Hefte für Büchereiwefen
Mitteilungen
der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen
Geleitet
vonWalter Hofmann
7.Band
Verlag: Felix Dietrich, Leipzig
Abteilung B: Die BücherhallexHeft
2Bücherberichte
aus den Städtischen Bücher-halten zu Leipzig Anschaffungs- und Ablehnungsvorschläge
Vorbemerkung
Die Preise beziehen sich, soweit nicht
andersangegeben, auf die broschierten Eremplare. Bei
derandauerndenPreisrevolution im Buchhandel
kanneine Ge- währ für
dieGültigkeit
derPreise nicht übernommen
werden.Bei abgelehnten Büchern unterbleibt
diePreisangabe.
—Um kürzereBerichte bequem in
denBuchkartenpräfenzkatalog
einarbeiten zukönnen,
werdenvondenBücherberichten auch einseitig
bedrückteAbzüge hergestellt.
VonausführlichenBerichten stellen
dieLeipziger Bücherhallen für ihren Bedarf kurze Auszüge für
denBuchkarten- katalog her; Büchereien,
die derZentralstelle angeschlossensind, können Abs chriften dieser Auszüge
gegenentsprechende Gebühren beziehen.
Schöne Literatur (Geprüft
vonGustav Morgenstern)
Angenommen
Ludwig Brinkmann, Aus meiner Bergwerkszeit. Frankfurt
a.M»
1921, 1922,
Nüttenckc Loening. Geb. je
100M.
I.
Band: Silber.
2.Auflage. 380 Seiten.
«
2.
Band: Blei.
333Seiten.
Beide Bücher hämmern
denSatz
ein:dieeinenhaben
dieIdeen, die anderen
haben
dasGeld,
unddieIdeen
könnennoch so gut sein,
wenn dasKapital »sich
38 AbteilungB:DieBücherhalle
ihnen entgegenstellt, kommen sie nicht
zurAusführung. Im ersten Bande
unter-nehmen
es dreijunge Leute,
einverlassenes merikanisches Silberbergwerk
wieder zuerschließen
— derKapitalist,
derihnen
dasGeld gibt, hindert sie
inihrer
Ar-beit
undvernichtet schließlich ihr Werk,
da esnicht mehr
infeine Pläne hinein- paßt. Im zweiten
Bandfaßt
derMadrider
Vertretereiner deutschenGroßaktien- gesellschast
denkühnenPlan,
einenansehnlichen Teil
vonspanischen Bleigruben
demdeutschen Kapital
zusichern,
umzuseinem Teil
der,,wirtschastlichen
Ein-kreisung Deutschlands-«entgegenzutreten, ist
dankseinen Bergwerkskenntnissen zunächst
vomGlück begünstigt-,scheitert
aberanderEngstirnigkeit
derLeitung seiner Gesellschaft,
und diebereits
erworbenenBergwerksrechte fallen französischem Kapital
zu.Beide Aktionen
werden inderForm
vonkurzen Tagebuchaufzeich-
nungengeschildert;
inbeiden Fällen identisiziert sich
derVerfasser mit
dembe-richtenden unternehmungsiusiigen Ingenieur. Jn beiden Büchern,
dielose
zu-sammenhängen,
wird derJngenieur als
ganzvonseinen Plänen
inAnspruch
genommengeschildert, sein außerberuflichesLeben fast
ganzbeiseitegelassen,
und wodavonabgewichen
undderErotik
Raumgewährt wird, geschieht
esnicht gerade
zumVorteil
desGanzen.
Sosind
dennbeideBücher
in derHauptsache Geschichten zweier großer geschäftlicher Unternehmungen, gesehn durch
dasTemperament eines lünstlerisch
undspekulativ veranlagten Jngenieurs,
derdie Rechte seines Berufs gegenüber
demKapital vertritt, nicht
aberRomane imüblichenSinne,
indenendaspersönlicheSchicksal
desIngenieurs
imMittelpunkt stehn
würde.Beide Bücher
wendensich
mitdeutlicherAbsicht
andentätigen, schaffendenMann,
dermitten
imwirtschaftlichen
LebenderGegenwart steht
undsichmitdessen Pro-
blemenherumschlägt,nicht
anBeobachternaturen
undFrauen: »Die Tage
derEpen
vonJagd
undkriegerischer
Tatsind
vorüber. Dasewige Liebesgeleier widert
unsalle
an.Wir brauchen
denunsterblichen Gesang
vondemKampfe unsrer Tage,
derwirtschaftlichenWelteroberung.« Diese Tagebuchnotiz (Blei, S. 36) kennzeichnet Brinkmann als großbürgerlichen Nachkommen
derRealistengeneration
von1885
undläßt zugleich
dieGrenzen seines Schaffens ahnen, die noch weiter- hin dadurch bestimmt werden, daß
erbei aller Betonung
derRechte
desschöpferi- schenMenschen
demGeiste
desUnternehmertums verbunden bleibt
undin beidenBüchernschließ.ich nicht
zurentschlossenenAbsage, sondern
zurResignation gelangt.
Trotz schwerer künstlerischer Mängel,
diehauptsächlich
darinwurzeln, daß
derVerfasser
denCharakter selbstbiographischerBekenntnisse nicht streng wahrt
undstellenweise sein Werk romanhaftausputzen
zumüssen glaubt, empfiehlt sich
dieAnschaffung
derbeidenausgesprochnen Zeit- undMännerbücher.
Diehier
ver- tretneAuffassung
desschaffenden Jngenieurs
und desSchaffenden überhaupt
gegenüber
demKapital,
anspannenden geschäftlichen Abenteuern
undKatastrophen
aufgezeigt, wirkt trotz
desMangels
anKonsequenz anregend, interessiert
dieJn-
tellektuellen wie die Arbeiterschaft, die, soweit sie sozialistischist, freilich
denStand-punkt
desVerfassers
alsHalbheit ansehn wird. Außerdemkommt beiden Büchern
zugute, daß
zurZeit
dasInteresse für Spanien
undMeriko gesteigert ist.
AlsLeser kommen fast ausschließlich Männer
inBetracht, Ingenieure, Kaufleute,
Volkswirtschaftler, Auswandrungslustige,
undalleLeser Epths,
diehier
einen modernerenJngenienrtypus gezeichnetsinden.
l
Leipziger Bücherberichte 39
Das
erste Buch (Silber) ist
1911unterdemTitel: Die Erweckung
derMaria Earmen(so heißt
diemerikanische Silbergrube,
die wiedererschlossen
werdensoll) erschienen
undmehrfach in sozialistischenZeitungen abgedruckt
worden.Ernest Poete, Der Hafen. Einzigberechtigte Übertragung aus dem Eng- lischen
vonHermynia zur Mühlen. Berlin-Fichtenau
192o,Verlag Gesellschaft und Erziehuug. 500 Seiten.
etwa 50M.
Der Hafen ist
der vonNew York.
Erwandelt sichim Laufe
derZeit; nochmehr aber wandelt sich
derSchriftsteller,
der vonJugend auf sein Bild in sichaufnimmt.
Dem Knaben ist
erdasgeheimnisvoll Abschreckende
undLockende,
demwerdendenSchriftsteller
derunerschöpfliche Stoff,
demauf
derHöhe
desErfolgs stehenden Zeitungsmann,
derindenBannkreis
dergroßen
Männer derBank, Industrie
nndTechnik geraten ist,
das,,Symbol
derMacht
desGeistes über
dieMaterie,
desAufblühens einer Welt, die stark, duldsam
undgroßziigigvordringt,
dieMenschen mit sichreißend.« Aber
dabeibleibtes nicht.
DerSchriftsteller
erlebteinen großenStreik
derDockarbeiterz
dieMasse, auf die
erfrüherhochmütigherab- gesehen hat, gewinnt für ihn Leben,
undderHafen
wirdihm
dasSymbol
deralle Träume
derArbeiter
der ganzenWelt zusammenfassenden Kraft, die allmäh- lich, unaufhaltsam sichentwickelt
unddie Weltumgestalten
wird.Diesin
großen Zügen
derInhalt
dervierBücher dieses bedeutsamen
ameri-kanischenRomans,
derUpton Sinclairs schreiendepropagandistischeSchriftstellerei weit überflügelt.
DieAufgabe,
denAufstieg
desDichters
vomArtisten
undDar- steller seiner Privatschmerzen zum Parteigänger
undSklaven
dergroßkapitalistischen Zlvilisation
undschließlich zum Erkenner
undFormer
derUrkraft
zuschildern,
die dieWelt revolutioniert, ist
zwarnicht in
denEinzelheiten gelöst,
abermit hin- reißenderKraft
undLeidenschaftgestellt
undangepackt,
undderGedanke,
dieEnt- wicklung
desSchriftstellers sich
inseinem Verhältnis
zu demWelthafen spiegeln
zulassen, ist überaus fruchtbar
undgibt
demRomansein besonderes Gepräge.
Mit Büchern
wiediesem, so unvollkommen sie
imEinzelnen sein mögen, läßt sich
derEinfluß
derDekadenzromane erfolgreich bekämpfen.
