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Hermann Hesse: Madonnenfest im Tessin

3.5 Bedürfnis nach dem Marienkultus?

3.5.4 Marienkultus an epischen Beispielen

3.5.4.1 Hermann Hesse: Madonnenfest im Tessin

Madonnenfest im Tessin590 von Hermann Hesse stammt aus dem Jahre 1924. In dieser kurzen Prosa bildet eine vergessene, im Wald gelegene Marienkirche den Ausgangspunkt. Die Gestalt der Mutter Gottes und die Marienfrömmigkeit sind so

590 Hermann HESSE: Madonnenfest im Tessin, in: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt am Main 1987, S. 332–337.

anziehend, dass sie ihre Wirkung sogar auf einen Menschen haben, der kein regel-rechter Marien verehrer ist:

Sie wäre so recht ein Heiligtum für Menschen von meiner Art, und es ist eigentlich scha-de, daß ich gar nicht Katholik bin und gar nicht richtig zu ihr beten kann. Was ich indes-sen dem heiligen Antonius und dem heiligen Ignatius nicht zutraue, das traue ich doch der Madonna zu: daß sie auch uns Heiden verstehe und gelten lasse. Ich erlaube mir mit der Madonna einen eigenen Kult und eine eigene Mythologie, sie ist im Tempel meiner Frömmigkeit neben der Venus und neben dem Krischna aufgestellt; aber als Symbol der Seele, als Gleichnis für den lebendigen, erlösenden Lichtschein, der zwischen den Polen der Welt, zwischen Natur und Geist, hin und wider schwebt und das Licht der Liebe entzündet, ist die Mutter Gottes mir die heiligste Gestalt aller Religionen [Hervorhe-bung A.S.], und zu manchen Stunden glaube ich sie nicht weniger richtig und mit nicht kleinerer Hingabe zu verehren als irgendein frommer Wallfahrer vom orthodoxesten Glauben.591

Man beneidet die Katholiken um den Marienkultus, weil er wichtige Bedürfnisse des Menschen – vielleicht besser als irgendeine andere Frömmigkeit – erfüllt. Es wird in ihr ein überreligiöses Potenzial erkannt, wobei Maria als „die heiligste Gestalt“

bezeichnet wird. Kein gewöhnlicher Mensch und keine Göttin, ihre Anziehungskraft scheint eben an diesem Doppelcharakter zu liegen. Sie ist weder eine Personifi ka-tion der Naturkräfte noch ein ausschließlich geistiges Wesen. Karl-Josef Kuschel kommentiert treffend den Text: „In radikaler Abkehr von seiner protestantisch-pie-tistischen Vergangenheit hatte Hesse sich zu einem Verständnis von Religion durch-gerungen, in dem er weniger das Trennend-Dogmatische und Institutionelle als das Mythisch-Mystische und Einheitlich-Universelle betonte“.592 Die Bezüge zum ur-sprünglichen Kontext, aus dem diese Figur stammt, sind unklar, Maria wird hier als ein separates Wesen betrachtet und man will auf ihre Funktion im Christentum nicht rekurrieren.

Verglichen mit den männlichen Heiligen erscheint Maria verständnisvoller, sie erhebt sich über die katholische Konfession. Die Bezeichnung „Tempel meiner Frömmigkeit“593 weist auf einen freien Glaubensakt hin. Zu diesem subjektiven Pan-theon können Figuren aus verschiedenen Religionen gehören. Die Marienverehrung wird hier also zu einer Wahlfrömmigkeit, da sie dem Bedürfnis des Menschen ent-spricht. Betrachtet man die Formulierungen, die sich auf diese Marienkirche be-ziehen: „von vielen Zaubern und Geheimnissen umgeben“594, „magische Stille“595 oder „verzauberte Stille“596 wird der märchenhafte Charakter dieser Erfahrung klar.

591 Ebd., S. 334. Nicht ohne Bedeutung ist hier, dass das Tessin, italienischsprachiger Kanton der Schweiz, zu einem großen Teil katholisch ist.

