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Die Zukunft, 11. Februar, Bd. 26.

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Berlin, den U.Februar 1899.

w- osls IV

Der zweiteKanzler.

Ruhbei derpreußischenKreisstadt Krossen,wodaskeckeBoberflüßchen

·

sichin diestillereOderergießt,istamsechstenFebruarGeorgLeo GrafvonCaprivideCapraradeMonteeuceoli gestorben,derseitdemsechs- undzwanzigstenOktober 1894 nicht mehr KanzlerdesDeutschenReiches war. Auf Skyren,einemseinenVerwandten gehörigenRittergut, starbder Mann,dem dasschwere,früher,in denTagen Thünenswie in denenThün- gens,unmöglich scheinendeWerkgelungenwar, Großgrundbesitzerund Bauernin einemweit überDeutschlands Provinzen sichdehnendenBund zUvereinen,derMann, dermit anderengroßenWorten gelassenauchdas ausgesprochenhatte,erbesitzewederArnochHalmundwissedeshalb nicht, aus welchemGrunde erAgrarier sein solle.DieGefolgschaftdeszweiten Kanzlersblieb,als die KundevomTodihres frühervergöttertenHeldenkam, merkwürdigschweigsam:ihr einst,wenn esdenUnermeßlichenzurühmen galt, soberedter Mundstammelte schüchternjetztnurEinigesvonderPflicht- treue,demFleißund derEhrlichkeitdesnun Ruhenden, vonTugenden allv,die dem in derFüllederMachtLebendensogar seineGegnerniemals bestritten hatten. DieseGegneraberdürfensichderPflicht nicht entziehen, amGrabedesGrafen CaprividasUrtheilzurevidiren,dasfie,solangeer alseinzigverantwortlicherBeamter dieGeschäftedesReiches leitete,über ihnfällten,undsie dürfenbeidiesemBeginnen sichnichtvondemchiloni- schenSatz den Bismarck oft spottendeinen denschlechtestendeutschen EigeUschaftenentsprechendennannte stimmenlassen,über die Totensei nurdasGutezusagenerlaubt. Wer überCaprivi spricht, hatüber einen

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wichtigen, vielleichtfürdienächsteZukunftentscheidendenAbschnittder ReichsgeschichtezusprechenunddenWertheinespolitischenSystemeszu wägen, dashier, nachdemNamenseinesErsinnersunderfolgreichstenBer- treters,unterBismarcks Beifall zuerst Caprivismus genanntwurdeund dessentiefe SpurenausderdeutschenPolitik nochnicht verschwundensind.

DaistsentimentaleZimperlichkeitnicht angebracht. Wohlaberziemtes, in ruhiger Stimmung heute nocheinmal zuprüfen,ob demManne,deres unternahm,andesrüstiglebenden BismarckDiplomatentifchsichhäuslich einzurichten,in derHitzedesKampfes Unrecht geschehenistundobdiePo- litik,dieerleiteteoderlitt,inderEntfernungundaufdemgräulichen HintergrundederdürrenhohenlohischenAeragünstigerwirkt alsin der NäheundunterdemfrischenEindruckderfruchtbarenHeroenzeit

WenndiesePrüfungansZiel führensoll, isteszunächstnöthig,sich einenAugenblickin diekritischenTage zurückzuversetzen,daeinjäherSchick- salsschlagdennunEntschlummerten seinengetreu Scheinendenentriß.Graf GeorgLeovonCaprivi hatte seine EntlassungausdenAemterndesReichs- kanzlersund despreußischenMinisters fürdieauswärtigenAngelegenheiten erbeten underhalten,dieBrillanten zum Orden vom SchwarzenAdler waren ihm verliehenwordenunderwarnun wiederGeneralderJnfanterie.

