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Ideologisch motivierte Bauaufgaben für die sozialistische Gesellschaft in der jungen Sowjetunion und ihre konzeptionellen Veränderungsprozesse: Programm-Architektur für die Erwachsenenbildung: Arbeiterklub und Kulturpalast: programmatische und Architekton

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(1)

OPGAVEN VOOR DE SOCIALISTISCHE SAMENLEVING IN

DE JONGE

SOVJET-UNIE EN HAAR CONCEPTUELE

VERANDERINGSPROCESSEN

EXEMPLARISCH GEPRESENTEERD AAN DE HAND VAN

COMMUNEHUIS, ARBEIDERSCLUB, MONUMENT EN HET PALEIS VAN

DE SOVJETS

Proefschrift

ter verkrijging van de graad van doctor aan de Technische Universiteit Delft,

op gezag van de Rector Magnificus prof. dr. ir. J.T. Fokkema, voorzitter van het College voor Promoties,

in het openbaar te verdedigen op 15 oktober 2007 om 12:30 uur door

Dietrich Werner SCHMIDT

(2)

Dit proefschrift is goedgekeurd door de promotoren: Prof. Dr. F. Bollerey

Toegevoegd promotor Dr. O. Màčel Samenstelling promotiecommissie: Rector Magnificus, voorzitter

Prof. Dr. F. Bollerey, Technische Universiteit Delft, promotor Dr.O. Màčel, Technische Universiteit Delft, toegevoegd promotor

Prof. Dr. B. Kreis, Georg-Simon-Ohm Fachhochschule Nürnberg, Duitsland Prof. Dr. J.-L. Cohen, New York University, USA

Prof. Dr. R. Graefe, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Oostenrijk Prof. ir. D.E. van Gameren, Technische Universiteit Delft

(3)

PROGRAMM-ARCHITEKTUR FÜR DIE ERWACHSENENBILDUNG

ARBEITERKLUB UND KULTURPALAST: PROGRAMMATISCHE UND

(4)

PROGRAMM-ARCHITEKTUR FÜR DIE ERWACHSENENBILDUNG

ARBEITERKLUB UND KULTURPALAST: PROGRAMMATISCHE UND ARCHITEKTONISCHE ENTWICKLUNGEN EINES BAUTYPS FÜR DIE

ARBEITERBILDUNG

INHALT

ERWACHSENENBILDUNG - VOLKSHAUS - PROLETARISCHE KULTUR -

SOZIALISTISCHE LEBENSWEISE 5

IDEOLOGISCHE BAUAUFGABE:„SOZIALER KONDENSATOR“ 5

UMBILDUNG DER GESELLSCHAFT:„PROLETARISCHE KULTUR“ 7

BILDUNGSDEFIZIT 8

VOLKSHÄUSER ALS TYPOLOGISCHE VORSTUFE 9

DIE PROLETARISCHE KULTURBEWEGUNG UND IHRE IDEOLOGISCHEN

PROGRAMME FÜR DEN ARBEITERKLUB 12

„PROLETKULT“,ARBEITERFAKULTÄTEN UND GEWERKSCHAFTEN 13

DER KLUB ALS „ÖFFENTLICH-HEIMISCHER HERD“(N.KRUPSKAJA) 14

„SOZIALES KRAFTWERK“ UND „HOCHSCHULE DER KULTUR“(EL LISSITZKY) 15

ERZIEHUNG STATT EMANZIPATION (A.LUNAČARSKIJ) 16

GEWERKSCHAFT ALS „SCHULE DES KOMMUNISMUS“ 17

BAULICHE KONZEPTIONEN DES ARBEITERKLUBS: DIE ANFÄNGE 17

FUNKTION UND TYPOLOGIE DES ARBEITERKLUBS (EL LISSITZKY) 17

UMNUTZUNG HISTORISCHER BAUSUBSTANZ 19

ARBEITERKLUB „DER ROTE PUTILOVER“ IN EINER EHEMALIGEN KIRCHE LENINGRADS 19

FRÜHE NEUBAUTEN 20

VOLKSHAUS IN BONJAČKI 20

KLUB DES ŠTEROVSKER ELEKTRIZITÄTSWERKS 21

KULTURHAUS IM MOSKAU-NARVA-BEZIRK,LENINGRAD 21

VOLKSHAUS V.I.LENIN IN IVANOVO-VOZNESENSK 25

EINFLUSS AUF DIE REGION 27

VERSUCHE DER TYPENBILDUNG (ENTWÜRFE) 27

(5)

HOCHSCHULEN UND GEWERKSCHAFTEN:ENTWICKLUNG VON TYPENKLUBS 29

DIE BETONUNG DER FUNKTION 30

TRADITIONSBESTÄNDE UND REFORM 31

DER KONSTRUKTIVISTISCHE ANSATZ 31

SUPREMATISTISCHE WURZELN IN LENINGRAD 36

DER ARBEITERKLUB ALS UNIVERSELLE HERAUSFORDERUNG 36

METALLARBEITERKLUBS 38

DER ARBEITERKLUB ALS ECKPFEILER DER SOWJETISCHEN

BILDUNGSPOLITIK: 40

ENTWICKLUNGSBILANZ DER ERWACHSENENBILDUNG ZWISCHEN 1923 UND 1927 40

WEITERE WACHSTUMSIMPULSE:REVOLUTIONSJUBILÄUM UND FÜNFJAHRESPLAN 40

DER ARBEITERKLUB IM SPANNUNGSFELD VON STAATS- UND

PARTEIPOLITIK: EXEMPLARISCHE BAUTEN DES KONSTRUKTIVISMUS 41

BEITRÄGE ZUR SOWJETISIERUNG AZERBAJDŽANS:DIE VESNINS 41

BAKU-SURACHANY 41

BAKU-BAJLOV 42

BAKU-ČËRNY GOROD 43

STEPAN-RAZIN-STADT 43

EIN ARCHITEKTONISCHES INDIZ FÜR DIE SÄUBERUNGEN IN DER PARTEI 44

DER WETTBEWERB FÜR DAS HAUS POLITKATORŽAN IN MOSKAU 44

DER EINFLUSS DES KONSTRUKTIVISMUS: ARCHITEKTONISCHE

METAPHERN DER „NEUEN LEBENSWEISE“ 46

MOSKAUER UND LENINGRADER BEISPIELE 47

V.VLADIMIROV:PROLETARIER-KLUB IN MOSKAU 47

DER KLUB DER „ROTEN TEXTILARBEITER“ IM ZENTRUM MOSKAUS 49

DER BAUARBEITER-KLUB „DZERŽINSKIJ“ IM NORDOSTEN MOSKAUS 50

SEMËN S.PEN:ROTFRONT-KLUB IN MOSKAU 51

N.F.DEMKOV:IL’IČ-ARBEITERKLUB IN LENINGRAD 53

BEISPIELE AUS PROVINZSTÄDTEN 54

A.I.DMITRIEV:THEATER UND KLUB IN KRAMATORSK 54

JA.A.KORNFEL’D:BAUARBEITERKLUB IN SVERDLOVSK 56

G.POTAPOV:METALLARBEITERKLUB IN SVERDLOVSK 56

KLUB DER BAUARBEITER IN EREVAN 57

„DINAMO“-KLUB IN NOVOSIBIRSK 58

MOSKAUER ARBEITERKLUBS VON K.S. MEL’NIKOV: IDEOLOGISCHE

(6)

INDIVIDUALISMUS UND UNVERWECHSELBARKEIT 60

SVOBODA-KLUB, URSPRÜNGLICHER ENTWURF 1927 61

GOR’KIJ-KLUB (URSPRÜNGLICH SVOBODA-KLUB) IN MOSKAU 1929-31, AUSGEFÜHRTE

VERSION 64

KLUB DER KAUTSCHUK-ARBEITER IN MOSKAU 1927-29 66

KLUB BUREVESTNIK (=STURMVOGEL) IN MOSKAU 1928-30 70

FRUNZE-KLUB IN MOSKAU 1927-28 73

DER RUSAKOV-KLUB DER WAGGONFABRIK „SVARZ“ IN MOSKAU 1927-30 77

KLUB DER PORZELLANMANUFAKTUR PRAVDA IN DULËVO 1928-30 BEI MOSKAU 83

WETTBEWERBSBEITRAG FÜR DEN ZUEV-KLUB 1927 86

GOLOSOVS ZUEV-KLUB IN MOSKAU 1927-30: EIN ARCHITEKTONISCHER SONDERFALL 90

BILANZ DER BAUTÄTIGKEIT UND REVISION DER IDEOLOGISCHEN ZIELE 94

DER KULTURPALAST - OPULENTERE VARIANTE MIT UNIVERSELLEM

ANSPRUCH FÜR DEN SOZIALISTISCHEN KULTURBETRIEB 96

KULTURPALAST DER EISENBAHNER IN CHAR’KOV 1927-32:RÜCKFALL INS BÜRGERLICHE 97

KULTURPALAST IN STALINGRAD 1928:REIFER ENTWURF DES KONSTRUKTIVISMUS 98

KULTURPALAST „HAMMER UND SICHEL“ IN MOSKAU,1929-1933:MASKIERTER

KONSTRUKTIVISMUS 99

DER GORBUNOV-KULTURPALAST IN MOSKAU: VOM KONSTRUKTIVISMUS BEEINFLUSST 101

WETTBEWERB FÜR DEN KULTURPALAST IM PROLETARSKIJ-BEZIRK,MOSKAU:SOZIALISTISCHE

AUFKLÄRUNG AM ORT RELIGIÖSER KONTEMPLATION 102

DER REALISIERTE KULTURPALAST IM PROLETARSKIJ-BEZIRK,MOSKAU: EIN KULTURELLES

KRAFTWERK 105

PALAST DER ARBEIT UND KULTUR IN TAŠKENT:MEL’NIKOVS PRÄLUDIUM DES SOZREALISMUS

106

DER DZERŽINSKIJ-KLUB IN EREVAN:DISKREPANZ VON STRUKTUR UND FORM 109

DIE ENTWICKLUNGSLINIE DER PROGRAMMATISCHEN UND

ARCHITEKTONISCHEN VERÄNDERUNGSPROZESSE 111

DAS VOLKSHAUS:FÖRDERUNG DER ARBEITERBILDUNG 111

DER ARBEITERKLUB:ÜBERLAGERUNG VON AUSBILDUNG UND IDEOLOGISCHER ERZIEHUNG

112

DER KULTURPALAST:AUSKLANG DES IDEOLOGISCHEN ERZIEHUNGSPROGRAMMS AN DER

(7)

PERSONENREGISTER 116

ORTSREGISTER 118

ABBILDUNGSVERZEICHNIS 119

(8)