592 Karl-Josef KUSCHEL in: Und Maria trat aus ihren Bildern. Literarische Texte, hg. und erläutert von Karl-Josef KUSCHEL, a.a.O., S. 78.

593 HESSE: Madonnenfest im Tessin, a.a.O., S. 334.

594 Ebd., S. 332.

595 Ebd., S. 334.

596 Ebd., S. 336.

Diese gewählte Frömmigkeit ist also zum Teil eine Rückversetzung des Menschen in die Kindheit.

Den Höhepunkt des Textes bildet die Marienprozession:

Und nun kommt aus der Kirche hervor [...] die Madonna gegangen, sie selber, die große Goldene, die sonst nur als warmer Goldschein im Kirchendämmer zu erblicken ist. Sie kommt gegangen, auf den Schultern der Träger leise schwankend, golden von der Krone im Haar bis zu den Füßen, aufl euchtend in der Herbstsonne, den kleinen Sohn auf den Armen, eine milde, schöne, innige Figur, Anmut und Würde, Hoheit und Zartheit strah-lend. Dieser Augenblick ist mein Kirchenfest und Gottesdienst fürs ganze Jahr. [...] [U]nd bald taucht sie wieder auf, von einer andern Richtung her, kommt samt Musik, Engeln, Priestern, Fahnen strahlend aus dem Walde hervor [...]. Strahlend lächelt sie im goldnen Mantel, umter der goldenen Krone [...] Ehe sie in die Kirche zurückkehrt, wird sie auf dem Rasen aufgestellt und angebetet, erst von Osten, dann von Süden, dann von Westen, dann von Norden.597

Der Erzähler sättigt seine Sinne mit dem Madonnenfest. Es fällt auf, dass hier die goldene Farbe im Vordergrund steht, was den Blick nicht zuletzt auf den Tanz um das goldene Kalb richtet (vgl. Ex 32) und die Mutter Gottes im Vergleich zu einem Götzen sehen lässt. Maria schweigt und ist passiv – sie wird von den Gläubigen ge-tragen. Ihr Schweigen, ihre Unbeweglichkeit und augenfällige goldene Farbe tragen dazu bei, sie nur als ein totes Ding zu betrachten, obwohl ihr verschiedene Emotio-nen zugeschrieben werden.

Es stellt sich die Frage, worin das Bedürfnis des Betrachters an diesem Fest teilzu-nehmen, besteht? Nicht um die ästhetische Ebene geht es: „Dies jährliche Fest muß vor Zeiten, vor Jahrzehnten noch, unendlich schön und würdig gewesen sein. Heute ist es ein Jahrmarkt, mit Lärm, Klimbim und Spielerei [...]“.598 Der Erzähler scheint aber in sich die Sehnsucht nach einem Fest zu vernehmen.

Es ähnelt dem Konzept von der heiligen Zeit, das von Mircea Eliade beschrieben wird.599 Die sakrale Zeit unterscheidet sich von der profanen, dadurch, dass die sakrale nicht linear verläuft, sondern wiederholbar ist. Die Zeit des Festes ist für den religiösen Menschen eine Möglichkeit an der sakralen Wirklichkeit teilzuneh-men. Während des Festes wird die sakrale Wirklichkeit gegenwärtig. Diese Zeit versetzt den Menschen in eine andere Dimension außerhalb der Chronologie seines Lebens. Um diesen Übergang zu ermöglichen bedarf es der Rituale. Laut Eliade ist das Verhältnis zur Zeit eines der wichtigsten Kennzeichen des religiösen Men-schen. Obwohl die Rituale für einen nicht religiösen Menschen immer lächerlich erscheinen werden, stiften sie für den religiösen den Eindruck der Teilnahme an dem wirklichen Sein.

597 Ebd., S. 336–337.

598 Ebd., S. 335.

599 Mircea ELIADE: Święty czas i mity, in: Ders.: Sacrum i profanum..., a.a.O., S. 55–93.

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