte ihn zu kennen, niemand kannte ihn. Er führte ein Doppelleben: einerseits verstand er es vor­

trefflich, sich der Gesellschaft anzupassen, um sie besser ausbeuten zu können, aber daneben hatte er sich ganz im geheimen eine breite Son­

derexistenz eingerichtet. Er war starken Leiden­

schaften und unwiderstehlichen Lüsten unter­

tan, aber hütete sich wohl, irgend etwas davon

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merken zu lassen, was etwa Auftn ggeber hatte abschrecken können; so hatte er (fas ac nefas) ein gehe, mes Museum, zu dem er nur wenigen Auserlesenen Zutritt gewahrte; er scherte sich den 1 eufel um das, was beim Publikum als schön und gut galt, nahm aber bei seinen für die große Öffentlichkeit bestimmten Arbeiten auf die offi­

zielle Geschmacklosigkeit in jeder W eise R ück­

sicht. In seiner wahren Gestalt kannten ihn so weder seine Freunde noch seine Feinde. Aber er hatte gar keine wirklichen Feinde. Höchstens Mitbewerber, die sehr zu ihrem Schaden hatten merken müssen, wie wenig es geraten war, sich ihm *1 den W e g zu stellen; aber die trugen ihm nichts nach. Zunächst hatte er sie zwar tüchtig h leingelegt, dann aber war er ihnen so hübsch um den Bart gestrichen, daß es ihnen erging w ie sehr schüchternen Leuten, denen einer auf den Fuß tritt: sie waren nahe daran, sich m it ver­

bindlichem Lächeln zu entschuld gen. Der ener­

gische Schlaumeier hatte das 'inm erhm unge­

wöhnliche Kunststück zuwege gebracht, mit Konkurrenten, die er verdrängt, und Geliebten, die er verlassen hatte, weiter auf dem freund­

schaftlichsten Fuße zu verkehren.

In seiner Ehe gingen die Sachen doch eher schief. Seine Gattin wollte keine Vernunft an­

nehmen und litt unter seiner Untreue. Er meinte, 1 4

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in den fünfundzwanzig Jahren, die sie verheiratet waren, hätte sie doch reichlich Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen — aber sie fügte sich nie in diese offenbare Unabänderlichkeit. In ihrer kühlen Schönheit war diese Frau auch innerlich ' ein rechter Typus ihrer Heimatstadt L yon : ihre trübsinnige Ehrbarkeit, ihre äußerlich kühle Art, ihr starkes, aber tief verschlossenes Gefühlsleben waren nicht die rechten Mittel, diesen Mann dauernd zu fesseln; und war sie schon dazu zu ungeschickt, so fehlte ihr erst recht das so nütz­

liche Talent, über Dinge hinwegzusehen, die sie doch nicht verhindern konnte. Zu stolz, sich offen zu beklagen, konnte sie es doch nicht über sich bringen, ihm zu verbergen, daß sie alles wisse und darunter leide. Da er ein weiches Herz hatte (wenigstens bildete er sich das ein), vermied er es, an diese Dinge zu denken; aber dabei nahm er’s ihr übel, daß sie es ihm so schwer machte, sich über seinen Egoismus hinwegzutäuschen.

Seit Jahren lebten sie fast völlig getrennt; aber nach stillschweigender Übereinkunft durften die Leute nichts davon merken; nicht einmal ihre Tochter Annette durchschaute den wahren Sach­

verhalt. Sie hatte über die Mißhelligkeiten, die zwischen ihren Eltern bestanden, nie tiefer nach­

gedacht; es war eine unangenehme Vorstellung.

Im Übergangsalter hat ein junger Mensch so

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viel mit sich selber zu tun! Die ändern . . . die sollten nur auch zu dem Ihren sehen!

Sein Meisterstück machte Raoul Rivière, in­

dem er seine Tochter auf seine Seite brachte.

Selbstverständlich tat er gar nichts Besonderes, um an dieses Ziel zu gelangen: dann zeigt sich gerade die höchste Künst. Nie kam ihm e i W ort des Vorwurfs gegen se îe Frau über c U b L ippen, nie wies er darauf h.n, worin sie etwa ihm gegen­

über im U niecht war. Er war durchaus ritter­

lich; er überließ es ganz seiner Tochter, dies selber zu entdecken, und die ließ es daran nicht fehlen, denn, wie alle W elt, stand sie im Zauber­

bann seiner verführerischen Persönlichkeit. W ie sollte man nicht gegen eine Frau Partei nehmen, die das Glück, seine Frau zu sein, sich unge­

schickt selber vergällte! In diesem ungleichen Kampfe war die Sache der armen Frau Rivière von vomher« n verloren. Ihre Niederlage wurde vollständig, als sie vor ihrem Manne starb. So be­

hauptete Raoul das Feld und blieb im Alleinbesitz des Herzens seiner Tochter. Die letzten fünf Jahre hatte Annette völlig im seelischen M acht­

kreis des liebenswürdigen Mannes verlebt; voll väterlicher Liebe ließ er in aller Harmlos gkeit der Tochter gegenüber all d > Verfuhrungskünste spielen, mit denen er von Natur aus Menschen gegenüberzutreten pflegte. Er war um so ver­

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schwenderischer mit seiner Zärtlichkeit, als diese außer Hause kein rechtes Betätigungsfeld mehr fand; seit zwei Jahren nötigten ihn die ersten Anzeichen der Krankheit, die ihm tödlich werden sollte, zu einer ziemlich eingezogenen Lebensweise. So blieb ihr inniges Zusammen­

leben ganz ungestört; diese seelische Nähe des Vaters füllte Annettens Herz völlig aus; es war noch in halbem Schlummer befangen. So wurde sie dreiund zwanzig und bald vierundzwanzig Jahre alt; aber ihr Herz schien auf einer weit jugendlicheren Entwicklungsstufe zu verharren, es hatte keine Eile. Vielleicht ging es ihr wie allen Menschen, denen ein langes Leben bestimmt ist und in deren seelischen Hintergründen noch unentfaltet starke Daseinskräfte ruhen; sie ließ diese inneren Gewalten sich in beschaulicher Stille sammeln und stauen.

Sie hatte Züge von beiden Eltern: dem Vater glich sie im Gesichte, sie hatte auch sein be­

zauberndes Lächeln, das bei ihm so viel mehr versprach, als er je zu halten gedachte, bei ihr aber, die so rein geblieben war, weit mehr, als sie wollte und ahnte; von der Mutter hatte sie ihr scheinbar ruhiges Wesen, eine gemessene Art sich zu geben und einen sittlichen Emst, der durch ein höchst unabhängige« Denken nicht aufgehoben wurde. Im Zusammenklang jenes

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unbewußt lockenden Lächelns und dieser seeli­

schen Zuruckhaltung lag die stärkste Anziehungs­

kraft. Niemand konnte erraten, welche der beiden Grundkräfte in ihr die bestimmende war. Ihr wahres Wesen blieb noch unerkannt. W eder sie selber noch ihre Umgebung wußten da Bescheid.

Niemand ahnte bre Innenwelt. Sie glich einer Eva im Paradies, die vom Halbschlummer um ­ fangen ist. Sie hatte noch keine Gelegenheit g e­

habt, sich der Begierden bewußt zu werden, die ihr zu schaffen geben sollten. Es war noch der An­

stoß ausgeblieben, be de in sie erwachen mußten.