Als Leser kommen nicht
alleinsozialistischeArbeiter in Betracht, die natürlich
dieSchilderung
desgroßen Streiks im dritten Buch besonders fesselnwird, son-
dernalle,
diefür Leben
undKunst eine
neueGestaltung herbeisehnen
undeinen
neuenGlauben suchen,
derfest.
indieser Welt wurzelt.
Die Übersetzung ist leider ohne künstlerische Kraft
undobendreinnoch schlecht durchgesehen.
Johan Bein-, Dyrendal. Roman. Berechtigte Übersetzung aus dem Norwegischen
vonJ. Sandmaier. München
1922,Georg Müller.
367 Seiten.
IooM.
Die stolze, verbitterte Martha Ersland heiratet ihrer Familie
zumTrotz
denübelbeleumundeten Hans Lia,
denKraftkerl, Säufer, Vagabunden,
derheute beim
Pferdehandel viel
Geldverdient,
morgen es vertut.Sie bringt Ordnung in sein
Leben, nimmt
denKampf mit seinen übeln Neigungen auf, arbeitet sich mit ihm
empor undscheint
desSieges sicher, als sie
dasgroßeGut-Dyrendal erwerben,
40 AbteilungB:DieBücherhalle
es
schuldenfrei wirtschaften
undAnsehn
inderGesellschafterringen.
AberderBesitzmacht
diebei nicht froh. Sie haben keine Kinder
undsorgen sich-
wemsie
dasGut hinterlasssssollen
Sienehmen
denSohn einer Verwandten ins Haus,
umihn zu ihrem Sohn
zuerziehen. Aber Nils bleibt seiner Familie verbunden,
undals
erherangewachsen ist, hält ihn nichts auf Dyrendal als
dieAussicht,
ein-mal Herr
desAnwesens
zu werden. Ererreicht es, daß ihm die beiden Alten
denHof verschreiben
undübergeben.Sobald
das abergeschehn,entspinnt sichein Kampf
umdie Macht,
derdamit endet, daß die beiden
vomHofe weichen müssen.
Nunbeginnen sie im Alter
vonneuem dasRingen
umAnsehn
undBesitz. Aber
demManne fehlt
nunderWagemut
derjungen Jahre;
esgelingt ihm nicht, wieder
in dieHöhe
zukommen. Noch einmal scheint es,
alssolle ihr Leben sichaufwärts heben. Ein unehelicher Sohn
desHans,
inAmerika ein reicher
undmächtiger
Manngeworden,
meldetsich
indemGlauben, sein Vater sei ein reicher stolzer Bauer,
unddie Alten bauen wieder Zukunftspläne. Der Sohn aber, wie
erzuBe- suchkommt,,isi enttäuscht, als
erarmselige, schwerringende Kleinbauern vorsindet.
Man
versteht sichnicht; der«Amerikaner, kalt, hochmütig,zieht wieder seiner Wege.
Und
die Alten schleppenihr Leben weiter,«jeglicher Illusion
bar.Dieser Lebenslauf erhält
einebesondre Beleuchtung durch eine Episodensigur,
derenSchicksal
baldenger,bald loser
mitdemSchicksalDyrendals
undseiner
Be-wohner verknüpftist. Als Hans Lia Dyrendal übernommen hat, kommt
einHüte- junge auf
denHof,
KnutHamren,
dereinaufgeweckterBursche
mitphantastischen Plänen ist.
Erist zunächstHans Lias Freude,
aberals Nils ins Haus kommt, weiß dieser ihn wegzubeißen,
unddannhören
diebeiden Alten erst nach Jahren
wieder vonihm, als
ersich
zumArbeitersiihrer emporgearbeitet hat.
Undnunbildet sich
eineigenartiges Verhältnis zwischen ihm
unddenAlten, die ihn zweifelnd
an-staunen
undbewundern,
demdasLeben einenphantastischen Ausstieg gegönnt hat.
Das
Herz
desDichters ist
beiHans Lia
undKnutHamren,.den Männern
mit denphantastischenZielen
unddemeigenartigen Humor. Er schildert sie mit
derAnteilnahme Björnsons,
vondessenArt
erausgegangen sein
mag,seine Sym- pathien stark betonend, aber zugleich stärker
vonseinen Personen Abstand nehmend
alsBjörnson, dessen Optimismus ihm abgeht. Die Freude
anderKraft, die sich ungebärdig äußert und,
wenn esabwärts geht, sichtrotz allem behauptet, leuchtet durch
dasganzeBuch,
dasdeshalb auch nicht niederdrückend wirkt, trotz
desAus-gangs. Daß
derDichter sichseinen Phantasten
undAbenteurern verwandt fühlt
undsie doch auch überschaut, schafft
inAuffassung unb Darstellung
eineneigen- artigen Humor,
derzugleich derb, nachdenklich
undgütig ist.
Ilmari Kianto, Der
roteStrich. Roman. Aus dem Finnischen über- tragen
vonGustav Schmidt.
Z.Aust. Dresden
u.Leipzig 1920, Hein- rich Minden. 128 Seiten. 8,75 M.
Jn
dieeinsamen KätnerstubenFinnlands dringt
zu denArmen, die
wederleben
noch sterben können, die Kunde, daß
derTag
derFreiheit angebrochen sei
und MannundWeibdasRechterlangt hätten,
über dieZusammensetzung
derVolks-
vertretung
zuentscheiden.
Undgleichzeitig kommen die Sozialisten
undpredigen
dieErlösung
derMenschheit
ausKnechtschaft
undArmut.
DieKätnerundihre
Leipziger Bücherberichte 41
Frauen beginnen
ausihrer Dumpfheit
zuerwachen, sie wähnen
dasHeil nahe- bevorstehend
undschreiten mit unbeholfenem Ernst gläubig
zurWahl;
nunmuß bald alle Qual ein Ende haben. Aber
derSieg läßtauf sichwarten,
unddie Kinder siechendahin
undsterben,
undder ausdemWinterschlaf erwachenderussische
Bärraubt
desVieh
undtötet
denMann. Hinter
derFensterscheibe
derKate aber starrt
dasblasse, entsetzteGesicht eines kleinen Mädchens in
dasGrausige hinaus.
Die Menschen dieses kleinen Zeitromans sind zugleichEinzelwesen,Volkstypen
undZeittypen. Sie stehn in
dersinnischen
Naturundsind
inihrer Armseligkeit
undHoffensbereitschaft
vonderdrohenden Atmosphäre
derNevolution umgeben.
Das
Einzelschicksal,
ansich rührend
undergreifend, erhält durch
dieEinordnung
ingrößerenZusammenhang tiefere Bedeutung.
Besonders für proletarischeLeser geeignet
undsolchenbereits im Feuilleton
derLeipziger Volkszeitung dargeboten. Die Übersetzung wirkt unbeholfen
unddürfte solchen,
diesichnicht leicht
infremde
Natur undfremde Sitten hineinsinden,
dasLesenerschweren.
Alexis Kivi, Die sieben Brüder. Roman. Aus dem Finnischen über- setzt
vonGustav Schmidt. Dresden
u.Leipzig
192I,Heinrich Minden.
292
Seiten. Geb. 43,5o M.
Alexis Kivi (1834—187o) gilt für
denbedeutendsten sinnischen Dichter
derersten
dreiViertel
des19.Jahrhunderts
undsein
RomanDie sieben Brüder fiir
einklassischesWerk. Es ist nicht leicht
zukennzeichnen.Es erzählt
vondenSchicksalen
dersieben Söhne
dessüdfinnischenBauernhofs Jukola, die, nachdem sie Vater
undMutter verloren,
wildheranwachsen, Raufbolde, Säufer, arbeitsscheueLand- sireicher
unddabei große Kinder, die immer
mitdem heimischenBoden,
denhei- mischen Wäldern,
denheimischen Sagen verwachsenbleiben. Sie verprügelndie Jungmannschaft eines Dorfs, ziehn aber gleichzeitig
zumKüster,
umwie die Schul-
bubenlesen
zu lernen. Siesausen sich toll
undvoll, arbeiten
dannaber
denRausch
wiederausdenGehirnen heraus.
Siesind gottlos
undfromm, grob
undzart. Es bedarf nicht viel,
umsie
zureizen;
esbedarf
aberauch nicht viel,
umsie
zuzähmen. und so
werdensie
dennschließlich
allesieben tüchtigeBauern
undHausväter.
Vondiesen sieben Brüdern erzähltKivi mit Behagen wie
vonVolks- helden. Ihr Saufen, Raufen, Schuften und Lungern schildert
ermit
demsaftigen derben Humor eines Rabelais
undFischart,
underverwebtsie so mit Volksglauben, heimischer
Natur undSage, daß
derlocker gesügteRoman
zumVolksbuch wird.
