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Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 20. Jahrgang, 1910, Heft 2.

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Academic year: 2022

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(1)

ZEITSCHRIFT

des

Vereins für Volkskunde

20. Jahrgang.

Begründet von Karl Weinhold.

Im Aufträge des Vereins

h e r a u sg e g e b e n von

Johannes Bolte.

Heft 2

Mit drei Abbildungen im Text.

B E R L I N .

B E H R E N D & C °.

1910.

1910 .

D ie Z e its c h r ift e rsc h e in t

4

m a l jä h r lic h .

(2)

Inhalt

S e it e

G eschichte d er deutschen V olkskunde, II. Von A dolf H a u f f e n 129— 141 S cheingeburt. Von T heodor Z a c h a r i a e ...141 — 181 B ilderbogen des 16. und 17. Jah rh u n d erts (11. E in R ezept für

böse W eiber.

1

*

2

. B estrafung der schlem m enden E h e­

m änner. 13. D ie Pfaffenjagd. 14. D as Schlaraffenland.

15. Das Narrenschiff. 16. D er K unsthändler P au l F ü rs t in N ürnberg). Von Johannes B o lte . Mit ein er A b­

bildung ... 182—202 Ü ber europäische und m alayische V erbotszeichen. Von f Max

B a r t e l s . Mit zwei A b b i l d u n g e n ... 202—207 K leine M itteilungen:

Drum Brüder, stosst die Gläser an: Es lebe der Reservem ann! Von J. L e w a l t e r . S. 207. — D as polnische Original des Liedes ‘An der W eichsel gegen Osten’ und das schw edische L ied ‘Spinn, spinn, Tochter m ein’. Von J. B o l t e . S! 210. — Eine baskische Rolandsage. Von H. B o u r g e o i s . S. 213.

B erichte und B ücheranzeigen:

N euere Arbeiten zur slavischen V olkskunde, 1. Polnisch und Böhmisch. Von A. B r ü c k n e r . S. 213. — R. B e c k . D r u d e , G u r l i t t , J a c o b i , K ü h n , M a m m e n , W u t t k e , H eim atschutz in Sachsen (K. Beucke) S. 225. — V. G r ö n b e c h , Lykkemand og N idin g (A. H eusler) S. 226. — P. S a i n t y v e s , Les saints successeurs des dieux. Les v ierges m eres et les naissances m iraculeuses. Lc discernem ent du m iracle (H. Lohre) S. 228. — R. M ie l k e , D as D orf (M. Roediger) S. 229.

N otizen:

Andree-Eysn, Bücher, Freybe, Huss, Kehrer, Knortz, M aeterlinck, Orsier, Peabody, Schullerus, Straub S. 231—235.

August Meitzen f . Von M. R o e d i g e r ... 235—237 Aus den Sitzungs - P rotokollen des Vereins für V olkskunde

(K. B r u n n e r ) ... 237—240

B e i t r ä g e f ü r d ie Z e i t s c h r i f t , bei denen um deutliche Schrift auf Q uartblättern m it R and gebeten w ird, M i t te il u n g e n im I n t e r e s s e d e s V e r e i n s , K r e u z b a n d s e n d u n g e n beliebe man an die Adresse des H erausgebers, P rof. D r. Johannes B o l te , B erlin SO. 26, E lisabethufer 37, zu richten.

B ücher zur Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags- Buchhandlung B e h r e n d & Co., B erlin W . 64, U nter den L inden 16, senden.

B eitrittserklärungen zum Verein nehm en der 1. und 2. V orsitzende Geh. R egierungsrat Prof. D r. Max R o e d i g e r , B erlin W . 62, B ayreutherstr. 43, und Prof. Dr. Johannes B o l te , sowie der S chatzm eister D r. Max F i e b e l - k o r n , B erlin NW . 21, D reysestr. 4, entgegen.

D er Jahresbeitrag, wofür die Zeitschrift an die M itglieder gratis und franko geliefert wird, b e trä g t

1 2

Mk. und ist bis zum 15. J a n u a r an den Schatzm eister zu zahlen. Nach diesem Term ine wird er von den B erliner M itgliedern durch die P aketfahrtgesellschaft eingezogen werden.

(Fortsetzung auf S. 3 des Um schlags.)

(3)

Geschichte der deutschen Volkskunde.

Von Adolf Hauffen.

(F ortsetzung zu S. 1— 17.)

D ie geringen A n l ä u f e zu einer d e u t s c h e n P h i l o l o g i e : Gottscheds und Lessings altdeutsche Studien, Bodmers und B reitingers Beschäftigung m it den deutschen D ichtungen des M ittelalters, H erders fruchtbare G edanken und H inw eise zu ein er wissenschaftlichen L iteraturgeschichte, die Aus­

gaben und Forschungen G elehrter, wie C. H. Myller, F . D. G räter, Lessings Schüler Eschenburg, das ‘Compendium der deutschen L iteraturgeschichte von den ältesten Zeiten bis au f Lessings T od’ (1790) von Erdw in Julius Koch, solche V orarbeiten also haben erst durch die fruchtbare W eiter­

entw icklung der ä l t e r e n R o m a n t i k e r , die von der L iebh aberei zur W issenschaft w eitergeschritten sind, einen W ert für unsere nationale B ildung und unser nationales L eben erhalten. D urch Kochs Schüler W . H. W ackenroder, der in der altdeutschen Kunst und D ichtung „das W esen des deutschen C harakters treu und deutlich eingeprägt“ findet, w urde L udw ig T i e c k in dieses Bereich gelenkt. Seiner N atur entsprach es, sich die D ichtungen des M ittelalters durch B earbeitungen anzueignen.

Seine halbschürige neuhochdeutsche Ü bertragung der ‘M innelieder aus dem schwäbischen Z eitalter’ (1803) m it einem erfolgreichen Versuch die G esam t­

dichtung des deutschen M ittelalters in den R ahm en der rom antischen Poesie einzuordnen, seine und August W ilhelm S c h l e g e l s B eschäftigungen m it dem höfischen und dem Volksepos legen den U ntergrund zu dem m ächtigen Bau der germ anischen Philologie. Schlegel ist ausserdem durch seine, gleich früchteschw eren Bäumen, gedankenreichen B esprechungen, A bhandlungen und Vorträge, besonders durch seine 1802— 1804 in Berlin gehaltenen V orlesungen ‘U ber schöne L ite ra tu r und Kunst’ zu dem B e­

gründer der L iteraturgeschichte geworden. Einen M ittelpunkt dieser B estrebungen bilden seine E inleitung zu der Geschichte der Poesie und der d ritte Kurs, wo er die Vergangenheit, G egenw art und Zukunft der deutschen D ichtung m it philosophischem Blicke betrachtet und in den Erörterungen üb er ‘D eutschheit’ m it kühler B esonnenheit und doch w ieder m it warmer Em pfindung die deutsche Sprache und den deutschen G eist würdigt.

Z e itsc h r . d. V e r e in s f. V o lk s k u n d e . 1910 H el't 2. g

(4)

Mit diesen B em ühungen der R o m an tik er gehen H and in H and ihre B estrebungen durch A u s g a b e n und U m d i c h t u n g e n alter v o l k s ­ t ü m l i c h e r S t o f f e , V olksbücher, M ärchen, Sagen und L ied er, die so lange vergrabenen oder von den gebildeten Schichten m issachteten Schätze des Volkes zu neuem L eben zu erw ecken und für die w eitesten K reise zu n eu e r W irk u n g zu b rin g e n 1).

B ei der B eschäftigung m it dem M ä r c h e n sind verschiedene W ege zu verfolgen. Z u n ä c h s t, die V erw endung m ärchenhafter Motive in der K unstdichtung, was m it dem E indrin gen der ‘contes de fees’, besonders der als echte V olksm ärchen zu betrachtenden ‘Contes de m a m ere l’Oye’

von P e rra u lt und m it Ü bersetzungen und N achahm ungen der arabischen M ärchensam m lungen, besonders denen von ‘T ausend und einer N acht’

anhebt. In dieser Zeit, also in den sechziger Ja h re n w ird auch das W o rt

‘M ärchen’ zuerst in der heutigen Auffassung verw endet. In V erserzählungen, in philosophischen und U nterhaltungsrom anen von W ielan d bis K ling er w erden solche M ärchen zu m oralischer E rbau un g oder zur E rh eiteru n g aufgenom m en; doch überw iegt später das sinnliche Elem ent. D ie erste B earb eitu ng eines deutschen M ärchens gibt J. F . W . Zachariae in seinen m o ralisieren d -g alan ten E rzählungen ‘Zwey schöne Neue M ährlein’ (1772).