PROGRAMM-ARCHITEKTUR FÜR DIE ERWACHSENENBILDUNG

ARBEITERKLUB UND KULTURPALAST: PROGRAMMATISCHE UND ARCHITEKTONISCHE ENTWICKLUNGEN EINES BAUTYPS FÜR DIE

ARBEITERBILDUNG

___________________________________________

Erwachsenenbildung - Volkshaus - proletarische Kultur -

soziali-stische Lebensweise

Ideologische Bauaufgabe: „sozialer Kondensator“

Folgt man der überwiegenden Mehrheit der bisherigen Darstellungen sowjetischer Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg, so war auch der Arbeiterklub („Рабочий клуб“), wie das so genannte Kommunehaus („Дом-коммуна“), eine ideologisch begründete, neue Bauauf-gabe im Sowjetstaat, die eng mit der Entwicklung der „sozialistischen Lebensweise“ verbunden war. Nicht nur sowjetische Autoren wie Chan-Magomedov, Švidkovskij oder Afanas’ev, sondern auch westliche Autoren wie de Feo, Quilici, Tafuri oder Kopp beziehen sich dabei auf zeitgenössische sowjetische Primär- bzw. Sekundärquellen. Beide Bautypen bezeichnete man nach Anatole Kopp in Analogie zur Elektrotechnik als „soziale Kondensatoren“, also (nicht ganz richtig) als transformierende Bauteile in einem modernen Energiesystem, hier dem neuen sozialistischen Gesellschaftssystem.1 Moisej Ginzburg hatte die neuen Bautypen als „Kondensa-toren der sozialistischen Kultur“ bezeichnet. Damit wurde ihnen eine aktive Wirkung auf die Gesellschaft unterstellt. Vice versa können wir sie heute jedenfalls als passives Ergebnis sozialistischer Ideologie, gleichsam als architektonischen Niederschlag, als Kondensat der sozialistischen Kultur bezeichnen. Sicherlich spielten sie auch eine nicht zu unterschätzende aktive Rolle bei gesellschaftlichen Wandlungsprozessen; deren Bewertung muss jedoch der soziologischen Forschung überlassen werden.

Die Einzigartigkeit dieses Bautyps allerdings muss in zweierlei Hinsicht in Zweifel gezogen werden:

1 Die physikalisch ungenaue Erklärung Anatole Kopps lautete: „Ähnlich den elektrischen Kondensatoren, die die

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• In Italien nämlich entstanden nach der Mitte der 20-er Jahre, also parallel zur sowjeti-schen Entwicklung, unter der faschistisowjeti-schen Regie des OND die Häuser des „Dopolavo-ro“. Und auch im nationalsozialistischen Deutschland gab es mit dem Wettbewerb der Deutschen Arbeitsfront „Häuser der Arbeit“ (1934)2 einen durchaus vergleichbaren Ver-such, in einem besonderen Bautyp während der Freizeit auf die politische Erziehung der Arbeiterschaft Einfluss zu nehmen. Dessen bautypologische Einzigartigkeit wurde al-lerdings auch von den Nazis proklamiert.

• Der Entstehungsgeschichte des Bautyps in vorsowjetischer Zeit wurde bisher wegen der starken ideologischen Filter in der sowjetischen Literatur wenig Beachtung geschenkt. Sie spielt bei dieser Untersuchung ideologischer Wandlungsprozesse indessen keine zentrale Rolle, so dass hier der Verweis auf die frühere Untersuchung des Autors und auf die Darstellung Christiane Posts genügen mag.3 Mit Blick auf die westlichen Indust-rieländer kann festgehalten werden, dass dort seit der Zeit der Industrialisierung dem Qualifizierungsdefizit der Arbeitskräfte schon lange entgegengewirkt wurde, auch mit baulichen Maßnahmen: So schon seit 1825 in Großbritannien auf Initiative Lord Broug-hams mit den so genannten „Mechanics institutes“, „working men’s colleges“ und seit 1880 den „Toynbee halls“, dann in Nordfrankreich und Belgien mit den bekannten „Maisons du peuple“, in den calvinistischen Niederlanden („Volkscafé“, „Volkshuis“) und der Schweiz („Alkoholfreie Gemeindestuben“), Österreich und Deutschland.4 Sol-che Kultureinrichtungen für Arbeiter bestanden unter dem Begriff „Народны Дом“, (Narodny Dom) auch im zaristischen Russland.

Es gab also sowohl parallele als auch historische Beispiele, auf die hier aber nicht mehr eingegangen werden kann.

2 Vgl. Bauwelt 1934, H. 29; Paulsen, Häuser der Arbeit. Das Ergebnis des Wettbewerbs der Deutschen Arbeitsfront,

in H. 32, S.1-12; H. Stephan, Der Wettbewerb „Haus der Arbeit“ in Berlin, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 1934, S. 632; Baugilde Nr. 3, 1934, S. 74 und Nr. 4, 1934, S.77 f.

3 D.W. Schmidt, Der sowjetische Arbeiterklub als Paraphrase des deutschen Volkshauses. Konzeptionelle

Verbindungen bei der Entwicklung eines Bautyps für die Arbeiterbildung; in: Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde II 1924-1937 sowjetische Architektur, Stuttgart 1993, S. 76-91; Christiane Post, Arbeiterklubs der 20er Jahre in Moskau (Diss.), Wuppertal 1999, S.24 ff. und S. 64 ff.

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Umbildung der Gesellschaft: „proletarische Kultur“

Nach der Machtübernahme durch die Sowjets5 wurde die Umbildung der Gesellschaft nach sozialistischen Vorstellungen zügig vorangetrieben.6 Das Ziel der „Heranbildung des allseitig entwickelten kommunistischen Menschen“ erforderte einschneidende Änderungen im privaten, geistigen und religiösen Leben; die Bevölkerung sollte zu kollektivem Denken erzogen werden. Traditionelle Strukturen sollten daher durch neue ersetzt werden. So wurde beispiels-weise die Bedeutung der Familie für die Gesellschaft anfangs geleugnet und als „bourgeoises Relikt“ vergangener Herrschaftssysteme bezeichnet. Vorübergehend sah die Partei selbst die Institution der Ehe als obsolet an. Auch den Einfluss der Religionen bekämpfte sie rigoros, da einerseits die Institution der Kirche zu den wesentlichen Stützpfeilern des alten Ausbeutungs- und Unterdrückungssystems zählte, andererseits religiöse Gläubigkeit als nicht vereinbar mit dem zukunftsorientierten, naturwissenschaftlichen Denken angesehen wurde.

Die erstrebte neue Sozialstruktur mit anderen gesellschaftlichen Normen und einem Wertesys-tem, das vorgeblich jedem Einzelnen gleiche Chancen gewähren sollte, bedingte jene Zerstörung des Althergebrachten.

Die bolschewistische Politik erkannte die zentrale Bedeutung eines neu zugestaltenden staatli-chen Bildungs- und Erziehungsmonopols für die Durchsetzung der neuen Ideen.7 So entstand ein völlig neues Schulsystem als Basis für eine „proletarische Kultur“8, in der die Bereitschaft zu Solidarität, zur Veränderung von Lebensnormen und zur Auseinandersetzung mit der Lebens-wirklichkeit Vorrang haben sollten vor individuellem Karrierestreben in traditionellen Ordnun-gen und vor esoterischer Realitätsfremde. (Wie sich später zeigte, konnten diese moralischen Zielvorstellungen mit der Realität nur ansatzweise in Einklang gebracht werden: So entwickelte

5 Am 6. Januar 1918 wird die Verfassunggebende Versammlung durch Dekret der Sowjets aufgelöst. In ihr hatten

Sozialrevolutionäre und Menschewiken 62 % der Stimmen, die Bolschewiken nur 25 % (vgl. E. Hösch, H.-J. Grabmüller, Daten der sowjetischen Geschichte. Von 1917 bis zur Gegenwart, München 1981, S. 12, 18)

6 Zahlreiche Dekrete wie das über die Ehescheidung (16. / 29.Dezember), die Zivilehe (18. / 31.Dezember), die

Verstaatlichung des kirchlichen Schulwesens (11. Dezember), die Krankenversicherung (22. Dezember) und Enteignungen bzw. Verstaatlichungen künden dies an (vgl. Hösch, Grabmüller, Daten der sowjetischen..., a.a.O., s. Anm. 5)

7 Der erste sowjetische Bildungsminister, Anatoli Lunačarskij, veröffentlichte schon am 29. 10. 1917 den Aufruf

„Über die Volksbildung“, der neben Grundprinzipien ein konkretes Programm der künftigen Bildungspolitik enthielt.

8 Diese Bewegung für eine „proletarische Kultur“ war Anfang des Jahrhunderts in der „Vpered-Gruppe“ (mit

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sich zwar in vielen Lebensbereichen solidarisches Handeln, jedoch weniger aus gesamtgesell-schaftlicher sozialer Verantwortung, als vielmehr in der Form von Notgemeinschaften unter dem Druck von innenpolitischem Terror und als Überlebensstrategie in Versorgungskrisen. Vor allem die obsoleten Lebensnormen orthodoxer Frömmigkeit9 und zaristischen Untertanengeistes konnten mit der Hebung des allgemeinen Bildungsstandards dem Niveau einer aufgeklärten Industriegesellschaft angepasst werden. Die intendierte kritische Analyse der Lebenswirklichkeit indessen verkam bald zu schönfärberischen Propagandakampagnen und das Karrierestreben in der sich immer mehr aufblähenden Bürokratie der so genannten „Nomenklatura“ war dann keinen Deut besser als in der bürgerlichen Ordnung.)

Bildungsdefizit

In diesem anspruchsvollen Programm der Theoretiker des „Proletkult“10 stellte die große Zahl der Analphabeten11 und nur notdürftig Ausgebildeten ein enormes Problem dar. Am 31. Mai 1918 wird der obligatorische Gemeinschaftsunterricht eingeführt12, was aber nur den gleichberechtigten Zugang der Mädchen zu den Schulen erleichterte. Dagegen bedeutete es nicht, dass die ab 16. Oktober des Jahres so bezeichnete „Einheits-Arbeitsschule“ mit zwei Stufen für Kinder von 8-13 und 13-17 Jahren auch alle Kinder erfasste. Erst am 2. September 1923 beschließt das Sownarkom (Kabinett) die Ausarbeitung eines Plans zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Laufe der nächsten 10 Jahre.13 Und noch einmal zwei Jahre später wird auf dem Wege der Verordnung bekräftigt, dass der allgemeine Grundschulunterricht in der RSFSR bis zum Schuljahr 1933/34 eingeführt werden soll. Diese also extrem defizitäre Situation im Schulwesen zwang zu alternativen Ausbildungsgängen, wollte man die Bildungsprobleme in absehbarer Zeit reduzieren. Für wie wichtig die Volkskommissare das Problem erachteten, wird Abkürzung „Proletkult“.