Mit
denMaßstäben
desmodernen Entwicklungsromans darf
man dasBuch nicht messen. Man muß sich
andeneinzelnen Bildern freuen können,
umeszugenie- ßen, darf nicht lückenloseseelischeEntwicklung verlangen, darf sichauch nicht
daranstoßen, daß
derepischeFluß
derDarstellung häusig durch lange Dialoge
unter-brochen wird.
Wennman demBuche seinen eignen Stil zugesteht, wird
manseine kernige, launige, zarte, übermütige
undzugleich volkserzieherische Art genießen.
Leser
vonJeremias Gotthelf, Raabe, Keller werden, soweit sie die Geduld haben,
sich
in einefremde Volksseele
undihren besondern Humor zu versetzen,
amehesten
dasBuch liebgewinnen.
DieÜbersetzung isi
leiderziemlich pedantischsund offen-
barmehr
genauals echt.
42 AbteilungB:DieBücherhalle
Kudolf G.Binding, Unsterblichkeit. Novelle. Frankfurt
a.M» 192»2, RüttenckcLoening. 66 Seiten. Geb. 35 M.
.
Ein stolzes, unnahbares standrisches Edelfräuleinhat
imKrieg
einekurzeBe-
gegnungmit
demgefeierten Führer einer feindlichenJagdstaffel. Jm
Banneseines Wesens fühlt sie sich
zumerstenmale
inder Gewalt
einesMannes
undkann sich
vondiesem Erlebnis nicht mehr befreien. Auch als sie im Frieden
dieFrau
einesLandsmanns geworden ist,
densie liebt. Der Flieger ist
ineinem Kampf über
demMeer Verschollen.Seitdem hat
derAnblick
desMeers mystischeGewalt über sie,
undals sie
zuBeginn
einerSchwangerschaft
voneinerWoge
amStrande über- spült wird, setztsichin ihrem Gemüt
derGlaube fest,
dasKind,
dassieträgt, habe sie
vondemFlieger empfangen,
dereinenAugenblick ihr Wesen bezwungen.
DieUmwelt, Gatte, Vater, Freundin, hält sie für krank
undverbannt sie,
zuihrer Heilung,
vomMeer.
Dageht sie mit
demSohn
indie Wellen.
Eine mit sichererKunst,
diedie Kraft
derAndeutung kennt, erzählteNovelle
vongroßem Reiz für reife Leser, namentlich Frauen.
Dasheikle Thema ist
mitherber Kraft durchgeführt.
Diedrich Speck-nimm Jan Murken. Erzählung.
12.—33.Tausend.
Berlin
1922,Martin Warneck. 336 Seiten. Geb. 140 M.
Jan Murken ist
einKnecht
imHannoverschen,
Endedes 18.Jahrhunderts,
der inseinem Dorfe nicht vorwärts kommt.
Erist als Jungfernkind trotz seiner Tüch- tigkeit nicht geachtet,
unddaergelegentlich
einenBauernburschen nach Verdienst durchprügelt,setzt
esdessen
Vaterdurch, daß
derUnbequeme vierzehn Tage ins Gefängnis
wandernmuß."Diese Strafe ist
abersein Glück. Während seiner Haft wird
derAmtmann auf ihn aufmerksam,
derdasTüchtige seiner Art erkennt. Es ist gerade die Zeit,
woin Hannover
dieMoorkultur beginnt. Jan wird dazu
ge-bracht, Moorkolonist
zu werden.Er erarbeitet sichHaus
undHof
undwird in seiner
Gemeindedie führendeKraft.
Der
Verfasser lebt
undwebtin derGedankenwelt
desObrigkeitsstaats
pa-triarchalischer Form.
DerMann sollfrei sein auf seiner Scholle, aber
inTreue
untertanseinem König,
derKirche
undderObrigkeit;
danngeht
es demManne gut,
undderStaat gedeiht. Aus dieser Gesinnung ist
dasBuch entsprungen,
undihrer Befestigung dient
es.Die Form
derDarstellung steht
etwaauf
derHöhe
derKalendererzählung guten alten Stils,
dieandenLeser keine hohen Ansprüchestellt, aber auch nicht mit be- denklichenMitteln arbeitet.
Siedenktnicht
anFeinheiten seelischer Schilderung
undnicht
angenauegeschichtlicheFarbgebung,
daebenderschlichte bäuerliche Pflicht-
undTatmensch verherrlicht
werdensoll,
derkeinverwickelter Charakter isi
undin denJahrhunderten sichgleich
bleibt.Jn ländlichenKreisen, die
amAlten hängen,
wirddasBuch
gernundohne Schaden gelesen
werden.Jn
derGroßstadt fesselt
eswohl Kreise, die
denSied- lungsgedanken pflegen
unddieromantischeSehnsucht nach eigner Scholle
und·
einfachen, patriarchalischen Verhältnissenhegen; sie
werdenesals tröstliches,
dieGesinnung siärkendes Jdpll genießen.
Leipziger Bücherberichte 43
Wenn
Speckmann
indenBücherhallen
vertretensein soll, verdient
esdieses Buch eher angeschafft
zu werden alsetwaHeidehof Lohe,
dainJan Murken
dieTendenz
desVerfassers
dempolitischen Tageskampf
entrücktist
undalso
denParteicharakter verliert.
i
Paul Verlaine, Gesammelte Werke, in zwei Bänden herausgegeben
vonStefan Zweig. Leipzig
1922,Insel-Verlag Halbleinen 250 M,
I.Band: Gesammelte Gedichte. Eine Auswahl der besten Über- tragungen. 359 Seiten.
2.
Band: Lebensdokumente. 415 Seiten.
Die
große Zahl
vonmodernendeutschenDichtern,
dieversucht haben, Gedichte Verlaines nachzubilden, beweist,
wiestark
vonjeher
dieTeilnahme
amSchaffen dieses französischen Lyrikers gewesen ist, dessen Gedichte noch
amehesten
derVor-stellung entsprechen,
die derDeutsche
vonmusikalischerStimmungslyrik hat. Mit
derZeit hat sich wohl, wie
dieEinleitung Zweigs erkennen lätzt,
dieBeurteilung
derPersönlichkeitVerlaines gewandelt
—-in demselben Maße,
wieüberhaupt
dieBohemebegeisterung
derZeit
vonetwa1890 verblaßtist.
Umso stärker
wirddieKünstlerschaft
derbesten Zeit seines Schaffens,
wirdnamentlich auch seine reli- giöse Lprik
anerkannt.Zweigs Buch verfolgt
einendoppelten Zweck.Der erste Band
— die
Ausgestaltung eines früheren Unternehmens
— willeinGesamtbild
derVerlaineschen Lyrik geben
mitstarker Betonung
derfrüheren Perioden seines Schaffens
undbeinahe völliger Mißachtung
derProduktion seiner letzten Jahre.
Der
zweite Band bringt die autobiographischenSchriften
unddazu
vonFreundes- hand eine Schilderung
derletztenJahre
desDichters, also
imganzen
einintimes Porträt
desMenschen
inseiner
ganzenSchwäche,Liebenswürdigkeit
undVer-lotterung.
Der
erste
Bandersetzt
diebeidenGedichtauswahlen,
diewirbereits besitzen
«
undnun bei
Verbrauch nicht mehr
zuersetzen brauchen.
DieArtVerlaines, be- sonders seiner Erotik, empsiehlt es,
dieGesamtausgabe
unterSchöneLiteratur
IIIeinzureihenz Unreifen Lesern dürfen beide
Bändenicht in die Hände gegeben
werden,auch
dererste nicht,
dereinige sehr dekadente erotische Gedichte enthält.
Abgelehnt
Ludwig Thoma, Die Dachserin und andere Geschichten aus dem Nach- laß. München 1922, Albert Laugen.
Eine
Sammlung verschiedenartiger
undsehr verschiedenwertiger Stücke. Am
wertvollsten
dasletzte
undgrößte: Mai-geh
dieGeschichteeiner bäurischenBraut-
werbung, die umständlich
undwenig originell einsetzt, aber
einenschönen,reinen,
idyllischenSchluß hat.
Sieist offenbar nicht
ganzdurchgefeilt, könnte aber neben
denAgricola-Geschichten,
derHochzeit
unddemRuepp wohl bestehn. Die andern
44 AbteilungB:DieBiicherhalle
Geschichtensind dünnen Gehalts
undzumTeil recht unerfreulich. Die Geschichte
von derBäuerin, die die Aufforderung
desBerlichingen übelnimmt
undzumKadi läuft, hat noch Saft
undKraft; aber
dieGeschichte
vonderUnterbrochnen Bertha
undPapas Fehltritt sind schon übelriechendwitzig
undunsicher
inderForm,
undwassonst noch geboten wird, ist Abfall,
der—abgesehen
voneiner schönenKriegsausbruch-Stimmung: Sommerabend
—kaummehr zeigt, als daß Thoma
amEndeseiner Laufbahn
dergute Humor ausgegangen
undnurdieböse Laune eines Mißvergnügtengeblieben
war,dernicht mehr frei gestalten konnte.
Sohinterlcißt
dasBuch
alsGanzes
einenunerquicklichenEindruck,
denwir denThoma- freunden ersparen können.