W ie reife Früchte hingen sie tief nieder, sie hätte nur die Hand auszustrecken gebraucht, um s : zu pflücken. Aber das versuchte sie nicht, ihr genügte es, dem einschläfernden Gesumm der seligen Bienen zuzuhören, die von ihrer Über­

süße herbeigelockt waren. Vielleicht wollte sie gar nicht den Zugriff versuchen . . . W e r kann sagen, bis zu w elchem Punkte man den Selbst­

betrug treiben kann? Man vermeidet es, be­

unruhigende Elemente des Innenlebens wahr­

zunehmen. Sie zog es auch vor, gegenüber diesem tiefgelagerten Meere die Augen zu schließen.

Die Annette, wie man sie kannte, wie sie sich selber sah, war ein sehr ausgeglichenes Persön­

chen, verständig, ordnungsliebend, voll Selbst­

beherrschung, hatte f len starken W illen und 18

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ein unbefangenes Urteil, aber bisher war sie noch nicht in die Lage gekommen, sich mit diesen Kräften zum Herkommen in ernstlichen Gegen­

satz zu stellen.

Ihre gesf llschaftlichen Pflichten vernach­

lässigte sie durchaus nicht, war auch gegenüber geselligen Genüssen keine Kostverächterin, ließ sie sich sogar mit Behagen schmecken — aber sie empfand doch das Bedürfnis nach einer ernst­

hafteren Tätigkeit und setzte es durch, recht gründliche Studien zu treiben, besuchte Vor­

lesungen an der Universität, legte Prüfungen ab und erlangte in zwei Fächern akademische Grade.

Ihr lebhafter Verstand verlangte Beschäfti­

gung; so hatte sie eine besondere Vorliebe für exakte Forschungen, besonders auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, für die sie auch ent­

schieden begabt w ar; — inre gesunde Natur wollte vielleicht, um sich im Gleichgewichte zu erhalten, mit diesen streng wissenschaftlichen, logisch gradlinigen Denkweisen der beängstigen­

den Lockung jenes Innenlebens entgegenarbeiten, in dessen Wirrsal sie sich nicht wagen wollte, und das doch, trotz all ihrer Gegenwehr, sobald ihr Geist untätig blieb, sofort an ihre Türe pochte.

Diese klare, reinliche, regelmäßige Tätigkeit füllte sie für den Augenblick völlig aus. An das,

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was späier kommen würde, m ochte sie jetzt nicht denken. Sie hatte keine Lust zum Heiraten.

Sie unterdrückte jede Vorstellung von Liebe und Ehe. Der Vater lächelte über ihre vorgefaßten Meinungen, hütete sich aber, ihnen often ent­

gegenzutreten: sie paßten ihm wohl in den Kram.

Raoul Rivières Verschwinden erschütterte his ii i die Gr undfesten diesen fest gefügten Lebensbau : Annette hatte bei Lebzeiten des Vaters gar nicht gemerkt, w ie sehr dieser in ihrem Dasein der tragende Hauptpfeiler gewesen war. Der T od an sich war ihr keine unbekannte Erscheinung. Sie hatte ihm ins Antlitz geblickt, als vor rünf Jah­

ren ihre Mutter dahingegangen war. Aber die­

ses Antlitz hat nicht im m er die gleichen Züge, denselben Ausdruck. Die letzten Monate ihres Lebens hatte Frau Rivière in einem Sanatorium zu gebn ch t, und still, w ie sie gelebt, war sie auch aus dem Leben geschieden; w ie früher den Kummer ihrer Tage, verhielt sie nun auch irc letzte Todesqual, so daß durch den Panzer von Annettens jugendlicher Eigensucht nur eine milde Trauer drang, weich w ie erste Frühlings­

regen, aber auch ein uneingestandenes Gefühl der Befreiung und ganz leichte Gewissensbisse, deren nagende Pein gar bald von jugendlicher Sorglosigkeit verdrängt wurde

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Ö u u anners war das Ende des Racrui Riviäre.

Auf der Höhe seines Glückes brach er getroffen nieder, und da er meinte, es noch lange in vollen Zügen trinken zu dürfen, stand er dem plötz­

lichen Scheiden ganz fassungslos gegenüber. Die utzton Qualen und der nahende T od erpreßten ihm Schreie wilder Auflehnung. Bis zum letzten Hauche eines keuchenden Todeskampfes wehrte er sich entsetzt regen das Unabwendbare, w ie ein galoppierendes Pferd, das einen Steilhang erstürmen soll. Diese schauerlichen Bilder präg­

ten sich wie in W achs Annettens glutheißer Seele ein. Viele Nächte lang litt sie unter Hallu­

zinationen. Sie lag im pechfinsteren Zimmer nahe am Einschlafen oder fuhr aus tiefstem Schlafe auf und mußte das verzerrte Antlitz des sterbenden Vaters in solcher Intensität n och ­ mals miterleben, daß ue m it dem im Todes - kampf Ringenden geradezu eins w urde: seine Augen wurden ihre Augen, sein keuchender Atem wurde ihr Atem ; in ihren eigenen Augen­

höhlen fühlte sie den Druck und Z ug seines letzten, hilfesuchenden Blickes, ehe sein Licht erlosch. Fast wäre sie daran zugrunde gegangen.

Aber gesunde Jugend hat solch federnde W ider­

standskraft! Je stärker die Sehne des Bogens ge­

spannt wird, je w e er wird dann der Pfeil des neuen Auflebens weggeschnellt Das grausam

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greile Licht dieser entsetzlichen Erinnerungs­

bilder erlosch, verzehrte sich gerade an seinem Übermaß, und alle Erinnerung sank in Nacht des Vergessens. Die Züge, die Stimme, die per­

sönliche Ausstrahlung des Dahingeschwundenen, all das war wie eingeschluckt: bis zur äußersten Grenze ihrer Kraft sammelte Annette den in­

neren Blick auf das schattenhaft verschwim ­ mende Bild, aber es war nicht m ehr zu finden Sie sah nur noch sich selbst. . . sich allein . . . Allein! Eva im Paradiese erwachte und sah zu ihrer Seite nicht m ehr den Gefährten, von dem sie immer nur gew ußt hatte, daß er bei ihr sei, ohne daß sie dieses Verhältnis irgendwie begriff­

lich hatte klären w ollen; in ihrem tiefsten, ganz unbewußten Empfinden war er der Gegenstand ihrer unentfalteten Liebeskraft gewesen. Und mit einem Male erschien der Garten Eden als durchaus unsicherer Ort. Es wehte beängstigend in den umhegten Raum ; erst ein Hauch des Todes, jetzt der des Lebens. Annette riß weit die Augen auf: so mochten die ersten Menschen die erste Nacht gesehen und in dunkler Furcht die tausend Gefahren geahnt haben, die rings im Finstern lauerten und niedergerungen sein wollten. Ihre schlummernde Tatkraft sammelte sich urplötzlich in einem Punkte, spannte sich an und war zum Kampfe bereit. Ihre Einsamkeit

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bevölkerten mit einem Male alle Dämonen der Leidenschaft.

Ihr inneres Gleichgewicht war gestört. Stu­

dien und Arbeit bedeuteten ihr gar nichts mehr.

