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Rolf Bauerdick: Wie die Madonna auf den Mond kam

3.1 Bedürfnis nach der Geborgenheit – Maria in der Erinnerung

3.1.2 Rolf Bauerdick: Wie die Madonna auf den Mond kam

Einen nicht geringen Teil seines vielschichtigen, umfangreichen Debütromanes Wie die Madonna auf den Mond kam115 aus dem Jahre 2009 widmet Rolf Bauerdick (geb.

1957), ein deutscher Journalist und Fotograf, explicite der Marienmotivik. Hand-lungsort ist Baia Luna, ein entlegenes Dorf in Transmontanien, die Handlungszeit erstreckt sich auf ein halbes Jahrhundert – die zweite Hälfte des 20. Jh. Obwohl im Text die Landesbezeichnung Rumänien nirgends erscheint, weil der Handlungsort der Absicht des Autors nach fi ktiv bleiben soll, ist diese Vermutung, was das Land betrifft, plausibel. Dies korrespondiert mit den Interessen des Autors, der bekennt:

„Mein geografi scher und kultureller Arbeitsschwerpunkt liegt jedoch in den post-sozialistischen Ländern in Ost- und Südeuropa. So dokumentiere ich seit 1990 das Leben der Zigeuner [...]“.116 Bauerdick nahm auch an einem dreijährigen

Repor-114 Vgl. Mircea ELIADE: Sacrum i profanum..., a.a.O., S. 79.

115 Rolf BAUERDICK: Wie die Madonna auf den Mond kam. Roman, München 2009.

116 http://www.rolfbauerdick.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6&Itemid=12 (Zugriff:

10.10.11).

tageprojekt teil, dessen Thema die katholische Volksfrömmigkeit in verschiedenen Ländern war. Gerade diese seine Interessen: Osteuropa, Zigeunerleben und Volks-frömmigkeit verschmelzen zu einem harmonischen Ganzen in seinem Roman.117 Die kriminellen Elemente (das Geheimnis des Mordes am Priester und des nicht ganz eindeutigen Selbstmords der Lehrerin) sorgen zusätzlich für Spannung im Text.

Der Roman berührt sowohl existentielle Fragen als auch heitere und nicht selten wit-zige Erinnerungen und Zeitgeschehnisse. Die Marienmotivik (und die katholische Marienfrömmigkeit) bildet neben dem kriminellen und politischen Handlungsfaden eine parallel geführte Handlung von immenser Bedeutung, obwohl ihr oberfl ächlich nicht der größte Raum bestimmt wird. Sie wird hier zu einem entscheidenden hand-lungskonstituierenden Element, wobei hier Maria konsequent immer als ein passives Wesen und Konzept behandelt wird und nie als eine tatsächlich agierende Figur.

Der Ich-Erzähler, Pavel Botev, erinnert sich nostalgisch an seine Jugend, die Hand-lungszeit erstreckt sich auf die Jahre des Aufstiegs und des Falls des Kommunismus mit solchen Elementen wie Kollektivierung aller Lebensbereiche, dem Amerika--Mythos, dem kalten Krieg und vor allem der russischen und amerikanischen Welt-allforschung, die im Roman in unmittelbares Verhältnis zur Marienmotivik gestellt wird. Die Weltallfl üge werden schon am Anfang als „eine Vorstufe menschlichen Allmachtswahns“118 abgestempelt, und als gefährlich erkannt. Sie sind ein deutlicher Ausdruck der Selbständigkeit des Menschen, dem es scheint, dass er keiner zusätz-lichen metaphysischen Stützen im All bedarf und dem seine kosmische Einsamkeit genügt. Die Optik des reifenden Pavel verändert sich auch zum Teil im Laufe der Zeit, was mit dem Motiv der fortschreitenden Entzauberung der Welt im Sinne von Weber korrespondiert.

Der Raum von Baia Luna ist so konstruiert, dass hier schon wieder der Muttergot-tes eine besondere Bedeutung zukommt: „Im Südosten ragte der Mondberg mit der Wallfahrtskapelle der Madonna vom Ewigen Trost auf [...]“119 Das entlegene Dorf scheint also auf eine besondere Weise der Muttergottes gewidmet zu sein, die es in ihrer Figur der Madonna vom Ewigen Trost beschützt. Das Aussehen der Skulptur ist nicht zufällig. Der Körper der Madonna und der Mond stehen hier im Vordergrund.