Wilhelm Schmidtbonn, Die Flucht zu den Hilflosen. Die Geschichte dreier Hunde. Leipzig
1922,E.P. TalcfrCo.
Wenn
Schmidtbonn
oderderErzähler seiner Geschichten auf
derStraße
dieMenschen zusammenlaufen sieht, fragt
ernicht: »Ist ein Mensch überfahren?«, sondern
erruft: ,,Hossentlichist nicht ein Hund überfahren-«Wohin sollen sichdie Verzweifelten
retten vordenMenschen als
in dieschuldlosenAugen derHunde
?fragt
er.»Die Hunde sind
Gottnahe geblieben. Darum hat Gott euch
dieHunde gelassen, damit
dieLuft
derErde nicht
ganzleer
werdevonTreue«
Es ist also
dasBuch
einesHysterisehen,
demderKrieg
denEkel
anderMensch- heit beschert hat,
unddessenLiebesbedürfnis sich
nun in derheute modischenLite- ratenweise brünstig
demTier zuwendet.
Das Buch hat
einenwirklich schönenAbschnitt,
dieersteGeschichte,
in dereinJunge,
derin Schule
undVaterhaus einsam isi, Trost, Verständnis,
Liebebei einemKötersucht. Hier ist
anMenschlichstes gerührt,
undderÜberschwang
desErzählens entspricht
demStoff.
Diebeiden anderenHundegeschichten,
die derJüngling
undMann,
derKunstschiiler
undderabenteuerndeKünstler erleben,
sind Literatur
undwirken weibisch.
.Es ist wieder wie in
andernBüchern Schmidtbonns, daß
erfür ein starkes Gefühl zunächststarke Naturtöne findet
unddann essteigert
undaufputzt, bis
es zuTheater
wird.Manfred Kyber, Unter Tieren. 36.——45.Tausend. Stuttgart-Heil- bronn 1922, Walter Seifert.
Für Kyber sind die Tiere dazu da, ihnen menschlicheWitze
undTiefsinnigkeiten
indenMund zulegen
undmenschlicheSchicksaleanzudichten. Seine Tiere sind
also
keineTiere, sondern Puppen
undLarven, mit
denenerspielt. Und
erspielt
sehr selbstgefällig
undsehr ,,geistreith.«Nach
derHöhe
derAuflage
undabgedruck-
tenKritiken
zuschließen,scheint
esauch
Leute zugeben,
dieandiesen aufgepluster-
tenGeschichten eines naturfernen feuilletonistischen Gauklers, dessen
Naturver-senkung oder-auch
nurRaturbeobachtung minimal ist, Gefallen sinden.
Esist
erstaunlich, daß-diese größtenteils schlechthin
albernenProdukte ernst
genommen werdenkönnen.
Leipziger Bücherberichte 45 Franz Adam Beyerlein, Sechs fröhlicheLegenden. Leipzig
1922,J.J.Weber.
Beyerlein ruft Gott
undMaria, Petrus
undMichael, Hieronymus, Origines
und andereHeilige,
umsie
inLegenden jener heitern weltlichen
Artagieren
zulassen,
dieGottfried Keller g-«pflegthat. Aber so sehr
ersichmüht, seine nüchterne Sprache aufzuschmücken,
esgelingt ihm nicht,
denRhythmus weltlich-unheiligen Geplauders
zutreffen,
unddergedanklicheAufwand,
denerzutreiben vermag, rechtfertigt nicht
dasbreiteBehagen, mit
demerfeine sehr befcheidnenGeschichten vorträgt.
Marthe Renate Fischer, Das Patenkind. Thüringischer Roman.
2.——4. Auflage. Stuttgart
1922,Adolf Bonz sc Co.
Geschichte
einerArbeiterin,
die darunter zuleiden hat, daß ihr
Vaterein ver- kommenerSäufer, Landsireicher
undDiebist.
Siegerät in
denVerdacht, gestohlen
zuhaben
undeinen unsittlichenLebenswandel
zuführen. Darüber geht ihre Ver- lobung mit einem tüchtigenBurschen
indie Brüche.Schließlich
wirdsie
aberre-habilitiert
undkriegt ihren
Mann. Daswirdsehr umständlicherzählt. Die
Ver-fasserin
kannsich nicht
genug tun,ihre
Kenntnis desVolkstums auszubreiten,
undbelastet
deErzählung unnütz
mitDarstellung
vonSittenund Gebräuchen,
worüberdieMenschenschilderung
zukurz kommt. Es ist
zuvermuten, daß die Verfasserin
inkleinerenGeschichtenBefriedigenderes leistet. Sie ist mit
demVolks-
lebenin derUmgegend
vonJena offenbar
vertraut;ihre künstlerische Gestaltungs- kraft
aberist gering.
i
Lope de Vega, Ausgewählte Komödien. Zum ersten Mal aus dem Ori- ginal ins Deutsche übersetzt
vonWolfgang Wurzbach. Wien
1922,Anton Schroll sc Co. Band 1—4.
Der
,,Vater
dermodernenKomödie-O
derSchöpfer
des nationalen Dramas derSpanier,
wirdso oft genannt, daß
derWunsch sicheinstellt, wenigstens eins
oder dasandereseiner
Dramenkennen
zulernen. Aber welches
vonseinen
1500Stücken soll
manlesen? Welches ist noch heute lebendig?
VondenVier,
dieWurzbach bisher übersetzthat, keins. Die Castelvines
undMonteses,
die denRomeo-·
undJulia-Stoff, mit heiterem Ausgang, behandeln, wirken als Kuriosität
undhaben nicht einmal großenliterar-historischenWert,
daShakefpeares Stück nicht auf sie zurückgeht.
DerRichter
vonZalamea ist
inderHauptsache insofern interessant,
alsCalderon ihn in seinem gleichnamigen
Stückbearbeitet
undhöhergehoben hat.
Die
Iüdin
oonToledo hat bekanntlich Grillparzer angeregt.
DerHerzog
vonVifeo,
·eine
Historie, die Grillparzer
bewunderthat, wirkt stark
ineinzelnen Szenen,
diefest gestaltet sind,
kannaber
modernetnFühlen nicht genügen,
dadieGestalt des
harten Königs,
deneinSchmeichler
zusinnloser Grausamkeit verleitet, unlebendig
bleibt; so wirkt auch dieses,
dasstärksteStück
vondenvier, nicht als Kunstwerk
für. sich,sondern als charakteristischeProbe eines fremdartigen Schaffens
auseiner
fernliegenden Zeit.
46 AbteilungB:DjeBücherhalle
Es
dürfte sich also nicht empfehlen,
dasWurzbachsche
Werkfür Volksbiblio- theken anzuschaffen.
Amehesten käme
esnoch für österreichische
inBetracht,
daLope
deVega stark auf Grillparzer gewirkt hat, natürlich besonders
derdritteBand (Die,Jüdin
vonToledo),
aberauch
dervierte,
daderHerzog
vonBiseo
denösterreichischen Dichter lebhaft beschäftigthat. Für österreichische Bibliotheken empfiehlt sich
dieÜbersetzung auch deshalb, weil Wurzbach
inseinen literar- historischenEinleitungen,
die überdie Stoffe
unddieNachwirkungen
der Dramenausführlichberichten,auf Grillparzer besondre Rücksicht nimmt.
DieWurzbachschen Übersetzungen sind gewandt
undlesbar, aber nüchtern,sicherlich
genauundzu-verlässig,
abernicht künstlerisch, Philologen-, nicht Dichterwerk.
Für
andreVolksbüchereiendürfte
esgenügen,
einSammelwerk
wieetwadaszweibändigeSpanische Theater
desGrafen Schack anzuschaffen (Cottasche Bibliothek
derWeltliteratur),
dasvonLope
deBega
einBauernstück Fuente Ovejuna
undvierkleine Zwischenspieleenthält. Dieses Bauernstück,
dasstofflich
andenRichter
vonZalamea anklingt, gibt
einegute Vorstellung davon, wie
volks-tümlich Lope
deVegas Dichten
war,undhat außerordentlichstarke Szenen;
derStoff (Ernpörung einer Dorfgemeinde
gegensoldatischeWillkür) rührt auch
inseiner utspanischen Formung (wie
CalderonsRichter
vonZalamea) Gefühle
desheutigen europäischen Menschen auf, nicht
zumwenigsten
desmodernenArbeiters-
denfreilich
dannamSchluß
dieüblicheGlorisikation
deralles
zumGuten wen- dendenspanischen Majestätenverstimmen wird.
·
Mehr Stücke enthält die Sammlung Spanis ch
esTheater, hrsg.
vonRapp, Kurz
undBraunfels (7
Dramen und7.Zwischenspiele),
die bereitseingestellt
und in derletzten Zeit mehrfach verlangt
wordenist. Sie bringt
wederFuente Ovejuua noch
dievonWurzbach übersetztenStücke. Nach Stichproben
zuurteilen, ist
dieÜbersetzungungenießbar,
unddieAuswahl scheint ziemlich willkürlichgetroffen zu sein. Das Buch sollte gelegentlich daraufhin geprüft werden,
ob esnicht eher abschrecktals anregt.