Es schien ihr jetzt lächerlich, daß sie diesen Dingen in hrem Leben hatte so viel Raum geben können. Der andere T eil ihres Lebens, in den der Schmerz brutal hineingestoßen hatte, enthüllte sich nun als unübersehbares, nicht aus­

zuschöpfendes Gebiet. Der Schlag der Verwun­

dung zitterte dort in jeder Faser nach; rings um die durch das Verschwinden des gebebten W e g ­ genossen aufgerissene W unde erzitterten alle sich selbst verborgenen, sich selber unbekannten Liebesmächte. Die Leere, die sich da gehöhlt hatte, saugte diese Kräfte an, daß sie aus letzten Wesens­

gründen heranstürmt m. Von einem feindlichen Einbruch überrascht, bemühte sich Annette, den Sinn dieses Ansturms umzudeuten; sie wollte in dem ganzen Aufruhr immer nur die notwen­

dige Folge des bestimmten Trauerfalles sehen:

da war einmal der brennende Stachel des Natur­

triebes, der sie im weichen Atem des erwachen­

den Frühlings berührte, daß es sie mit feuchten Schauem überlief, der unbestimmte, aber zer­

reißend heftige Schmerz um ein Glück, das ver­

loren war — oder ersehnt wurde? Die gegen die leer gewordene Stelle starr gereckten Arme, das

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in jähen Stoß f i n arbeitende Herz, das n die Ver­

gangenheit zurückdrängte — oder vorwärts in die Zukunft? All das sollte nur Trauer um den Vater sein! Aber diese Selbsttäuschung glückte nur soweit, daß ihr Fühlen ein unklar»* Gemisch von Schmerz und Leidenschaft und dumpfer Schwüle wurde. Dieser Zustand hatte etwas Verzehrendes und rief zugleich trotz' ^¡e Auf­

lehnung h e rv o r. . .

An diesem Abend Ende April überw og das Gefühl der Auflehnung. Ihr Verstand empörte sich gegen die verworrenen Traumb der, deren gefährliches Treiben er seit Monaten nicht mehr überwacht hatte. Er wollte sie zurückdrängen, aber das war nicht so leicht: man hörte nicht m ehr auf ihn, er hatte das Befehlen v erlern t. . . Annette entriß sich m it Gewalt dem zauber­

haften Blick der Glut im Kamin und dem be­

rückenden Umfangen der Nacht, die inzwischen völlig hereingebrochen w ar; sie stand auf, hüllte sich schauernd in einen Schlafrock des Vaters und machte Licht. Das Z m m e r war Raoul Rivières Arbeitsraum gewesen. Durch die offe­

nen Bogenfenster sah man im dünnen Netzwerk des sprießenden Laubes ein Nachtbild der Seine : auf ihre düster getönte Masse, die unbeweglich schien, legte sich der W idersch in der Fenst« r, die auf dem jenseit jen Ufer nach und nach auf-

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flammten, und der letzte Scmmmer de« Tages­

lichtes, das über den Höhen von Saint -Cloud erstarb. Angosichts der lächerlichen Schrullen seiner reichen Auftraggeber oder ihres ideen­

losen Festhaltens am Hergebrachten hütete sich Raoul Rivière wohl, seinen feinen Geschmack zur Geltung zu bringen; für s< nen eigenen Ge­

brauch aber hatte er an der Uferstraße von Bou­

logne ein altes Rokokoschlößchen an sich ge­

bracht, statt sich selbst ein Haus zu bauen. Er hatte es bloß mit allen Bequemlichkeiten aus gestattet. Sein Arbeitszimmer wäre auch für ga­

lante Besuche der rechte Ort gewesen. Man hatte allen Grund, anzunehmen, daß es nicht bei der bloßen Möglichkeit geblieben war. Ganz im geheimen hatte R i vifere hier so manchen liebens­

würdigen Gast empfangen: man konnte un­

mittelbar vom Garten aus in das Zim m er ge­

langen. Aber seit zwei Jahren wurde dieser Ein­

gang nicht mehr n diesem Sinne benutzt, An­

nette blieb hier die einzige Besucherin. Hier hatte sich’s am besten geplaudert. Sie war ge­

kommen, gegangen, hatte einen Gegenstand anders gestellt, Wasser in eine Blumen vase ge­

gossen, ständig in Bewegung; dann aber war si : plötzlich regungslos mit einem Buche, wie ein­

gerollt, in der Lieblingsecke des Di-.vans ge sessen, von w o sie schweigend das seidige Gleiten

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des Flusses beobachten oder, ohne ihr zerstreutem Lesen abzubrechen, ein zerstreutes Gespräch mit dem Vater führen konnte. Aber der saß lässig, etwas müde da drüben; man sali sein schalkhaftes Profil, wie er von der Seite her jede ihrer Bewegungen hurtig aufschnappte;

denn als verwöhntes altes Kind hielt er es nicht aus, daß er irgendwo nicht der Mittelpunkt sei, um den sich alles drehte; mit Neckereien, zärt­

lichen, spötti ;hen, anspruchsvollen, beunruhig­

ten Fragen bedrängte er Annette, um ihre Auf- j

merksamkeit wieder auf sich zu lenken und sich zu vergewissern, daß sie ihm wirklich gut zu­

höre . . . Das Ende vom Liede war, daß Annette wieder einmal in komischer Verzw eiflung und mit geheimem Entzücken einsehen mußte, wie unentbehrlich sie ihm w ar; so ließ sie alles an­

dere sem und beschäftigte sich nur mit ihm.

Dann war ihm w oh l; jetzt war er seines Publi­

kums sicher und zog alle Register seines blen­

denden Geistes. Er üeß schimmernde Raketen steigen, blätterte das Buch seiner Erinnerung auf. Natürlich zeigte er nur die schmeichelhaf­

testen Seiten vor, und auch die wurden für die

„reifere Jugend“ eingerichtet, für die reifende Jugend der Tochter; er spürte fein heraus, w o­

hin im gehnm en ihre W ißbegier drängte, aber auch gegen welche Dinge sie sich mit allen

» 6

(39)

Wesensxasern zur W eh r setzen würde: daher erzählte er ihr nur Sachen, die sie hören mochte, zu hören begehrte. Annette war ganz Ohr, war sehr stolz auf diese vertraulichen Ergüsse. Sie gefiel sich in der Vorstellung, daß sie den Vater weiter aus seiner Verschlossenheit herausgelockt habe, als es je ihrer M utter gelungen sei. Sie m einte der einzige Mensch zu sein, der in sein Inneres hätte blicken dürfen, dem er sein wahres

Ich anvertraut habe. I

Aber seit dem T ode des Vaters Var noch et­

was in ihre Hände gelegt: nämlich alle seine Papiere. Annette machte keinen Versuch, darein Einsicht zu nehmen. M it from mer Scheu sagte sie sich, das sei nicht ihr Eigentum. Ein anderes Gefühl aber raunte ihr gerade das Gegenteil zu.

Jedenfalls m ußte da eine Entscheidung getroffen werden: sie als AUeinerbin konnte auch plötz­

lich sterben; diese Papiere durften aber nicht fremden Menschen in die Hände fallen. Es war also dringend geboten, sie zu überprüfen, um sie entweder zu vernichten oder aufzubewahren.

Schon seit ein paar Tagen war Annette dazu fest entschlossen. Aber w enn sie des Abends wieder in dem von der lieben Gegenwart des Vaters noch ganz durchtränkten Zim m er war, verlor sie den M ut und konnte sich nur noch

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aurchdnngen lassen. Beim Aufreißen dieser Briefbündel aus vergangenen Tagen fürchtete sie zu nahe mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen . . .

Aber es mußte sein. An diesem Abend brachte s.e es über i :h. In der verschwimmenden Süßig- ke;t dieser allzu milden Nacht, in der sie mit ängstlicher Unruhe fühlte, wie ihr Schmerz da- h ischmolz, wollte sie sicn ihr unverlierbares Besitz rech, an dem Toten kraftvoll veranschau- bchen. ! e schritt auf ein M öbel aus Rosenholz zu, das eher für den Gebrauch einer koketten Schönen als den eines Mannes der Arbeit be­

stimmt schien •— es war ein hoher Spitzen- und Banderkasten aus der Zeit Ludwigs XV. —, mir sieben oder acht Schubfächern übereinander, so daß es wie ein anmutiges Vormodell der W o l­

kenkratzer aussah; dort pflegte R i vifere seine Bnefe und vertraui;chen Papiere zu verstauen.