9 Noch 10 Jahre nach der Revolution sieht allerdings die Propagandaabteilung des ZK der KPdSU Veranlassung,

zum Kampf gegen die „religiöse Gefahr“ („Opium für das Volk“) aufzurufen (27. 7. 1928).

10 Vgl. hierzu: Peter Gorsen und Eberhard Knödler-Bunte, Proletkult 1, System einer proletarische Kultur,

Stuttgart-Bad Cannstatt, 1974, S. 35 und 39, und Gabriele Gorzka, A. Bogdanov und der russische Proletkult, Frankfurt / New York, 1980

11 Durch das Fehlen einer allgemeinen Schulpflicht betrug die Analphabetenrate der 9- bis 50-Jährigen Anfang des

20. Jahrhunderts im zaristischen Reich 80% mit einem 88%-igen Frauenanteil.

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schon in ihrem Dekret über die Abschaffung des Analphabetentums vom 26. Dezember 1919 deutlich, das am 19. Juli 1920 zur Bildung der „Allrussischen Außerordentlichen Kommission zur Liquidierung des Analphabetentums“ führte.

Große Aufmerksamkeit wurde deshalb von Anfang an der Erwachsenenbildung geschenkt. So erlaubte das Dekret vom 2. August 1918 allen Arbeitern das Hochschulstudium auch ohne Zulassungszeugnis; die Informationsdefizite sollten in besonderen Vorkursen aufgeholt werden, den so genannten Arbeiterfakultäten (Rabočii fakul’tet).14 Auch die berufliche Weiterbildung wurde forciert mit dem Dekret über die Verpflichtung zum beruflich-technischen Unterricht. Nicht nur für alle Lehrlinge über 14 Jahre waren Schulungskurse vorgeschrieben, sondern für alle Arbeiter zwischen 18 und 40 Jahren. Die Resultate blieben allerdings weit hinter den Erwartungen zurück.15

Volkshäuser als typologische Vorstufe

Auf die Geschichte der Arbeiterbildung und die Funktion der schon vor dem Ersten Weltkrieg errichteten Volkshäuser16 kann hier nicht näher eingegangen werden.17 Gleichwohl muss betont werden, dass noch im zaristischen Russland dem gravierenden Bildungsrückstand der größten Bevölkerungsgruppe begegnet wurde. In den meist paternalistisch motivierten Volkshäusern wurde den Arbeitern einerseits Zugang zum bürgerlichen Kulturbetrieb gewährt, andererseits wurden auch Seminare zur fachlichen Weiterqualifikation angeboten.18 So wird die propagandistische Verfälschung in Michail Il’ins Charakterisierung des Arbeiterklubs von 1931 offenbar. Er schrieb: „Die architektonische Erscheinung des Arbeiterklubs und der Typ des Gebäudes selbst haben sich nach der Revolution formiert: absolut unabhängige Objekte, ohne Vorbild oder Tradition.“19 Eine bürgerliche Vorstufe dieses Gebäudetyps, der ja im Volkshaus

14 1919 auf Initiative A. V. Babičevs, russisch „рабочии факультет“ (Abk. „Rabfak“); vgl. auch Hösch, Grabmüller,

Daten der sowjetischen..., a.a.O., S. 29 (s. Anm. 5)

15 Hösch , Grabmüller, Daten der sowjetischen..., a.a.O., S. 42 (s. Anm. 5)

16 Vgl. hierzu: Л. Арманд, А. Никитин, А. Зеленко, Народные дома, Москва 1917, (L. Armand, A. Nikitin, A.

Zelenko u.a., Narodnye doma [Volkshäuser], Moskva 1917) (2. Auflage)

17 Vgl. hierzu: Wolfgang Jüttner, Peter Krug, Jörg Wollenberg, Die Geschichte der Arbeiterbildung, Hannover, o.J. 18 Vgl. D.W. Schmidt, Der sowjetische Arbeiterklub..., in: Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde II..., a.a.O., S.76

ff. (s. Anm. 3)

19 Michel Ilyine, L’architecture du club ouvrier en U.R.S.S., in: L’Architecture d’Aujourd’hui, No. 8, 1931, S. 17-19

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tatsächlich vorhanden war, wurde aus ideologischen Gründen in Abrede gestellt, nachdem die SDAPR (b) ihre ursprüngliche Meinung aufgegeben hatte, dass der sozialistischen eine bürgerliche Gesellschaft übergangsweise vorausgegangen sein müsse. So hatte sie am Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Druck der militärischen Ereignisse und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs die „provisorische Regierung“ Kerenskijs, die ja deutlich bürgerlich-demokratische Züge trug, beseitigt, um unmittelbar den Sozialismus mit einem Einparteiensys-tem zu etablieren.

Frederick Starr weist im VI. Kapitel seiner Mel’nikov-Monographie „Architecture and Daily Life, 1926-1928“ auf diese Widersprüchlichkeit hin. Er meint, „[...] dass die Einrichtungen nicht nur den Stempel revolutionärer Ideologie trugen, sondern auch den der Bemühungen der zaristischen Stadtverwaltung Moskaus mit dem jahrhundertealten Problem des Alkoholismus fertig zu werden. Gerade unter diesem Aspekt hatte der Stadtrat (Duma) 1915 veranlasst, Volkshäuser nach dem Modell der französischen Maisons du Peuple in verschiedenen Stadttei-len einzurichten, und sie mit Lesezimmern, Filmtheatern, Konzertbühnen und VortragssäStadttei-len auszustatten, [...]“20 Starr verweist dabei auf die Resolution der Moskauer Stadt Duma vom 16. Juni 1915: Diese Volkshäuser sollten demnach „[...] in der Art von Kulturzentren und Erzie-hungseinrichtungen dienen mit dem Ziel, die besonderen Bedürfnisse der Arbeiterklasse in der Bevölkerung zu befriedigen und ihr die Möglichkeit zu geben, ihre Freizeit gewinnbringend zu nutzten.“21 So widerspricht Starr „Darstellungen in der jüngeren Literatur, die diese Institutionen als eine wilde utopische Konzeption der Revolutionszeit“ charakterisieren. „Zeitgenössische Polemiker“, meint Starr, „leisteten dieser Ansicht Vorschub, indem sie sie als »Brutstätten des Klassenkampfes«, »Quellen von Erleuchtung und Wissen«22 feierten, oder, in einer Phrase aus einem Pamphlet für Arbeiterklubs von 1923, »als Schmiede, in der die proletarische

20 S. Frederick Starr, MELNIKOV. Solo Architect in a Mass Society, Princeton, New Jersey, 1978, S. 133 [dt.

Übersetzung vom Autor] Ob gerade die französische Maison du Peuple in Moskau als Vorbild gedient hat, erscheint zweifelhaft, da die Volkshäuser ein allgemeines Phänomen der Industrieländer Europas waren. Nicht nur die deutschen Volkshäuser etwa Theodor Fischers zählen dazu, sondern auch die „alkoholfreien Gemeindestuben“ der Schweiz. Zu den bekanntesten zählen die belgischen Jugendstilgebäude, darunter Victor Hortas Maison du Peuple in Brüssel (1896-99, abgebrochen 1960) [Vgl. Archives D’Architecture Moderne (Hrsg.), Architecture pour le Peuple. Maisons du Peuple, Bruxelles 1984]

21 Izvestija Moskovskoj gorodskoj dumy, Band XLI, Nr. 2, Februar 1917, S. 59

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tur geschmiedet wird.«“23 Starr räumt dann auch ein, dass „Parteigänger der »proletarischen Kultur« Bewegung und Lenin selbst diese Einrichtungen einige Jahre lang nach 1917 als Infiltrationsinstrumente revolutionärer Werte für den arbeitenden Pöbel gefördert haben.“24 Somit akzeptiert der pragmatischen Erklärungsmustern zuneigende Amerikaner, wenn auch ungern, eine ideologische Wurzel des Arbeiterklubs. Indessen rückt er sogleich die politischen und sozialen Koordinaten des Bautyps zurecht: „Um 1924 aber hatten die meisten Arbeiter ihren geringen Eifer für solche Förderung gezeigt. In jenen Jahren sprach Trotzki zynisch vom Boykott der Arbeiterklubs durch die Arbeiter selbst, und wenig später rief Tomskij, der Chef der Gewerkschaften, die Klubs auf, weniger Zeit mit der Predigt über »die proletarische Revolution und ihre Probleme« zu verbringen, und mehr mit »gesunder Regeneration und heilsamem Lachen«.25 Der Bau einer großen Zahl von Arbeiterklubs im Industriegürtel von Moskau und anderen Städten wurde in den späten Zwanziger Jahren als Antwort auf diese simple Forderung unternommen.“26 Starr vertritt hier also die Auffassung, dass der Arbeiterklub sich wenig von einem bürgerlichen Volkshaus unterschieden habe, gedacht vor allem zur Erholung und Reproduktion der Arbeitskraft. Diese im Kern der Aussage zweifellos nahe liegende Interpretati-on greift indessen etwas zu kurz und soll im folgenden näher untersucht werden. Immerhin liefert der Moskauer Bauhistoriker Igor’ Chlebnikov ein interessantes Beispiel der Kontinuität beim Bau von Volkshäusern im Industriegebiet von Ivanovo-Voznesensk über die ideologische Demarkationslinie von 1917 hinaus: Es ist das Volkshaus in Bonjački, das in der Zeit von 1915 bis 1925 [sic] vom Architekten Malinovskij gebaut worden war. (Abb. 1) Strukturell wurde dieser Volkshaus-Entwurf aus zaristischer Zeit sogar zum Vorbild der sozialistischen Arbeiter-klubs in der ganzen Region.27

23 Nach V. Pletnev, zitiert von L. Trotzki in: Leninismus und Arbeiterklubs, in: Probleme des täglichen Lebens und

andere Schriften über Kultur und Wissenschaft, S. 313 [hier zitiert nach Starr, Melnikov..., a.a.O., S. 133 (s. Anm. 20)]

24 Starr, Melnikov..., a.a.O., S. 133 (s. Anm. 20)

25 Trotzki, Leninismus und Arbeiterklubs, S. 297-303; XIV съезд всесоюзной коммунистической партий (б),

S’ezd vsesojuznoj kommunističeskoj partij (b), [14. Allunionskongress der KPR (b) 1925] Moskva 1926, S. 737-738 [hier zitiert nach Starr, Melnikov..., a.a.O., S. 133 (s. Anm. 20)]

26 Starr, Melnikov..., a.a.O., S. 133 (s. Anm.20)

27 Vgl. Igor’ N. Chlebnikov, Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre im Industriegebiet von

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Die proletarische Kulturbewegung und ihre ideologischen

Pro-gramme für den Arbeiterklub

In der Erwachsenenbildung nahmen die Arbeiter- oder Ortsklubs, oft auch Volkshäuser genannt, eine wichtige Rolle ein.28 In ihnen sollte hauptsächlich das Bildungsdefizit durch kulturelle Veranstaltungen und fachliche Weiterqualifizierung abgebaut werden, aber auch Agitation und politische Schulung geleistet werden. Dieses umfassende pädagogische Profil hatten einige noch zaristische Volkshäuser bereits vor Gründung der Proletkult-Organisation im Oktober 1917, wie Gabriele Gorzka feststellt.29 Insbesondere die Revolution von 1905 hatte nach Maširov-Samobytnik die politische Agitation vorübergehend stimuliert. Auf diese vorsowjeti-schen Prozesse gehen weder die zeitgenössivorsowjeti-schen Autoren Il’in oder El Lissitzky als ideologie-konforme Agitatoren, noch Starr oder Chan-Magomedov ein. Nach der erfolgreichen Revolution von 1917 wurde an jenes bereits 12 Jahre alte Programm angeknüpft.