Ernst Lissauey Eckermann. Schauspiel in vier Aufzügen. Berlin
1921,Osterheld sc Co.
Darf
einersein
Lebeneinem
andern zumOpfer bringen? Darf einer,
undsei
es derGrößte,
einsolchesOpfer annehmen? Eckermann bringt nach Lissauers
Dar-stellung
dasOpfer im Jahre 1830, indem
ereine Berufung nach auswärts nicht annimmt
undnichteignen Hausstand gründet,
umGoethe
weiterzudienen,
und deralte Goethe entschließtsich,
dasOpfer anzunehmen, schwerenHerzens,
imGefühl schicksalmäßig lastender Verantwortung.
VomSchwanken
desWillens
zumOpfer
in demeinen,
vomSchwanken
desWillens
zurAnnahme
desOpfers im
andernhandelt
dasStück,
dasklug berechnet
undgedanklich folgerichtig aufgebaut ist.
Aber trotzdem
würdedasStückallestärkereWirkung einbüßen,
wennGoethe
.Meyer hieße
undEckermann Schulze;
dennseineGestalten leben nicht
auseignem
Recht, sondern kraft ihrer geschichtlichen Namen,
undwerdieBedeutung ihres
Kampfes verstehen will, muß geschichtlicheKenntnis mitbringen
undvonvornhein
wissen-'
worum essich handelt.
WasProblemschauspiel sein soll, bleibt doch
imwesentlichen
imKostümstückstecken.
Leipziger Bücherberichte «47 Erich Messe, Himmel auf Erden. Eine lästerliche,doch eigentlich sehr ernsthafte Komödie
vonTraum, Schein und Wirklichkeit.München
192 1,Drei-Masken-Verlag.
Das Stück ist gelesen worden,
da esdasLeipzigerStadttheater
zurUrauffüh- rung
angenommenhat. Eine phantastische Komödie, die, laut Vorspruch, den Anspruch erhebt, tiefern Sinn zu haben. Ein schönesMädchen,
dasdie Frau
desApothekers
ausEifersucht hat vergiften wollen, erwacht
ausdemTodesschlaf, spielt
denGeist
undschreckt
denGeliebten,
denDichter,
denApotheker, Pfarrer, Arzt, Richter, die Totengräber so, daß sie nicht wissen, ,,ob sie lebendig sind
oderträumen
odergestorben«,also
imHimmel
oderauf Erden leben.
Sodie Absicht.
Jn
derAusführung ergibt
daseinwirres Schwankgebilde,
ausdemauf
derBühne vielleicht
dieKunst
desRegisseurs
etwaszumachen versteht,
dasabernichts weiter ist
alseine Ausgeburt kalt konstruierenden
nndwitzelnden Versiands,
dersich
dar-auf verläßt, daß
erverblüffenkann.
Literatur und Sprache
(Gepriift
vonGustav Morgenstern) Angenommen
Wilhelm Scherer, Jakob Grimm. Neudruck der zweiten Auflage
...besorgt
vonSigrid
v.d. Schulenburg. Berlin
1921,Domverlag.
354 Seiten. Geb. 50 M.
Das
Scherersche Buch ist
bisauf
denheutigen Tag
dieeinzige,
vonderAll-gemeinheit
derGebildetenzu lesende Lebensbeschreibung
desBegründers
derdeutschen Sprach- und Altertumswissenschaft,
diezugleich
inGeschichte
undWesen dieser Wissenschaft einführt. Scherer schildert
denMenschen
unddenPhilologen
Grimmzugleich, für
denMann,
denernoch
kennengelernt hat, begeistert
wiefür
dieSache,
dererdiente. Esgibt
kaumeinBuch,
dasetwaGymnasiasten so für die deutsche Philologie gewinnen
könntewie diese Biographie. HöhereSchul- bildung wird vorausgesetzt Daß heute einige wissenschaftliche Fragen
andersbeurteilt
werdenals 1885, schmälert
denWert
desBuches nicht,
dadaspersön- liche
undwissenschaftlicheCharakterbild Grimms, einer derreinsten Gelehrten- gestalten,
diedie deutsche Wissenschaftsgeschichteaufzuweisen hat,
inallem wesent- lichen feststeht.
Wasdie Herausgeberin
imAnhang beibringt, ist für
dengroßen- Leserkreis unwesentlich, stört aber nicht,
daesebenimAnhang steht
unddas Werkselbst zunächstohne Zutaten geboten
wird.Ferdinand Mens, Deutsche Ortsnamenkunde. Leipzig
1921,Quelle cic Meyer.
115Seiten.
12M.
Vor
Kleinpauls kleiner Ortsnamenkunde hat diese
diestraffe Gliederung
vor- aus.Die Hauptmasse
derdeutschenOrtsnamen ist in Grundwortnamen (einfache
undzusammengesetzte)
undOrtsnamen ohne Grundwörter geschieden,
unddie48 AbteilungB:DieBücherhaile
beiden Gruppen
werdenwieder übersichtlich gegliedert nach
denBeziehungen, die die Wortelemente zum Ort,
zur ArtderSiedlung haben. Bei dieser Gruppierung
kommt dasSprachgeschichtliche,
dasStammesgeschichtliche
unddasKultur- geschichtlichezu kurz; aber
eswird eine Übersichtlichkeit erreicht,
die zuweiterem Nachforschen anregt. Ein schwererMangel ist, daß ein Namenregister fehlt. Die Darstellung ist grundrißmäßig,unterscheidet sichalso grundsätzlich
vonderKlein- pauls,
derplaudert
unddieAbschweifungen ins Kulturgeschichtlicheliebt.
Da dasspezisischGrammatikalisie
beiderAnlage
desBuchs
indenHintergrund tritt, ist
esauch für Leser geeignet, die
vondiesem abgestoßen
werden.Werner Bloch und Heinz Müffig, Das reine Deutsch des Kaufmanns.
Ein Buch wider das Kaufmannsdeutsch mit Beispielen und Erläute- rungen veralteter und neuzeitigerSchreibweise. Zweite, verbesserteAuf- lage. Berlin
1922,Richard Oesler.
291Seiten. Geb. 35 M.
Das Buch kämpftverständig
undlebhaft
gegendenSchwulst, die Umständ- lichkeit,
dieUnklarheit
unddieFremdwortvorliebe, die sichim Kaufmannsdeutsch festgesetzt haben,
undmöchte
zuEinfachheit, Klarheit
undReinheit
desAusdrucks erziehen. Die Verfasser gehen praktisch
vor,indem sie zunächstEinzelfragen
derSprachlehre behandeln
unddanngute
undschlechteBeispiele
vonBriefen
undAnzeigen gegenüberstellen
undbesprechen. In
derFremdwortfrage hüten sie sich
vorÜbertreibungen, unterstützen
dasStreben nach Sprachreinheit
undbeachten
dieSchwierigkeit,
iminternationalen Verkehr eingebürgertesFremdgut
zubeseitigen.
Abgelehnt
Bettinas Briefwechfel mit Goethe. Auf Grund ihres handschrift- lichenNachlassesnebstzeitgenössischen Dokumenten über ihr persönliches Verhältnis zu Goethe. Zum erstenmal herausgegeben
vonNeinhold Steig. Leipzig
1922,Insel-Verlag.
Ein wissenschaftlichwichtiges
undbedeutsames Werk,
daszumerstenmal alles zusammenstellt,
wasanDokumenten über
denVerkehr Bettina
vonArnims
mitGoethe noch vorhanden ist;
esgibt also die geschichtlichgesicherte Grundlage
zuGoethes Briefwechscl
miteinemKinde.
Seite7—288 geben die Dokumente,
und zwarnicht
nurdiezwischenGoethe
undBettangewechseltenBriefe, sondern auch
alleandernnoch auszutreibenden Zeugnisse über
denVerkehr
derbeiden, zeitlich geordnet
undinGruppen zusammengesaßt
— dienacktenDokumente ohne Zwischenbemerkungen.
S. 291—4ozgeben Anmerkungen dazu, nüchterne,fleißige Philologenarbeit. Endlich folgt auf
S.4o4—438
einNachwort,
dasdenVerlauf
unddieArt
desVerkehrs zusammenfassend darstellt,
oderbessert erörtert,schließlich
ein15 Seitenstarkes Ramenregister.
Jn dieser Gesta
tist
dasBuch für
einengrößeren Leserkreisunbrauchbar. Über
dieAnschaffung ließe sich reden,
wenn esdeneigentlichen Briefcvechsel ohne
denWust
von andernDokumenten (Auszügen
ausGoethes Tagebüchernusw.)
Leipziger Bücherberichte 49 mit einer kongenialen einleitenden Darstellung
deshöchst reizvollen Verkehrs des
altenDichters
undderjungen aufdringlichcn Verehrerin darböte. Jn derjctzigen Gestalt ist aber,
vondengelehrten Beigaben ganz abgesehen, nicht einmal
dieDokumentens·ammiung
lesbar. DasBuch gehört in philologische
undliterar- historischeFachbibliotheken.