Ihm folgt Joh. H einrich Jung, genannt Stilling, der (1779) das M ärchen Jorin de und Joringel aus den Schw alm gegenden in schlichter W eise erzählt. Im Jah re 1782 erscheint die erste grössere Sam m lung auf diesem G ebiete, Johann K arl August M u s ä u s ’ ‘V olksm ärchen der D eutschen’, die aber nicht alle deutschen U rsprungs und nich t eigentliche V olksm ärchen, sondern in W ielands Art, m it satirisch -friv o ler Auffassung und in einem anm utigen P laud erton erzählte, stark v erb reiterte Sagen sind. Schon Görres h at darüber zutreffend geurteilt, dass „der in ihnen herrschende Ton keinesw egs eigentlicher Volkston und ihre N aivetät nicht Volks- O O naiv etät is t“ 2). E ine A rt F ortsetzung dazu gibt C hristiane B enedikte N aubert, geb. H ebenstreit, in ihren gew andten und liebensw ürdigen B e­

arbeitungen volkstüm licher Stoffe: ‘Neue V olksm ärchen der D eutschen’

(L eipzig 1789 —1793). D er Zusatz ‘N eue’ bezieht sich auf Musäus. E inen Gegensatz zu diesen Sam m lungen bilden die anonym en ‘K inderm ärchen’

(E rfu rt 1787), vier volkstüm lich erzählte, längliche Geschichten.

D er erste, der das W ort S a g e für den T itel einer allgem einen Sam m lung verw endet hat und schon den heutigen B edeutungsinhalt daru nter versteht, ist L eonhard W ächter, der un ter dem Namen V eit W e b e r vierzehn, zu förm lichen Rom anen ausgesponnene M ärchen- und Sagenstoffe in dem m ehrbändigen W erke ‘Sagen der V orzeit’ (1787 —1798) veröffentlichte. Ihm kom m t m it dem gleichen T itel zuvor die älteste

1) R. Haym, D ie rom antische Schule (Berlin 1870), S. 78!)—BIG.

2) In einer Anmerkung zu der E inleitung seiner ‘Teutschen Volksbücher’ 1807 S. 21. [Andrae, Studien zu den Volksm ärchen von Musäus. (Diss. Marburg 1897.)]

(5)

Geschichte der deutschen Volkskunde.

131

landschaftliche Sam m lung ‘Sagen der Vorzeit . . . von dem berühm ten Salzburgischen U ntersberg’ (1782). D ie erste theoretische Schrift über diesen G egenstand ‘Einige W in ke ü ber Volkssagen und Y olkserzählungen’

von O tm ar (N achtigall) erschien 1796 *).

D ie von den G ebildeten lange verschm ähten V o l k s b ü c h e r brachten schon die S türm er und D rän g er w ieder zu E h ren . F aust, der ewige Jude, Genoveva boten Goethen, dem M aler M üller, K lingern u. a. willkom m ene poetische Stoffe. Ju n g -S tillin g und L essing befassten sich m it diesen Büchern. Nach französischem M uster begründete R eichard die ‘B ibliothek der R om ane’ (1778—1791), die auch V olksbücher in N acherzählungen m it bibliographischen M itteilungen und gelehrten A bhandlungen bringt.

Schlegel h at in seinen B erliner V orlesungen den W e rt dieser ‘unschein­

baren B üchelchen’ b etont und einzelne davon besprochen.

Ludw ig T i e c k gab V olksbücher und M ärchen in leich terer und stä rk e re r B earbeitung heraus und schritt später zu eigener M ärchen­

dichtung v o r2). D er in B erlin des ausgehenden 18. Jah rhu nd erts un ter dem Banne des einseitigen R ationalism us aufgewachsene D ichter hat einige Ja h re im Solde des V erlegers Nicolai für die von Musäus b e­

gründete Sam m lung ‘Straussfedern’ französisch-frivole Schwänke im Sinne der A ufklärung satirisch b ea rb eitet und bald eigene in gleichem Geschm ack g ehaltene, auch die S türm er und D rän g er verspottende E rzählungen verfasst. D ie steigende U nlust an dieser T ätig k eit und die B ekanntschaft m it der V olksdichtung bew irkte in ihm einen allm ählichen, doch gründ­

lichen Umschwung. Schon im zw eiten T eil seines ‘P e te r L eb rech t’ (1796) g ibt er den V olksbüchern vom gehörnten Siegfried, vom H erzog E rn st u. a.

wegen ih rer ‘w ahren E rfindung’ und ‘reinen D arstellung’ den Vorzug vor den dam als ‘beliebten M odebüchern’. D ieser neu erschlossenen W elt der P hantasie gab er sich völlig hin. In seiner dreibändigen Sam m lung

‘V olksm ärchen’ (1797), einem bunten Gemisch abenteuerlicher Geschichten in den verschiedensten F orm en, lässt er das W underbare wie etwas N atürliches frei schalten, und der auf blitzende Spott rich tet sich je tz t gegen die A lleinherrschaft des nüchternen Verstandes. Bei der ‘Geschichte von den H aim onskindern’ w ahrt er noch den alten treuherzigen Ton und tritt nicht persönlich hervor. A ber ‘D ie wundersam e Liebesgeschichte von der schönen Magelone’ um w ebt er schon m it einem rom antischen D uft uud versieht sie m it poetischen N aturschilderungen und L iedern. Die Schwänke der Schildbürger nützt er weidlich aus, um die N arrheit seiner Z eit m it scharfen Spitzen gegen das Selbstbewusstsein, die E ite lk e it und A berw eisheit der A ufklärer zu geissein. F ü r diese Sammlung, sowie für die ‘R om antischen D ichtungen’ (1799 und 1800) und noch später

1) R. Benz, M ärchendichtung der Romantiker mit einer V orgeschichte (Gotha 1907).

2) B. Steiner, L. Ticck und die Volksbücher (Berlin 1893).

9 *

(6)

132

w andelte er Märchen, Sagen und V olksbücher zu D ram en, m eist in den dam als üblichen Kostüm d er R itterzeit um, den gestiefelten K ater, K arl von B erneck, das R otkäppchen, Genoveva, O ktavian, ‘die poetische Summe der R om antik’ u. a.

T iecks spätere M ärchendichtungen sind K u n s t m ä r c h e n , wie die der übrigen R om antiker, welche auch grösstenteils von ihm ausgehen.

A ller V orbild ist Goethes ‘M ärchen’ (1796), das in seinen schönen N atu r­

b ildern die M öglichkeit vielseitiger A usdeutungen bietet. D as M ärchen, das „B ilder, Ideen und Begriffe durcheinander schlingt“ , ist nicht allegorisch, sondern sym bolisch, w eil es, um m it G oethe zu sprechen, n ich t „zum A llgem einen das B esondere such t“, sondern „im B esonderen das A llgem eine schaut“ 1). T iecks naturphilosophische G rundanschauungen stam m en aus der B ilderw elt des m ystischen Schuhm achers Jak o b Böhme, aus den Schriften von Schellings S chüler H ein rich Steffens und aus eigenen G efühlserlebnissen. D ie N aturbeseelung zeichnet er in seinen M ärchen als W esensverw andtschaft zwischen Mensch und N atu r und als das zerstörende W alten der N atur, dem d er Mensch erliegt. In seiner düsteren, aus Jugenderinnerungen seiner M utter geschöpften E rzählung

‘D e r blonde E c k b e rt’ (1797) herrsch t das T raum hafte, das U nheim liche der ‘W aldeinsam keit’. D as G rauen der lockenden Sünde schw ebt über der E rzählung ‘D er getreue E c k a rt und der T an nen häu ser’ (1799), wo die Sage vom V enusberg in der neueren D ichtung zum erstenm al verw ertet und m it den Motiven des treuen E c k a rt und des R atten fängers von H am eln v erkn üpft wird. Im ‘R unenberg’ (1803) hinwiederum erscheint das G rauen als geheim nisvolle, dräuende Macht der G esteine und M etalle.

N aturm ärchen sind auch F ouques liebliche O perndichtung U ndine (1814), wo d er Z auber des W assers herrsch t, sowie die M ärchen E. T. A. Hoffmanns, bei denen, wie bei T ieck, T raum und Bewusstsein ineinander verschwim men, wo aber das Däm onische viel grausiger und die W irk lic h k e it viel g re lle r zutage tritt. D ie A nschauungen der R om an­

tik e r ü b er die ‘N achtseiten’ der N atur w erden von Hoffmann noch w eiter geführt in das R eich des Ü bersinnlichen, der Magie, der S eelenrätsel u n te r dem Einflüsse der S chriften G otthelf H einrichs von Schubert.

A llegorisch-philosophisch sind M ärchen von Novalis und Chamisso, wo bestim m te G edanken und E rkenntnisse durch S innbilder ausgedrückt w erden so llen 2). Volksm ässiger gehalten sind die M ärchen von Clemens B rentano und seinem N achahm er W ilhelm Hauff. Schon 1808 beabsichtigte B rentano Märchen zu sam m eln und herauszugeben. Nach 1810 kam er davon ab, erfand in Stim m ungen und Einfällen des A ugenblicks, Selbst­

erlebtes und Gefühltes verw ertend, eigene M ärchen, erzählte sie K indern von B erliner V erw andten und schrieb sie 1816 nieder. Sie sind von T ieck

1) Goethe-Jahrbuch 25, S. 37—44; 116—127 und G oethes Werke (Hempel) 16, 22.

2) 0 . F. W alzel, Deutsche Romantik (Leipzig 1908) S. 137—143.

(7)

Geschichte der deutschen Volkskunde.