Annette kniete nieder und ölfnete die unterste Lade; um ihren Inhalt besser überblicken zu können, nahm sie das Fach aus dem Spind her­

aus, sie giiig wieder auf ihren Platz am Kamm zurück, nahm die Lade auf die Knie und beugte sich darüber. Kein Geräusch m ganzen Hause.

Sie bewohnte es allein mit einer alten Tante, die ihr die Wirtschaft führte und sonst nicht viel zu bedeuten hatte: Tante \iktorine war eine

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Schwester des Vaters, die vom glänzenden Bru­

der immer in Schatten gestellt worden war; sie hatte ihm ihr ganzes Leben lang gedient, fand das ganz selbstverständlich und setzte ih re Haus­

hälterinnenrolle nun im Dienste ihrer Nichte fort <— sie war wie eine alte Schnurrkatze, zu­

letzt einfach ein unentbehrliches Möbel, liebte auch gew iß die M öbel ebenso warm w ie die lebenden Hausgenossen. Abends zog sie sich immer bald in ihr Zim m er zurück, und das Be­

wußtsein ihrer entfernten Gegenwart im oberen Stockwerk, das friedliche H in- und Hergehen ihres filzgedämpften Altfrauenschrittes störten Annettens Träumerei nicht m ehr als die Be­

wegungen eines vertrauten Haustierchens.

Neugierig und ein wenig aufgeregt begann sie zu lesen. Aber ihre Ordnungsliebe und ihr Bedürfnis, im m er Ruhe zu bewahren — rings um sie mußte alles im m er klar und übersichtlich sein —, zwangen sie, die Briefe mit ganz lang­

samen Bewegungen aufzunehmen und zu ent­

falten und überhaupt zu tun, als ginge sie das Ganze nicht näher an; so konnte sie sich eine Zeitlang über die Bedeutung der Sache hinweg- täuschen.

Die ersten Briefe, die sie las, waren von ihrer Mutter. Deren unfroher T on stimmte zunächst

<u ihren eigenen, noch frischen Eindrücken;

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diese Erinnerungen waren nicht durchaus liebe­

voller Art; manchmal ging ihr dieser T on ge­

radezu auf d Nerven; zugleich flößte ihr diese offenbar krankhafte Angew öhnung, die Dinge von der üblen Se.re zu nehmen, etwas Mitleid ein: „A rm e Mama! . . Aber wie sie welterlas, merkte sie allmählich, daß dieser seelische Z u ­ stand schon seine guten Gründe hatte. Es kamen beunruhigende Hinweise auf Raouls Untreue vor. Sie war so geneigt, im m er für ihren Vater Partei zu ergreifen, daß sie darüber hinweglas, als wenn sie nicht recht verstanden hätte. Ihre kindliche Pietät lieferte ihr starke Vorw&nde, hier den Blick abzuwenden. Im m erhin merkte sie den seelischen Emst, die verletzte, in sich zurückgescheuchte Liebe dieser Frau, die ihre Mutter war, und machte sich jetzt Vorwürfe, ihren "W ert verkannt und so dies verfehlte Leben noch mehr verdüstert zu haben.

Im gleichen Schubfach schliefen im friedlichen N ebene: ander noch andere Briefbündel— einige hatten sich sogar gelöst, so daß einzelne fremde E fe mit denen irer Mutter vermengt w aren:

in unbekümmerter Sorglosigkeit hatte Raoul Ri ribre es mit diesen verschiedenen Liebesbriefen nicht anders gehalten als mit ihren Schreibe­

rinnen, mit denen er ja auch, neben und vor seiner Ehefrau, gelebt hatte.

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Diesmal wurde die Ruhe, zu der sich Annette zwang, auf eine harte Probe gestellt. Aus allen Blättern der neuen Briefstöße erhoben sich Frauenstimmen, die bei weitem vertraulicher zu sprechen wagten und auf ihre M acht in weit höherem Grade zu zählen schienen als die kummervoll schwanken W orte der armen Frau Rivifere: alle machten auf Raoul die entschieden­

sten Besitzrechte geltend. Annette war empört.

In der ersten Erregung ballte sie solche Briefe, die ihr gerade in die Hand kamen, zornig zu­

sammen und w arf sie ins Feuer— aber sie holte sie wieder heraus. Zögernd betrachtete sie die schon angesengten Bogen. W en n sie vor einer W eile die schlagendsten Gründe gefunden hatte, in die längst vergangenen Streitigkeiten zwischen ihren Eltern sich nicht einzumischen, so hatte sie noch bessere, sich um die verschiedenen Verhältnisse ihres Vaters erst recht nicht zu kümmern. Aber diese Gründe hatten plötzlich gar kein Gewicht mehr. Sie ftihlte sich diesmal persönlich verletzt.

W ieso hätte sie freilich nicht sagen können, aber irgendwie griffen diese Dinge in ihre Rechte ein.

Vorgeneigt saß sie reglos da, m it gerümpfter Nase und böse vorgeschobenem Mäulchen, wie eine zornige Katze: es zuckte ihr in den Fingern, das unverschämte Papierzeug, das ihre Faust umklammert hielt, doch wieder ins Feuer zu

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warfen. Aber wie ihr Faustgriff seine Starrheit verlor, widerstand sie doch nicht der Versuchung, einen Blick hineinzuwerfen. M it plittzlichem Entschluß tat sie die Finger voneinander, ent­

rollte die Briefe wieder und glättete die zer­

knitterten sorgsam mit dem Fingernagel. . . Und dann las sie, las alles.

M it W lerwillen (aber auch mit einem ge­

wissen Interesse) Keß sie diese Liebschaften an sich vorüberziehen, von denen sie so gar nichts geahnt hatte. Es war eine höchst merkwürdig zusammengewürfelte Gesellschaft. In der Liebe wie in der Kunst hing Raoul sehr von wechseln den Stimmungen ab. Annette fand gewisse Namen aus ihrem Verkehrskreise w ieüerj mit verbissenem Unw llen erinnerte sie sich jetzt jeder Lieb­

kosung, jedes Lächelns, das d1- eine oder andere dieser Frauen ihr gespendet hatte. Noch andere entstammten minder hohen gesellschaftlichen Schichten; in der Orthographie dieser Briefe herrschte ¿ie gl<= ehe Ungebundenheit w ie in den Gefühlen, die d«rin ausgesprochen wurden.

Annettens Mäulchen schob sich da noch weiter vor; aber ihr Geist hatte rasch erfassende Spötter­

augen, ihres Vaters Augen, und so sah sie gleich das komische Bild eines solchen Weibchens, wie es sich rr't vorgestreckter Zungenspitze und tiefer

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Stirnlocke auf die Mühsal seiner Schreiberei niederbeugte und dann m it KrakelfÜßen die Feder laufen ließ. So spazierten alle diese Aben­

teuer vorbei; die einen dauerten etwas langer, die anderen weniger lang, sehr lange dauerten sie nie, eines verdrängte das andere. Das war Annette ganz recht — sie war verletzt, empfand aber doch nur ein Gefühl der Verachtung.