Nicht von Jesus ist im Text eigentlich die Rede, sondern von der leiblichen Anwe-senheit der Muttergottes auf dem Mond:

Als Kind war mir die Madonna immer ein wenig unheimlich. Ihr Antlitz, da ein offenbar nur mäßig talentierter Bildhauer vor Jahrhunderten aus einer Rotbuche herausgearbei-tet hatte, war alles andere als schön. Die Himmelskönigin stand auf einem Sockel, und schaute ich zu ihr auf, so entdeckte ich in ihrem Gesicht weniger majestätische als ge-quälte Züge. Der Künstler war mit dem Schnitzwerkzeug recht grob zu Werke gegangen [...]. Der rechte Fuß der Gottesmutter lugte unter ihrem Schutzmantel hervor und stand auf einer Mondsichel. Augenscheinlich fehlte dem Holzschnitzer der Sinn für

Propor-117 Die im Roman geschilderten Ereignisse werden im katholischen Milieu dargestellt, wobei es beachtet werden muss, dass die Katholiken in Rumänien eigentlich nur eine kleine Minderheit bilden (um 5,6 %).

118 BAUERDICK: Wie die Madonna..., a.a.O., S. 85.

119 Ebd., S. 23.

tionen. Das Jesuskind [...] war ihm zu klein geraten, die mächtigen Brüste der Madonna hingegen zu groß. Genau wie die Mondsichel. Generationen von Gläubigen deuteten den Fuß auf der Sichel als Zeichen des Sieges der Muttergottes über die Türken, die unter dem Zeichen des Halbmondes versucht hatten, Europa ins Muselmanentum zu zwingen. Was ihnen aber infolge des himmlischen Beistandes der Madonna vom Ewigen Trost in Baia Luna nicht geglückt war.120

Die Figur Mariens fungiert hier als ein Palladium, nachdem sie verschwunden ist, fangen grausame Sachen an, in Baia Luna vor sich zu gehen: Die Lehrerin wird tot gefunden, der Priester wird grausam ermordet.

Der Roman ist eigentlich ein Roman der Abwesenheit der Madonna, sie ist ab und zu ein Thema der Gespräche, ihr wird aber kein selbständiger Wille zugeschrieben, sie ist nur ein Objekt, wie von einem Gegenstand erhofft man sich von ihr keine Aktivi-tät. Die Forschung um sie ist auch nur eine Scheinforschung. Die fehlenden Beweise werden als Beweise interpretiert.

Die Figur Mariens ist im Handlungsverlauf auf eine besondere Weise mit einem alten Freundespaar verbunden, Pavels Großvater – Ilja Botev und einem Zigeuner, Dimitru Gabor. Ihre Idée fi xe ist die Muttergottes und genauer genommen ihre Him-melfahrt, die zur Grundlage ihrer abstrusen Gedankengebäude wird. Das dem gesun-den Menschenverstand trotzende Ereignis, das für die Einwohner von Baia Luna die Weltallfl üge bildeten, fi ndet bei Ilja und Dimitru eine Entsprechung in ihren nicht minder verwundernden Marienspekulationen. Obwohl die beiden Freunde ziemlich schrullig wirken, werden sie zu denen, die den eigentlichen Geschmack des Textes ausmachen und ihm den Hauch einer besonderen Heiterkeit verleihen. Ihre Ideen können zwar für den gesunden Menschenverstand nur verrückt wirken, entbehren aber nicht einer existentiellen Verankerung, die es vereitelt, sie nur als Hirngespinste abzuweisen. Von außen betrachtet ist diese innere Logik nur naiv, für die beiden wird sie aber zum Sinn des Lebens. Sie werden nicht nur immer älter, sie konnotieren auch eine gewisse „alte“ Weltsicht, die sogar bei vielen Mitmenschen kein Verständ-nis mehr fi nden kann. Sie kann zwar nicht mehr gerettet werden, sie bildet aber ein wertvolles Element des Lebens.