Das neue Programm des Proletkult wurde 1918 in Nr. 5 der Zeitschrift „Proletarskaja Kul’tura“ veröffentlicht. Ohne weiter auf die umfangreiche Literatur zum Proletkult30 eingehen zu können, sollen hier doch seine vier wichtigsten Punkte auszugsweise wiedergegeben werden, die Gabriele Gorzka in ihrer Untersuchung von 1990 wörtlich zitiert, weil sie das spätere funktionale Programm der Arbeiterklubs bestimmten: „1. [...] Im Interesse der Vereinigung aller kulturell-aufklärender Aktivitäten des Proletariats soll die Arbeit auf dem Gebiet [...] von Fragen proletarischer Wissenschaft und Kunst in den Organisationen des Proletkult ideologisch konzentriert [...] sein. 2. Die kulturell-organisierende Tätigkeit der Gewerkschaften muß darauf konzentriert sein, [...] die kulturell-industrielle Erziehung der breiten Arbeitermassen im Geist der kameradschaftlichen Disziplin und des Kollektivismus zu fördern. 3. Im Hinblick darauf müssen die [...] eng mit dem Proletkult verbundenen Abteilungen der Gewerkschaften Kurse,

28 Vgl.: Michel Ilyine, L’architecture ..., a.a.O., (s. Anm.19) 29 Gorzka, A. Bogdanov und der ...., a.a.O., S. 18 (s. Anm. 10)

30 Vladimir Gorbunov, Lenin und der Proletkult, Berlin 1979; Frankfurter Kunstverein (Hrsg.), Kunst in der

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Vorträge, praktische Arbeiten, Ausstellungen usw. über Fragen der Produktion und des Berufs [...] organisieren. 4. Zu diesem Zweck hat die Gewerkschaft in den einzelnen Arbeiterklubs unbedingt spezielle Abteilungen zu errichten, in denen sich das Proletariat in der Freizeit in gemeinverständlicher Form (mit Hilfe von [...] Arbeiterkinos etc.) mit den Errungenschaften und Erfordernissen der beruflichen Arbeiterbildung vertraut machen kann.“31

„Proletkult“, Arbeiterfakultäten und Gewerkschaften

Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, hatte die KPR (B) 1919 auf ihrem VIII. Parteitag gefordert, „ein möglichst dichtes Netz von Volkshäusern zu organisieren“.32 Indem man also sogar den Begriff aus zaristischer Zeit übernahm, knüpfte man also selbstverständlich an die bereits bestehende Institution an. Schon Anfang Oktober 1917 fand unter Beteiligung von Lenins Frau, der Pädagogin Nadežda Krupskaja, in Petrograd eine Konferenz der „proletarisch kulturell-aufklärenden Organisationen“ statt, die ein eigenes Zentralkomitee mit der Bezeich-nung „Prolet.Kul’t.“ bildeten. Diese von Fëdor Kalinin geleitete Organisation wurde dem Bildungsministerium Anatoli Lunačarskijs unterstellt und gewann dank enormer staatlicher Unterstützung33 rasch an Einfluss. So soll der „Proletkult“ um 1920 nicht weniger als eine halbe Million Arbeiter in seiner Bildungsinstitution organisiert haben. 1922 soll sich die Zahl der Klubs auf landesweit 12.200 belaufen haben.34 Die größte Aktivität entfaltete der „Proletkult“ in den Jahren unmittelbar nach der Revolution. Er sollte in der revolutionären Gesellschaft eine dritte Kraft, nämlich die kulturelle werden, neben der politischen Kraft (der Partei) und der indu-striellen (den Gewerkschaften). Damals wurden an den Hochschulen die „Arbeiterfakultäten“ gegründet, aber auch neue Kunstformen im öffentlichen Raum erprobt. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Theater, welches nun auch das Alltagsleben thematisierte und durch die Verherrlichung von Arbeit und Technik das Selbstbewusstsein der Arbeiter stärkte. Dieser Einfluss und vor allem das suspekte Beharren auf politischer Selbständigkeit erregten das

31 Proletarskaja kul’tura 1918, Nr. 5 [hier zitiert nach Gorzka, Arbeiterkultur ..., a.a.O., S. 85, 86 (s. Anm. 30)] 32 Vgl. Resolutionen und Beschlüsse der Parteitage, Parteikonferenzen und Tagungen des ZK der KPdSU, Teil 1,

Gospolitisdat, 1954, S. 452, (russisch) hier zitiert nach: S.O. Chan-Magomedow, Pioniere der sowjetischen Architektur, Dresden 1983, S. 435

33 Im ersten Halbjahr 1918 erreichten die Fördermittel einen Umfang von neun Millionen Rubel („Izvestija“ vom 10.

11. 1918)

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Misstrauen der Partei, die nun ihre Förderung einstellte. Die an Polemik zunehmenden Diskussi-onen zwischen dem Proletkult und den Gewerkschaften bestimmten auch das Tauziehen um die Aufgaben des Arbeiterklubs. Die Gewerkschaften hielten nach einem Zitat von Levman den Arbeiterklub in erster Linie für einen „[...] Ort zur vernünftigen und anregenden Gestaltung der Freizeit[...]. Der Klub ist vor allem notwendig für ein kulturvolles Alltagsleben. [...] Als Antwort auf eine solche Erklärung fallen die Funktionäre des Proletkult mit aller Kraft über die künstleri-sche Arbeit der von den Gewerkschaften geführten Arbeiterklubs her. In diesen Klubs, beschul-digen sie uns, blühen Kitsch und Spießertum, fassen antiproletarische Tendenzen Fuß; und die Gewerkschaften decken diesen Kitsch und fügen damit der Sache des Aufbaus der proletarischen Kultur Schaden zu. [...] Die Gewerkschaften sind überhaupt nicht daran interessiert, aus Metall-, Textil-, Bau- und anderen Arbeitern Schauspieler, Musiker und andere Kunstspezialisten zu machen. Die Gewerkschaften haben nur das Ziel, die allgemeine künstlerische Kultur in den Massen zu erhöhen, [...]“35

1925, nur ein Jahr nach Lenins Tod, wurde die Organisation der Erwachsenenbildung den Gewerkschaften unterstellt, die den neuen Kunstformen wenig Interesse entgegenbrachten. Die Aktivitäten des „Proletkult“ wurden nun auf die Kulturarbeit in den Arbeiterklubs beschränkt, die sich eher einer verfremdeten Nachahmung bürgerlicher Kunst- und Kulturtraditionen widmeten und ihr Augenmerk auf die Regeneration der Arbeitskraft legten. Das populistische Kunstverständnis der Masse und der Partei widersetzte sich dem elitär-avantgardistischen „Proletkult“, der nun für die Entwicklung einer „Kultur der proletarischen Klasse“ keine Bedeutung mehr hatte. 1932 wurde die Organisation des „Proletkult“ aufgelöst.36

Vor dem bildungspolitischen Hintergrund dieses ideologischen Disputs um die „Kultur der proletarischen Klasse“ entwickelten sich erste Programme für den Arbeiterklub.

Der Klub als „öffentlich-heimischer Herd“ (N. Krupskaja)

Wichtige Aspekte, die für die Schaffung dieser Klubs sprachen, waren einerseits die sinnvolle Beschäftigung der Arbeiter in ihrer Freizeit, andererseits die Anhebung ihres

35 Vgl. Der Proletkult und die Gewerkschaften, in: Gorsen, Knödler-Bunte, Proletkult 2, ..., a.a.O. S. 248 ff. (s. Anm.

30)

36 Zum Veränderungsprozeß der Ziele der Arbeiterbildung in der Sowjetunion vgl. D.W. Schmidt, Der sowjetische

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standards und ihre Gewinnung für die politischen Ziele der Partei.

Nadežda Krupskaja meint in ihrem Aufsatz „Wie soll ein Arbeiterklub aussehen“37, dass der Impuls zur Weiterbildung vom Umgang mit vertrauten Menschen ausgehe, ein Phänomen, das sie in amerikanischen Klubs erkennt. Was ihr vorschwebt, ist offenbar die Transformierung der bürgerlichen Salon-Kultur des 19. Jahrhunderts bzw. der angelsächsischen Clubs auf die Ebene der Arbeiterschicht. Dies bezeichnet sie als „öffentlich-heimischen Herd“. Hier im Arbeiterklub soll öffentlich bereitgestellt werden, was in den privaten Haushalten des Bildungsbürgertums eine Selbstverständlichkeit war: Ein Raum für Hausmusik, eine Bibliothek, ein Teesalon. Insofern sind deutliche Parallelen zum bürgerlichen Volkshaus der Vorkriegszeit vorhanden und die Konzeption der sozialistischen Pädagogin scheint noch auf die im Exil angestrebte „bürgerli-che Übergangsgesellschaft“ zu zielen. Was im Unterschied dazu neu hinzukommt, sind die so genannten „Zirkelräume“, die Frau Krupskaja für die politische Aufklärung der Arbeiter fordert. In diesen Räumen für ideologische Agitation sollen vor allem politische Vorträge gehalten wer-den, über die man anschließend gemeinsam diskutiert. So sollten die noch überwiegend apoliti-schen Arbeiter aktiv in gesellschaftspolitische Prozesse integriert werden, eine Vorstellung, die sich gerade auch die progressiven Künstler zu eigen gemacht hatten. Sie sahen im Arbeiterklub eine „Werkstatt zur Schaffung eines neuen Menschentyps“; folgerichtig sollte auch die ar-chitektonische Gestalt die neue Zeit klar erkennbar symbolisieren und Verwechslungen mit historischen Bautypen vermeiden. Das VOPRA-Mitglied Arkadi Mordvinov unterstreicht noch ein Jahrzehnt später diese Forderung: „Der Eklektizismus nimmt noch einen sehr wichtigen Platz in unseren Konstruktionen ein. [...] Es ist noch nicht lange her, da kamen die Frauen am Institut für Agrikultur in Kiev vorbei, gebaut 1928 in Kirchenform, machten das Kreuz und sagten: »Gelobt sei Gott, die sowjetische Macht hat begonnen, Kirchen zu bauen!«“38