Aber es waren ihr noch we itere Entdeckungen Vorbehalten. In einem anderen Schubfach lag noch ein Stoß Briefe, höchst sorgfältig verschnürt, sogar sorgfältiger als die ihrer Mutter (das war nicht zu leugnen) — hier hatte sie es offenbar mit den Zeugnissen eines dauerhafteren Verhält­

nisses zu tun. Obwohl die Daten nur mangelhaft vermerkt waren, war leicht zu ersehen, daß dieser B_ efwechsel eine lange Folge von Jahren um ­ faßte. Nach der Schrift ergaben sich zwei Schreibe­

rinnen; die krummen Zeilen und läi igen Züge der ersten hörten etwa in der Mitte des Bündels auf — die andere Schrift begann mit kindlich steifen Buchstaben, erhielt allmählich ihren Cha­

rakter; diese Korrespondenz reichte bis in die letzten Jahre, ja sogar (und diese Feststellung war Annette besonders unangenehm) bis in die letzten Monate vor dem Ableben ihres Vaters.

Da war eine, die sie um einen T eil dieser letz­

ten Lebenszeit des Vaters g< bracht hatte, die ihr

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so heilig schien und auf deren Alleinbesitz sie so stolz gewesen war, und in doppeltem Sinne erschien ihr die Unbekannte als Eindringling, wenn sie ihre Briefe m it „L ieber Vater“ be­

gann . . . !

Aus ihrem verborgensten Innenleben war ein Stück roh herausgerissen. M it zornigem Schütteln warf sie das Kleid des Vaters von den Schultern.

Die Briefe waren ihr aus den Händen gefallen;

mit trocken brennenden Augen und heißen W angen lehnte sie sich in den Sessel zurück.

Sie fragte sich nicht, w ie das eigentlich auf sie wirke. Es durchtobte sie zu heftige Leidenschaft, als daß sie hätte sehen können, was in ihr vor­

ging. Aber mit der ganzen Kraft dieser Leiden­

schaft dachte sie nur: „E r hat m ich hinter- g a n g e n !. . .“

W ieder nahm sie die verhaßten Briefe auf, und diesmal ließ sie davon nicht eher ab, bis sie jede Zeile in sich aufgenommen hatte. M it fest geschlossenem M unde und geblähten Nasen­

flügeln las sie unter allen Qualen uneingestan­

dener Eifersucht— aber es kam noch ein anderes, ganz dumpfes Gefühl hinzu, wie eine Flamme, die sich entzündet. Keinen M om ent streifte sie der Gedanke, daß sie mit diesem Eindringen in einen ganz vertraulichen Briefwechsel, im Ent­

hüllen sorgsam behüteter Geheimnisse sich am 54

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Andenken ihres Vaters verging. Sie war fest überzeugt von ihrem Rechte . . . Ihrem Rechte!

W ie weit entfernt war sie von jeder scharfen, klaren Überlegung, aus der allein der Begriff des Rechtes erwachsen kann! Jetzt hatten ganz an­

dere, blind tyrannische Mächte das W o r t !. . . Sie war vielmehr überzeugt, daß der Vater sie in ihrem Rechte — jawohl, in ih r e n R e c h t e n •—

gekränkt habe!

Aber sie kam endlich wieder halbwegs zur Vernunft. Einen Augenblick ging ihr doch die Ungeheuerlichkeit ihres Anspruches auf. Sie zuckte die Achseln. Was konnte sie denn für Rechte geltend machen? W ar er ihr gegenüber nicht sein freier Herr gewesen ? Aber gebieterisch grollte die Stimme der Leidenschaft: „N e in !“

Da half kein Einspruch. Ohnmächtig erlag An­

nette dem unsinnigen Gefühl von Kränkung, erlitt den Biß dieses Grams und erfuhr zugleich zum ersten Male die ätzende W ollust dieser grausamen Naturkräfte in ihrem unberührten Fleisch.

Ein T eil der Nacht ging über dem Lesen hin.

Als sie es schließlich über sich brachte, schlafen zu gehen, mußte sie hinter geschlossenen Lidern noch lange Zeilen und W orte lesen, bei denen es sie vor Erregung schüttelte, bis sie endlich doch der allgewaltige Schlaf der Jugend bezwang:

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regungslos lag sie, atmete tief und ruhig; gerade der ungeheure Verbrauch innerer Kräfte hatte sie so ins Gleichgewicht gebracht.

Am nächsten Tage und den folgenden las sie immer wieder diese Briefe, die ihr nicht aus dem Sinne gingen. Jetzt konnte sie sich dieses Leben, dieses zweite Leben, ziemlich genau vergegen­

wärtigen, wie es neben ihrem eigenen Leben ein­

hergegangen war: die Mutter, eine Blumen Ver­

käuferin, der Raoul die Mittel gegeben hatte, einen eigenen Laden aufzutun; die Tochter offenbar Modistin oder in einer Schneiderwerk­

statt (das ging aus den Briefen nicht deutlich hervor). Die eine hieß Delphine, die andere (die junge) Sylvia. Soweit man aus der kapriziösen, nachlässigen Schreibart, deren Zwanglosigkeit aber doch ganz anmutig wirkte, Schlüsse ziehen durfte, mochten sich Mutter und Tochter ähn­

lich gewesen sein. Delphine erschien als ein liebenswürdiges Geschöpf, das trotz gelegent­

licher Anzapfungen R i' i6re nicht sehr mit Geld­

forderungen behelligt hatte. W eder Mutter noch Tochter nahmen das Leben sehr tragisch. Übri­

gens schienen sie Raouls Zuneigung nie in Zweifel zu ziehen. Vielleicht war das ihr wirksamstes Mittel, sich diese Gefühle zu erhalten. Aber diese unverschämte Zuversicht verletzte Annette nicht weniger als die grenzenlose Vertraulichkeit ihres

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Verkehrstones. Besonders dieser Syivia wandte sich ihre eifersüchtige Aufmersamkeit zu. Die andere war ja erledigt, und Annettens Stolz litt es nicht, daß sie an die Art Beziehung, die zwischen Delphine und dem Vater bestanden hatte, anders als mit Verachtung dachte; es war schon vergessen, daß sie sich noch vor wenigen Tagen durch die Entdeckung ganz ähnlicher Verbindungen empfindlich verletzt gefühlt hatte.

Aber jetzt w arf sie jede andere Art von Eifer­

sucht beiseite, da nun eine viel tiefere Zu­

neigung ihr nachträglich das Herz des Vaters streitig machte. M it angespanntem Geiste suchte sie sich das Aussehen dieser Fremden vorzustellen, die — sie m ochte sich anstellen, wie sie wollte — ihr doch n^cht ganz fremd war. Sie war ent-

• rüstet über die lächelnde Ungeniertheit, das selbstverständliche Duzen ihrem Vater gegen­

über, als gehöre der nur ihr, der anderen, an;

sie suchte sich ganz in die Art dieser Unbekann­

ten einzuwühlen, um sie von innen her zu zer­

sprengen. Aber der kleine Eindringling hielt ruhig ihrem Blicke stand. A u f ihrem Angesicht stand geschrieben: „Ja, er gehört mir, ich bin sein Blut.“ Je zorniger sich Annette gegen diese Behauptung auflehnte, desto tiefer fühlte sie sich von ihr durchdrungen. Sie wehrte sich zu sehr dagegen, um nicht endlich sich gerade an

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diese Gegenwehr zu gewöhnen und sogar an die Gegnerin im Kampfe. Die wurde ihr zuletzt geradezu unentbehrlich. Beim Erwachen galt ihr erster Gedanke dieser Sylvia, und jetzt rief ihr die spöttische Stimme der Rivalin schon zu:

„Ich bin d e in Blut.“

Eines Nachts hörte sie das so deutlich, sah die unbekannte Schwester so nahe und lebhaft vor sich, daß sie im Halbschlaf die Arme ausstreckte, um sie zu fassen.