Es gilt jetzt den marianischen Gedanken von Ilja und Dimitru zu rekapitulieren, wo-für auch die Aussagen des alten Priesters, Pater Baptiste eine wichtige Anregung und Nahrung liefern. Die Auseinandersetzung mit dem durch den kommunististischen Staat gepredigten Atheismus ist hier unverkennbar:

‚[...] Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Das sind die Grundfragen der menschlichen Existenz. Die Erde kennt darauf nur eine Antwort: Asche zu Asche, Staub zu Staub. Da ist kein Gott, und da ist kein Himmel. Aber ich glaube an die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Ich glaube an den Himmel. Und daran, dass da oben noch jemand ist‘. ‚Laika, dieser Hund?‘, warf ich ein.

‚Vergiss den Kläffer. Nein, Pavel, ich meine eine Frau. Ich erwähnte bereits jenen geheim-nisvollen vatikanischen Glaubenssatz von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter

Ma-120 Ebd., S. 24.

ria in den Himmel. Ahnt ihr jetzt, warum Koroljow Raketen baut? Der Grund, weshalb die Sowjets Kosmonauten zum Firmament schießen wollen, ist eine derart vertrauliche Verschlussache, dass nur Chruschtschow, Koroljow und dieser Gagarin darin eingeweiht sind. Sie suchen die Antwort auf die Frage: Existiert Gott?‘

‚Oh, mein Gott‘, stöhnte Dimitru [...]. ‚Der Bolschewik fl iegt rauf zu den Sternen und schaut einfach nach. Pure Empiristik! Der ultimatorische Gottesbeweis! Nie mehr Tho-mas von Aquinius!‘

‚So kann man das sehen. Und ich wette, wenn in naher Zukunft der erste Kosmonaut vom Himmel zurückkehrt, so wollen Koroljow und Chruschtschow nur eines wissen –‚

‚Hast du da oben Gott gesehen?‘, tönte Fritz.

‚[...] Irrtum, Jungchen! Großer Irrtum! Wenn du vorlauter Schnösel nachdächtest, dann wüsstest du, wie Koroljows Frage lauten wird. Sie kann nur heißen: Hast du da oben Maria gesehen?‘121

Ilja und Dimitru lassen fortan keinen Zweifel zu, dass die russischen Weltallfl ü-ge ein anderes Ziel haben könnten, als es zu beweisen, dass keine leibliche Maria im Himmel zu sehen ist, ergo auch kein unsichtbarer Gott existiert. Sie sind davon überzeugt, dass eben Maria von den Russen gesucht wird, wodurch die Handlung einen ironischen Zug bekommt, durch die Kluft zwischen den äußerst nüchternen, materialistischen Experimenten der Russen und der ihnen im Roman zugeschriebe-nen Bedeutung. Die grundsätzliche Frage nach der Existenz Gottes wird hier durch die Frage nach der von einem katholischen Dogma hergeleiteten Existenz der leib-lichen Maria im Himmel ersetzt. Die Richtigkeit dieses Glaubens muss auch für die Richtigkeit aller Glaubensinhalte, die von der Kirche gelehrt werden, bürgen und auch umgekehrt. Wenn sie gelehrt werden, müssen sie auch richtig sein, wenn nicht – verletzen sie auch die Glaubwürdigkeit des Glaubens an Gott als solchen.

Inwieweit die Kirchenlehre von dem rein Spirituellen abweicht, trägt sie auch eine schwierige Verantwortlichkeit für ihre Korrektheit. Eine wichtige Rolle in diesem Gedankengang kommt dem marianischen Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, das im Jahre 1950 vom Papst Pius XII. als das vierte Mariendogma verkündet wurde.122 Bei Pater Baptiste heißt es:

Koroljow ist ein Forscher: messen, wiegen, zählen, prüfen, also ein Materialist. Ein er-klärter Atheist, für den nur die wissenschaftliche Hypothese und ihr Beweis gelten. Trotz-dem ist er nicht dumm. Ihm ist selbstverständlich bewusst, sollte Gott wider Erwarten existieren, so würden seine Kosmonauten ihn niemals sehen können. Der Allmächtige ist unsichtbar [...]. Doch was ist mit Maria? Maria war Mensch, und sie blieb Mensch, im