„Soziales Kraftwerk“ und „Hochschule der Kultur“(El Lissitzky)

El Lissitzky, nach seinem Architekturstudium in Darmstadt wohl der bekannteste Protagonist der sowjetischen Avantgarde in Deutschland, schrieb 1930 im 1. Band der von Joseph Gantner herausgegebenen Reihe „Neues Bauen in der Welt“ über „Die Rekonstruktion

37 In der Zeitschrift „Proletarskaja Kultura“ 1918

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der Architektur in der Sowjetunion“39. Im Kapitel „Der Klub als soziales Kraftwerk“ beschreibt er zunächst die symbolische Bedeutung des Arbeiterklubs in der neuen sozialistischen Gesell-schaft:

„Bauten, die der allgemeinen Gesellschaft zu dienen haben, haben immer die gesamte gestalten-de Energie in sich konzentriert. Sie waren gestalten-der jeweilig herrschengestalten-den gesellschaftlichen Ordnung entsprechend Bauten des Kultes und der Regierung: Kirche und Palais. Dies waren die Kraft-werke der alten Kultur. Ihre Macht ist nur durch die Errichtung neuer KraftKraft-werke unserer heutigen Kultur zu überbieten.“ Dann folgt seine Darstellung der Entwicklung des Bautyps in drei Perioden:

„1. Die Umwandlung schon bestehender Bauten ganz anderer Zweckbestimmung in Klubs. 2. Man baut neue Anlagen. Doch bald wird klar, daß diese zusammengewürfelten Einzelteile aus Theatersaal (altes Barocksystem) und Kinosaal, alles umringt von Korridoren und Einzel-zimmern, noch keine Lösung für die neue Kulturaufgabe bedeuten.

3. Erst allmählich kommt man an die direkte Rekonstruktion der Aufgabe.

Die organisch anwachsende Aufgabe beginnt sich zu klären. Um sie zu lösen, muß ein räumli-cher Körper, eine Baukonstruktion geschaffen werden, in dem alle Lebensalter der werktätigen Masse Erholung und Entspannung nach der Tagesarbeit finden, neue Energieladung empfangen können. Hier sollen Kinder, Halbwüchsige, Erwachsene und ältere Menschen außerhalb der Familie gemeinsam zu kollektiven Menschen erzogen und ihre Lebensinteressen erweitert werden. Die Aufgabe der Klubs ist, den Menschen frei zu machen und nicht wie ehemals durch Kirche und Staat zu unterdrücken.“40

Erziehung statt Emanzipation (A. Lunačarskij)

Wie wenig realistisch und naiv indessen diese Vorstellung in dem Einparteienstaat war, wird aus einer Äußerung des Bildungsministers Lunačarskij von 1927 klar, also immerhin drei Jahre bevor El Lissitzky sein Buch veröffentlichte: „Haupttätigkeitsbereiche der Klubein-richtungen sind: politische Massenarbeit, militärisch-patriotische, moralische und ästhetische Erziehung [sic], wissenschaftlich-atheistische Propaganda, sportliche Massenarbeit und

39 Neuauflage Berlin, Frankfurt 1965 als Bauwelt Fundamente 14: „1929 Rußland: Architektur für eine

Weltrevolution“, S. 25-27

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lerische Selbstbetätigung.“41 Tatsächlich also ging es der kommunistischen Partei nicht um Befreiung oder Emanzipation des arbeitenden Individuums, sondern um die Erziehung der Masse zu konformistischen Sowjetbürgern.

Gewerkschaft als „Schule des Kommunismus“

Auf dem X. Parteikongress der KPR (B) im März 1921 werden wichtige innenpolitische Beschlüsse gefasst, die vor allen Dingen den Übergang vom „Kriegskommunismus“ zur „Neuen Ökonomischen Politik“ (NĖP) regeln. In der Erwachsenenbildung wird die politische Agitation betont, indem die Gewerkschaften („ProfSojuz“) als Schulen des Kommunismus („Škola Kommunizma“) definiert werden.42 Noch sechs Jahre später wird diese ideologisch-zweck-orientierte Propagandaformel am Moskauer Rusakov-Klub Konstantin Mel’nikovs angebracht. Dies zeigt, dass jedenfalls anfangs die Funktion der Arbeiterklubs doch über den Zweck simpler Freizeiteinrichtungen (wie Frederick Starr meinte) hinausging. Das wird besonders deutlich in dem hier von der „Leninschen Plattform“ geforderten Aufgabenspektrum der Gewerkschaften: Es bestand „[...] in ihrem Kampf für die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Verbesse-rung der Arbeitsdisziplin, in der Wahrnehmung der materiellen und kulturellen Interessen der Arbeiter, ferner in der Heranbildung von Kadern für den Staats- und Verwaltungsapparat aus den Reihen der Arbeiter [...]“43

Bauliche Konzeptionen des Arbeiterklubs: die Anfänge

Funktion und Typologie des Arbeiterklubs (El Lissitzky)

El Lissitzky bezeichnete den Arbeiterklub als „soziales Kraftwerk“ und ging auch auf Funktion und Typologie des Arbeiterklubs ein:44

„Es ist kurzsichtig zu denken, daß ein solcher Bau auf einmal von einem »genialen« Architekten erfunden wird. Wir fordern von dem Sowjet-Architekten, daß er als Künstler, kraft seines sinnlichen Intellekts, die leisesten Wellenbewegungen der sich entwickelnden Energien eher als

41 Vgl. Große Sowjet-Enzyklopädie [engl. Übersetzung] Washington 1974, S. 326 f. (s. Anm. 34) 42 Vgl. Hösch, Grabmüller, Daten der sowjetischen ..., a.a.O., S. 46 (s. Anm. 5)

43 Istorija Kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza, Moskva 1971 [hier zitiert nach der deutschen Übersetzung

„Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1973, S. 380]

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die für das eigene Wachstum kurzsichtige Masse vollständig erfaßt und verstärkt, um sie im Bau zu gestalten. [...] Das Entscheidende für den Klub ist, daß die Masse hier selbsttätig sein soll und nicht nur von außen zum Amüsement zuströmt, daß sie selbst zu ihrer größten Auswirkung gelangen kann. Dem Klub wird die Aufgabe gestellt, die Hochschule der Kultur zu bilden. Wenn die Privatwohnung bestrebt ist, möglichst puritanisch zu wirken, so soll in der öffentlichen Wohnung der größtmögliche Luxus allen zugänglich sein.

Der Begriff »Rekonstruieren« ist auf diese Aufgabe deshalb nicht anwendbar, weil wir in der Vergangenheit keinen Bau aufweisen können, der in seiner sozialen Bedeutung als Vorstufe gelten könnte. [sic] Hier ist in der inneren und äußeren Gestalt des neuen Klubs unserer Auffassung von der geistigen Form und Ästhetik des sozialen Menschen zum Ausdruck zu bringen.“ 45

Dies macht deutlich, was für eine enorme Bedeutung den Arbeiterklubs bei der ideologi-schen Umbildung der Gesellschaft zugedacht war. Allein bis Ende 1919 wurden etwa 7000 (!) Volkshäuser46 bzw. Arbeiterklubs eingerichtet, meist auf Initiative des „Proletkults“ unter Führung des Bildungsministeriums.

Neben den so genannten „Zirkelräumen“ für unterschiedliche Beschäftigungen in kleinen Gruppen gehörten daher kleinere Vortragssäle und eine Bibliothek zum festen Raumprogramm. Die zentrale Funktion galt aber dem Theaterraum mit seinen einerseits morphologischen Wurzeln beim Volkshaus bzw. Volkstheater, seinen andererseits ideellen beim „Proletkult“. So ist nicht verwunderlich, dass die Arbeiterklubs meist mit dem Schriftzug „ТЕАТР“ (Theater) bzw. „КИНО“ (Kino) warben, wie z.B. bei den Entwürfen von V. Kokorin (Abb. 2), A. Murzaveckij, L. Savel’ev & B. Šatnev (Abb. 3), oder Mel’nikovs für den Zuev-Klub; auch der realisierte Frunze-Klub von Mel’nikov trug diese Aufschrift. Dagegen taucht der neue Begriff Arbeiterklub (РАБОЧИЕ КЛУБ) als Schriftzug seltener auf. Die alt gewohnte Bezeichnung „НАРОДНЫ ДОМ“ (Narodny Dom - Volkshaus) wird teilweise beibehalten oder durch „ДОМ КУЛЪТУРЫ“ (Dom Kultury - Kulturhaus) ersetzt.

Schon bald kristallisierten sich dabei vier unterschiedliche Typen heraus:

• Klubs von Wohnkollektiven, meist in die Wohngebäude integriert, oft in Verbindung mit

45 Wie Michail Il’in, der Arbeiterklubs als „absolut unabhängige Objekte, ohne Modell oder Tradition“ versteht,

negiert auch El Lissitzky den Vorgängertyp des Volkshauses.

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Kommunehäusern,

• Klubs von Betrieben, häufig separat in einem eigenen Gebäude,

• Klubs von Berufsgruppen oder Gewerkschaften, ebenfalls als selbständiger Bau, und • Gebiets- oder Ortsklubs meist unter der Bezeichnung „Kulturpalast“.