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und den phantastischen D ram en Gozzis angeregt, dem raschen E ntstehen entsprechend straff zusam m engefasst und dram atisch gehalten. B rentano verw endet für sie Motive aus Basiles P entam eron e, aus französischen M ärchen, doch auch deutsche volkstüm liche Stoffe, so für den B ären­

h äu ter und einige R heinm ärchen. Ih r schlicht kindlicher, schalkhafter Ton w urde früh bew undert. Eichendorff verglich sie ‘m it alten B ildern auf Goldgrund’, doch die E inm ischung literarischer Satire und persönlicher A usfälle fiel bereits seinen F reu n d e n unangenehm a u f1).

Nach diesem langen A uslauf m üssen w ir w ieder in den W eg von P ercy zum W underhorn einlenken. In seinem Aufsatz über B ürger (1800) b ew ährt A. W . Schlegel in der B eurteilung des V olksliedes glänzend seine neue, entw ickelnde K ritik. In dem A bgerissenen der D arstellung, in dem V erstecken der B ew eggründe, im bescheidenen F arbenauftrag, im Zarten, G em ütlichen, Leisen, im V erzicht auf R h eto rik bei spannender H andlung erblickt er die K ennzeichen des Volksliedes. Ausgesprochen rom autische U rteile folgen. „Im scheinbar K indischen ist das V olkslied oft u n­

ergründlich tie f und göttlich edel“ oder „die ursprünglichen V olksgesänge h at das V olk gew isserm assen selbst gedichtet; wo der D ichter als Person hervo rtritt, da ist schon die G renze der künstlichen P oesie.“ In seinen B erliner V orlesungen betrach tete Schlegel das V olkslied geschichtlich.

Als erster erk an n te er, dass die uns erhaltenen V olkslieder nicht über das 16., höchstens in das 15. Jah rh u n d ert hinaufreichen. H ier erhob er den R u f nach einem deutschen P ercy. D ieser W unsch sollte sich bald erfüllen!

Seit H erders internationaler V olksliedersam m lung ist nur eine w eitere Ausgabe erschienen: ‘U ngedruckte R este alten G esanges’ von Anselm E i w e r t (1784), die auch insofern einen Übergang zum W underhorn bildet, als sie zum grössten T eil deutsche, am R hein getreu aufgezeichnete, gelegentlich m it V arianten versehene V olkslieder bringt. B esonderen W e rt w eist diese Sam m lung dadurch auf, dass sie neben den bisher ein­

seitig bevorzugten B alladen auch L y rik enthält, und zwar L iebeslieder, die auf Goethe, B rentano und Eichendorff eingew irkt haben. U nter den frem den L iedern befindet sich auch ein A bschnitt des altfranzösischen ‘L ai du corn’, der die A nregung zu T itel und Prolog des W underhorns ge­

geben hat. Gleich danach kam en Schubarts ‘G edichte’ (1785— 1786) m it den prächtigen im V olkston gehaltenen schwäbischen B auernliedern heraus.

F ried rich H einrich Bothes zur H älfte aus P ercy geschöpfte Sam m lung

‘V olkslieder nebst unterm ischten anderen Stücken’ (1795) b rin g t nicht e in w irkliches deutsches V olkslied. An der Schwelle des 19. Jah rh un derts erschienen in B ayern, T irol und in der Schweiz innerhalb statistischer und landw irtschaftlicher W e rk e kleinere R eihen von Schnadahüpfeln und

1) 0 . B leich, Entstehung und Quellen der Märchen Brentanos (Archiv f. n. Sprachen 96, 4 3 —96). H. Gardauns, D ie Märchen C. Brentanos (Köln 1895).

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K uhreigen, dann 1805 die erste selbständige A usgabe ‘Schweizer K u hreig en’

Siegm unds von W agtier, welche in späteren B earbeitungen die w ichtigste und am stärk sten ausgeschriebene Schweizer L iedersam m lung gew orden ist. Um die Z eit verfasste Goethe w ieder volksm ässige Gedichte. D urch das ‘Bergschloss’ und ‘Schäfers K lagelied’ (T aschenbuch auf das J a h r 1804) schuf er eine neue A rt von R om anzen, welche nun die Lieblingsform der rom antischen L y rik er wird.

D er Briefw echsel zwischen Achim v o n A r n im und Clem ens B r e n t a n o 1) eröffnet uns den E in b lick in die E ntstehungsgeschichte von des K n a b e n O © W u n d e r h o r n . Beide haben früh in H eim at und F rem de gern dem Y olksgesang gelauscht und L ied er aufgezeichnet. B esonders B rentano h atte bald eine reichhaltige Sam m lung g ed ruck ter und handschriftlicher Quellen beisam m en. D er beide beglückende G edanke einer gem einsam en A rbeit verdichtete sich bei ih re r Z usam m enkunft in Berlin, D ezem ber 1804, zu dem P la n einer V olkslied-A usgabe. Im folgenden Jah re, in H eidel­

berg, b earb eiteten sie ihren reichen L iederbestand. Arnim s „fruchtbare Schaffenskraft verlor sich leicht ins U nendliche“, B rentanos „auf ein b e­

stim m tes Ziel gerichtete T ätig k eit erm üdete leicht vor der V ollendung.“ So w urde es beiden zum H eil, dass sie sich zu einem gem einsam en U nternehm en verpflichteten und im B estreben gleiches zu leisten, rasch zum Ziel ge­

langten. A rnim s'N eigung zu volksliedartig träum erischen, verschw im m enden T önen und B rentanos schon in den lyrischen E inlagen des R om ans Godwi bew ährte „geniale K unst im Sinne des Volkes m ythenbildend zu schaffen“

und den echten Ton des V olksliedes erstaunlich getreu w iederzugeben, verlockten beide, an den ihnen vorliegenden L ied ern k räftige Eingriffe vorzunehm en. Im Jän n e r 1805 erschien A rnim s hochgem utes Send­

schreiben ‘Von V olksliedern’ in ‘R eichardts B erlinischer m usikalischer Zeitung’, dann eine A nkündigung im R eichsanzeiger und in der ‘Jenaischen allgem einen L itera tu rzeitu n g ’ m it d er E rklärun g, dass diese L ied e r „von uns aus dem Munde des Volkes, aus B üchern und H andschriften gesam m elt, geordnet und e r g ä n z t sind’. Im H e rb st dieses Jah res erschien der erste T eil ‘Des K naben W underhorn. A lte deutsche L ied e r’, F ra n k fu rt und H eidelberg 1806, m it einer launigen Zueignung an Goethe. W egen der K riegsw irren und der fortw ährenden Ä nderungen und E inschübe neu ein­

laufender L ied e r verzögerte sich das E rscheinen des zweiten und d ritten T eiles (m it einem Anhang ‘K iud erlieder’) bis gegen Ende 1808. Goethe hatte bereits im Jah re 1806 in der ‘Jenaischen allgem einen L ite ra tu r­

zeitung’ diese Sam m lung freudigst begrüsst und jedes der 210 L ieder des ersten T eiles kurz und treffend charakterisiert. G örres gab in den

‘H eid elberg er Jah rb ü ch ern ’ (1809) eine durchgehende ethische W ürdigung der L ied er nach den L ebenslagen von der K ind heit bis zum Tode und

1) H eransgegeben von lteinhold S teig, Arnim und Brentano (Stuttgart 1894).

(9)

Geschichte der deutschen Volkskunde. 1 3 5

rie f hier aus, die H erausgeber haben „die B ürgerkrone verdient um ih r Volk, dass sie re tte te n von dem Untergang, was sich noch retten liess“. — F reilich die kühne, schier planlose Anordnung dieser bunten F ü lle von L iedern, die Aufnahm e von K unstgedichten, die „Ipsefacten und R estau­

ratio n en “, an denen Arnim nachw eislich stärk er beteiligt w ar, riefen B edenken und W iderspruch hervor. D er alte Johann H einrich Voss erhob 1808 den Y orw urf: ‘zusam m engeschaufelten W u st voll m utw illiger Ver­

fälschungen sogar m it untergeschobenem M achwerk’; F riedrich Schlegel bezeichnete es in seiner, Goethes günstige B esprechung parodierenden, Anzeige der 1807 von Büsching und von der H agen in strenger B e­

handlungsart herausgegebenen, doch recht kärglichen ‘Sam m lung deutscher V olkslieder’ als Abweg der H erausgeber des W underhorns, dass sie „das W esen des Volksliedes vorzüglich in die U nverständlichkeit setzen “. Doch allen W iderbellern zum Trotz hat dieses „Buch voll herrlichen L eb e n s“

eine unvergleichlich tiefgehende W irku ng erzielt. D ie H erausgeber v er­

folgten ja keinen w issenschaftlichen Zweck. D adurch, dass sie m it feinem Gefühl für das V olksm ässige und Poetische L ü cken ausfüllten, D erbes und G eschm ackloses m ilderten , haben sie, wie Brentano an Goethe schreibt, diese L ieder, die so sehr dem L eb en gehören, dem Leben w iedergegeben. In der T at sind gerade die L ieder, welchen die H eraus­

geber ihren G eist aufgedrückt haben, nicht n u r von K ennern als echte V olkslieder angesehen worden, sondern auch zu allgem einster B eliebtheit gelangt. W as die H erausgeber erstrebten, das h at dieses unvergängliche D enkm al der deutschen R om antik erfüllt. Es hat die P oesie des Volkes den G ebildeten zugeführt, die L y rik des 19. Jah rh u n d erts befruchtet und verjüngt, der W issenschaft den W eg zu reger allgem einer Aufsam mlung und H erausgabe von V olksüberlieferungen gew iesen und das V aterlands­

gefühl in schweren T agen gestählt und erh o b en 1).