121 Ebd., S. 87–88.

122 Wie schon am Anfang angedeutet wurde, ist die Stellung der letzten katholischen Mariendogmen (Der unbefl eckten Empfängnis 1854, Der Himmelfahrt 1950) anders als der früheren (Der Gottesmutterschaft Mariens 431, Der Jungfräulichkeit 649), weil sie viel später als Dogmen verkündet wurden und nicht in allen christlichen Kirchen akzeptiert werden. Es ist auch schwierig ihre direkte biblische Verankerung zu fi nden, sie wurden eher kraft der päpstlichen Autorität defi niert, obwohl sie früher als latente Überzeugungen in der kirchlichen Tradition fungierten und die sich darauf beziehenden Marienfeste viel älter als die Dogmen sind.

(Vgl. Elżbieta ADAMIAK: Traktat o Maryi, in: Elżbieta ADAMIAK, Andrzej CZAJA, Józef MAJEWSKI (Hg.): Dog-matyka, Warszawa 2006, Bd. 2, S. 137–142).

Tod und über den Tod hinaus. Das hat Papst Pius [...] treffend erkannt. 1950, fünf Jah-re nach dem Krieg, erließ er die Apostolische Konstitution Munifi centissimus Deus. Da heißt es ungefähr: ‚Wir verkünden, erklären und defi nieren es als ein von Gott geoffen-bartes Dogma, dass die unbefl eckte, allzeit jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Ablauf ihres irdischen Lebens mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenom-men wurde‘. [...] Wenn das Dogma wahr ist, dann ist diese Jüdin aus Nazareth Koroljow zuvorgekommen. Die erste Himmelfahrt der Geschichte, die erstmalige Überwindung der Schwerkraft. Ohne Rakete. Deshalb will der Russe Kosmonauten zu den Sternen schießen. Sie müssen die Antwort fi nden auf die alles entscheidende Frage nach Gott.

Existiert die sichtbare Muttergottes, dann existiert logischerweise auch der unsichtbare Schöpfer aller Dinge.123

Der säkularisierten Weltanschauung des Kommunismus wird hier nicht nur der Glaube an Gott entgegengestellt, sondern auch die Figur Mariens und das Dogma von ihrer Himmelfahrt, was für den menschlichen Verstand noch größere Strapazen bereitet, weil sich hier die spirituelle Ebene mit der materiellen durchfl icht. Kein kalter und abstrakter Theismus, sondern die zum Handgreifen nahe und im gewis-sen Sinne auch materielle „Marienfrömmigkeit“. Dem Materialismus wird nicht die spirituelle Ebene, sondern ein verklärter „Materialismus“ entgegengestellt, ein die Grenzen der Logik sprengender „Materialismus“ der Muttergottes. Dimitru und Ilja nehmen das päpstliche Dogma wortwörtlich und ziehen davon die äußersten Kon-sequenzen, ihr Fehltritt fängt da an, wo sie glauben, den Aufenthaltsort der Mutter-gottes genau bestimmen zu können. Als einen unverkennbaren Hinweis deuten sie eine Bibelstelle, die von ihnen erst nach längeren Studien gefunden wurde, diese apokalyptische Passage ist für sie eine richtige Offenbarung:

‚Hier! Lies das! Offenbarung des Johannes. Kapitel zwölf, Vers eins!‘ [...]

‚Und ein großes Zeichen erschien im Himmel, ein Weib, angetan mit der Sonne, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen. Und sie ist schwanger und schreit...‘

Dimitru weinte. Er weinte in den Armen seines Freundes Ilja. [...]