Als dieMeldungkam derBörsen-Courierwar,einlustiger Zufall,zu- erstmit einemExtrablatt aufdemPlatz—, dawarmancherschlimmeWitz zuvernehmen, hieroder dortwohlaucheinAusruf froher Genugthuung;

vonirgendeinertiefer gehendenErregungaberwar nichtdasAllergeringste zu bemerkenunddieBörse sogar,von derman docheineAeußerungder Theilnahmeerwarten durfte, ließdenLeichenjubelineine muntere Hausst- stimmung ausströmen,dennihre Besuchersind,woessichumdieGeschäft- chenmachereihandelt,zu Sentimentalitäten durchaus nicht geneigtundsie erinnerten sichnoch rechtzeitigdaran, daßderCaprivismus politischzwar wundervoll war, daßeranProfitenaberherzlich wenig gespendethatte.

Einruhig abwägendesUrtheilkonnte über dasangeblichgroßeEreignißnur sagen:derRücktritt des Generals von Caprivi hatdenWertheschaff- endenStänden imDeutschen Reicheinelange ersehnte Befriedigungge- währt,erhat Alle,die mit denhistorischgewordenen Einrichtungendes Reichesbis zumJahre1890 unzufriedenwaren, verstimmtunderhatim Auslande diePolitikerbeunruhigt,dieaufeinebescheideneWillfährigkeit derdeutschenRegirung gerechnethatten.DasistgenaudasGegentheildes Wiederhalls,deneinstdieEntlassungBismarcks weckte:imMärz1890

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konntenganzeSpaltenmitausländischenPreßfabrikatengefülltwerden,in denen dieTrennungdesjungen KaisersvondemSchöpferdesReichesals eineharte,aberunvermeidlicheNothwendigkeitbezeichnetwurde;imOktober 1894lasenwir,wiebitterlichdieCzechen,Polen, Engländer,Dänen, Rusfen undUngarndasScheidendesGrafen-Caprivibeklagten.Undnochein Unterschiedzeigtesich,derwichtigste,zwischendenbeidenEreignissem1890 ahnteeinJeder,obauchverkündetwurde,derKurs sollederaltebleiben, daßdieGeschickedesdeutschenVolkesaneinemWendepunktangelangtseien;

1894hofftendieAnhängerdesEntlassenen,.einenWechselderPolitik nicht fürchtenzumüssen,undunter denGegnern fürchtetensehr Viele, diesen Wechselnicht erhoffenzudürfen.Bismarck wareinProgramm,wardas ProgrammdesDeutschenReiches,und derGrafvonCapriviwar nur,nach eignemGeständniß,derverantwortliche Vollstrecker höhererWeisungen.

Als dererste Kanzler fortgeschicktwar, konnte einklugerFranzose schreiben:

-,Iln’estplusrienqueM. deBismarck; ä lavöritå,c’estencore quelquechose.«· Vondemzweiten Kanzlerkonnteselbstdiebeflissenste FreundschaftAehnlichesnicht behaupten;ernahmdenGrafentitelmitsich, eiUeansehnlichePension, sehrvieleOrden, einigeBilderundBüsten,das PatenteinesEhrenbürgersvonRickertsGnaden, hoheundhöchsteAus- zeichnungen,schwungvolleHandschreibenundeinenungeheurenBallenpa- piernenRuhmes;aufdenselbstgehämmertenWertheinergroßenPersönlich- keit abermußteerverzichtenundkünftigbescheidentlichsichdamitbegnügen, einGeneralwie andereGenerale zusein.Vismarckhatte,alsernichtmehr Kanzlerwar,seinemVolknoch sehrviel zusagen;derGrafvonCaprivi mußtezufrieden sein, daßerinSkyren nicht mehrzum Redengenöthigtwar.

DenUnterschieden,über dieman einBuch schreibenkönnte,reiht sich eineAehnlichkeitan:nachdemFallbeiderKanzlerwardieLegendebemüht, UmdieGründederEntlassung geschäftigihre täuschendenSchleierzunähen.