In der H eid elb erg er R om antik wurzeln die altdeutschen Studien von Jo sef G ö r r e s 8). D en A ntrieb dazu gaben ihm seine Beziehungen zu dem

1) H. Lohre, Von P ercy zum W underhorn, B eiträge zur Geschichte der Volks­

liedforschung in Deutschland. (Palaestra 22. Berlin 1902) S. 79 - 1 2 7 . — O. F. W alzel, a. a. 0 . S. 121—12G. — In den letzten vier Jahren sind drei Untersuchungen über die B earbeitungen der V orlagen zum Wunderhorn erschienen, deren letzte und eingehendste diesen Gegenstand wohl v ö llig erschöpft. J. E. V. M üller, Arnims und Brentanos rom antische Volksliederneuerungen, ein B eitrag zur G eschichte und Kritik des Wunder­

horns (Programm der H ansaschule zu B ergedorf 1905/190G). F. Rieser, D es Knaben W underhorn und seine Q uellen, ein B eitrag zur Geschichte des deutschen V olksliedes und der Romantik (Dortmund 1908). K. Bode, D ie Bearbeitung der Vorlagen in D es Knaben Wunderhorn (Palaestra 76. Berlin 1909). Bode, der auch den handschriftlichen N achlass Arnims heranziehen konnte, setzt sich insbesonders die Aufgabe, im einzelnen zu zeigen, wie sich im Wunderhorn rom antische Id een äussern. Es hätte m ich natürlich zu w eit geführt, diese wertvollen Ergebnisse für meine D arstellung zu verwerten.

2) Franz Schultz, J o sef Görres als Herausgeber, Literarhistoriker, Kritiker im Zu­

sam m enhang mit der jüngeren Romantik (Palaestra 12. B erlin 1902).

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politischen L eben D eutschlands, das er von der L ite ra tu r aus erneuern wollte. R asch ist er durch seine V erbindung m it den B rüdern Grim m in den Kern ihres, von dem seinigen so abw eichenden, W esens und A rbeitens eingedrungen. In H eidelberg, wo er 1806—1808 w eilte, auch P riv atv o r­

lesungen ü b er die deutsche L ite ra tu r an der U niversität u n ter grossem Z ulauf hielt, m it A rnim und B rentano die E in sied ler-Z eitu ng herausgab, verfasste er die Schrift ‘D ie teutschen V olksbücher, N ähere W ürdigung der schönen H istorien-, W e tte r- und A rzneybüchlein, welche teils in n erer W ert, teils Zufall Ja h rh u n d erte hindurch bis auf unsere Z eit erh alten hat’, H eidelberg 1807. F ü r dieses, sein bestes und am tiefsten nachw irkendes literargeschichtliches W e rk benutzte er eine von Clem ens B rentano seit 1802 zustande gebrachte, reichhaltige Sam m lung von gedruckten und hand­

schriftlichen V olksbüchern, woraus er n u r diejenigen heranzog, die ihm geeignet schienen, der G egenw art zu dienen. D er an B rentano gerichteten W idm ung, ein er poetischen Vision von den b erg en trü ck ten H elden deutscher Vorzeit, folgt eine w ohlgegliederte E inleitung, welche, Ton G edanken H erd ers, B ürgers, A. W . Schlegels ausgehend, in grossen Zügen die deutsche V olksdichtung charakterisiert. G örres scheidet h ie r streng zwischen niederer, unheiliger ‘P ö b elh aftig k eit’ und dem ‘heiligen V olks­

geist’ und verteidigt m it gesunden A nschauungen den B egriff V olks­

lite ratu r. Dem in V olksliede erw achten ‘lyrischen N atu rgeist’ stellt er die

‘V olkssagen’ gegenüber, aus denen er in einer zu w eit gehenden V e r­

m utung ‘die m eisten V olksbücher’, näm lich die erzählenden, hervorgehen lässt. E r b e to n t aber, dass die lehrenden V olksbücher „nicht von frü h erer m ündlicher Ü berlieferung ausgegangen, m ithin auch nich t wie die rein poetischen aus dem Volke selbst heivorgew achsen und auch keinesw egs so tie f m it seiner innersten N atur verw achsen“ sind. In d er folgenden B eschreibung von 49 V olksbüchern geht er von den lehrenden zu den rom antischen und den religiösen ü b er und schliesst dann „m it einem grossen B lick auf das durchlaufene G ebiet von der gew onnenen H öhe h in a b “. B ibliographische U ngenauigkeiten und die unrichtige Anschauung, dass die m eisten V olksbücher Prosaauflösungen m ittelalterlicher E pen seien, muss man einem nicht n u r gelehrten, sondern auch L eb en atm enden Buche zugute halten. P ersönliche V oreingenom m enheit zeigt sich, wenn er der V olksheilkunde das W o rt redet, weil er selbst W u n d erkuren vor­

genom m en hat. D en H öhepu nkt dieser literargeschichtlichen L eistu ng b ild et die A bhandlung üb er die E ntstehung und W eiteren tw icklu ng der Faustsage, wie er auch die G eschichte des Buches vom E ulenspiegel richtig verm utet. Seiner W ürdigung einzelner V olksbücher vom Standpunkt m it- geniessender Em pfindung aus ist nichts Besseres an die Seite zu setzen.

Von dem W underhorn, von T iecks M inneliedern und Jak o b Grim m s Schrift ‘U ber den alten deutschen M eistergesang’ 1811 gehen G örres’

w eitere Beschäftigungen m it den V olks-, M inne- und M eisterliedern aus

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Geschichte der deutschen Volkskunde. 1 3 7

und führen zu der Ausgabe ‘A ltteutsche Volks- und M eisterlieder aus den H andschriften d er H eid elb erg er B iblio th ek ’, 1817. In der E inleitung dazu, welche eine lebendige, aus den M inneliedern erschlossene V ergegen­

w ärtigung der deutschen V ergangenheit zeigt, teilt er den S tan dp un kt Grimm s, dass das V olkslied die ganze Z eit neben dem M inne- und M eistergesänge bestanden habe, fasst ab er den B egriff V olkslied viel w eiter als je n e r, wenn ihm V olksm ässigkeit gleichbedeutend m it der all­

gem einen Aufnahm e und V erbreitu ng eines L iedes ist. E r geht aber zu weit, wenn er in d er V orrede, wie in der Ausgabe die drei deutlich von­

einander zu scheidenden G ruppen zusam m enwirft. Seine Auswahl aus den eben glücklich w iedererlangten pfälzischen H andschriften trifft er ziem ­ lich sorglos und w illkürlich, ordnet die ‘recht schönen V olkslieder’ in stoffliche G ruppen ohne organischen Zusam m enhang an, versieht sie m it zum T eil unpassenden Ü berschriften, schreibt sie, wie dam als üblich, halbschlächtig ins N euhochdeutsche um und, was schlim m er ist, än dert W ortlaut und R eim , streift den R eiz des M undartlichen und F rischen ab; ganz zu geschw eigen von den zahllosen M issverständnissen und L ese­

fehlern. W ie G örres bei den V olksbüchern n ur den Stoff und nicht die F orm beachtete, so erw eist er auch hier k ein Gefühl fü r den Rhythm us und den poetischen Stil.

Von B rentanos und A rnim s B em ühungen um die Volksdichtung und von G örres’ ‘V olksbüchern’ gingen die wissenschaftlichen A n­

fänge der B rü d er G r im m aus. Doch im Gegensatz zu den R om an­

tik e rn w urden sie früh durch E rziehung und knappe V erhältnisse an eine einfache zurückgezogene L ebensw eise und stete pflichtgetreue A rbeit gewöhnt. Auch hatten sie bei ihrem ernsten wissenschaftlichen Gewissen eine ganz andere Auffassung von den w inkenden schönen Auf- O O gaben als die R om antiker, so dass eine gem einsam e A rbeit m it diesen unm öglich wurde. Bei der V orbereitung der späteren Bände des W und er­

horns hatte Arnim im R eichsanzeiger Ende 1805 eine A ufforderung an das P ubliku m veröffentlicht m it dem E rsuchen um Einsendung von L iedern. F e rn e r w urde B rentanos gedrucktes Z irk u lar von 1806 zum T eil aufgenom m en in die von ihm und Arnim Novem ber 1807 in den verbreitetsten B lättern erlassene E rklärung. D iese Aufrufe sind schon als erster Versuch zu einer O rganisierung der S a m m e l a r b e i t zu betrachten.