‚Das ist es. Das ist der Beweis. Jetzt wird mir licht. Deshalb musste die Madonna vom Ewigen Trost verschwinden. [...] Die Mondsichel kündet nicht vom Sieg der Christen über die Muselmänner. Sie zeugt von Marias Himmelfahrt! [...] Deshalb haben die Bolschewi-ken die Madonna vom Mondberg geklaut. Damit ihre Propaganda bei der Bekehrung der Menschheit zum Atheismus läuft wie geschmiert. Nichts soll uns daran erinnern, dass die Muttergottes auf dem Mond ist. [...] Gibt es einen größeren Beweis, als das Wort Gottes höchstpersönlich?‘124

Es wird ein glatter Übergang vom Inhalt des Dogmas zu einer fraglichen Schlussfol-gerung, was den Aufenthaltsort Mariens betrifft, geschaffen. Es ist eines der wich-tigsten Verfahren, die im Roman betrieben werden. Die Ebene der komplizierten und schwerbegreifl ichen Inhalte des Glaubens der katholischen Kirche wird mit der Ebene der freien, schwärmerischen Spekulationen der Protagonisten vermischt. Zum

123 BAUERDICK: Wie die Madonna auf den Mond kam, a.a.O., S. 88–89.

124 Ebd., S. 336–337.

Teil wird dadurch der Eindruck erweckt, dass es nur eine Ebene ist, die aus frommen Wünschen und Träumen besteht, die wichtige menschliche Bedürfnisse befriedigen.

Das religiöse Dogma wird dadurch auf die Ebene des Märchenhaften verlagert.

Diese Entdeckung des Mondes als des wahrscheinlichen Aufenthaltsortes Mariens zwingt Ilja und Dimitru zu weiteren Untersuchungen mit einem teuer bezahlten Te-leskop. Die wichtigsten Spekulationen beziehen sich darauf, was die russischen Kos-monauten mit der Madonna machen könnten, wenn sie sie schon fi nden.

[Dimitru:] ‚Der Sowjet macht die Himmelfahrt rückgängig. Er retourniert die Madonna wieder zur Erde‘.

[Ilja:]‚Und dann? Sie werden ihr doch wohl nichts antun? Oder sie töten? Oder schreckt der Bolschewik nicht einmal vorm Muttergottesmord zurück?‘

‚Bestimmt nicht. Koroljow ist kein tumber Marxist, sondern ein schlauer Nietschist [!], wenn du verstehst, was ich meine. [...] Wenn er die Mutter vom [!] Jesus auf die Erde holt, dann zieht Koroljow den logischen Schluss, dass Gott existiert, auch wenn ihn der Ga-garin aus seinem Raketenfenster nicht gesehen hat. Aber wenn Gott existiert, dann kann der Ingenieur Nummer eins sein Projekt, selber ein Gott zu werden, vergessen. Und er wird sich hüten, der Muttergottes auch nur ein Härchen zu krümmen oder sie gar von der Sekurität beiseiteschaffen zu lassen. Dann kann er nämlich das vom [!] Jesus verheißene ewige Leben nach dem Tod in den Wind schreiben. Ein Madonnenmörder braucht doch beim Jüngsten Gericht gar nicht erst am Throne Gottes anzutreten, sondern kann ohne Umweg gleich zur Hölle hinabfahren. [...] Er lässt sie frei. Mit den besten Wünschen.

Dann kann sie ruhig am hellichten Tag durch die Straßen rennen und behaupten, sie sei die Gottesmutter. Wenn sie Glück hat, lachen sie die Leute aus, wenn sie Pech hat, landet sie für den Rest ihrer Tage in einer dieser psychiatrischen Klapsmühlen. Und Koroljow kann behaupten, er habe es gut mit ihr gemeint, und wie der römische Pilatus seine Hände in Unschuld waschen‘.125

Diese wortwörtlich verstandene Gefahr verursacht, dass die beiden eine gewis-se Mission empfi nden, die Muttergottes vor den Bolschewiken ritterlich zu retten, indem sie die Amerikaner als Gegenspieler der Russen auf die bestehende Gefahr hinweisen wollen: „Sie müssen dem Russen auf dem Mond antizipatorisch zuvor-kommen und die Madonna schützen [...]“.126

Die Muttergottes wird hier als ein Gegenstand, ein passives Wesen empfunden, das gegen seinen Willen vom Mond einfach „gestohlen“ werden kann (wie auch die Figur der Muttergottes von den Kommunisten aus Baia Luna entwendet wurde), was dem Text den Hauch einer gewissen Komik verleiht. Sie scheint hier über keine Macht zu verfügen, sich alleine zu wehren. Einerseits wird es von ihrer Menschlich-keit gesprochen, andererseits aber betrachtet man sie hier als eine Figur, eine Statue, die ein einmal für alle Male festgelegtes statisches Gebilde ist. Die Menschen bedro-hen sie und die Menscbedro-hen könnten sie schützen, sie selbst ist dabei hilfl os und kann alleine nichts unternehmen. Es wird keine Vermutung aufgestellt, dass sie von Gott geschützt werden könnte.