Umnutzung historischer Bausubstanz

Zunächst wurden aristokratische Paläste und bürgerliche Villen umgenutzt, aber auch Kirchen wurden profanisiert. Parallel dazu werden Architekturwettbewerbe organisiert, z.B. für die Arbeiter der verstaatlichten Zuckerindustrie und für Eisenbahner.47 Chan-Magomedov erwähnt einen solchen frühen Typenentwurf für ein dörfliches Volkshaus, an dem Il’ja Golosov teilnahm, aus dem Bürgerkriegsjahr 1920. Auch für die verstaatlichte Erdölindustrie im Kaukasus bei Grozniy, Tschetschenien, war schon 1922 ein Wettbewerb für ein Volkshaus in der Arbeitersiedlung Grozneft’ durchgeführt worden.48

Arbeiterklub „Der rote Putilover“ in einer ehemaligen Kirche Leningrads

Ein in zweierlei Hinsicht bemerkenswertes Beispiel einer Profanisierung findet sich am Leningrader Staček Prospekt, wo der Konstruktivist Aleksandr Nikol’skij49 1925/26 für die Putilov-Werke50, eine der größten Produktionsstätten der Stadt, die Kamenny-Kirche zum

Arbeiterklub „Der rote Putilover“ umbaute (Abb. 4); dieser kleine Klub im südwestlichen

Kirovskij Rajon (Kirov-Bezirk) nahe der Metrostation Kirovskij Zavod wurde später von den Arbeitern der Nördlichen Schiffsbauwerft genutzt.51 Auf äußerst ökonomische Kalkulation bedacht erzielte Nikol’skij mit minimalem Materialaufwand eine beachtliche künstlerische Wirkung. Diese symbolträchtige Umwidmung eines sakralen Kultbaus in ein sozialistisches

47 Vgl. „Programme des offenen Wettbewerbs für die Sammlung von Skizzen für typische Klub-Projekte,

bekanntgemacht vom Zentralkomité der Eisenbahner und der Moskauer Architektonischen Gesellschaft“ Moskau 1926 [K.N. Afanas’ev, V.I. Baldin, V.E. Chazanova, O.A. Švidkovskij (Red.), Iz istorii sovetskoj architektury 1926-1932 gg., Dokumenty i Materialy. Rabočie kluby i dvorcy kul’tury, Moskva 1984, S.13]

48 S.O. Chan-Magomedov, Il’ja Golosov, Moskva Strojizdat 1988, (Reihe: Mastera Architektury) S. 163 49 Aleksandr Sergeevič Nikol’skij, (1884-1953), 1926-28 Mitglied der OSA

50 1801 gegründet und ab 1868 von dem Ingenieur Nikolaj Ivanovič Putilov zu einer der größten Maschinenfabriken

ausgebaut; am 27. 12. 1918 wird die AG verstaatlicht; 1974 etwa 12.000 Beschäftigte. Von den Sowjets in „Kirovskij Zavod’“ umbenannt. Der Streik vom 9.1. 1905 löste die erste Revolution aus.

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Kulturgebäude demonstrierte eindrucksvoll nicht nur die neuen Werte des atheistischen Sowjetstaates52, sondern mit seinem eleganten Glasprisma über der Eingangsfront zugleich eine neue Architekturauffassung. Gerade solche Umbauten gepaart mit funktionaler Umwidmung spiegeln den ideologischen Aspekt der neuen Bauaufgabe des Arbeiterklubs. (Das rassige Formelement des Dreikantprismas verwendete Nikol’skij noch später an seinem Leningrader Stadion „Rote Sportinternationale“ von 1927 und auch Gegello und Kričevskij ließen sich bei ihrem Botkin-Krankenhaus in Leningrad 1928-30 davon inspirieren.53)

Frühe Neubauten

Volkshaus in Bonjački

Einer der ersten Neubauten nach der Revolution stammt von den Brüdern Aleksandr und Viktor Vesnin. Dieses neoklassizistische Gebäude von 1918 steht indessen noch völlig in der Tradition des Ancien Régime und ist somit kein sozialistischer Arbeiterklub, sondern vielmehr ein Nachzügler aus der vorrevolutionären Volkshaustradition. Es belegt aber gewissermaßen als Bindeglied zwischen den Epochen die oft in Abrede gestellte Vorgeschichte des Arbeiterklubs und findet aus diesem Grund Erwähnung. Für die Arbeiter der ehemaligen Manufaktur Konova-lovskij im Dorf Bonjački (bei Vičuga im Gebiet von Ivanovo) hatten die Brüder Vesnin ein neoklassizistisches Volkshaus mit einer symmetrischen Fassade entworfen, in deren Zentrum eine Freitreppe unter einem sechssäuligen Portikus mit Dreiecksgiebel zum Haupteingang führt. Der Sockel und das Erdgeschoss sind rustiziert, die Traufe des mächtigen Walmdaches ist als jonischer Fries gestaltet. Diese eindeutig neoklassizistischen Signaturen zeigen nicht die Spur von revolutionärer Aufbruchstimmung und auch auf der Fassadenzeichnung wird der Maßstab in altertümlichen Saschen angegeben. Der Bau wird als „НАРОДНЫЙ ДОМ В СЕЛЕ БОНЯЧКАХ при фабриках Рос. Соц. Фед. Рес.“ (Narodnyj Dom v Sele Bonjačkach pri Fabrikach Ros. Soc. Fed. Res.) bezeichnet.54 (vgl. Abb. 1) Es ist also das Volkshaus in

Bonjački für die Fabrik der Russischen Sozialistischen Föderativen Republik. (Die spätere

52 Vgl. auch die Umwidmung des Dreifaltigkeits-Klosters in ein Museum (20. 4. 1920), der Kasaner Kathedrale

(1800-1811 von Andrej N. Voronichin) am Nevskij-Prospekt in das „Museum für die Geschichte der Religionen und des Atheismus“ (15. 11. 1933) und er Nikolaj-Kirche 1934 zum „Arktischen Museum“.

53 Abgebildet in Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde II, a.a.O., S. 248 und 249 (s. Anm. 3)

54 Vgl. Graefe, Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde I 1900-1923. Russisch-sowjetische Architektur, Stuttgart

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RSFSR war noch nicht gegründet.) Dieses durch und durch konservative Volkshaus führt noch die Tradition des palladianischen Villentyps fort. Erst die folgenden Bauten lassen einen deutlichen Wandel sowohl in bautypologischer als auch gestalterischer Hinsicht erkennen. Da dieser Entwurf von den Katalogautorinnen Chabarova, Evstratova und Tjurina als ausgeführt bezeichnet wird,55 liegt es nahe, ihn mit dem von Chlebnikov in demselben Dorf beschriebenen Volkshaus von 1915-25 (vgl. S.11) in Verbindung zu bringen. Indessen korrespondiert die Beschreibung Chlebnikovs (turmartige Treppenhäuser, Sporthalle) nicht mit der Vesninschen Fassadenzeichnung von 1918 und als Architekten gibt er Malinovskij an. Dass in dem kleinen Dorf aber zwei Volkshäuser dieser Größe errichtet wurden, scheint unwahrscheinlich. Mögli-cherweise führte Malinovskij die Vesninschen Pläne mit Veränderungen aus. Die Klärung dieser Frage kann aber in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, da sie für das Thema ideologisch motivierter Bauaufgaben von untergeordneter Bedeutung ist.

Klub des Šterovsker Elektrizitätswerks

Im Zusammenhang mit einer Kraftwerksplanung stand der Entwurf und Bau eines Arbeiterklubs von dem Leningrader Architekten Platon S. Baskov56: Der Klub des Šterovsker

Elektrizitätswerkes von 1926 im Industriegebiet des Donbass57. (Abb. 5) Die modern ge-krümmte, glatte Putzfassade wird durch einen geschwungenen Eckbalkon und drei Treppen-haustürme wirkungsvoll gegliedert, kann aber die eher konventionelle Bautechnik nicht ganz verleugnen: So wagt sich Baskov weder konsequent an das Flachdach noch an tatsächliche Fen-sterbänder eines Curtain-wall. Vielmehr sollen dunklere, zurückgesetzte Mauerscheiben zwischen den quadratischen Fenstern ein Fensterband vortäuschen.

Kulturhaus im Moskau-Narva-Bezirk, Leningrad

Wie unentschieden die Architekten in Leningrad mit ihrer traditionalistischen Ausbil-dung damals zwischen konventionellen und revolutionären Architekturauffassungen schwankten,

55 Vgl. Graefe, Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde I ..., a.a.O. (s. Anm. 54)

56 Platon Sokratovič Baskov (1898-1956), Studium am Leningrader VChUTEIN 1918-26, Spezialist für

Kraft-werksbauten

57 Vgl. Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde II ..., a.a.O., S. 181 [Original im Museum für Stadtgeschichte

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macht der Wettbewerb58 für das Kulturhaus im Moskau-Narva-Bezirk von 1925 klar. Der Bauplatz liegt auf der nordöstlichen Seite des Ploščad’ Staček (Platz des Streiks Nr.4) neben dem klassizistischen Narva-Triumphbogen von Stasov 1831/33.

Die Zuordnung dieser Einrichtung zu einem ganzen Stadtbezirk und die Bezeichnung „Kultur-haus“ macht klar, dass es sich um den größten Typ von Arbeiterklubs handelt, also eher um einen Kulturpalast. Sein Raumprogramm und seine Größe mögen an den unrealisierten Petrograder Wettbewerb von 1919 für den noch größeren „Palast der Arbeiter“ mit seiner hoheitlichen Symbolik erinnern; dennoch konkurriert die Bauaufgabe 1925 nicht mehr (wie 1919 aus ideologischen Gründen) mit dem Palast der Fürsten, sondern dient ganz realitätsbezogen vor allem der Erwachsenenbildung.59 Sein im Vergleich zu 1919 etwa halbiertes Raumprogramm umfasste ein Theater mit 1900 Plätzen, ein Kino mit 400 Plätzen, einen kleineren Vortragssaal, eine Bibliothek, Zirkelräume und eine Sporthalle.60

Der besonders durch neoklassizistische Arbeiten wie die Leningrader Smolny-Propyläen (1923-25 mit Gel’frejch und Golubev), die Moskauer Leninbibliothek (1928-52 mit Gel’frejch) und den neohistoristischen Ausführungsentwurf für den Sowjetpalast in Moskau (1934-36 mit Iofan und Gel’frejch) bekannt gewordene Vladimir A. Ščuko61 überrascht hier mit einer asymmetrisch-funktionalen Komposition.(Abb. 6) Auf Höhe des Narva-Tores werden ein- und zweigeschossige Baukörper mit liegenden Fensterformaten und niedrigen Walmdächern parallel zum Platzrand angeordnet, die mit wachsender Höhe in östliche Richtung zurückgestaffelt werden; so entsteht eine Platzerweiterung nach Osten, an der das sich konvex vorwölbende Hauptgebäude mit dem Theater liegt. Die im Erdgeschoss völlig aufgeglaste Eingangsfront wird durch zwei vorsprin-gende und wiederum großzügig verglaste Treppentürme mit parabolischem Grundriss gegliedert. Die kleine, hier einmündende Straße überbrückt ein eingeschossiger Verbindungstrakt mit durchlaufendem Fensterband. (Abb. 7) In dieser zweifellos eleganten, raumbildenden

58 Wettbewerbsentscheidung am 4. Juni 1925. Vgl. А. Петров, Е. А. Борисова, А. П. Науменко, А.В.

Повелихина, Памятники архитектуры Ленинграда, Ленинград Стройиздат 1975 (A. Petrov, E.A. Borisova, A.P. Naumenko, A.V. Povelichina, Pamjatniki architektury Leningrada, Leningrad, Strojizdat 1975) S. 530

59 Zur Genealogie des Arbeiterklubs vgl. D.W. Schmidt, Der sowjetische Arbeiterklub als Paraphrase des deutschen

Volkshauses, in: Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde II..., a.a.O., S. 85 (s. Anm. 3)