Eshat lange gedauert,bisdie Welterfuhr,warum Bismarckgehenmußte, undmanches bedeutsameDetailist auch jetztnoch nicht publiciiuriszdie abenteue rlichstenGerüchtewurdeninUmlauf gesetztundder-Haßverkletterte sichbis zu derBehauptung,derKanzler habe,mitschnödenJntriguen,die Ministergegen denKaiser aufgehetztundschließlichsogardenAnstandver- letzt,der imVerkehrmit demMonarchenunterallenUmständenPflicht ist;

dleschöneGeschichtevondemTintenfaßist sammtdenübrigenAnekdötchen nochin AllerGedächtniß.AuchdemGrafenCaprivi hateswährendder letztenzweiJahreseinerWirksamkeitgewißnichtanerbittertenGegnernge-

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fehlt,aberschonhier zeigtessich,daßsieausanderem Holzewaren als die schnaubendenBismarckhasser; nirgends hat sich auchnur dieleisesteVer- dächtigunghervorgewagt, sonderninruhigerGelassenheitwurdedieThat- sachefestgestellt,daßdiegröblichenAngriffe,die in denvonderWilhelm- straßeressortirendenBlättern gegendenpreußischenMinisterpräsidenten verübt wordenwaren, denletzten Anstoßzu derVerabschiedung gegeben hatten. Dafüraberwaren dieFreundedesEntamteten um so eifrigerbei derArbeit,ihremHeldennocheinenAbschiedslorberzu windenund in alle Lüftezurufen, daßerals einOpfer seinerfreiheitlichenGesinnungglorreich gefallensei, tückischgemeucheltvondenschleichendenSchergenderfinsteren Reaktion. Dasstimmte vortrefflichzu der Rolle einesHospitantenderFrei- sinnigenVereinigung,indie derKanzler allgemach hineingewachsenwar;

nurstimmteesnichtzu denwirklichenVorgängen.DerGeneralvonCaprivi hatniemals denWünschenseines Kriegsherrn widerstrebt,erhat sichauch in derFragedesKampfesgegen dieUmsturzgelüstedem WillendesMonat- chenanbequemt.Dasistderehrenwerthe Standpunkteines imDienster- grauten Soldaten,aberersperrtderLegendedenWeg,die denEntlassenen als einOpfer unerschütterlicherUeberzeugungenhinstellenmöchte.Derzweite Kanzler mußtegehen,weilerdieKränkungeinesKollegen,anderernicht ganz unbetheiligt sein konnte, nichtwiedergut machenwollte.DieseKlarheit warnützlich,weilsiedenVersucheinerApotheosevereitelte;leidergab sienur aufdiewichtigsteFrageunskeine Antwort: obdieTrennungvonderPerson fürdenKaiser aucheineTrennungvondemSystemzu bedeuten hatte.

WorindiesesSystem bestand?Vielleichtistesdemverantwortlichen Träger selbstniemalsdeutlichzumBewußtseingekommen.Erlastäglich, daßerein bedeutenderStaatsmann sei, nicht, wiesein schlimmerVorgänger, einervonhastigerGenialität,leidenschaftlichimTreffenundFehlen, sondern dernüchterne,kaltblütigdenBlick weitvorausschickendeFührer des«Volkes, derkein anderesInteressekennt als dasWohlergehendesVaterlandesz nicht diekünstlerischwirkendePersönlichkeitBismarcks,aberdersilberneAdel Moltkessollteihm eigen seinundzwischendenZeilenwarimmerzulesen, solchesicherbeharrendeKraft seidemReich sehrvielnützlicherals dasimpe- tuose TemperamentdesGrößeren.WerMenschlichesmenschlichmißt,wird begreifen,daßderGeneral vonCaprividemholden Märchengernglaubte,

umso lieber,als esjavonMännern verbreitetwurde,dienachdrücklich stets sichalspolitischeGegnerdesKanzlersbekannten. Manmuß auchzu- geben, daßdasGewebesehrfeinundschlauzugerichtetwar; unerschütterlich