U ngefähr 1808 teilte Jak o b Grim m m ündlich B rentano seinen P la n zu einem ‘deutschen Sam m ler’ m it. Im N eujahrsbrief von 1811 schlug B rentano auf G rund seiner eigenen E rfahrungen Grim m vor, m it ihm, Arnim , Görres und anderen eine Aufsam mlung von ‘T radition und Volks- sage’ zu unternehm en, wofür D eutschland in K reise m it besonderen L eitern der Sam m elarbeit g eteilt w erden sollte und für die Veröffent­

lichung eine Zeitschrift ‘D e r A ltdeutsche Sam m ler’ oder ‘ein fortw ährendes

Buch’ zu bestim m en wäre. Mit einer zustim m enden A ntw ort h atte Grimm

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auch gleich die erbetene ‘A ufforderung an die gesam ten F reu n d e deutscher Poesie und G eschichte erlassen’. D ieser, im w esentlichen n u r die Auf­

sam m lung von Sagen im w eitesten Sinne des W ortes bezw eckende E n t­

w urf ist nicht n u r zu um fänglich, sondern auch zu gründlich, zu wissen­

schaftlich w uchtig geraten, als dass er sich zu einer V erbreitung in den w eitesten Schichten geeignet hätte. U nw illkürlich w ird h ie r auch die beim W underhorn angew endete M ethode gerügt, w eil die g etreueste W iedergabe der V olkserzähliingen gefordert ist. So w ar es also für Arnim und B rentano nicht möglich, diesen A ufruf zu unterschreiben. Jak o b Grimm h ätte sich auch nie zu einer anderen Ü berzeugung bestim m en lassen und sah bald die A ussichtslosigkeit dieses U nternehm ens ein. So blieb die Sache liegen, doch entschloss er sich nun, seiner eigenen K raft vertrauend, ohne V erbindung m it den R om antikern n u r m it seinem , zwar phantasie­

vollen, dichterisch begabten, aber der echten W issenschaft treu ergebenen B ruder W ilhelm zu arbeiten, und verw endete viele G edanken des aufge­

gebenen P la n es für ein neues U n tern eh m en 1). W ährend des W iener K ongresses stiftete Jak o b G rim m eine G esellschaft, die „alles, was unter dem gem einen, deutschen L andvolke von L ied und Sage vorhanden ist, re tte n und sam m eln“ sollte. E r versendete ein Z irk ular, das später

‘M ärchenbrief’ zubenannt wurde, und das neben M ärchen, Sagen und L iedern auch Schw änke, P uppenspiele, B räuche, R echtsgew ohnheiten, A berglauben und Sprichw örter ins Auge fa sst2).

Zwischen 1810— 1815 haben die B rüder G rim m ihren festen Stand­

p u n k t gefunden, von dem aus sie in ihren A rbeiten und P län en folge­

richtig und fruchtbar zu system atischen F orschungen und D arstellungen der geistigen Erzeugnisse des deutschen V olkstum s vorgehen konnten. Sie h aben diesen W eg w eiter verfolgt bis zu ihrem L ebensende, m it im m er wachsenden Erfolgen und viele Ziele erreicht, die sie sich in ih rer Ju gen d gesteck t hatten. F reilich der k räftigere und gesündere Jak o b war viel leistungsfähiger und ging m it unablässigem F leiss u n b eirrt auf sein Ziel los, w ährend W ilhelm oft durch N ebenbestrebungen, seine F am ilie und ge­

selligen V erk ehr von seiner wissenschaftlichen T ätig k eit abgezogen w u rd e 3).

1) V gl. R. S teig, oben 12, 129 — 138, wo auch die erwähnte ‘Aufforderung’ nach der H andschrift abgedruckt ist.

2) Y gl. J. B olte, oben 12, 96 Anmerkung. Das Zirkular ist abgedruckt in J. Grimms K leineren Schriften 7 ,5 9 3 —595. Über die V olksdichtung hinaus greift eine A nleitung, die Jakob Grimm 1822 seinem Freunde, dem R egierungsrat Werner von Haxthausen in Köln, für eine geplante A ufsam m lung w estfälisch er Ü berlieferungen vorschlägt. In e lf Ab­

schnitten wird hier die Aufzeichnung der ‘V olksdialekte nach Schm ellers Muster’, von Rechtsgew ohnheiten, Bräuchen, Tracht, Hausrat, ‘E igenheiten bei Viehzucht und Acker­

bau’, von V olkssagen, Sprichwörtern, Liedern und Tänzen in Aussicht genom m en. Ein P lan , der den w eitesten Stoffkreis der Volkskunde in sich fasst. (M itgeteilt von Erich Schm idt oben 12, 9(5—98.)

3) Hermann Paul, G eschichte der germ anischen P h ilo lo g ie S. 6 1 —65. 6 8 —73. 8 3 —90.

94 — 96. (In seinem Grundriss der germ anischen P h ilo lo g ie 8 I. Strassburg 1901.)

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Geschichte der deutschen Volkskunde. 139

Zunächst hatten sich die B rüd er die Aufgabe gesetzt, gegenüber dem W underho rn die v o l k s t ü m l i c h e n P r o s a d i c h t u n g e n zu sam m eln und herauszugeben. Sie begnügten sich nicht m it den gedruckten, vielfach trüben Quellen, sondern schöpften auch aus dem Yolksm und. N ur Echtes, in m öglichst unverfälschter G estalt w ollten sie gew innen. F rü h zeitig fassten sie den P lan zu zwei Sam m lungen; sie schieden die Erzählungen, die an O rt und Z eit gebunden sind, also die S a g e n , von den freien M ä r c h e n . Nach ungefähr sechsjähriger V orarbeit des Sammelns und Sichtens zerstreuten Stoffes, einer vorsichtigen, den ursprünglichen Ton nicht verw ischenden S tilisierung erschien der erste B and d er ‘K inder- und H ausm ärchen’ 1812 und bald danach der zweite 1814. D ie zweite Aus­

gabe (1819—1822) brachte eine erhebliche V erm ehrung, besonders der A nm erkungen, die zu einem neuen, dem dritten B ande erw eitert w urden.

D en ältesten B estand bilden E rzählungen alter F rau en aus H essen; das m eiste entstam m t überhaupt m ündlicher Überlieferung. N eben Joh. H ein ­ rich Ju n g -S tillin g steuerte auch P hilipp Otto R unge, der M aler der R om antik und L iederdichter, die zwei plattdeutschen M ärchen vom F ischer und seiner F ra u und dem M ahandelboom b e i1). W urden die M ärchen ein G em eingut des deutschen Volkes, so haben die reichhaltigen A nm erkungen dazu, welche die Quellen, verw andte F assungen und Stoffvergleichungen bieten, trotz dem unrichtigen S tandpunkt, die Ü bereinstim m ungen auf einen gem einsam en, m ythischen K ern zurückzuführen, die gesam te, spätere M ärchenforschung auch über D eutschland hinaus an g e b ah n t2).

In zwei B änden erschien auch die nächste reichhaltige Sam m lung der B rüd er ‘D eutsche Sagen’ (1816 und 1818) m it wunderschönen E in ­ leitungen, die neben der W ürdigung des Gebotenen, auch Auswahl, E in ­ teilung und A nordnung rechtfertigen. D er erste T eil enth ält die ‘m ehr örtlich gebundenen’, das heisst zum grössten T eil m ythische Sagen, die sich an bestim m te O rte festgesetzt haben, und hier nach den m annig­

faltigen E rscheinungen der E lben angeordnet sind. Alle stam m en aus dem V olksm und und sind zum »rossen T eil von den B rüdern selbst auf- o gezeichnet worden. Von älteren Sam m lungen verw enden sie besonders die von P räto riu s — legen aber die R übezahlsagen für später bei Seite — und die w enigen vor ihnen erschienenen landschaftlichen Sagensam m lungen, die vom U ntersberge (vgl. oben S. 131), die E isenacher Volkssagen (1795), Otmars Sagen aus dem H arz (1800) und die von W yss (B ern 1815), die aus um fänglichen G edichten ‘in die nackende W ah rh eit eingelöst’ w erden m ussten. D er zw eite T eil b rin g t die fast durchaus C hroniken und älteren G eschichtsw erken entnom m enen, ‘m ehr geschichtlich gebundenen’ Sagen.

H ie r w erden die H eldensagen, viele G eschlechtersagen und L egenden über­

haupt nicht aufgenom m en. D ie A nordnung in den beiden B änden ist so

1) Andreas Aubert, R unge und die Romantik. (Berlin 1909).

2) Eine neue Ausgabe wird von Joh. B olte im Vereine mit G. Polivka bearbeitet.

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glücklich, dass sie den E in d ru ck eines einheitlichen, ungestörten V erlaufes m acht. D as B edeutsam e dieser Sam m lung von 585 Sagen lieg t auch darin, dass hier b ereits alle typischen A rten von V olkssagen vorliegen, so dass die zahllosen späteren allgem ein deutschen und landschaftlichen Sagen­

sam m lungen, die sich auch in E inteilu ng und A nordnung nach dieser Aus­

gabe richten, n ur neue B eispiele dazu liefern k o n n te n 1).