60 Vgl. Chan-Magomedow, Pioniere..., a.a.O., S. 435, 439 (s. Anm. 32)

61 Vladimir Aleksandrovič Ščuko (1878-1939), ausgebildet an der St. Petersburger Kunstakademie, errichtete schon

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tur verarbeitet der 47-jährige Architekt flache, an Frank Lloyd Wright62 erinnernde Elemente mit technizistischen Gittermasten und ornamentlos-glatten Körpern zu einem spannungsvoll gegliederten Baukomplex.63 Diese durchaus modern wirkende, formale und funktionale Qualität verleitete den St. Petersburger Kunsthistoriker Boris Kirikov zu der Auffassung, dass dieser Entwurf zu den „frühesten konstruktivistischen Arbeiten für Leningrad“64 zu rechnen sei, obwohl natürlich kein Zweifel daran besteht, dass Ščuko nie Mitglied einer Konstruktivi-stenvereinigung war. Indessen ist dieses Phänomen, dass ein konservativer Architekt vorüberge-hend progressive Ausdrucksmittel adaptiert, keineswegs ungewöhnlich.65

Im Entwurf des 17 Jahre jüngeren Noj A. Trockij66 sind die Baukörper ebenfalls der spezifischen Nutzung entsprechend asymmetrisch gestaltet und folgen so dem konstruktivistischen Prinzip der „funktionellen Methode“. Hinter dem noch expressionistisch anmutenden Duktus der Perspektivzeichnung67 verbirgt sich daher nicht allein eine gesteigerte Ausdrucksabsicht, sondern auch funktionales Denken. (Abb. 8) Trockij vertrat die Auffassung, dass „jede Form lakonisch und von maximaler Expressivität sein soll, sonst ist sie nicht modern.“68 Große horizontale und vertikale Glasflächen bestimmen den halbrunden Theaterkomplex, während das über einen konventionellen Zwischentrakt mit Lochfassade angeschlossene rechteckige Nebengebäude durch die Sonderform eines halbkreisförmigen Giebels hervorgehoben wird. Auch hier wird der Aufbruch in ein technisch bestimmtes Zeitalter über die Metapher der Antennenmasten symbolisiert.69 (Abb. 9)

62 Sein Frühwerk war durch die große Ausstellung von 1910 in Berlin und die Veröffentlichungen Ernst Wasmuths

1910 / 11 auch in Europa bekannt geworden.

63 Vgl. „Е.В. Васютинская, Владимир Алексеевич Щуко 1878/1939, Москва 1979“ (Vladimir Alekseevič Ščuko

1878/1939. Ausstellungskatalog des Staatlichen wissenschaftlichen Forschungsmuseums für Architektur, benannt nach A.V. Ščusev mit einer Einleitung von E.V. Vasjutinskaja, Moskva 1979), Abb. 24, S. 46 (Original im Museum der Geschichte Leningrads GMIL, IB-8494)

64 B. Kirikov, Die Architektur der Leningrader Avantgarde. Besonderheiten ihrer Stilentwicklung, in: Schädlich,

Schmidt (Red.), Avantgarde II..., a.a.O., S. 36 (s. Anm. 3)

65 Man vergleiche die Werkverzeichnisse der Russen Ščusev, Fomin, Iofan oder der Deutschen Behrens, Bonatz,

Kreis u.a.

66 Noj Abramovič Trockij (1895-1940), erbaute u.a. das moderne Haus des Moskau-Narva-Bezirkssowjets in

Leningrad 1930-34

67 Vgl. die Abbildung bei: Chan-Magomedow, Pioniere..., a.a.O., S. 439 (s. Anm. 32)

68 Hier zitiert nach: Mastera sovetskoj architektury ob architekture (Meister der sowjetischen Architektur über

Architektur), Moskva 1975, Bnd. 2, S. 395

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Im Gegensatz zu diesen beiden modernen Arbeiten stehen die axialsymmetrischen Anlagen von Aleksandr I. Dmitriev70 (Abb. 10) und von Aleksandr I. Gegello71, dem Wettbewerbssieger. In der als „Proekt No.IV glavnyj fasad“ (Abb. 11) bezeichneten othogonalen Hauptfassade Gegellos ist ein abgetreppter Kreissektor mit flachem Kegeldach vor dem Rechteck des geschlossenen Bühnenhauses gezeichnet; acht jeweils dreigeschossige Treppenhäuser sind in gleichmäßigem Abstand radial vor den Kreissektor gesetzt, der durch drei übereinander liegende Fensterbänder belichtet wird. In der farbigen Darstellung ist erkennbar, dass ein lebhafter Wechsel von Ziegelsichtmauerwerk und verputzten Flächen vorgesehen war. Dieser eigentümli-che, wohl am Zirkusbau orientierte Entwurf wurde indessen nicht ausgeführt. Stattdessen wurde das Projekt mehrfach überarbeitet, das Motiv der konzentrischen Abtreppung aufgegeben und eine der Ausführung nahe kommende viergeschossige Hauptfassade aus Glas zwischen flankierenden Treppentürmen und fünfgeschossigen Seitenflügeln als vertikale Platzwand geplant. Die aquarellierte Perspektivzeichnung (Abb. 12) zeigt Glasprismen in den Obergeschos-sen der Treppentürme, die auf Nikol’skijs Arbeiterklub „Der Rote Putilover“ von 1925 verweisen, aber offenbar nicht ausgeführt wurden.

Gegello realisierte sein Projekt bis 1927 zusammen mit David L. Kričevskij und V. F. Rajljana.72 Der kompakte nun durchgehend fünfgeschossige Baukörper umschreibt den Kreissektor des Theaters (Abb.13); der konservativ-repräsentativ gestaltete Innenraum (Abb. 14) deckt ein Architekturverständnis auf, das - von vorgefassten Struktur- und Formvorstellungen ausgehend - funktionale Entwurfskriterien allenfalls beiläufig berücksichtigte. So ist beispielsweise die Bühne von den runden Logen aus wegen zu hoher Holzbrüstungen nicht einsehbar und die Foyers sind zu gering dimensioniert, um in den Pausen allen Zuschauern Platz zu bieten. Die große, gebäudehoch verglaste und gekrümmte Mittelfront mit flankierenden Treppentürmen wird von sechs prismatischen Pfeilern vertikal gegliedert, die sich auch an den Seitenflügeln finden. Museum für Stadtgeschichte St.Petersburg, IB 4003 č]

70 Aleksandr Ivanovič Dmitriev (1878-1959) 71 Aleksandr Ivanovič Gegello (1891-1965)

72 Vgl. Н.П. Былинкин, В.Н. Калмыкова, А.В. Рябушин, Г.В. Сергеева, История советской архитектуры

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Diese wohl nicht im Detail, aber doch strukturell auf das Gestaltungsprinzip der Kolossalord-nung zurückgreifende Gliederung lässt sich als Reverenz an die St. Petersburger Klassizismus-Tradition deuten. Offenbar haben nicht nur dem Klassizismus entlehnte Ordnungsschemata, wie Symmetrie und Frontalität, sondern auch formale und städtebauliche Erwägungen am Ploščad’ Staček zu dieser Lösung für das heute als „Gor’kij Kulturpalast“ bezeichnete Kulturhaus des Moskau-Narva-Bezirks geführt. 1931 wurden im Hauptvestibül Kinokassen eingerichtet, die als Indikator der Wandlung des Kulturbetriebs vom Bildungsideal des Proletkult zur kommerziellen Unterhaltung angesehen werden kann. Aber nicht nur funktionale, sondern auch formale Veränderungen wie neue, dekorativere Portalverkleidungen aus poliertem schwarzem Granit kündeten nun von Geschmacksvorstellungen, die dem Proletkult fremd waren; dem gesteigerten Repräsentationsbedürfnis der späten Dreißiger Jahre indessen entsprach diese neoklassizistische Art-deco-Ausstattung. Wie Petrov vermerkt, wurde Gegello als Autor des Gor’kij-Kulturpalastes auf der Pariser Weltausstellung von 1937 ein „Grand Prix“ verliehen.73

Volkshaus V.I. Lenin in Ivanovo-Voznesensk

Ein weiteres Beispiel für die Phase des Übergangs und der Formfindung ist der Wettbe-werb von 1924 für das Volkshaus V.I. Lenin in Ivanovo-Voznesensk74, einer Industriestadt etwa 250 km nordöstlich von Moskau. Dieser Wettbewerb gewinnt seine Bedeutung durch die Teilnahme bekannter Konstruktivisten wie den Gebrüdern Vesnin (3. Preis)75, den Golosovs (mit M. Parusnikov)76 und V. Krasil’nikov (mit G. Vegman); auch der Rationalist V. Krinskij (mit A. Ruchljadev) und der konservative A. Belogrud (mit A. Udalenkova und N. Bezrukova) aus Leningrad nahmen teil. Den 1. Preis gewann Grigorij B. Barchin (mit M.G. Barchin).

Das Raumprogramm sah ein Theater mit 1.200 Sitzplätzen, einen Versammlungssaal für 400 Menschen, eine Bibliothek, Sporthalle und Klubräume vor, dazu ein Leninmuseum. 77

Zwei konträre Entwurfsbeispiele sollen hier - ähnlich wie beim Leningrader Kulturhaus für den

73 Petrov u.a., Pamjatniki Architektury..., a.a.O., S. 530 (s. Anm. 58)

74 1871 aus zwei bestehenden Siedlungen am Fluß Uvod’ gebildete Stadt mit Textilindustrie; heute Ivanovo.