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fest standdasDogma:nur schamloseJnteressenjägerundfeileWichtc,die aus derBismarckbewunderungeinschnödesGeschäftmachten, verfolgten mitgehässigerFeindsäligkeitdenleitendenGeneral,indessenHLagerdie ganze Schaarderwahren Vaterlandsfreundesichsammelte.UndauchdiesemDogma neigtederMannvonvorgesternsichgläubig.NichteinenAugenblickschienihm derGedankezudämmern,derdochso nah lag:wenn dieseLeutemichpreisen Undfeiern, so geschiehtesnur,weilichihre Geschäftebesorge.DieGedanken desGrafenCaprivischienensichvielmehr nach dieserRichtungzubewegen:

welcheganzvortrefflichenLeute, dieseLiberalenundSozialisten; ichbin ein strengkonservativerMann,abersiespendenmeinereifrigenArbeitfürs Reich dennochdieherzlichsteAnerkennung,—- ganzimGegensatzzu denKonser- vativen,diemich,ihren Parteigenossen,schmähen,weilichihren eigensüchtigen Wünschennicht dienstbarwerdenwill.DerTextunddieWeisewaren bis aufsJ-PünktchendenfreisinnigenZeitungen entlehntundso entstandall- gemacheinSystem,dasmanepigrammatischsoetwabezeichnenkönnte:nach- dem -dererste Kanzler dreißigJahre hindurchmit demdeutschenVolk gegen die berlinerFreisinnspresse regirt hatte,kameinneuerMann,dermitdieser

Pressegegen dieWünschederMehrheitdesdeutschenVolkesregirte.

DieZiele,denendiesePressenäherzu kommenversucht,sind,anund für sichbetrachtet, gewißdurchaus ehrenwerth,genauso ehrenwerthwie die WünschederSozialdemokraten,derPolenundWelfenznurmitdenhistorisch gewordenenEinrichtungendesDeutschenReichessindsienichtzuvereinbaren.

Mankannfreisinnig regiren,sichfür Parlamentsherrschaft, Freihandel,Ra- tionalismus,ExportindustrieundähnlicheschöneDinge begeisternundsich bemühen,diedeutscheWelt zu einemParadiesederBourgeoisieumzugestalten.

Mankannauch soregiren, daßdieSozialdemokratenoderdiePolen,die Dänenoder dieWelfenzufriedensind;dabei abermußmansichimmersagen, daßauf diesemWegedieErhaltungdesnuneinmalgewordenenReichsorga- nismus nicht liegt;gleichviel:vielleichthatder Vertreter einersolchenPolitik dasRezeptfüreinbesseresReichin derTasche.Einsnuristunmöglich:man kann nicht nachdenWünschenderFreisinnigen,derSozialdemokraten,der POIeU-DänenUndWelfen regirenunddochdasmühsamundkünstlichgeschaf- feneReich,indemwirseiteinemVierteljahrhundertnunleben,erhaltenund befcstigenwollen.UnddiesesEinegerade,dasUnmögliche,hatderGeneral VOUCaprivigewo llt undfüreine Weileauchscheinbarerreicht.Er wurde gefeiert, aber nur, weilerDasebennichtwar, waserdochseinwollte:

konservativ;underistandenLobgesängenderSchmeichlerschließlicherstickt-

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DieGeschichtewirdihn sehr hart beurtheilen.Sie wirdsehen,daßer, ohne zwingendeNöthigung,ein Amtübernahm,demseineVorbildungund seinKönnennichtgewachsenwaren, daßerdieBelehrungund dieRathschläge verschmähte,die derBerufenste ihmbereithielt, daßereine injedem Zuge unproduktive Politik trieb, fürdieorganischenLebensbedingungendesihm anvertrauten ReicheskeinVerständnißhatte,diegesundenUeberlieferungen atomisirteund dem nationalen EmpfindenimmereinFremdlingblieb.Die Geschichtewirdnicht danach fragen,oberimEinzelnenselbstAllesver- schuldethatundwieost er—nach seincmLieblingsausdruck sichin einer Zwangslage befand;denndieGeschichtewirdsagen, daßeinpolitischver- antwortlicherMann nurbis zu demPunkt gehen darf,wodieinnersteUeber- zeugungihmdieUmkehrgebietet. AuchdieAnerkennungdergutenAbsicht wird dasUrtheilnicht wesentlichmodifiziren; fortgeschickteDienstmädchen mögenstolzsein,wenn ihnen bescheinigtist, daß sie fleißig,willigund-treu waren;inDeutschland galtesfüreinenpolitischenBeamten bisher nicht alseinbesondererRuhm,wenn man ihm solchesZeugnißinsDienstbuch schrieb.Esist selbstverständlich,daßeinReichskanzlerkeinesilbernenLöffel stiehltunddaßerdieehrlicheAbsichthat, nach besterKraftdieGeschäftezu fördern;fürDiebe undLandesverräthergiebtesnochRichterimDeutschen Reich.Aberfreilich:derGrafvonCapriviwar derEhrenmannparex- cellence undvonseinerRitterlichkeitkonnteman in allenBörsenblättern bis zumErbrechenlesen.DieHerren,die,mit einemfeigenBlinzeln nach demManninVarzin,Dastäglichverkündeten,mögendurch ihren Privat- verkehrmit demVerstorbenen besonders gutorientirt gewesensein.Das öffentlicheUrtheil,dasaus verborgenenQuellen nicht schöpfenkann, hatte keinenGrund,andertadellosenEhrenhaftigkeitdesGrasen Caprivizu zweifeln,undesbrauchtebei einerAnalhse seines Charakters sichnicht auf- zuhalten.NurkonntendieläppischenLügner,die garnichtsdabeifinden, denMiquelundPosadowsky schmählicheStreberkünsteanzudichten,und die inDelirien verfielen,wenn gegenihrenHeldensichsachlicherWiderspruch regte, dochwirklichnicht wähnen,daßdieErfahrungenaus denvierlangen JahrenderCapriviherrlichkeitso schnellvergessenseinwürden: dieAechtung desFürstenBismarckdurchdenMann,derspäterdannbei demVervehm- tenseineKarteabgab,die insUngeahnte sich dehnende Beeinflussungder Presse,diegerichtlicheundgesellschaftlicheVerfolgungderGegner,derVer- such,aufdiefreieEntschließungderRichtereinenamtlichenDruck zuüben,—

dieseErscheinungen,denensehrvieleanderergesellenwären, sindvondem

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Caprivismus nicht mehrzu trennen. AuchderGeschichtschreiberwirdsie findenunderwirdneben demtiefen Schatten dieserPeriode vergebensdie blendendenLichtseitensuchen,vondenen dielängstdannvergilbte Zeitung- makulatur so Ueberschwänglichesihmzu meldenweiß.DieReden und die ThatendesGrafen Caprivibleibenundwerdenzeugen;werdarinauchnur einenschöpferischen,einenselbst gefundenen Gedanken,nur ein dauernd segensreichesVollbringenzu entdecken vermag,—-Der wirdmitseinemFunde derstets nachHeldenlangenden Masse sichersehrwillkommen sein.

WenndieGeschichtschreibungangewandte Psychologiegeworden sein wird,dann erstwird auchdasWirken desGrafen Caprividenmilderen Richterfinden. Dieser RichterwirdeinenMann vorsichsehen,demdas lastendeGepäckderererbten undanerzogenen Vorurtheile, bureaukratischer undmilitärischer,dieFreiheitdesWillens undderAnschauung lähmte;

einenMann,dermitder ganzenbitteren Antipathiedesarmen adeligen OffiziersseinLebenlang aufdieglücklicherenStandesgenossen geblickt,der ingroßstädtischerStiekluftdasGeprägeempfangenundüberdasPhrasenge- rasselderZeitungenniemalsdasLächelngelernt hatte. DieserMannwurde voreineAufgabegestellt,dieihm,wiederum nach eigenemGeständniß,die Er- innerungandieZeiten weckt,woeralsKindmitverbundenen Augenin einem dunklenZimmer sichzurechttasten sollte.Erfühlt unsicher umher, tapptundstrauchelt,denndurchdieBindefälltkeinerleuchtenderSchimmer.