125 Ebd., S. 343.

126 Ebd., S. 345.

Der kalte Krieg wird im Roman vereinfacht als der Krieg der Atheisten mit den Gläubigen gedeutet, der Bösen mit den Guten. Dies hängt auch mit dem Amerika--Mythos zusammen, der vor allem vom Großvater Ilja gepfl egt wird, der Amerika natürlich nur als ein theoretisches Konstrukt kennt, weil er dieses Land nie gesehen hat. Es ist ein Konglomerat der Wunschprojektionen. In solchen Formulierungen verschiedener Figuren wie z.B. „Wie jeder gute Amerikaner glaubt er an Gott“127,

„Ohne Gott kann Amerika seine Dollars verbrennen. Dann kommt der Rubel“128 scheinen Religion und die Weltpolitik aufs Engste verbunden zu werden. Prägnant ist hier Iljas Überzeugung, dass die Freiheitsstatue in New York eben eine Darstel-lung der Muttergottes ist:

Der Amerikaner baue die höchsten Häuser der Welt, drehe die besten Zigarren und habe zur Ehre der Gottesmutter die kolossalste aller Marienstatuen errichtet, vor den Toren von Nuijorke, mitten im Wasser. Maria garantiere den Bewohnern der Wolkenkratzer Frieden, Wohlstand und Schutz vor den Attacken der Feinde. Die brennende Fackel in ihrer Hand weise nicht nur Schiffen aus aller Welt den Weg, die zerrissenen Ketten zu ihren Füßen verhießen dem Ankömmling auch die Freiheit von jeglicher Knechtschaft.129

Das angeführte Zitat illustriert gut, wie die zwei Mythen, wenn man sich die Betrach-tung der Marienobhut als einer teilweise mythischen Erscheinung erlauben darf, ein-ander durchdringen und dadurch ihre Wirkung multiplizieren. Die Fackelmadonna wird mit einer neuen Verwirklichung der Schutzpatronin (Schutzmantelmadonna) gleichgesetzt. Die Muttergottes muss selbstverständlich der guten Seite der Macht zugerechnet werden, deshalb wird sie vom Großvater an die Seite der idealisier-ten Amerikaner gestellt: „Immerhin haben die Vereinigidealisier-ten Staaidealisier-ten von Amerika der Jungfrau Maria gegenüber gewisse Verpfl ichtungen. Schließlich beschützt sie die Stadt Nuijorke vor feindlichen Angriffen. Deshalb wird es für den Ami Zeit, Maria seinerseits zu schützen“.130 Sogar in den kleinsten Details scheint diese besondere Verbindung zwischen der Muttergottes, die in der Freiheitsstatue vom Großvater als

„Madonna mit dem Strahlenkranz“131 erkannt wird, und Amerika zu funktionieren:

‚Glaub mir, Ilja, wenn einer Koroljow stoppen kann, dann unser John Eff [...] Diese Ge-schichte mit der Präsidentengeliebten! Das ist Fügung! Auf Radio London sprechen sie ständig von einer Märilinn. Weißt du, was das übersetzt heißt? Marialein. Maria und John Eff! John ist die Abkürzung von Johannes. Eff. Evangelist! Der Evangelist Johannes war der einzige Mensch, dem sich die Frau auf dem Mond in seinen Visionen gezeigt hat.

‚Glaub mir, Ilja, wenn einer Koroljow stoppen kann, dann unser John Eff [...] Diese Ge-schichte mit der Präsidentengeliebten! Das ist Fügung! Auf Radio London sprechen sie ständig von einer Märilinn. Weißt du, was das übersetzt heißt? Marialein. Maria und John Eff! John ist die Abkürzung von Johannes. Eff. Evangelist! Der Evangelist Johannes war der einzige Mensch, dem sich die Frau auf dem Mond in seinen Visionen gezeigt hat.

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