Am nächsten M orgen empörte sie sich ge- waltig gegen diese Vorstellung, aber innerlich war sie besiegt; die drängende Sehnsucht hielt sie gepackt, ließ sie nicht m ehr los. So trat sie eines Tages aus dem Hause, um Sylvia zu suchen.

D i e Adresse stand in den Briefen. So ging Annette auf den Boulevard du Maine. Es war am Nachmittag. Sylvia war abwesend, auf ihrer Arbeitsstelle. Annette wagte nicht, sie dort auf­

zusuchen. So wartete sie ein paar Tage, dann kam sie abends nach dem Essen wieder. Sylvia war noch nicht daheim oder war schon wieder fortgegangen: man w ußte nicht recht. An jedem dieser Tage fühlte sich Annette schon am frühen Morgen von nervöser, ungeduldigster Erwartung peinvoll umklammert — und darnach mußte sie arg enttäuscht, unverrichteter Dinge nach Hause

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gehen; geheime Feigheit riet ihr, die Sache doch lieber aufzugeben. Aber sie gehörte zu den M en­

schen, die nie locker lassen, wenn sie sich ein­

mal zu etwas entschlossen haben — solche Leute lassen um so weniger ab, je hartnäckiger sich Hindernisse entgegenstellen oder je m ehr sie vor dem, was hinter diesen Hindernissen auf sie war­

tet, sich eigentlich fürchten.

So ging sie eines Abends, Ende Mai, wieder hin. Es war neun Uhr. Diesmal hieß es, Sylvia sei zu Hause. Im sechsten Stock. Sie stieg rasend­

schnell die Treppe hinauf, um sich nicht zu Überlegungen Zeit zu lassen, die sie hätten zum Umkehren bewegen können. Oben angelangt war sie ganz außer Atem. Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen. W ie hatte sie doch so gar keine Ahnung, was sie finden würde! Da war ein langer, verschiedenen W ohnungen gemein­

samer Gang, ohne Teppich, mit nackten Fliesen.

Rechts und links stand je eine T ür halb offen:

über den Gang hinweg, aus einer W ohn ung zur anderen, sprachen zwei Stimmen miteinander.

Durch die linke T ür fiel auf die Fliesen ein roter Widerschein der untergehenden Sonne.

Da wohnte Sylvia.

Annette klopfte an. Jemand rief „h erein !“

ohne sich im Plaudern stören zu lassen. So stieß sie die Türe auf und der Glanz des goldenen

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Himmels schlug ihr gerade ins Gesicht. Sie er­

blickte ein halb entkleidetes junges Mädchen, im Unterrock. mit nackten Schultern und bloßen Fußen in rosa Pantoffeln, das ab- und zuging, wobei es ihr den biegsamen, molligen Rucken zukehrte. Diese Sylvia suchte etwas auf ihrem Spiegeltischchen, staubte sich die Nase m it einer Puderquaste w eiß ; dabei hielt sie Selbstgespräche.

„Na, was ist denn?“ fragte sie mit etwas lispeln­

der Stimme, weil sie mit den Zahnen eine Reihe Haarnadeln festhalten mußte.

Plötzlich wurde sie durch einen Fuederzweig abgelenkt, der in ihrem Wasserkrug lehnte; mit Wonneschnauben steckte sie die Nase hinein.

W ie sie den Kopf hob und im Spiegel ihre lachenden Augen sah, bemerkte sie im Hinter­

gründe Annette, die im Strahlenkranz des schei­

denden Sonnenlichtes zaghaft an der Türe stand.

Sie sagte: „ A h !“ drehte sich um, während ihre bloßen Arme hoch um den Kopf hantierten und rasch mit den Haarnadeln das Haar wieder fest­

steckten; dann kam sie mit vorgestreckten Armen auf Annette zu, zog sie dann aber zurück, was eine freundliche, aber zurückhaltende Gebärde der Begrüßung ergab. Der Gast trat ein, setzte aber vergeblich zum Sprechen an. Sylvia schwieg auch. Sie bot ihr einen Sessel, schlüpfte in einen abgenützten Überwurf aus blaugestreiftem Kat­

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tun und setzte sich ihr gegenüber auf ihr Bett.

Beide sahen einander an und jede wartete darauf, daß die andere zuerst spreche . . .

W ie verschieden sie waren! Jede studierte die andere scharf, genau, ohne Nachsicht und in ihren Augen stand nur die Frage: „ W e r bist du ?“

Sylvia sah nun Annette vor sich: groß, frisch, mit breitem Gesicht und etwas stumpfer Nase, mit der mächtigen Stirn einer jungen Färse unter der Flut goldbrauner Haare, die in gedrehten Flechten aufgesteckt waren; sehr dichte Brauen, große, lichtblaue Augen standen ein w enig vor und bekamen manchmal einen seltsam harten Glanz, w enn eine W elle der Erregung vom Herzen durch den ganzen Körper lief; der große Mund hatte starke Lippen, mit einem Hauch von blon­

dem Flaum in den W inkeln; diese Lippen waren meist in wachsamem T rotz, in abweisendem Eigonsinn fest geschlossen; aber wenn sie sich öffneten, konnte dort ein bezauberndes Lächeln auf leuchten, schüchtern und doch strahlend, daß sofort das ganze Gesicht nicht wi ederzuerkennen war; Kinn und W angen waren voll und fest, ohne Spur von schlaffer Überfülle; Nacken, Hals und Hände wiesen dunkle Honigfarbe auf; die von reinem Blut durchströmte Haut erschien in makelloser Vollkommenheit. D ie Gestalt war ein bißchen vierschrötig, die Büste ein wer..g

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schwer, die Brüste breit und voll; Sylvias ge­

übtes Auge tastete sie unter dem Kleide ab und blieb besonders an den schonen Schultern haf­

ten, deren ebenmäßige Fülle im Verein m it der blonden Säule des Halses den vollkommensten Teil dieses Laibes l Ideten. Sie verstand es, sich zu kleiden, war sehr sorgfältig, für Sylvias Ge­

schmack fast zu sorgfältig angezogen: die Haare w ohl gespannt, kein Löckchen durfte sich vor­

drangen, keine Schließe am Kleide klaffte, alles war in Ordnung. ■— Da fragte sich Sylvia: „Ist’s innen auch so bestellt?“

Annette wieder sah Sylvia vor sich: sie war fast ebensogroß als sie selber — vielleicht sogar genau so groß, warum sich etwas vormachen? —, aber schlank, zierlich, mit in Verhältnis zur Körper- lange kleinem Kopfe; da sie unter dem Schlaf­

rock fast nackt war, sah man die Kleinheit ihrer Brüste; dabei war sie doch von angenehmer Fülle, hatte zierliche Arm e; so saß sie da und schaukelte sich auf ihrer schmalen Beckenrundung, und hielt dabei die Hände über den runden Knien ver­

schränkt. Auch Stirn und Kinn waren rund, die kleine Nase ein w enig aufge stülpt; sie hatte einen tief in die Stirn rt ihenden Haaransatz, das hell­

braune Haar war sehr fein und entsandte flat­

ternde Löckchen über den Nacken und den zer­

brechlich dünnen, schneeweißen Hals: das Bild 4a

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eines Zimmerpflänzchens. D ie beiden Profil­

ansichten ergaben asymmetrische Bilder: das rechte Profil erschien schmachtend, sentimental, als Kätzchen, das schläft; das linke war spöttisch wachsam, ein Kätzchen, das kratzt und beißt.