SollteerDenennichtdankbar sein,dieanFreundeshandihmdiesicheren Wegewiesenund zuhohem Ruhmundhellen Ehren ihn geleiteten, zu demRuhmunddenEhren,dieerimgläubigenGemüthfürdie-alleinechten undwerthvollenhielt?Dieneuen Freundesagten ihm ja, daßerderMann der Situation sei, daßnur dieGroßstadtpolitikzumwahrenHeile führe, daßderGroßgrundbesitzeraufStaatskosten sichmästenundschlemmenwill unddaßdieMassedesarbeitenden VolkesdenAuserwähltendesSchicksals infrohemJubel umschirmt. Zu lieblich ist solcheSuggestion,alsdaßsie nichtwirkenmüßte:dieErinnerungen derJugend mischensichmit dem be- lebendenGefühleineserstenRausches,dietieferen Zusammenhängeer- schließendenungeübtenSinnen sichnichtundschließlichdünkt derHeldder brausendenJubelchöresichden unter Verblendeten einzigklarSehenden undahnt nicht,derAermste, daßernochimmerdieBinde trägt.

ErhateswohlbisanfeinLebensendenicht geahnt.Unddochwar ihm herbeKritik,war ihm harterTadel sogarniemals erspartworden.

Moltke hattevon dermilitärischenBegabungdesHerrn,deralsOberst-

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.lieutenantwährenddesgroßenKriegesdenGeneralstabdeszehntenArmee- rorpsleitete, sehr gering gedachtunddieserAnsichtunfreundlichenAusdruck gegeben;im Kreisder Kameraden wurde derspäterdasselbeCorpskom- mandirende General derHeiligeJnfanterist oder,mitgrausamerem Spott, dergeniale Feldwebelgenannt.DasfochtseinsicheresSelbstgefühlnichtan.

Moltke, so mochteerdenken, fürchteteinihm vielleichtdenberufenen Nach- folger;unddie Kameraden beneidetenwohlden armen,bis zurhöchstenKom- mandostellungvorgerücktenOssizier.Als er,nachmancherBerathung,zu der erbeinächtlicherWeilevonHannovernachBerlinkam, Kanzler geworden war, hatteereinenAugenblickwacher Selbsterkenntnißundgestandder Fürstin Bismarck,die alsstetsgütigsorgendeHausfraudenJunggesellenan ihre Tafel lud, ihm seiwie einem Knaben zuSinn,dermitverbundenen AugenzumBlindekuhfpielaufgerufen fei. Schnellaberschwanddieseängst- licheStimmung.Baldhörteman,derKanzler habezu einer anderenDame gesagt,»Machtseidochfüß«,unddieZeitkamheran,dajederSchritt,den der NachfolgerBismarcks that, jedesarmeWort,dasersprach,wie eineOffen- barung höchsterpolitischerWeisheit bejubeltwurde. Er konnteerklären,das Schlimmste,wasunspassiren könnte,wäre,wennunsJemandganzAfrika schenkte-also auchEgypten,denKongostaatunddieKapkolonie—,konnte verkünden,bei derErörterungdesVolksschutzgesetzes,fürdasermithitzigem Eifer eintrat, handleessichum einenKampf zwischenEhristenthumund Atheismus,konnte bei demManne,denerwie einen Unreinenvomgesell- schaftlichenVerkehr absperrenwollteundgegendenervoneinempfiffigen Ofsiziöseneineböse,vor demDruckdann auf hohen Befehl beseitigte Brochure schreibenließ,im AltenSchloßals natürlichabgewiesener Besuchererscheinen,dasUmsturzgesetzunseligen Angedenkensvorbereiten:

erbliebdennochdergefeierteHeld.AuchderKaiser hattebeiTischden»weiten politischenBlick desgroßenGrafen Caprivi« gerühmt.Werwilldemso mitLobsprüchenGefütterten,demdieGaberascherAuffassungundeine behendeGeschicklichkeitnicht abzusprechenwar,verargen, daßersich für denprovidentiellenMann hielt, dem, nach seines Kaisers Wort, zweimal schoneine»rettendeThat«gelungenwar?...Erhat selbstnocherlebt, daßsein Nameverschollenwar undkeinsseiner einst umjubeltenWortemehrer- wähntwurde,undBismarckkonntesagen,derTroupier sei eigentlichnoch schlechteralserbehandeltworden. DasGeräuschist verhalltundaufden GrabsteindeszweitenKanzlerskannselbstdasWohlwollen heute höchstens die Wortesetzen: »Ein gehorsamerDienerKaiser WilhelmsdesZweiten.«

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VomJndividuellenzumSozialen 233

Vom Jndividuellen zum Sozialen.

Wirhaben gesehen-MwieRatzenhoferdasindividuelle LebenderLehre

«von denWechselbeziehungenderSozialgebildezu Grundelegt.Der Uebergangvon derBetrachtungdesJndividuums zu denSozialgebildener- fordert zunächsteinemethodologischeBemerkung. Ratzenhoserbedientsichder MethodederAnalogie,diebekanntlichnachdennicht gerade glücklichenAn- wendungen durchdie»organische«SchulederdeutschenStaatsrechtslehrer, später durchLilienfeldundSchaeffle,keinewissenschaftlicheZukunftzuhaben schien. Nun, Ratzenhoferbringt siewiederzuEhrenundzwar in einerso geistreichenundscharfsinnigenArt,daßauchdieentschiedenstenGegnerzum Min- destenstutzigwerdenmüssen.Freilichgehtersubtiler,man möchtebeinahesagen:

raffinirterzu WerkealsseineVorgänger.DasVorhandenseinvonAnalogien in allen Gebieten derErscheinungweltscheintRatzenhoferdadurch begründet, daßes»im UrsprungdersozialenWeltaus derorganischenundinihrem ZusammenhangmitderanorganischenimWegedesStoffwechselsliegt, daß dieallgemeinen EigenschaftenderKörper ihre entsprechendeAnwendbarkeit aUfSozialgebildehaben müssen.« (S. 91.) Daraus folgtderscheinbar paradoxe Satz, daß »dieHauptgesetzederChemieinentsprechenderAuffassung aUth foziologischeGesetze sein müssen.«AberindernäherenAusführung VerliertdiesergewagteSatzallesParadoxale,erwirdnichtnur einleuchtend, sondern fast selbstverständlich:»Die Chemie hatdieGesetzeaufgedeckt,nach denen die beiunsererbeschränktenEinsicht scheinbar einfachen Stoffe sich verbindenodertrennen· DieAffinitätderElementeliegt wahrscheinlichin demWesenderinihnen liegendenUrkraft·Sowiedieseindersozialen WeltdasStreben zeigt,denhöherentwickeltenOrganismendieHerrschaft über die niederenzuverleihen, sogiebt sie auchdeninnigerenVerbindungen durchUachhaltigereWirkungendenVorzug gegenübereinemflüchtigenZu- sammenhangDie Element-Atome verbinden sichin einem festgestellten GeWichtsverhältniß...DieVerwandtschaftderElemente,diegrößereoder

gstingerewechselseitigeAffinitätoderderenAbneigunggegengewisseVer- bindungensind Erscheinungen,die denLeidenschaftenimsozialenLeben,Liebe undHaß, nichtblos ähnlich, sondernmitihnen ursächlichidentischsind.