Im Ja h re 1819 erscheint der erste, die F lexio nen und einen T eil d er L au te behandelnde B and der ‘D eutschen G ram m atik’, die erst 1837 m it dem 4. Band fertig v o rlieg t2). H ie r hat Jak o b Grim m den überaus reichen B estand an L auten, F orm en, W o rt- und Satzbildung aller germ anischen V ölk er von den A nfängen bis in seine Z eit auf G rund zahlreicher Q uellen gebucht und m it seiner Anschauung vom geschichtlich G ew ordenen das erste B eispiel einer w issenschaftlichen, historischen G ram m atik gegeben und dam it erst die E rk e n n tn is der geschichtlichen E ntw icklung der Sprache eröffnet. D ie lebenden M u n d a r t e n sind h ier n u r gelegentlich berücksichtigt, weil Jak o b die F äh ig k eit abging, die feinen U nterschiede und F ärb u n g en m undartlicher L au te genau zu erfassen. E in e um so w ert­

vollere E rgänzung fand seine gew altige L eistung durch die gleichzeitig anhebende E rforschung der lebenden M undarten, deren erste reife F ru c h t das vielfach nachgeahm te ‘B ayerische W örterbuch’ (1827— 1837) von Joh ann A ndreas S c h m e l l e r ist, das nicht n u r eine F ü lle m undartlicher Aus­

drücke, sondern auch zur E rläu teru n g eine F ü lle von R eden sarten, Sprichw örtern, Bräuchen und anderen V olksüberlieferungen bringt.

Jak o b Grim m w andte sich inzwischen anderen G ebieten zu. Schon lange zogen ihn an den deutschen R e c h ts b rä u c h e n die sinnlichen, leben ­ den E rscheinungen besonders an. H ier fand er ‘dasselbe stille W alten d e r V olksphantasie, das F esth alten an alter Ü berlieferung, wie in Sage und Mythos’. Nach einer V orarb eit m it dem bezeichnenden T itel ‘Von d e r P oesie im R ech t’ erschienen 18*28 die ‘D eutschen R ech tsaltertü m er’, wo die bild k räftig e Sprache der F orm eln m it Stab- und Endreim , sowie die von den R echtshandlungen u nzertrennlichen S innbilder besonders eingehend b erück sichtigt w u rd en 3).

Sieben Ja h re später (1835) erschien w ieder ein auf em sigster A rbeit b e­

ruhendes, grundlegendes W e rk von Grimm , die ‘D e u t s c h e M y t h o l o g i e ’4).

1) D eutsche Sagen, herausgegeben von den Brüdern Grimm, 4. A u flage besorgt von Reinhold S teig (B erlin 1905). In einem Bande. Beide Vorreden stehen je tz t an der Spitze. D er mehrfach entstellte W ortlaut is t gebessert. D ie Q uellenangaben am Schluss sind m it den Zusätzen aus dem Handexemplar der Bücher ergänzt.

2) N euer verm ehrter Abdruck des 1. und 2. Bandes durch W ilhelm Scherer (Berlin 1 870—1878); des 3. und 4. B andes durch Gustav Roethe und Edward Schröder (Gütersloh 1890 u. 1898).

3) Vierte A u flage von Andreas H eusler und R. Hübner (L eip zig 1900).

4) Vierte A u flage besorgt von Elard H ugo M eyer (Berlin 1875—1878), wo Grimms handschriftliche N achträge verw ertet sind.

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Zachariae: Scheingeburt. 141

N ur schwache Versuche sind vor ihm auf diesem G ebiete en t­

standen, so h at er auch dieses W e rk wie die G ram m atik aus dem Vollen geschaffen. Mit A bsicht zog er hier die nordischen Q uellen nicht heran, w eil er der F rage, ob die beiden M ythologien urgerm anisch, also gem einsam er B esitz seien, nicht vorgreifen wollte. In D eutschland ab er lagen ihm n u r w eit zerstreute T rü m m er vor, doch hat er es verstanden, aus schriftlichen Quellen aller Zeiten des deutschen Volkes und aus m ündlichen Ü berlieferungen einen stattlichen B au aufzurichten. D ie H eldensage hat er, was auffällig ist, n u r w enig ausgebeutet. U nter der beigebrachten Masse von Belegen ist von der späteren K ritik manches gestrichen worden, was überhaupt nicht m ythischen oder doch nicht alt­

deutschen Ursprunges ist, sondern späterer A usbildung oder frem der Be­

einflussung entstam m t V orsichtig ab er hat sich Grim m im Gegensatz zu seinen V orgängern und Nachfolgern aller Ausdeutung von Mythen ent­

halten. So wie seine G ram m atik, hat auch seine Mythologie auf den w issenschaftlichen B etrieb dieser G ebiete nicht nur in der deutschen Nation, sondern bei allen gebildeten V ölkern m ächtig und nachhaltig ein­

gew irkt.

^> ra& * (Schluss folgt.)

Scheingeburt.

Von T heodor Z achariae.

D er italienische R eisende P i e t r o d e l l a V a ll e ist ein klassisch g ebildeter S chriftsteller, ‘ein in den H istoricis und alten Scribenten, die e r an vielen O rten anführet, wohl belesener und vieler Sprachen kundiger Mann’ E r wird nicht müde, die K lassiker zu zitieren, nam entlich dann, w enn sichs um die V ergleichung orientalischer S itten und G ebräuche mit denen der Griechen, R öm er und anderer V ölker handelt. Den T ü rk en ist es nicht erlau b t, m it Schuhen oder Pantoffeln in die Moscheen zu g e h e n 1), gleichwie man auch in dnr Dianen Tem pel auf K reta hat tun müssen, nach dem B ericht des Julius Solinus. Auf den Särgen der ottom anischen K aiser sieht D ella Valle (1 ,2 1 ) ein Kleid und ein Tulband von der Form , wie es der V erstorbene getragen hat, liegen. B eide Gegen­

stände werden, wie er hört, alle Jah re e r n e u e r t . Dies erin n ert ihn an

1) D ella V alle 1. 14 Irh zitiere D ella V alles Reisebesrhreibung nach der deutschen Ausgabe von YViderhold (4 T eile, Genlf 1674), mit Vergleichung des unentbehrlichen italienischen Originals in der Ausgabe von Gancia, Brighton 1843.

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das, was nach Thuc. 3, 58, 3 die B ürger von P la tä ä taten. In K onstantinopel w urde D eila Yalle von ein er röm isch-katholischen F am ilie zu einer Tauf- feierlichkeit eingeladen; er selbst m usste b ei dem K inde, einem Mädchen, G evatter stehen. D ie H andlung unterschied sich in nichts von d er in Italien ü b lic h e n 1) ; n u r w urde das K ind, nachdem es in die K irche ge­

tragen w orden, zunächst a u f e i n e n T e p p i c h g e l e g t , und nachdem der P rie ste r etliche G ebete gesprochen, m usste D eila Y alle als P a te das K ind v o n d e r E r d e a u f h e b e n : ‘W elches vor alters die Y ätter selbsten bey ih re r K inder-G eburt gethan h a b e n 2), hierdurch zu erken nen zu geben, dass sie Y ätter darzu wären, und sie für die ihrige erk en n eten ’. D eila Y alle fügt hinzu, dass er das K ind nicht allein von der E rd en , sondern auch, ih rer G ew ohnheit nach, so h o c h in d ie H ö h e h a b e n m u s s t e ,

i 1

als seine Arm e reichen konnten, gleich als ob dieses ein gutes V orzeichen wäre, dass das K ind zu seinem vollkom m enen Gewächs gelangen w ürde (1, 43). Bei den T ü rk e n gilt die lin k e H and als die O berstelle, als der ehrlichste P la tz 3). So h at auch Cyrus, wie X enophon Cyr.

8

, 4, 3 b erichtet, die linke H and fü r die ehrlichste gehalten. In K airo le rn t D eila Y alle (

1

, 128 vgl. 2, 236) zum ersten Male die T au ben kennen, deren m an sich im O rient bedient, um B riefe zu b efö rd ern 4). E r erin n e rt an die T auben, die D ecum us B rutus aus dem belagerten M utina ins L ag er der Konsuln schickte (P lin iu s 10, 37), sowie an die ‘fliegenden B oten’ Tassos (G erusa- lem m e lib erata 18, 52). Im Ja h re 1616 beobachtete D eila Yalle (

1

, 176) in Aleppo eine M ondfinsternis. Mit kupfernen B ecken, au f die sie schlugen, und auf andere W eise m achten die B ew ohner d er S tadt einen grossen L ärm , um das T ie r zu verjagen, das, nach ihrem Glauben, den Mond zu verschlingen d ro h te6). So m achtens auch die A lten m it ihren sistra und anderen Instrum enten von M etall, wie D eila V alle in C artaris Im agini degli D ei gelesen h a t 6). Mit einer in P ersien geltenden Strafe

1) D och vgl. D eila V alles nachträgliche Bem erkung über die W achskerze, die bis zum Tode des T äuflings aufbew ahrt und ihm m it ins Grab gegeb en wird (R eiss-B e­

schreibung 1, 45 b).

2) B elegstellen gib t D eila Y alle nicht, w enigstens nicht in der deutschen A usgabe.