75 Vgl. А. Г. Бархина, Г.Б. Бархин, Москва 1981 [Anna G. Barchina, G.B. Barchin, Moskva Strojizdat 1981,

(Reihe Mastera Architektury)], S. 41 (o. Abb.) und Вигдария Хазанова, Клубная жизнь и архитектура клуба 1917-1941 (Vigdarija Chazanova, Klubnaja žizn’ i architektura kluba 1917-1941), Moskva 2000, Abb. S. 28 oben

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Moskau-Narva-Bezirk - zunächst die divergierenden Auffassungen der Umbruchzeit charakteri-sieren:

Der damals 50-jährige Andrej Belogrud von der Leningrader Kunstakademie ordnet im Grundriss drei auf einer Symmetrieachse diagonal ineinander geschobene Quadrate an; im vorderen befindet sich das Theater, im hinteren der kleinere Versammlungssaal, während Bibliothek und Klubräume im mittleren Quadrat um einen winkelförmigen Hof herum Platz finden. (Abb. 15) Diese unfunktionale, gesuchte Plangeometrie und das festungsartige Er-scheinungsbild mit kleinen, monoton gereihten Fensteröffnungen konterkarieren die Ideale des Volkshauses als „öffentlich-heimischer Herd“ oder „Hochschule der Kultur“.(Abb. 16)

Die Jüngeren hingegen, wie Il’ja Golosov (1883-1945), Mitglied der OSA, oder Georgij G. Vegman (1893-1973) mit seinem Partner Vasilij A. Krasil’nikov (1899-1983)78 (Abb. 17) machen sich von traditionellen Formvorstellungen frei; sie entwerfen differenzierte Komplexe mit großen Fensterflächen und spielen mit technizistisch-konstruktiven Elementen auf den genius loci der Industriestadt an. Die Modernität ihrer Entwürfe zeigt sich sowohl in den durch kräftige Grundfarben klar gegliederten Fassaden, als auch in den funktionalen Grundrissen. So ordnet Il’ja Golosov die unterschiedlichen Nutzungen Theater, Vortragssaal und Bibliothek in einer differenzierten Raumfolge an, die auch von außen ablesbar ist.79 (Abb. 18) Der zweige-schossige Zuschauerraum hat sowohl im Parkett als auch auf dem Balkon die bewährte konkave Bestuhlung. (Abb. 19)

Der damals 44-jährige Wettbewerbssieger Barchin entwarf einen kreisrunden Theatersaal, der über einen flachen Verbindungstrakt mit Restaurant an die Bibliothek mit Lesesaal und den kleineren Vortragssaal angeschlossen war. Sowohl das große runde, als auch das kleinere quadratische Auditorium hatten eine konkave Bestuhlung. (Abb. 20) Der Modernität dieser funktionalen Organisation entsprach die völlig schmucklose Fassadengestaltung der additiven Komposition aus stereometrischen Baukörpern.80 (Abb. 21)

78 Abgebildet bei: Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde II ..., a.a.O., S. 179, Abb. 194, 195 (s. Anm. 3) [Original in

der Privatsammlung Ch.-M.]

(30)

Einfluss auf die Region

Diese konstruktivistische Architektursprache beeinflusste nicht nur die Arbeiterklubs der Umgebung, wie die in Sereda und in der Siedlung Navoliki (Abb. 22), beide 1927-29 von N. Barykin81, den für das „Tomna“-Werk in Kinešma aus der gleichen Zeit von P. Trubnikov und den für Jakovlevskoe (heute Privolžsk) 1929 von M. Babickij82 (Abb. 23), sondern auch die folgenden Wettbewerbsarbeiten und Studentenentwürfe für Typen-Klubs.

So knüpft etwa M. Ja. Ginzburg 1925 mit seinem Entwurf für einen Palast der Arbeit in Rostov am Don an Golosovs Projekt für Ivanovo-Voznesensk von 1924 an und führte die Ideen einer klaren funktionalen Trennung der Nutzungseinheiten einerseits und ihrer Ablesbarkeit von außen andererseits weiter. (Abb.24) Die von Chan-Magomedov aus den Wettbewerbszeichnungen von Ginzburg und Golosov (mit B. Ulinič)83 übernommene Bezeichnung „Palast der Arbeit“ (ДВОРЕЦ ТРУДА) scheint zunächst auf ein Pendant zum Moskauer Palast der Arbeit von 1923 zu deuten, also auf keinen Arbeiterklub. Indessen scheint dies lediglich auf die allgemein noch unklare Begrifflichkeit zurückzuführen zu sein, denn die in den Ansichtszeichnungen erkennba-ren weiteerkennba-ren Beschriftungen weisen deutlich auf die Funktionen des Arbeiterklubs hin: КЛУБ, СТОЛОВАЯ, СПОРТ, БОЛЬШОИ ЗАЛ, МАЛЫИ ЗАЛ, ТЕАТР, КИНО (Klub, Speisesaal, Sport, großer Saal, kleiner Saal, Theater, Kino)

Versuche der Typenbildung (Entwürfe)

Industrialisierung und „sozialistische Rekonstruktion“ der Wirtschaft

Auf dem April-Plenum des ZK der KPdSU (B) vom 6.-9. April 1926 wird die wirt-schaftliche Situation des Landes diskutiert und ein weitreichendes Programm für die

81 Barykin baute 1927-29 auch den Arbeiterklub „Zehnjähriges Oktoberjubiläum“ für die Arbeitersiedlung

Novo-Piscovo.

82 Vgl. Igor’ N. Chlebnikov, Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre im Industriegebiet von

Ivanovo-Voznesensk. Sozialutopische Aspekte und die Avantgarde, in: Schädlich, Schmidt (Red.), Avantgarde II ..., a.a.O., S. 49 (s. Anm. 3)

83 Weitere Wettbewerbsteilnehmer waren B. Koršunov, S. O. Ovsjannikov, A. Grinberg, P. Alešin (mit V.

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sierung beschlossen.84 Mit einem am 25. April 1926 in der Parteizeitung „Prawda“ veröffent-lichten Aufruf eröffnet das ZK die Agitation um die so genannte „sozialistische Rekonstruktion“ der Wirtschaft.85 Die erste umfassende Volkszählung vom 17. Dezember 1927 ergibt, dass zwischen 1923 und 1926 die städtische Bevölkerung um durchschnittlich 5% pro Jahr gewach-sen ist. Von 147 Millionen Sowjetbürgern werden 5,6 Mio. als Arbeiter, 3,9 Mio. als Angestellte gezählt.86

Für die Architekten bedeutet dies einerseits, dass sie ihre Bemühungen um wirtschaftli-chere Baumethoden (Typisierung, Vorfertigung, Industrialisierung) weiter intensivieren müssen, andererseits müssen sie auch bautypologisch auf die enorm anwachsende Zahl der vom Land in die Städte migrierenden Arbeiter reagieren. Dies geschieht einerseits im Wohnungsbau (vgl. das Kapitel über Kommunehaus, „Revolution im Wohnungsbau“, S. 28 ff.), andererseits begleitend mit dem Arbeiterklub, in dem die so dringend für erforderlich gehaltene Erwachsenenbildung stattfinden soll.

In den Jahren 1926 und 1927 beschäftigen sich vor allem die progressiven Architekten systematisch mit dem Arbeiterklub, den sie ähnlich wie das Kommunehaus für einen wesentli-chen Beitrag der Architektur beim Aufbau des sozialistiswesentli-chen Gesellschaftssystems hielten. Darin spiegelt sich einerseits die Überzeugung, Architektur könne Bewusstsein und Lebensweise ihrer Nutzer nachhaltig in gewünschtem Sinne beeinflussen, andererseits das Vertrauen auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Schon 1925 hatte der Heimatdichter S. Čelnokov in der Zeitung „Рабочий Край, Rabočij Kraj“ (dt. „Arbeiterland“) über die Umgestaltung der Lebensweise mit Hilfe der Architektur geschrieben: „Wir schlagen die alte Lebensweise mit Arbeiterklubs, Kinderkrippen, Fabrik-Küchen...“87

Im Versuch der Typenbildung von Klubs werden auch Charakteristika der sozialistischen Ideologie deutlich:

1. Der Gleichheitsgedanke: Für sich gleichende, ähnliche Zwecke sollte die gleiche Architektur bereitgestellt werden. Ein zwar nahe liegender rationaler Gedanke, der aber die Gefahr der

84 Vgl. Hösch, Grabmüller, Daten der sowjetischen..., a.a.O., S. 65 (s. Anm.5) 85 Vgl. Hösch, Grabmüller, Daten der sowjetischen..., a.a.O., S. 66 (s. Anm.5) 86 Vgl. Hösch, Grabmüller, Daten der sowjetischen..., a.a.O., S. 68 (s. Anm.5)

87 Hier zitiert nach Igor’ N. Chlebnikov, Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre im Industriegebiet von

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Monotonie in sich birgt. So erklärt sich auch, dass der Individualist Konstantin Mel’nikov sich konsequenterweise nicht an der Entwicklung von Typengrundrissen beteiligte.

2. Die Suche nach wissenschaftlichen Begründungen in allen Lebensbereichen: Nicht nur für die Gesellschaftstheorie (des „wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus“) suchte man nach unumstößlichen Wahrheiten, sondern auch in der Architekturtheorie. Schon die Kommune-haus-Idee basierte auf der Überzeugung, objektiv gültige Maßstäbe mit Hilfe wissenschaftli-cher Methoden auch in der Architektur finden zu können.

Hochschulen und Gewerkschaften: Entwicklung von Typenklubs

Sowohl Konstruktivisten als auch Rationalisten entwarfen für den Wettbewerb der MAO88 von 1926/27 so genannte „Typen-Klubs“.89

Diese Idee der Typisierung konnte natürlich nur dann erfolgreich sein, wenn man sie auch in der Architektenausbildung propagierte. Deshalb wurde der Typenklub zu einer wesentlichen Entwurfsaufgabe für die Studierenden an den Hochschulen. Schon 1925 hatte die Kulturabtei-lung des Zentralen Allunionsrats der Gewerkschaften (ВЦСПС - VCSPS) ein 24-Punkte-Programm zum Bau von Arbeiterklubs unterschiedlicher Größe entwickelt und die Architektur-abteilung des MVTU beauftragt, entsprechende Typenentwürfe zu erarbeiten.90 Die bei Rejnberg präzise (mit qm-Zahlen) genannten Raumgruppen umfassten Auditorium, Sporthalle, Zirkelräu-me, Komsomolzenzimmer, Kinderhort, Bibliothek und Lesesaal, Aufenthaltsraum (oder Raucherzimmer), Foyers, Projektionsraum für Filmvorführungen, Ausstellungsraum mit Lenin-Ecke, Pionierzimmer, Speisesaal und Buffet, Bühne mit entsprechenden Nebenräumen, Räume für die Verwaltung, Toiletten und Duschen, sowie ein Vestibül mit Garderobe.91

In den VChUTEMAS-Ateliers bei Ladovskij und El Lissitzky entstehen kompaktere

88 Московское Архитектурное Общество, Moskovskoe Architekturnoe Obščestvo (Moskauer

Architekturge-sellschaft)

89 Die Typenklubs waren offenbar für die Gewerkschaften der Eisenbahner und der Zuckerarbeiter gedacht. Vgl. Iz

«programmy otkrytogo konkursa na sostavlenie eskiznych tipovych proektov klubov, ob’javlennogo Central’nym komitetom železnodorožnikov i Moskovskim architekurnym obščestvom», Moskva 1926 (Die Programme des offenen Wettbewerbs für die Sammlung von Skizzen für typische Klub-Projekte, bekanntgemacht vom Zentralkomitee der Eisenbahner und der Moskauer Architekturgesellschaft) (s. Anm. 47)

90 Vgl. Л. Рейнберг, Проблема клубного строительства (L. Rejnberg, Problema klubnogo stroitel’stva), in:

Призыв (Prizyv) 1925, Nr. 6, S. 53

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