Bedenkenwir,daßderStoffwechseldieUrsprungserscheinungenallermensch- lIchEUBeziehungennach außen ist, so scheintesklar, daßmitderZeitdie ganzeReihenfolgederUrsachenundWirkungenvon derchemischenAnziehung FindAbstoßungbiszur Liebe undzumHaßimmenschlichenBewußtseinund IndermenschlichenGesellschaftausgedecktwird...DieSoziologie zeigt, daß dieWechselbeziehungenderMenschen, ihre Vereinigungen sowie ihreGegner-

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V)S.»Zukunft«vom28.Januar1899.

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schaften,aufdemDrang nach jenem Stoffwechsel beruhen,derfürdieEr- haltungdesMenschenunentbehrlichist.DieErnährungfragensind diewesent- lichsten Anlässeallersozialen BewegungenundselbstdieelementarstenGe- sellschaftverbände,wiedieEhe,könnenohne Beziehungenzumerhaltenden Stoffwechselnicht gedachtwerden. AlleBeschränkungoderEntziehungdes nothwendigenStoffzuflusses ruftimsozialenLebenGegnerschaftundHaß hervor.Was einerdauerhaften chemischenVerbindungimWege steht,was sichalso zwischendie imWegederAtomeliegendeStoffvereinigung einschiebt undihrentgegenstellt,wirdausgeschieden;Bikarbonate ruhen nicht eher,als bissieKarbonate geworden sind.Sobald einElement ineinerVerbindung einenfesteren Zusammenhang gewinnenkann,verläßtesbeientsprechender Berührungsein bisherigesVerhältnißundtritt unwiderstehlichindasneue.

DerSauerstoffderUeberverbindungenverläßt seinenZusammenhang,sobald

ermiteinemStoffinBerührungkommt, mit demereinedauerhaftereVer- bindungeingehenkann. DieUnwiderstehlichkeitsolcher Verbindungen ist soziologischlehrreich.Der WechseldessozialenVerbandes, dieKräftever- schiebungenimpolitischen Parteileben sind identische Erscheinungen.Wie Explosivstoffeum so heftigerwirken,wenn ihnenderRaum entzogenwird, den dieangestrebteneueVerbindungnachderExplosion braucht, sowirdein nothwendiger sozialer Vorgang sichum so heftiger vollziehen,wenn seine Verhinderung versuchtwurde.« (S.92.)

Jch habe dieseganzeStelle alsBeispiel dafürcitirt, wieRatzenhofer dieMethodederAnalogie handhabt.DieTreffsicherheitdesVergleichesist sogroß,daßman,trotz allerbegründetenVoreingenommenheitgegen dieMethode, nicht umhinkann,sichzufragen,obhierbloszufälligeAehnlichkeitenvor- liegenodernicht vielmehreineWesensidentitätderVorgängeexistirt.Das scheintRatzenhoserzuglauben; dennerführt ihn auf seine »Urkraft«zurück, dieaufallenNaturgebieteninwechselndenFormen ihrem »Vervollkommnung- streben«undihrer »Entwickelungtendenz«treubleibt.Erüberschreitetdanachdie Kluft,diebisherzwischenorganisch:individuellemundsozialemLebengähnte sicherundsoruhig,alsobersichauf ebenstemTerrain undauffortlaufen- denWegen aufwärts bewegte.

DieersteErscheinung,dieihmam neuen Ufer entgegentritt, istdie VerschiedenheitdereinzelnenSozialgebilde,zunächstalsVielheitderRassen sich äußernd.DieFragedesMono- oderPolygenismus verursachtihm wenig Kopfschmerzen.»Ueber dasEntstehenderGattungenundArtenorganischerGe- schöpfe«,meinter,»bestehenzweiHypothesen,wovon eineaufUeberlieferungen beruhtunddieandereauswissenschaftlichenForschungen... Man ist sich nichtklar, obman dieEntwickelungdesorganischenLebensauseinerUrform odermehreren verschiedenörtlichenEntstehungen organischerUrgeschöpsean-

nehmen soll.«(S. 101.)

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