In G ancias A usgabe 1, 79 wird verwiesen auf Dem pster, Antiqu. roman. lib. I I . Paralip.

ad cap. 19 [Kölner Ausgabe von 1620 S. 391—95]. Siehe sonst A. D ieterich, Mutter Erde 1905 S. ö ff. und m eine Bem erkungen in der W iener Zs. für die Kunde des M orgen­

landes 17, 143 f. In Bihär wirft die Hebamme das Kind fünfmal in die L uft und fängt es wieder auf. D ies — und anderes — g esch ieh t, um den bösen B lick abzmvenden (G. A. Grierson, Bihär peasant life § 1401. 1402). Y gl. noch Fischarts Gargantua 1891 S. 167: ‘Secht, daß ihrs hoch genug auffhebt, d a ß e s a u c h h o c h w a c h ß ! Hebts ihr lieben Paten, w ie die fromm enC heiben dieE ydgn ossen iren lieben Pfetterm an K önig H einrich!’

3) D eila Y alle 1, 57. 64. Y gl. Thevenots R eisen (Franckfurt 1693) 1, 42. Otto Stoll, Das G eschlechtsleben in der V ölkerpsychologie S. 279.

4) V gl., u. a., Thevenots Reisen 2, 56. 91.

5) Ähnlich das Verhalten der Bewohner von Ispahan bei G elegenheit einer Mond­

finsternis (D eila Valle 2, 42).

6) V gl., u. a., Preller, G riechische M ythologie 4 1, 134, Röm ische M ythologie 8 1, 328;

Grimm, D eutsche M ythologie 2 668ff.

(17)

Schein gebürt. 1 4 3

für N otzuchtsverbrechen vergleicht er (

2

, 231) die Strafe, die nach Diodor 1, 78, 4 bei den Ä gyptern bestand (zov ßiaoa/btevov yvvaixa iXevd'egav

nQoqha^av äjioxoTtTeo&ai xä aidola).

D ie T ü r s c h w e l l e w ird von den P ersern fü r h e ilig 1) und unverletzlich gehalten (D eila Yalle 3, 87 vgl.

2, 29); ebenso wie es die A lten im Brauch gehabt, die, nach Varros B ericht, den Servius in seiner Auslegung ü ber die

8

. Ecloga V irgilii an­

führt, die Türschw elle gleichfalls für heilig gehalten und der Göttin Vesta gew idm et haben. D ie P e rse r nennen alles das, was seiner A rt und N atur nach stärk er und dauerhafter ist, m ä n n l i c h , hingegen aber was weich und zart ist, w e i b l i c h (D eila V alle 3, 143); dasselbe b erich tet Seneca von den Ä gyptern (aquam virilem vocant m are, m uliebrem omnem aliam etc.; Nat. Quaest. 3, 12, 2 ed. G ercke). In Passa (F asa ) in P ersien sah D eila V alle (3, 144. 182) einen sehr alten, m ächtigen Zypressenbaum , den die M ahom etaner m it grösser A ndacht v e re h re n 2). D iese Baum ­ verehrung m öchte er für einen R est alten H eidentum s erk lären ; er zitiert die ‘cupressus R eligione patrum m ultos servata p er annos’ des V irgil und b em erk t noch, dass auch die Ju d en dem B aum kultus gehuldigt haben (1. Könige 14, 23 und sonst; vgl. R . Smith, R eligion of the S e m ite s

3

p. 185ff.). Von den K l a g e w e i b e r n bei den P ersern handelt er 3, 205.

E r vergleicht sie m it den Praeficae der R öm er, erinn ert daran, dass K lage­

w eiber bereits in der H eiligen Schrift Vorkommen (Jerem ias 9, 17), und fügt hinzu, dass K lagew eiber noch heute in K alabrien (nach O rtelius) und, wie er glaubt, auch in Sizilien gebräuchlich sind. A nknüpfend an einen bestim m ten F all von V erhexung verb reitet sich D eila V alle 3, 218f.

ausführlich ü b er die G attung von Zauberei, die von den M ahoinetanern

‘m angiare il cuore’, H e r z e s s e n , genannt w ird 3). D ieses H erzessen ist, m eint er, nichts anderes, als was w ir ‘bezaubern’ (affascinare) nennen, welches durch der H exen böses und schädliches A n s c h a u e n geschieht, dass man bisw eilen darüber sterben m uss; es ist auch nichts Neues, noch anderswo U nerhörtes; so erzählt Plinius, nach des Isigoni Bericht, dass sich B eschreier (effascinantes) unter den Illyrern und T rib allern finden, die sogar durch den Blick bezaubern und die töten, die sie längere Zeit m it zornigen Augen ansehen. In Indien m acht D eila Valle 4, 14 die B eobachtung, dass man das Angesicht eines Abgottes ‘über und üb er m it hoch - leibfarb’ (di un colore incarnato acceso) angestrichen

1) V gl. Thevenots Reisen 2, 116. James Morier, A second journey through Persia 1818 p. 204.

2) Fast 200 Jahre später sah und bewunderte W illiam Ouseley denselben Baum (Travels in various couutries of the East 1, 3 7 4 ff. 2, 90f.).

3) Grimm, D M .2 S. 1031. 1034 ff. M. Höfler, Archiv für Anthropologie 33 (1906), 2G9fI. Derselbe, V olksm edizinische Organotherapie 1908, S. 230ff. Auf die Stelle in D eila Valles R eisebeschreibung hat schon Liebrecht, H eidelberger Jahrbücher 57, 820 hingew iesen.

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h a t *). So färbten auch vor alters die R öm er, wie P lin iu s 33, 7 b erich tet das A ngesicht ihres J u p ite r ro t m it Minium.

Von nich t geringem In teresse ist eine p e r s i s c h e S itte, die D e ila Y alle 3, 38. 39 m itteilt und m it einer von D i o d o r ü b erlieferten S itte vergleicht; eine Sitte, an die ich eine R eihe von B etrachtungen und U n ter­

suchungen knüpfen möchte. A lljährlich an dem Tage, an dem Mahomet nach der L eh re der P erser*) seinen E idam Ali an K indesstatt annahm un d zu seinem E rb e n und N achfolger einsetzte, feiern die P e rs e r zum G edächtnis daran das sogenannte F e s t d e r B r ü d e r s c h a f t (festa della fratellanza), ‘an w elchem sich nicht allein die F einde m iteinander v er­

söhnen; sondern auch viel u n te r ihnen, zur Nachfolge ih res G esetzgebers (ad im itazione del loro legislatore), a n d e r e a n K i n d s - S t a t t a n n e h m e n , und m it einem th eu ren Eyd b e k rä ftig e n , dass sie die K näblein fü r ihre B rüder, und die M ägdlein für Schw estern halten wollen, welchen Eyd sie auch die Z eit ihres L ebens unverbrüchlich halten. W eil nun dieses eine so n derbare anm erkliche Sache ist, so kan ich hierbey unangefügt nicht lassen, dass sie, wann sie jem an d an K indes S tatt annehm en wollen, fast eben die C erem onien brauchen, deren sich, wie D iodorus Siculus schreibt, d ie Juno bedienet hat, als sie den H ercules zu ihrem Sohn angenomm en, welche dann bey den B arbarischen V ölkern noch im m er im G ebrauch geblieben seyn. D i e s e C e r e m o n i e n n u n b e s t e h e n d a r i n n e n , d a s s s i e d i e j e n i g e P e r s o n , d i e s ie a n K i n d s - S t a t t a n n e h m e n w o l l e n , g a n t z n a c k e n d in i h r H e m b d s t e c k e n , u n d a n i h r F l e i s c h l e g e n , u n d a l s s d a n n d i e s e l b e w i e d e r h e r a u s z i e h e n , a ls

1) V gl. O useley, Travels 1, 84. 86ff. m it den Anmerkungen Liebrecht, Zur V olks­

kunde S. 395f. F. v. Duhn, Archiv für R eligionsw issenschatt 9, 1 9 ff. B eiläufig m ache ic h auf das aufmerksam, was D ella V alle 3, 205 über die rote Bem alung von Gräbern sagt. In der N ähe seines Hauses in Schiras befand sich ein ‘Begräbnuss’, das, wie auch die Äste zweier Zypressenbäume daselbst, stets m it roter Farb angestrichen worden.

2) A. M üller, Der Islam im M orgen- und Abendland 2, 13. Eine kurze Erwähnung des B rüderschaftsfestes, das auf den 18. T ag des Monats D sül-hedsche fällt, bei D ella V alle 2, 67. (Ob das F est noch heute gefeiert wird, w eiss ich nicht; nach dem, was A. M üller 2, 17 f. bemerkt, ist es nicht w ahrscheinlich.) Das F est wird auch von anderen Autoren erwähnt, so von Chardin, Olearius (Pers. Reisebeschreibung 4, 19), Le Bruyn, W illiam Francklin; aber das, was D ella Valle darüber m itteilt, finde ich sonst nirgends angegeben. Nur Adam Olearius schildert in seiner Persianischen Reisebeschreibung 5, 14

■(Hamburg 1696, S. 310) m it dankenswerter Ausführlichkeit, wie die Perser jährlich e in m a l zusammenzukommen pflegen und sich m iteinander verbinden, treue Freundschaft und B rüderschaft Zeit ihres Lebens zu halten. D och Olearius sagt nicht, an w e l c h e m T age d es Jahres die E ingehung und ‘E insegnung’ der Brüderschaften stattfand. Vgl. noch Jo. de Laet, P ersia, seu regni P ersici status, Lugd. Batav. 1633, p 158. Dass die Schliessu ng der Brüderschaft in Persien an einen bestim m ten T ag, an ein bestim m tes F est gekuüpft war, ist bemerkenswert. Man trifft diese Erscheinung auch anderwärts.