Bildende Kunst, Musik
(Bildende Kunst geprüft
vonWolfgang Balzer) Angenommen
Paul Ueding, Einführung in das Verständnis der Malerei. (Die Büchere der Volksyochschule, Bd. 7 und 8.) Bielefeld und Leipzig
1921,Vei- hagen ckc Klasing je
ca20M.
1.
Band: 150 Seiten mit
30Abildungen. Inhalt: Die italienische Malerei. Die altdeutsche Malerei.
2.
Band:
121Seiten mit
13Abbildungen. Inhalt: Die altniederl.
Malerei. Die Malerei d. 17. Jahrh. Vom 17. zum 18. Jahrhun- dert. Der Jmpressionismus. Der Erpressionismus Anhang.
Der
Weg, auf
demderVerfasser
zumVerständnis
derMalerei führt, ist
derhistorische,
undmankönnte
dasBuch mit gutem Recht auch
eineEinführung
in dasVerständnis
derGeschichte
derMalerei
nennen. Ergeht
nunaber nicht so
vor,daß
erdie Entwicklung
vonderaltchristlichen Kunst b1s zu unserer Zeit schlechthin
durch Eharakteristiken
vonEcnzelkünstiern
undZeisabschnitten schildert (nur
derAnhang gibt auf
etwa40Seiten einen solchenkurzen Abriß
derKünstlergeschichte),
sondern
erwählt einzelne Werke
vonBeceutung aus,
derenjedes abgebildet
und inausführlicher Besprechung erschlossen
wird.Sowerden, nach einem
ravenna-tiichen Mosaik,
vonGiottozwei,
vonMantegna, Gozzoli, Botticelli, Signorelli,
Ghirlandajo je
einBild,
vonNaffael drei,
vonMichelangelo zwei,
vonLionardo
undTizian wieder je
einWerk besprochen. Unter
denalten Deutschen ist Dürer
mitvierGemälden, einem Kupferstich,
undVierHolzschnitten vertreten,
KonradWitz, Holbein
undGrünewald mit je einem Gemälde. Es folgen im
2.Bande
fünf Bilder
deraltniederländischen Schule, je zwei Gemälde
vonRubens
undRembrandt, je
einsvonFranz Hals, Ruisdael, Velasquez
undLiebermann. In-
dem die wichtigsten formalen Eigentümlichkeiten dieserEinzelwerkehervorgehoben
undKünstlerindividuaiität
undStil
derEpochehin
undwiederzurErklärung heran-
gezogenwerden, wird
demLeser
eineanschaulicheVorstellung
vonderEntwicklung
derMalerei vermittelt
undzugleich eine Anleitung
zumaufmerksamen
undsorg-
fältigen Studium
desKunstobjekts gegeben. Ueding hält sichalso
andasVorbild,
dasKarl Vollinseiner »Entwicklungsgeschichte« aufgestellt hat.
Erfordert aller-
dings nicht durch abstchtliche Nachahmung
zu einemVergleich
mitdenVollschen
Büchern heraus, aber
esdürfte nützlichsein, sichdurch einen solchenVergleichüber
denWert
unddie Verwendbarkeit
desneuenVersuches Klarheit
zuverschaffen.
·50 AbteilungB:DieBücherhalle
Dabei
ist
zusagen, daß
dasintime Einleben
inein Kunstwerk
undin daskünst- lerischeSchaffen
einerZeit
beiUeding nicht
in demhohen Maße erreicht ist
wiebei Voll.
Manmerkt hin
undwieder, daß
esein kunstliebender
undkunstver- ständigerLaie. ist,
derdie Erklärung gibt, nicht
einMann,
der ganz ausderEr-fahrung
desKünstlers heraus über malerischeAngelegenheiten spricht. Das zeigt sich
u.a.darin, daß gewisse charakteristischeEinzelheiten
undFeinheiten,
die Vollmit unvergleichlichemGriss herauszuholen weiß, unbeachtet bleiben, daß
die Er-örterung manchmal
vomAugenerlebnis
wegzumästhetischen Begriff hinstrebt,
undeszeigt stchauch
in derAnordnung
desBuches,
diein traditioneller Weise
mitdenJtalienern beginnt. Doch hindert
dasnicht, daß Ueding
diewesentlichen Züge eines Werkes geschicktaufdeckt,
dasBildbetrachten
und-vergleichen schult
undseine Meinungen in einer gut verständlichen
unddoch nicht abgegrissenen Sprache vorträgt. Das
Werkgehört auf alle Fälle
inunsere Gruppe kunster- zieherischer
undentwicklungsgeschichtlicher Bücher hinein;
undes wirdnureine besondere Aufgabe
derindividuellen Ausleihe sein, zwischenihm
undVolls Werken jeweils die rechte Auswahl
zutreffen. Vielfach dürfte
esgerade wegen
derobenangeführten Merkmale
dasdemLaien näherstehendeBuch sein,
unddaher
alsVorbereitung für Voll Verwendung sinden.
Die
Verwendbarkeit wird stark beeinträchtigtdurch
dasJllustrationsmaterial.
Einmal durch
dieQualität (klein
undoft
ganzunscharf)
unddanndurch
dieEin- fügung
in denText.
Wennderartige Ausführungen
diekunsterzieherischen Absichten,
diesie verfolgen, erreichensollen, ist
esunbedingt nötig, daß
derLeserdie Abbildung in jedem Augenblick
vorAugen hat, daß
erjederzeit prüfen
oderauch ein Stück im Zusammenhang lesen
kannunddaß ihm
daslästige
undzerstreuende Umblättern erspart bleibt.
Nunkönnen wir zwar ausunserm Bücherbestand
andereIllustra- tionswerke mitgeben (bes.
dieDiederichs-schen
Bändeder,,Kunst
inBildern«);
aber esist doch
immerein Glücksumstand,
ob diebetreffenden
Bändeauch
dasind. Jch würde daher vors chlagen, hier einmal
vonseiten
derBibliothek
auseine selbständige Ergänzung vorzunehmen; nämlich eine Mappe zusammenzustellen, die
diebe-sprochenenWerke
inguten, deutlichen Neproduktionen enthält
unddie dannjedes- mal mit ausgeliehen wird. Findet dieser Vorschlag Anklang, so
willichmichnach geeigneten Reproduktionen (Meisterbilder, Photographien usw.) umsehen. Die Verteuerung, die auf diese Weise entsteht, dürfte durch
denerhöhten Nutzen,
derso dem Leser
ausdemBuche erwächst- reichlichwettgemacht
werden.Es
dürfte sich auch empfehlen, die beiden
Bändealseinen
zubinden,
daderAnhang
mitseinen biographischenAngaben,
demLiteraturnachweis,
derErklärung
vonFremdwörtern
undFachausdrücken
undderAussprachebezeichnung(alles sehr hübsche
undnützlicheBeigaben)-fiir
beideTeile benötigt
wird.i
G. F. Hartlaub, Die
neuedeutscheGraphik. Berlin
1920,Erich Reiß.
96 Seiten. 6 M.
Das Büchlein,
dasin
derSchriftensammlung »Tribüne
derKunst
undZeit«
erschienen ist, gibt stchals eine Art Führer
zumVerständnis
dererpresstonistischen
Griffelkunst
derGegenwart
Esskizziert
imersten Kapitel »Die graphischenMittel-
Leipziger Bücherberichte 51
dasCharakteristische
vonHolzschnitt, Kupferstich,Nadierung, Lithographie,
dabeiweniger
dietechnischenVerfahren, als vielmehr
dieverschiedenenAusdrucksmög- lichkeiten für geistige
Wertebetonend,
undhebt
mitRecht hervor, welch großer Anteil
anderneuesten Entwicklung
derWiederbelebung
desHolzschnittszukommt.
Jrn zweiten Kapitel »Die graphischen Kräfte«
werdendie Graphiker, die
in denletzten
tobis
15Jahren sich Geltung verschafft haben, gruppiert
undkurz
be-sprochen. Jn erster
Liniewerdendiedeutschen berücksichtigt, aber auch einige
ein-flußreicheAusländer
wieMunch aufgeführt.
Ich stimme nicht
in allemmit
demVerfasser überein,
inderTendenz
derKunstbetrachtung nicht
undinEinzelurteilen nicht;
aber dasBuch gibt
einebrauch- bare Übersicht
über diemannigfachen Kräfte,
wiesie sich
in derneuerendeutschen Graphik
von den,,Brücke"-Leuten
anbis
zu KubinundKokoschkageregt haben
undin denAnsstellungen noch heute hervortreten. Es dürfte
inLeipzig,
derStadtder graphischen Gewerbe,
vielenSuchenden erwünschteOrientierung
bieten.Geeignet auch als Vorstufe für
dasStudium
vonWertheims »Holzfchnittbuch.«
Alfred Kahn, Die
neuerePlastik
vom18. Jahrhundert bis zur Gegen-
wart.