Beim Sprechen hob sich die Oberlippe und ließ den lachenden Glanz der Eckzähne sehen. Da dachte Annette: „ W e h dem, der ihr unter die Zähne kom m t!“

W ie grundverschieden sie doch waren! . . . Und trotzdem hatten beide auf den ersten Blick einen gewissen Ausdruck, die hellen Augen, die Form der Stirn und ein Fältchen in den Mund­

winkeln erkannt — den Vater . . . Steif und ein­

geschüchtert faßte sich Annette endlich ein Herz und sagte mit tonloser Stimme, die infolge ihrer Erregung gerade nocl i eisigerklang, ihren Namen, kurz, w er sie sei. Sylvia ließ sie gemächlich aus- reden, ohne den Blick von ihr zu wenden, dann sagte sie seelenmhig, mit dem etwas grausamen Lächeln ihrer aufgeschürzten Oberlippe:

„Ich w ußte davon.“

Annette zuckte zusammen.

„ W ie ? “

„Ich habe Sie schon gesehen — oft — m it dem V ater. .

Bevor sie die letzten W orte aussprach, hatte sie kaum merklich gezaudert. Vielleicht wollte

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sie boshaft sagen: „m it m e in e m Vater“ , aber der Blick Annettens, der an ihren Lippen hing, flößte ihr ein spöttisches Mitleid ein. Annette verstand den Vorgang, wendete den Blick ab und errötete im Gefühl der Demütigung.

Sylvia ließ sich nichts davon entgehen, viel­

mehr kostete sie dies Erröten m it Behagen aus, mit wonnigem Behagen; sie ließ sich Zeit. Dann erzählte sie, daß sie während des Totenamtes in einem Seitenschiff der Kirche gesessen sei und alles m it angesehen habe. Bei diesem Berichte, den sie m it kühler Sachlichkeit abhaspelte, ver­

fiel sie in einen näselnden Singsang und ließ keinerlei Erregung merken. Aber wenn Sylvia zu sehen w ußte, verstand Annette sich aufs Hören. W ie Sylvia zu Ende war, hob Annette den Blick und sagte:

„Sie haben ihn recht lieb gehabt?“

In den Blicken der beiden Schwestern flammte es warm auf — aber das war schon im nächsten Augenblick vorbei. Eifersüchtige Schatten lösch­

ten den liebkosenden Glanz in Annettens Augen, wie sie weitersprach:

„E r hat Sie sehr lieb gehabt.“

Sie hatte den aufrichtigen W unsch, Sylvia etwas Liebes zu sagen, aber unwillkürlich be­

kam ihre Stimme einen spröden Klang. Sylvia meinte etwas Gönnerhaftes herauszuhören. So­

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fort kamen die zierlichen Krallen aus den Pföt­

chen hervor. Eifrig versicherte sie:

„ 0 ja! Er hat m ich s e h r lieb gehabt!“

Sie ließ eine kleine Pause eintreten, dann schnellte sie mit der liebenswürdigsten Miene den Giftpfeil ab:

„A ber auch Sie hat er schon r e c h t gern ge­

habt. Er hat m ir’s oft gesagt.“

Die Hände der tief leidenschaftlichen Annette, große, sehnige Hände bebten und schlangen sich ineinander. Sylvia sah diese Hände. M it gepreßter Stimme fragte Annette:

„H at er oft mit Ihnen von m ir gesprochen?“

„O ft!“ wiederholte Sylvia m it unschuldiger Miene.

Es stand durchaus nicht fest, daß sie die W ahr­

heit sagte. Aber Annette war nicht gewohnt, ihre eigenen Gedanken zu verbergen und so zog sie auch anderer Reden kaum in Zweifel. Sylvias W orte aber trafen sie mitten ins Herz . . . Somit sprach ihr Vater von ihr mit Sylvia, die beiden redeten miteinander von ihr! Sie aber hatte bis zum letzten Tage keine Ahnung gehabt; er hatte den Anschein zu erwecken gewußt, als schütte er ihr sein ganzes Herz aus, dabei war sie aber nur hinters Licht geführt worden; sie blieb ausge­

schlossen, durfte nicht einmal von der Existenz dieser Schwester erfahren! . . . So ungerecht

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benachteii. gt worden zu sein hatte etwas Nieder­

schmetterndes. Sie fühlte sich besiegt. Aber sie wollte sich das nicht anmerken lassen, suchte irgendeine W affe und fand sie auch:

„A b er in den letzten Jahren haben Sie ihn nur mehr selten gesehn.“

„In den letzten Jahren w ohl“ , mußte Sylvia sehr widerwillig einraumen. „Natürlich. Er war krank. M a n ließ ihn nicht aus dem Hause.“

Es trat ein feindseliges Schweigen ein. Beide lächelten, und beide bissen in Zaum und Zügel.

Annette erschien rauh und steif, Sylvia sah katzenfalsch aus und war voll gekünstelter Zu­

vorkommenheit. Bevor sie weitei fochten, zählten sie die Punkte. Annette fühlte sich etwas er­

leichtert, weil sie nun doch auch einen (w ie geringfügigen!) Vorteil gewonnen hatte, und schämte sich jetzt im geheimen ihrer schlechten Gedanken; so bemühte sie sich, dem Gespräch wieder einen herzlicheren T on zu geben. Sie sprach von ihrem Verlangen, sich der zu nähern, in der doch der Vater auch <— ein wenig — fort­

lebe. Aber das war verlorene Liebesmüh: unwill­

kürlich stellte sie ihre beiderseitigen Anteile am Vater als verschieden hm und gab zu verstehen, daß der ihre eben günstiger ausgefallen wäre. Sie erzählte Sylvi i von Raouls letzten Lebensjahren und konnte sich nicht enthalten, dabei ihre

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g r ö ß e r e V ertraulichkeit m it dem V ater ins i echte L icht zu stellen. Sylv.a wartete nur auf eine Pause in Annettens Erzählung, um gleich wieder ihre eigenen Erinnerungen an den so zärtlichen Vater zum besten zu geben. U nbewußt beneidete jede die andere um ihr Teil und jede suchte den eigenen Besitz recht herauszustreichen. W ährend sie sprachen oder zuhörten — sie wollten gar nicht zuhören und verloren doch kein W ort — besahen sie einander im m er noch von K opf bis Fuß. W ohlgefällig verglich Sylvia ihre schmalen, schlanken Beine und die feinen Knöchel ihrer kleinen nackten Füße, die in den Pantoffeln allerlei Unfug trieben, mit Annettens etwas schwerem Gliederbau und ihren ziemlich mas­

sigen Knöcheln. Annette wieder studierte eben Sylvias Hände und bemerkte dabei w ohl die ab­

gearbeiteten Halbmondränder ihrer allzu rosigen Fing« rnägel. — Es standen sich nicht einfach zwei junge Mädchen gegenüber, sondern zwei rivali­

sierende Haushaltungen. Bei aller anscheinenden Offenheit ihres Gespräches blieb Mund und Blick zu Hieb und Parade gerüstet, sie beobachteten einander ohne Scheu noch Rücksicht. M it der ätzenden Schärfe ihrer Eifersucht drang einer jeden erster Blick brutal bis auf den untersten Wesensgrund der anderen und merkte sittliche Gebrechen, bedenklichste Möglichkeiten, von

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denen die Betreffende selber vielleicht keine Ahnung hatte. Sylvia nahm in Annettens Innerem den Dämon des Hochmuts wahr, eine harte Un- beugsamkeit der Grundsätze, eine herrische Ge­

walttätigkeit, die noch kein Betätigungsfeld ge­

funden hatten. Annette aber erkannte Sylvias Herzenskälte und lächelnde Falschhe it. Als sie sich später schon liebten, gaben sie sich die größte Muhe, alles zu vergessen, was sie in jener Stunde in der anderen gelesen hatten. Jetzt aber wirkte ihre gegense ige Abneigung für all dies w ie ein Vergrößerungsglas. Es gab Sekunden, in denen 6ie sich haßten. Annette dachte kum m ervoll:

„D as ist nicht recht, nicht recht! Ich sollte mit gutem Beispiel vorangehen.“

Sie ließ i re Blicke durch das bescheidene Zimmer wandern, bemerkte den Vorhang aus billigem Spitzenstoff, das mondhelle Dach und die Schornsteine des gegenüberliegenden Hau­

ses, den Fliederzweig im abgestoßenen Wasser­

kruge.