V gl. nur Giszewski, Künstliche Verwandtschaft bei den Südslaven S. 41 ff.; Krauss, Sitte und Brauch der Südslaven S. 6 3 0 f. So werden auch G o t t e s u r t e i l e an bestimmten T a g e n vorgenom men. Oben 18, 384 (Freitag); Post, Grundriss der ethnologischen Juris­

prudenz 2, 478.

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Scheingeburt. 145

w a n n s i e , w ie i h r e l e i b l i c h e K i n d e r , a u s ih r e m e i g e n e n L e i b e k o m m e n w ä r e .’

D ie von D eila Yalle angezogene D iodorstelle lau tet: rrjv

texvcuoiv

yevio'&ai cpaol roiavrrjv. rrjv "Hgav dvaßdoav im xMvrjv xal röv 'Hoaxhea jigooXaßojuevrjv jiqoq rö ocöjua did rcöv ivdvjudrcov dfpelvai noog rrjv yfjv, fxi/uovjuevrjv rrjv älrjßivtjv yeveotv. otieq ju£%qi rov vvv tioieTv rovg ßagßdgovg örav d'ETov vlov JioteToßai ßovAcovrai1).

Diese A doptionsart wird kaum anders aufgefasst w erden können, als wie sie D iodor aufgefasst hat. Es liegt hier offenbar eine fxlfirjoig rfjg dkrj{hvijg yeveoecog, eine im itatio naturae, eine S c h e i n g e b u r t 2) , vor, und m an wird F raz er durchaus R echt geben m üssen, wenn er den von D iodor überlieferten B rauch u n ter der R u b rik

‘im itative m agic’ au ffü h rt8).

Seit der Zeit, wo D eila Valle schrieb, sind fast 300 Jah re verflossen.

D ie A usleger zu D iodor 4, 39, 2 (nam entlich W esseling), fern er Everardus Otto, Grimm, L iebrecht, Bachofen, F raz er und andere haben sich m it der von D iodor geschilderten, als barbarisch bezeichneten Sitte beschäftigt und eine ganze Anzahl von P arallelen beigebracht. W ir wissen jetzt, dass der A doptionsritus, den D eila Yalle bei den P erse rn vorfand, in derselben oder in einer ähnlichen F orm , im M ittelalter verbreitet w a r; ja er soll noch heute im Schwange sein. Yon den P arallelen, die die genannten A utori­

täten und andere zusam m engestellt haben, w ill ich die w ichtigsten hier folgen lassen. Im voraus bem erke ich nur, dass w ir bei unseren Be­

trachtungen ausser den A doptionsriten auch die beim Abschluss der B luts­

oder W ahlbrüderschaft herrschenden G ebräuche zu berücksichtigen haben.

F allen doch Adoption sowie Brüderschaftsschliessung beide u nter den Be­

griff der k ü n s t l i c h e n V e r w a n d t s c h a f t 4).

Zunächst ist der t ü r k i s c h e Brauch zu erwähnen, von dem H erb elo t in seiner B ibliotheque orientale u. d. W . A khrat b erich tet: L ’adoption qui est frequente parm i eux [les Turcs] se fait en faisant passer celuy qui est adopte par dedans la chemise de celuy qui l’adopte. C’est pourquoy pour dire adopter en Turc, l’on s’exprim e en ces term es: F a i r e p a s s e r q u e l q u ’u n p a r s a c h e m is e . D ie b o s n i s c h e n T ü rk e n 5) ‘pflegen in der R egel unm ündige K inder zu adoptieren, und zwar n a c h o r i e n t a l i s c h e m

1) Bibi. hist. 4, 39, 2. Zu der S telle vgl. E. Rohde, P syche 2 2, 421. A. Dieterich, Eine M ithrasliturgie S. 124. 136.

2) Dieser Ausdruck wird gebraucht von A. H. Post, Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz 1, 111.

3) The golden bough 2 1, 21. Der von D eila V alle bezeugte persische Brauch wird von Frazer nicht erwähnt.

4) J. Köhler, Studien über die künstliche Verwandtschaft (Zeitschrift für vergleichende R echtsw issenschaft 5, 415—440). A. H. Post, Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz 1, 9 3 - 1 1 1 .

5) F. S. Krauss, Sitte und Brauch der Südslaven 1885 S. 600. Stanislaus Ciszewski, Künstliche Verwandtschaft bei den Südslaven (Leipzig 1897) S. 103.

Z e itsc h r . d. V e r e in s I. V o lk s k u n d e . 1910. H e f t 2. 10

(20)

B r a u c h e . D ie A doptivm utter stopft näm lich das K ind in ihre w eiten Hosen hinein und lässt es durch die H osen auf die E rd e nieder, a l s w e n n s i e d a s K i n d g e b ä r e n w ü r d e ’. E ine ähnliche A doptionsart soll früher in S e r b i e n geherrscht haben. Man glau bt dies aus einer Stelle in einem serbischen Y olksliede schliessen zu können, worin wir von einer K aiserin lesen, dass sie ein K ind d u r c h i h r e n s e i d e n e n B u s e n z o g , dam it das K ind ein H erzenskind genannt w e rd e 1). In B u l g a r i e n bestand und b esteh t noch heute die folgende A doptionsart8). Die Adoption w ird von einer F r a u vollzogen, und zw ar in der W eise, dass sie das K ind u n ter ih rer K leidung in der R ichtung von ihren F üssen h er nach der B rust zieht und es in der B rustgegend w ieder hervorholt.

Von der Adoption m ittels des D urchziehens durchs H em d u. dgl.

haben w ir nun eine R eihe von geschichtlichen, m ehr oder w eniger gut beglaubigten B eispielen. D iese B eispiele sind zusam m engestellt worden von D ucange in seiner D issertation ‘Des adoptions d’honneur en fils’ (in seiner Ausgabe von Joinvilles Geschichte Ludwigs des H eiligen ; abge­

dru ck t auch im 7. B ande von H enschels Ausgabe des Glossarium ad scriptores m ediae et infimae latinitatis, P aris 1850) und von Ev. Otto in seiner Ju risp ru d e n tia symbolica 1730 p. 276—278. Siehe auch Grim m RA.

S. 464; Bachofen, M u tterre ch t

2

S. 254f.; L ieb recht, Zur V olkskunde S. 432.

Ich lasse die w ichtigeren B eispiele folgen, indem ich wegen der h ier nicht gegebenen B elegstellen auf die genannten W e rk e verweise. B alduins Adoption durch den griechischen F ü rsten von E dessa w ird in einer Quelle wie folgt geschildert: (P rinceps Edessae) B alduinum sibi filium adoptivum fecit, sicut mos regionis illius et gentis habetur, nudo pectori suo illum astringens, et sub proxiino carnis suae indum ento sem el hunc investiens;

in einer anderen Quelle; In tra lineam interulam , quam nos vocamus cami- siam, nudum intrare eum faciens sibi astrinxit. Von der adoptierenden Maria Cantacuzena heisst es: öiaoyovoa

tov tnevdvjrjv äficpoj Mi%ar]k xal

^(pevTLodXdßov TiaiQ exarega ro)v airtrjs ayxaXcbv htösi.

In verschiedenen H andschriften der Crönica general de E spana wird erzählt, wie an dem Tage, wo M udarra getauft und zum R itte r geschlagen wird, seine Stief­

m utter ein sehr weites H em d über ihre Gewänder angelegt hat, einen Ärm el des H em des über ihn wegzieht und ihn durch die Kopföffnung w ieder heraus­

kom m en lässt; wodurch sie ihn für ihren eigenen Sohn und E rben e r k lä rt8).

1) Ciszewski, K ünstliche Verwandtschaft S. 104. Doch vgl. Krauss, Sitte und Brauch der Südslaven S. 599.

2) Ciszewski, K ünstliche Verwandtschaft S. 104.

3) Frazer, Golden b ou gh2 1 ,2 1 n. hebt hervor, dass in den m ittelalterlichen B eispielen einer Adoption durch ‘Simulation of birth’ die Adoption von M ä n n e r n ausgeführt werde;

Liebrecht jed och habe einen F all zitiert, wo die Zeremonie von der adoptierenden M u t t e r vollzogen wurde (näm lich die Adoption Mudarras; Zur Volkskunde 432). Dieser F a ll ist aber keinesw egs der einzige in seiner Art. Auch ist Liebrecht nicht der erste, der auf Mudarras Adoption hingew iesen hat.

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