München
1921,Delphin-Verlag. 134 Seiten mit 82 Ab-
bildungen. Geb.
93,5oM.
DasWerk
versucht,
dieEntwicklung
derPlastik während
derletzten
120Jahre
ingroßenZügen darzulegen. Auf biographische Einzelheiten
wirdebenso verzichtet
wieauf Vollständigkeit
desPersonals.
Ausderfranzösischen
unddeutschen Kunst
werdendie führenden
unddenGeschmackihrer Zeit repräsentierendenBildhauer herausgegriffen. Die Bestrebungen
undentscheidendenWandlungen
in derersten Hälfte
des19.Jahrhunderts
werdenknapp
undanschaulich skizziert, die vielfälti-
genErscheinungen
derjüngstenVergangenheit
undGegenwart in
etwasausführ- lichererDarstellung, doch ohne Parteifanatismus gewürdigt. Folgende Künstler erfahren
inihrem Wollen
undWirken
einezufammenfassende charakterisierende Betrachtung: Thorwaldsen, Schadow, Rauch, Begas, Eberlein,
dieFranzosen Rude, Barve, Earpeaux; ferner Rodin, Hildebrand, Klinger, Meunier, Meßner, Lederer, Minne;
vonReuerenMaillol, Kolbe, Albiker, Haller, Hoetger, Ernesto
deFiori, Lehmbruck, Barlach bis
zu denerprefsionistischen
undkubistifchenVersuchen Archipenkos
undeiniger jüngsterDeutschen.
Das
Qualitätsgefühl,
dasdie Urteile
desVerfassers bestimmt, ist zuverlässig-
wennauch
dietheoretische Grundlegung, die
daskurzeEinleitungskapitel bringt- nicht
ganzeinwandfrei ist,
undnatürlichnicht jedes Einzelurteil unbedingte Zu- stimmung erhalten
kann.Die Unsicherheit
derPlastik gegenüber,
diemanheute so oft beobachten kann, dürfte durch
eingründliches
Studium desBuches,
demlehrreiche Bildproben beigegeben sind, beseitigt
werden.Außer
denformalästhetifchen Eigentümlichkeiten
werdenauch
diegeistigen Strö-
mungen undsoziologischenEinwirkungen berücksichtigt, ohne daß sich
die Dar-stellung
dabeiinselbstgefälligeAbschweifungen
undgewagte Hypothesen verirrte.
Die Ausdrucksweise ist nicht
immer ganzeinfach, vermeidet
aberauch dort,
wo diepersönliche Anteilnahme
desVerfassers lebhaft mitspricht,
dasNebelhafte
undSchwülstige.
·
5å AbteilungB:DieBücherhalle
Ein
gleich gediegenes
undkritischorientiertes Buch
über dasThema besitzt
dieBüchereinoch nicht;
diemehr referierenden, für
diejüngsteZeit auch lückenhaften Arbeiten
vonNadenberg
undHeilmeyer erhalten durch
dasWerk
dienötige
Er-gänzung.
Für Leser mit ernsthaften künstlerischen Interessen.
Hans W. Singer, KätheKollwitz (Führer zur Kunst, hrsg.
vonHerrn.
Popp- Bd. 15) Eßlingen 1908 Paul Neff. 49 Seiten mit
20Abb.
und
2Tafeln.
20M.
Alfred Kahn, KätheKollwitz.(Graphiker der Gegenwart) Berlin
1921,Verlag Neue Kunsihandlung. 15 Seiten mit
32Abbildungen.
12M.
Beides
keine idealenPublikationen über
dieKünstler-in,
wederim Abbildungs- material noch
in derschriftstellerifchenInterpretation. Doch
da esüberhaupt noch·
an
einer befriedigenden
underschöpfendenKollwitz-Monographie fehlt
unddie beidenvorliegenden Versuchesich
ingewisser Hinsicht ergänzen, istvielleichtjetzt
derZeitpunkt da, diese empsindliche
Lücke inunserm Bestand auszufüllen.
Singer behandelt
dasThema
vombürgerlichenStandpunkt aus, steht,
beialler Anteilnahme,
demProblem
derproletarischen Kunst ziemlich hilflos
gegen-über, ergeht sich
inmancherlei willkürlichen
undunnötigen Abschweifungen, gibt
aberdoch einige
ganzbrauchbare Bildbesptechungen
undästhetische Anmerkungen.
Seine Darstellung,
dieja
dasletzte Jahrzehnt
derKünstlerinnicht mehr umfaßt, dürfte
vorallem geeignet sein, einem
imBürgerlichen befangenen Kunstgeschmack Käthe Kollwitzens Welt näher
zubringen.
Wennich früher
Bedenkenhatte,
dasBuch einzureihen, so fallen diese jetzt
weg,dadurch Kuhns
kleineSchrift
nunneuerdings
dieGefahr beseitigt ist, daß auch proletarische Leser
zuSinger greifen müssen. Kahn gibt· nämlich mehr
vonproletarischer Einstellung her
eineknappe Einführung in Käthe Kollwitzens Leben
undindenGeist ihrer Kunst. Da
aus denwenigen Seiten gute Sachkenntnis
undaufrichtiges Empfinden spricht, dürfte
estrotz
der etwasmangelhaften Neproduktionen fruchtbare Anregungen geben.
K. Wellner, Kopfzeichnen. KurzgefaßteAnleitung zur zeichnerischen Darstellung des menschlichenKopfes. Navensburg
o.J» Otto Maier.
72 Seiten mit
19Abbildungen und
9Tafeln.
22M.
Die kleine Schrift zerfällt
inzwei Teile, einen mehr wissenschaftlichen
undeinenmehr praktischen.
Dererste behandelt
dieAnatomie
desKopfes, die Proportionen
desmenschlichenKörpers
unddieAchsen
desGesichts.
Derzweite gibt dem,
dersichmit Kopfzeichnenbeschäftigt,die Hauptgrundsätze,
diebei
derBehandlung
desGegenstandes
undderZeichenmaterialien
inBetracht kommen,
undpraktische Beispiele. Mit
einpaarkurzen Bemerkungen
über dasWesen
derkünstlerischen Auffassung schließt
dasBüchlein.
DerVerfasser
bautauf s
olidenGrundlagen auf;
so
entnimmt eretwaBeispiele
demSchadowschen Werk »Polyklet.
VondenMaßen
desMenschen nach
demGeschlecht
undAlter«
oderberuft sichauf
Volk- mann,,Naturprodukt
undKunstwerk-C Auch Literaturangaben sindet derjenige,
dersich
weitermitdemThema beschäftigenwill.
Leipziger Bücherberichte 53 Die Darstellung ist, auch
indemwissenschaftlichenTeil, knapp
undklar undwirkt anregend.
WervondenLesern hauptsächlichpraktisch gefördert sein will,
kannohneGefahr
dieAusführungen
über Anatomiezunächstüberschlagen,.die
aberfür
viele wiederum wertvolleAufklärung geben dürften.
Das
beigegebene Abbildungsmaterial ist instruktio.
s-
Hermatm Abert, Goethe und die Musik. Stuttgart
1922,J. Engel- horn. 128 Seiten. Geb.
30M.
Hans Joachim Mofer, MusikalischerZeitenspiegel. Stuttgart 1922, J. Engelhorn. 124 Seiten. Geb.
30M.
Der
EngelhornscheVerlag gibt kleine Musikalische Volksbücher heraus,
von denen mirdiebeidenangeführtenanschaffeuswert
zusein scheinen. Moser verfolgt
anderHand
vonBekenntnissen
undSchilderungen,
wieimLaufe
derJahrhunderte Musik erlebt, aufgefaßt
undgewettet wurde, stellt also Zeugnisse
zurpraktischenMusikästhetik zusammen
undgibt, als gewandter
—fast allzu gewandter Stilist,
einzugleichbelehrendes
undunterhaltendes Buch,
dasmusiksreudig stimmt.
Aberts
kleineSchrift
überGoethe
unddieMusik stellt nicht
nurzusammen, welche
RolledieMusik
inGoethes äußeremLebensgange gespielt hat, sondern erklärt auch Goethes Stellung
zurMusik
ausderMusikanschauung seiner Zeit
undnimmt
dasSpezialthema
zumAnlaß,
dieTendenz
derLied- undOpernkomposition
des18.Jahrhunderts darzustellen. Abert gibt also im Hauptteil seiner-Arbeit
einStück praktischerMusikgeschichte,
dasauch
denfesselt,
dernicht Goethespezialistist.
Washier über
dasVerhältnis
vonDichtung
undMusik zueinander
ingeschichtlicher Entwicklung namentlich
derLiedkomposiriondargelegt wird, scheint mir besonders wichtig
undanregend,
dadabei Fragen
erörtertwerden, die wohl immer
zur De- battestehen
werden.Auch
dasletzte Kapitel,
über dasMusikalische
inGoethes Lyrik, scheint
mirWesentliches
zubieten,
dasdieLiteraturästhetik
zubeachten hat.