Je m ehr es in ihr brannte, desto kühler wurde sie äußerlich; in diesem T on e bot sie Sylvia ihre Freundschaft, ihre Unterstützung a n M it einem boshaften, kaum angedeuteten Lächeln horte Sylvia lässig zu und ließ Annettens An­

regung unter den Tisch fallen. . . In ihrem Stolze und m mrer aufkeimenden leidenschaftlichen

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Hinneigung verletzt, vermochte Annette kaum ihren Verdruß zu verbergen und stand heftig auf. Sie tauschten einen liebenswürdig konven­

tionellen Abschiedsgruß. M it Trauer und Zorn im Herzen verließ Annette das Zimmer.

Aber wie sie am Ende des m it Fliesen ge­

pflasterten Hausganges war und den Fuß schon auf die erste Treppenstufe setzte, lief Sylvia in ihren Pantöffelchen, deren eines sie unterwegs verlor, ihr nach und schlang ihr von rückwärts die irm e um den Hals. Annette schrie auf vor Erregung und wandte sich um. In leidenschaft­

licher Aufwallung preßte sie Sylvia an sich.

Sylvia schrie auch, aber vor Lachen, weil diese Umarmung gar so heftig ausgefallen war.

Stürmisch drückten sich beider Lippen auf-

c inander. Liebesworte, zärtliches Geflüster. Dank und Versprechungen: baldiges Wiedersehen . . . Sie lösten sich voneinander. Lachend vor Glück war Annette auf einmal die Treppe herunter­

gekommen und wußte nicht wie. Von oben hörte sie einen echten Gassenbubenpfiff, wie für ein Hündchen, und Sylvias Stimme flüsterte

„A nnette“ !

Sie hob den K opf und sah ganz oben, im Rah­

men des runden, schwach erhellten Treppen- chachtes, Sylvias vorgebeugtes Spitzbubenge­

sicht, das ihr zulachte: „Fang au

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Während sie oben Kußhände warf, regneten Wassertropfen auf Annette nieder, und es fiel ihr der nasse Fliederzweig mitten ins G esich t. . .

Sylvia war nicht mehr da. M it rückgebogenem Kopfe suchte Annette noch lange das Bild der Verschwundenen. Dann schloß sie den triefen­

den Blütenzweig in die Arme und küßte ihn.

Trotz des weiten W eges und der Unsicher­

heit, die zu so später Stunde auf gewissen Straßen herrscht, g^ig sie zu Fuß nach Hause. Sie wäre am liebsten nach Hause getanzt. Als sie endlich in seliger Erschöpfung daheim angekommen war, legte sie sich nicht nieder, bevor sie den Blütenzweig in eine Vase auf den Nachttisch gestellt hatte. Sie stand aber wieder auf, nahm .hn heraus und gab ihn, wie sie es bei Sylvia gesehen hatte, in ihren Wasserkrug. Sie legte sich wieder nieder, ließ aber die Lampe brennen, denn der Tag sollte, durfte nicht zu Ende gehen.

Doch fand sie sich plötzlich, drei Stunden später, in tiefer Nacht v oder. Die Blüten standen wirk­

lich da; es war kein Traum gewesen, sie hatte wirklich Sylvia gesehn . . . W ic an der Brust der zärtlich geliebten Schwester schlief sie wieder ein. Die folgenden Tage waren erfüllt vom Ge­

summe der E.enen, die einen neuen Stock er­

bauen. So schart sich der Schwarm um seine junge Königin. Rings um eie geliebte Gestalt

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Sylvias baute Annette eine neue Zukunft. Ihr leidenschaftliches Herz wollte diese Palastrevo­

lution vertuschen und suchte sich einzureden, daß die Liebe zum Vater nun eben auf Sylvia übertragen sei, daß sie den Vater in der Tochter wiedergefunden habe. Aber Annette wußte ge­

nau, daß es sich im Grunde um einen Abschied handelte.

Gebieterisches Grollen der neuen Liebe, schöpferisch und zerstörend . . . Unbarmherzig wurden die Andenken an den Vater wegge­

räumt. Mit aller schuldigen Rücksicht schaffte sie seine Gebrauchsgeg: nstände ins feierliche Halblicht unbewohnter Zimmer, deren nie ge­

störte Stille ganz solcher pietätvollen Bestim­

m ung entsprach. Vaters Schlafrock verschwand in der Tiefe eines alten Kleiderschrankes. Aber dann kramte ihn Annette doch noch einmal hervor, wußte nicht recht, was sie m it ihm tun sollte, legte die W ange daran, warf ihn aber in plötzlichem Groll in den Schrank zurück. Un­

logik der Le denschaft. W er von den beiden ver­

riet den anderen?

Sie war einfach verliebt in die neuentdeckte Schwester. Sie kannte sie kaum! Aber sobald man liebt, ist solche Ungewißheit noch ein Reiz mehr. Zu allem, was man an dem geliebten Wesen schon zu erkennen glaubt und bewun­

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dert, kommt noch die Anziehungskraft des Ge­

heimnisvollen, Unbekannten hinzu. Von allem, was sie bei diesem ersten Zusammensein an Syl­

via gesehen, wollte sie nur bei dem verweilen, was ihr gefallen hatte, im geheimen gestand sie

■ich ein, daß dieses Abbild nicht sehr genau sei.

Aber wenn sie ehrlicherweise auch die Schatten des Portrats ins Auge fassen wollte, hörte sie das Trippeln der Pantöffelchen auf dem Haus- gange und Sylvias nackte Arme schlangen sich um ihren Nacken.

Sylvia sollte kommen. Sie hatte es fest ver­

sprochen . . . Annette machte alles zu ihrem Emp­

fange bereit, In welches Zim m er sollte sie den Gast führen? — Hierher, in ihr eigenes hüb­

sches Zim m er! Sylvia würde sich auf den Lieb­

lingsplatz. zum offenen Fenster setzen. Annette sah schon mit Sylvias A igen, freute sich darauf, ihr alles zu zeigen: das Haus, ihre Kunstgegen­

stände, die zart belaubten Baume m it dem D urch­

blick auf blütenumhüllte Hohenzüge. Die Vor­

stellung, daß sie diese Schönheit, dieses Lebens­

behagen mit ihr würde teilen können, ließ sie alles mit neugeborenen Sinnen in sich aufneh­

men. — Aber da fiel ihr ein, daß Syh as Blicke notwendig ihre eigene W ohn ung m it dieser Boulogner Villa vergleichen würden. Ein Schat­

ten fiel auf den Glanz dieser Froude. S e litt 5 3

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