Das
Buch scheint
mireinerderFälle
zusein,
in deneneinSpezialist (hier
einbekannter Musikhistoriker)
etwasbesonders Anregendes leistet, indem
ersichauf ein Grenzgebiet begibt,
dasindenBereih
einerandernWissenschaft (hier also
derLiteraturgeschichte
undderKritik dichterischenSchaffens) hinübergreift.
Morgenstern
Religion, Philosophie, Erziehung Angenommen
Reden des Buddha. Lehre, Verse, Erzählungen. Übersetzt und ein- geleitet
vonHermann Oldenberg. München
1922,Kurt Wolfs.
473 Seiten. Geb. 450 M.
Oldenbergs berühmtes
Werk:Buddha, sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde,
dasdie Bücherhallenbesitzen,erhält hier eine sehr wertvolle Ergänzung. Zur
Unter-suchung
undDarstellung
desLebens,
derLehre
undderGemeinde Buddhas
treten54 AbteilungB:DieBücherhalle
nun in
Auswahl
dieDokumente. Es wird
eineArt
BibeldesBuddhismus
zu-sammengestellt, die,
demGange
derDarstellung
in demwissenschaftlichen
Werkeentsprechend, nach ältester Uberlieserung zusammenfaßt,
wasdiealtenheiligen Schriften
undKommentare
über Leben undPers
on,Lehre
undGemeinde
desBud- dha
zuberichten wissen. Wir lesen hier
nunalso nicht
dieErgebnisse
der modernenWissenschaft,sondern hören
dieindischen Mönche
vonBuddhas
LebenundLehre reden,
undvernehmen durch ihr Erzählen,Dichten, Predigen hindurch
dieStimme
desBuddha selber.
Eshat seinen eignen Reiz,
ausdiesen Dokumenten heraus- zufühlen,
wiedie ganzegeistige Verfassung
derBerichtenden
derDarstellung
ge-messeneRuhe
undSchwere gibt,
undauf diese Weise
wird der Eindruckderwissen- schaftlichen Darstellung wesentlichergänzt
undvertiest.
«
Gegebne Leser
desBuchs sind alle,
diesichmitOldenbergs Hauptwerk beschäftigen,
undnatürlich alle,
diesich
eingenaues Bild
vonderalten buddhisiischen Lehre schaffen wollen. LeichteLektüre ist
dasBuch selbstverständlich nicht,
undesdarf nicht
etwa anLeute gegeben werden,
die-vonderbuddhistifchen Lehre noch
keineAhnung haben.
Eingrößrer Leserkreis
kommtfür
dieletzten
IooSeiten in Be-tracht, auf
denenFabeln
undErzählungen geboten werden,
diemancherlei
Be-ziehungen
zu dergroßeneuropäisch-asiatischen Märchenliteratur haben.
Morgenstern Fr. W. Foerster, Christus und das menschliche Leben. 4.—Io. Tausend.
München
1922,Ernst Reinhardt.
352Seiten. Geb.
50M.
Die
Mechanisierung unserer Zeit hat
dasGanze
desmenschlichenLebens
in Stückezerschlagen. Unsere
Arbeitist
Arbeitanfür sich sinnlosen Teilen
einesunsunsichtbar
bleibendenGanzen.
DieDinge unserer Umgebung
undunseres
Ge-brauchs, kompliziertestenUrsprungs
undkompliziertester Zusammensetzung,
ver-mögen wir nicht mehr
alsGanzheiten aufzufassen, sondern begnügen
unsmit
derKenntnis ihrer unmittelbaren Verwendbarkeit für unsere nächstenZwecke. Nur Ganzes
aberist Wirklichkeit. Wir haben verlernt, Wirklichkeit
zuschauen. Unser eigenes Leben wird
unsnichtmehr
zurErfahrung.
Wirbilden
unsnicht
Lebens-anschauung in eigener gedanklicherVerarbeitung täglich erfahrener Wirklichkeit, sondern
—-schon durch die Schule früh gewohnt, fremde Gedanken fertig
zu über-nehmen (s. Foerster, S.
1Iof.)
—beziehen
wirsie
ausBüchern. Oder wir-schaffen
unsinpantheistisch aufgeblasener ,,Stimmung" dürftigen Ersatz
desverlorenenGanzen. Darum ist
unsReligion fremd geworden
undunverständlich,
dennReligion ist eigenes geistiges Leben, Religion ist Leben in
derWirklichkeit.
Umdemmodernen
Menschen
dieWahrheiten
desEhristentums überhaupt
nur wiederfaßbar
zumachen, össnet ihm Foerster erst
einmal dieAugen für
dieein-
fachen Tatsachen
derjedem gegebenen Erfahrung.
Erläßt
denLeser
der,,Seelen-
führung" Platos folgen (1. Kapitel: Die unsterbliche Seele), läßt ihn die«Hin-
wendung nehmen auf
dasInnere
dereigenen Seele,
damiterdortdie Gewißheit
desGeistes als
der unseigenen
undwesentlichen Welt entdecke. Zur christlichen
Vertiefung
in dasgeistige Wesen
derSeele, dieses zugleichals ungeheure Forde-
rungüber
dasmenschliche Leben aufrichtend, führen
danndie Selbstgespräche
derHeiligen Katharina
vonGenua.Leipziger Bücherberichte 55
Zur Erfassung
derWirklichkeit
desGeistes geführt, soll
nunderLeser auch
dasÄußere,
diesinnlich-natürlicheWelt
inihrer wahren Gestalt schauen lernen. Auf diesem Wege ist Schopenhauer
derFührer (2. Kapitel:
DerWille
zumLeben),
derdenBlick frei macht
vomNebelderJllusionen
undbequemen Vorurteile,
undfurchtlos
undwahrhaftig
dieDinge
derWelt abwägen lehrt.
DieFeigheit
der modernenKompromisse,
dertrügerischeWahn
einermöglichenHarmonie
vonLeib
undSeele wird rücksichtslosaufgedeckt. Die Konsequenzen
desNaturalismus
undseiner götterlosenWelt wagte
nurderfurchtlose Geist Nietzsches
zuziehen
— undging
anihnen zugrunde.
Erst nachdem
derLeser gelernt hat, die Wirklichkeit,
in derertäglich lebt,
diegeistige wie
dienatürlicheWelt,
zusehen, nachdemeigenes Denken über
dieeigene-
die allengemeine menschlicheErfahrung,
inihm geweckt ist, nachdem ihre tiefe Problematik mit schneidenderCindringlichkeit ihm
zumBewußtseingebracht ist, spricht Foerster
zuihm
vondengöttlichenDingen
derChristlichenOffenbarung (3.—5. Kapitel: Gott
—Der Gottessohn
—Christus
unddie
moderneSeele).
Auch hier aber gibt
erdenSinn
desDogmas nicht
inabsirakt-begrifflicher Erörterung, obwohl
erauch so spezifische
Momentedesselben wie
dieLehre
vomHeiligen Geist
undvonderJungfrau Maria nicht unberührt läßt
;sondern
erver-steht es, seine unmittelbare Bedeutung für
die ganzkonkreten
unddrängenden Fragen
desLebens faßbar zu machen. Christus bedeutet nicht
dieVersöhnung
vonGeist
undNatur, sondern
dieUnterwerfung
derKreatur unterGott.
Unddamit
bedeutetChristus
dasLebenderSeele,
dasnurindiesem Verhältnis
derUnterwerfung
unterGott gedeihen
kann.DasLeitmotiv
desBuches enthüllt sich immer mehr, Christi Wort: Ego
sumvita, Jch bin
dasLeben.
Der zweite Teil
desBuches bringt in weiteren 6Kapiteln
inähnlich päda- gogischerArt
wie desVerfassers ,,Lebenskunde«
und,,Lebensführung«eine Reihe
kleinerGeschichten,die
dieLehren
desersten Teils durch Beispiele
ausdemLeben veranschaulichen,
unddiegeeignet sind, die Heilsbedeutung
desChristentums auch für
dasmoderne Leben unddenganzenUmkreisseiner Probleme
inStaat,
Ge-sellschaft
undFamilie
zubelegen.
—
Die Darstellung ist eindringlich
inschlichter
unddochkultivierter Sprache. Der erste Teil wird
denenbesondere Freude
undbesonderen Gewinn bringen, die sich schon
mitPlato, Schopenhauer
undNietzschebeschäftigt haben, ist aber auch allge- mein für denkende Leser zugänglich,besonders
dadie Zerlegung in kurzeAbschnitte
dieBewältigung wesentlich erleichtert.
Wersich für Foerster als Politiker
undPädagogen interessiert,
derfindet in diesem Buche
dietiefste
undletzte Begrün-
.dung für Foersters bekannte Anschauungen. Bultmann Das königlich-: Gebot- Kleine Kapitel
vonder Nächstenliebe Von
Abt Bonifaz Wöhrmüller. Kempten
1921,Kösel cic Pustet. 41
1Seiten.·
Geb. 80 M.
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